Could it be Love? - Lea Kaib - E-Book

Could it be Love? E-Book

Lea Kaib

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Beschreibung

Die 17-jährige Bonnie war schon oft verliebt, und sie stellt sich immer wieder die Frage, wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, wenn sie mit ihren Crushes zusammengekommen wäre. Aber leider traut sie sich nicht einmal, jemanden anzusprechen, denn Bonnie ist viel zu schüchtern. Leichter fällt es ihr, für jede unerfüllte Liebe eine Playlist zu erstellen, um sich an ihre Gefühle zu erinnern. Doch als sie beim Hören ihrer Songs plötzlich in eine Alternativwelt geschleudert wird und ihrer ersten Sommerliebe gegenübersteht, ändert sich schlagartig alles. Denn es bleibt nicht bei einem einzigen Weltensprung - und dann ist da auch noch die geheimnisvolle Dee, die Bonnies Herz schneller schlagen lässt.

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Seitenzahl: 555

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Trigger

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog

My heart skips a Beat

Über WE ARE H

Danksagung

Inhaltsinformation

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Silke Weniger, München.

Copyright ® 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Silvana Schmidt

Covergestaltung: Christin Wilhelm (www.grafic4u.de) unter Verwendung einer Illustration von Mi Ha, Guter Punkt, München

Illustration: © Mi Ha, Guter Punkt, München

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-5574-0

one-verlag.de

luebbe.de

Musik ist Leben. Wild tanzen. Singen. Atmen.

Musik kann ganze Welten bewegen.

Der Roman ist all jenen gewidmet, die mich mit ihrer Musik inspiriert haben:

VØR, die mit ihren Songs Universen in meinem Kopf entspringen lässt.

The whole »Bat out of Hell« UK tour team (cast and crew) 22/23. You reminded me to bring the rock back to my life. You showed me what it means to perform with passion. »The beat is yours forever.«

Sissy, du zeigst mir, wie viel Musik in mir steckt.

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Dazu findet ihr genauere Angaben am Ende des Buches.

ACHTUNG: Sie enthalten Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseer‍lebnis.

Euer Team vom ONE-Verlag

Prolog

Hinter meinen geschlossenen Augenlidern tanzen Lichter in bunten Farben. Ich öffne die Augen, sehe, wie Sternenstaub in meinen Händen zerrinnt und blicke mich um. Die Unendlichkeit der Sterne überwältigt mich.

Mit jeder Faser meines Seins spüre ich meine eigene Existenz. Mein Atem geht flach, mein schneller bebender Puls vibriert durch meinen Körper, und ich begreife, dass es nicht mehr lange dauert bis zum Erwachen.

Konzentriert lausche ich den Klängen der Musik, während ich schwerelos im Nichts schwebe. Sanfter Rock. Eine Frauenstimme. Vollends gehe ich darin auf. Hier sind nur ich, das Universum und dieses Lied. Ich bewege meine Lippen zu dem Song, während die Drums, der Bass und die Gitarre allmählich leiser werden.

Gleich wird es passieren.

Ich mache mich bereit.

Plötzlich breitet sich ein grelles strahlend weißes Licht vor mir aus, als würden die Sterne verglühen, und ich kneife meine Lider noch fester zusammen. Es sieht jedes Mal so aus, als würde die Sonne explodieren. Mein Magen schlägt Purzelbäume. Meine Hände zittern. Dieser Teil der Reise ist immer am unangenehmsten, auch wenn er mich ans Ziel führt.

Mein Herz ist kurz davor, aus meiner Brust zu springen, als das Licht auf einmal immer sanfter wird. Ich traue mich zu blinzeln und nehme wahr, wie das Universum um mich herum verblasst.

Die Musik dringt ganz leise zurück in mein Ohr. Mein Bewusstsein und mein Körper sind nicht mehr in dieser seltsamen Zwischenwelt gefangen. Vorsichtig strecke ich mich und probiere aus, wie sich das Leben in dieser neuen Welt anfühlt. Dann liege ich einen kurzen Moment einfach nur da, inmitten von kuscheligen Kissen und unter einer warmen Decke. Sonnenstrahlen fallen auf mein Gesicht, und ich öffne vorsichtig blinzelnd meine Augen, die sich erst einmal an das Tageslicht gewöhnen müssen. Mit einem Gähnen drehe ich mich in dem gemütlichen Bett zur Seite, und mit einem Mal wird mir bewusst, dass nun alles anders ist.

Neben mir liegt jemand.

Wo bin ich?

Kapitel 1

1 Monat zuvor

Unruhig schlage ich die Augen auf und japse. Ich sauge den vertrauten Geruch meines Lavendel-Kissensprays ein, und sofort beruhigt sich meine Atmung.

Es war nur ein Albtraum.

Schon wieder.

In letzter Zeit haben diese Träume zugenommen, und ich wache danach meist völlig desorientiert auf. Raunend richte ich mich in meinem Bett auf und fasse mir an die Schläfen, um sie zu massieren.

Erst jetzt bemerke ich den dröhnenden Klingelton meines Weckers und taste mit der Hand danach, um ihn auszuschalten.

Ich brauche dringend eine Dusche. Und Kaffee. Am besten literweise.

»Bonnie, bist du wach?«

Die Stimme meiner Mum ist so laut, dass sie vom Erdgeschoss in die obere Etage durch meine Zimmertür dringt. Früher hat sie in einer Metalband gesungen. Ihre Stimme geht wirklich durch Beton.

Mit wackligen Beinen schwinge ich mich aus dem Bett, weiche einer Kiste alter Schallplatten aus und stoße dabei mit dem Knöchel gegen eine Schrankkante. Fluchend öffne ich die Zimmertür.

»Ja, ich lebe noch«, gebe ich nicht ganz so laut wie Mum zurück, während ich den Flur Richtung Badezimmer durchquere. »Ist was?« Ich runzele die Stirn und halte inne, als ich Mum am Treppenaufgang stehen sehe. Nur ihr Kopf lugt hervor, was ein bisschen gespenstisch wirkt. Vor allem ihr Blick macht mir zu schaffen. Ich will nicht, dass sich Mum Sorgen um mich macht.

»Hast du gut geschlafen? Als ich vorhin aufgestanden bin, hast du so laut geatmet und gemurmelt, dass ich dich durch die geschlossene Tür gehört habe. Ich hab kurz nach dir gesehen, aber du hast tief und fest geschlafen.« Jetzt taucht auch der restliche Körper meiner Mutter auf. Sie knüpft ihre weiße Bluse zu und versteckt so das bunte Blumen-Tattoo auf ihrer Brust.

»Mir geht's gut«, versichere ich ihr mit einem kleinen Lächeln und gehe ins Bad. Mit einem unbeabsichtigten Krachen schließe ich die Tür hinter mir und zucke bei dem Geräusch zusammen, als mich plötzlich ein Déjà-vu überrollt: Mein Albtraum endete mit hunderten von offenen Türen, die sich gleichzeitig schlossen. Zunächst ist daran nichts angsteinflößend, wäre da nicht die Tatsache, dass die Türen alle in einem unendlichen Nichts schwebten und nirgendwohin zu führen schienen. Umgeben von reiner Schwärze versuchte ich in meinem Traum eine der Türen zu erreichen, und dann verschluckte mich das Nichts.

Mit einem Kopfschütteln verscheuche ich die Gedanken an die letzte Nacht aus meinem Kopf. Zum Glück weiß ich bereits, wie ich meinen Zombie-Modus abstellen kann. Ohne wirklich hinzusehen, schalte ich das Duschradio ein, und die bekannten Stimmen des All Scottish Radio Senders begrüßen mich fröhlich mit der heutigen Hitzewarnung, ehe ein Song von Paolo Nutini läuft. Schon als die ersten Klänge ertönen, entspannen sich meine Muskeln.

Tief atme ich aus, schließe noch einmal kurz die Augen, ehe ich mich für den Tag fertig mache.

»Können wir los?«, begrüßt mich meine Mutter, als ich zwanzig Minuten später die Küche betrete, aber ich bin noch nicht bereit für ihre gute Laune.

»Gibst du mir noch einen Moment?«, bitte ich sie und nehme mir aus dem Kühlschrank eine Flasche Wasser, die ich in meine Trinkflasche umfülle. Ich schraube den Verschluss zu und lege die leere Glasflasche in einen geflochtenen Henkelkorb auf dem Boden.

»Aber natürlich, Sweetheart.« Mum berührt mit der Hand meine Schulter und zieht mich sanft in eine Umarmung. Einen Atemzug lang kann ich lockerlassen und die Albträume der Nacht vergessen.

»Selber Sweetheart«, brummele ich an ihrem Hals und löse mich dann wieder von ihr. Demonstrativ strecke ich ihr die Zunge raus. Ich kann es nicht leiden, wenn mir meine Mutter Kosenamen gibt, auch wenn ich weiß, dass sie es nur gut meint.

Seit dem Tod meines Vaters ist Mum die Alleinversorgerin und muss sich um alles kümmern. Doch selbst wenn sie müde von der Arbeit zurückkommt, hat sie noch ein Lächeln für mich übrig. Mum würde mir nie zeigen, wie sehr sie dieses Leben anstrengt. Wir sind ein Team, arbeiten zusammen. Auch im Haushalt, wenn ich mich zum Beispiel um das Abendessen kümmere. Einfach ist das alles nicht, doch wir kommen da irgendwie durch. Wir mussten es schon so viele Jahre schaffen.

»Danke, Mum«, entgegne ich, als mir Mum den gewünschten Raum lässt. Ihr schwarzer Bob weht, als sie sich von mir abwendet. Sie greift nach ihrer Tasche auf dem Küchenstuhl und geht zur Tür.

Wach werden, Bonnie!, ermahne ich mich, blicke über die Schulter und sehe meiner Mutter aus dem Fenster nach, wie sie ins Auto steigt. Nachdem ich all meine Sachen in den Rucksack gepackt habe, folge ich ihr hinaus.

Jeden Morgen bringt mich Mum zur Schule, ehe sie zur Arbeit fährt. Für sie ist es nur ein kleiner Umweg. Meistens unterhalten wir uns darüber, was uns am Tag erwartet, oder quatschen belanglos über irgendwelche Fernsehserien. Doch heute fühle ich mich müde, also nicke ich nur oder antworte in kurzen Sätzen. Die Musik ihres Lieblingsradiosenders, ein alter Rockkanal, spricht für uns.

Ich nehme einen Schluck Kaffee aus meinem Metallica-Thermobecher und sehe aus dem Fenster, während die Gegend an mir vorbeizieht. Alte Häuser, deren Schornsteine dampfen, und Supermärkte, die gerade öffnen. Ich liebe es, durch die Innenstadt zu fahren. Zumindest wenn nicht gerade Rushhour ist. Heute haben sich wohl viele Menschen dazu entschieden, bei dem Wetter zu Fuß zu gehen, denn wir haben kaum Stau. Wenn die riesige braunrote Fassade der Scottish National Portrait Gallery an mir vorbeizieht und sich das Licht der Morgensonne in den hohen Fenstern spiegelt, gibt mir das immer einen Kreativitätsschub. Mum biegt auf die Leith Street ab, sodass ich einen Blick auf die Princes Street erhasche, an der wir nur vorbeifahren. Hinter dem Scott Monument strahlt die Sonne bereits so hell, dass ich den Sichtschutz im Auto hinunterklappen muss. Dabei kann ich mich an dem Blick aus dem Fenster nicht sattsehen, denn von hier aus erkenne ich die Silhouette, die zahlreiche Postkarten von Edinburgh ziert: das Schloss, das auf dem Castle Hill thront. Auch wenn ich schon ein Leben lang in Edinburgh wohne, hier wird mir nie langweilig. Ich verstehe, wieso schon um die Uhrzeit Touris Richtung Royal Mile pilgern.

»Bis später«, sagt Mum lächelnd, als wir bei der Schule ankommen und auf dem kleinen Parkplatz halten.

In einer anderen Situation hätte ich ihr einen Kuss auf die Wange gegeben oder sie an mich gedrückt, doch hier auf dem Schulgelände will ich nicht von meinen Mitschüler*innen dabei beobachtet werden. Ich bin schon das Mädchen mit dem toten Vater. Ich will nicht auch noch die sein, die an ihrer Mama klebt.

»Bis nachher«, entgegne ich mit einem gepressten Lächeln, während ich aus dem Auto steige und von warmer Sommerluft empfangen werde.

Das Wetter hebt meine Laune. Für einen Junimorgen ist es bereits ungewöhnlich heiß, und ich erinnere mich an die Warnung aus dem Radio. Wir haben in Edinburgh beinahe halb so viele Regentage wie Sonnentage im Jahr, wenn man den Statistiken Glauben schenkt. Ich liebe diese Jahreszeit, wenn ich endlich kurze Hosen und Kleider tragen kann. Stoff, der im Wind weht, während einem die Sonne auf den Hinterkopf scheint. Dieses Gefühl erinnert mich immer an die Urlaube mit meiner Familie.

»Pünktlich wie immer«, reißt mich eine bekannte Stimme aus den Gedanken, und meine beste Freundin Amy springt mich auf dem Weg ins Hauptgebäude förmlich an. Ihr Lächeln ist ansteckend.

»Hey.«

»Wow, bist du diese Nacht aus dem Fenster gestiegen und hast heimlich gegen Vampire gekämpft?«

Na wunderbar, der Concealer hat also nichts gebracht.

»Wie jeden Abend, weißt du doch«, kontere ich, und wir reihen uns in den Strom der anderen Schüler*innen ein, als die erste Glocke läutet.

»Ich habe heute Morgen beim Bogenschießen richtig abgerissen«, erzählt Amy grinsend, und ich zeige ihr einen Daumen nach oben.

»Ich könnte vor der Schule nie Sport machen.«

»Tja, Bogenschießen ist eben etwas anderes. Und stell dir mal vor, ich würde nicht hingehen und stattdessen jeden Morgen bei deiner Mum im Auto sitzen«, antwortet Amy.

»Mir macht es nichts aus, wenn du bei uns mitfährst ... Wie auch immer.« Ich winke ab.

»Schau mal, ich habe dir die CD mitgebracht, die du wolltest.«

Amy greift in ihren gelben Rucksack, der mit bunten Pins und Buttons übersät ist; den Logos ihrer Lieblingsbands, Sprüchen aus Fernsehsendungen und rotgetigerten Katzen. Ich habe Amys Katzenfaszination noch nie verstanden, ich war wohl immer schon viel zu sehr die klassische Hunde-Person. Früher hatten wir einen Hund, Humphrey, einen alten Corgi, den mein Dad aus dem Tierheim gerettet hatte. Doch auch Humphrey musste sich irgendwann von uns verabschieden.

»Danke!« Ich quietsche etwas zu laut, als Amy mir die CD entgegenhält. Sofort ziehe ich ein paar Blicke auf mich. Räuspernd presse ich die Lippen aufeinander und packe die CD, auf deren Cover Amy eine lachende Sonne gemalt hat, in meinen Rucksack.

Amy und ich sind in Zeiten von Online-Streaming vermutlich die einzigen Jugendlichen auf der Welt, die noch CDs kaufen. Das ist irgendwie unser Ding. Ein bisschen nostalgisch. Etwas, das unsere Freundschaft besonders macht. Ich liebe es, mit ihr in den Plattenladen in der Stadt zu gehen und gemeinsam zu stöbern, selbst wenn es in dem Kabuff immer nach Zigarettenrauch stinkt. Amy und ich tauschen oft Musik untereinander aus. Manchmal liegen wir Nachmittage nur auf meinem Bett und lauschen verträumt den Klängen unserer Mixtapes. Das sind für mich die besten Tage.

Der Unterricht plätschert an mir vorbei. In Gedanken bin ich bei dem Album, das ich mir zu Hause anhören möchte. Ich weiß, es wäre besser aufzupassen, aber meine ganze Liebe gehört nun einmal der Musik und nicht dem Biologie-Unterricht.

»Ich weiß echt nicht, was du mit dem Sommer hast, ich schwitze schon allein vom Sitzen«, ächzt Amy, als wir später in der Mittagspause bei unserem Stammplatz ankommen. Sie hebt die Füße zu sich auf die blaue Sitzbank und reibt sich mit den Händen die Knie. Anschließend krempelt sie die Strümpfe ihrer Schuluniform ein bisschen nach unten.

»Die Sonne ist mein Lebenselixier, und vielleicht kommen so auch mal meine Sommersprossen zurück«, erwidere ich schulterzuckend und recke das Kinn, um die warmen Strahlen einzufangen.

»Nee, also wirklich, da lobe ich mir meinen Regen.« Meine beste Freundin schüttelt sich wie ein nasser Hund und streckt sich auf der Bank aus.

Ich lächle sie durch meine Sonnenbrille mit den runden lilafarbenen Gläsern an. Genau wie die Brille sorgt auch Amy immer für gute Laune.

Seitdem sie mit ihrer Familie in der Nachbarschaft eingezogen ist und sich unsere Väter anfreundeten, wollen wir einander nicht mehr missen. Als meine Mutter und ich nach dem Tod meines Dads eine schwere Zeit durchmachten, war es Amys Familie, die uns aufgefangen hat. Ihr Dad brachte uns oft Abendessen und sah nach dem Rechten oder rief zwischendurch an. Amy und ich teilen unsere Leidenschaft für Musik, wir können uns über nervige Lehrer*innen aufregen, und manchmal drücken wir uns auch gemeinsam vor dem Sportunterricht.

Sie ist mein Lieblingsmensch.

»Wollen wir nach der Schule noch in den Musikladen?« Ich binde mir meine langen Haare zu einem Dutt, denn die Hitze staut sich, und die lockigen Strähnen kleben bereits an meinem Nacken.

»Nee, ich muss schon wieder auf Simon aufpassen«, seufzt Amy, und ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sie sich die Hände vors Gesicht hält, um die Sonne abzuschirmen.

Ihr sechsjähriger Bruder, ein absoluter Wirbelwind, geht ihr ganz schön auf den Keks, doch man muss ihn einfach lieben. Amy jammert gerne, aber insgeheim würde sie für ihren Bruder alles tun.

Ich bin Einzelkind, und allein die Vorstellung, in meinem Leben einen Menschen zu haben, auf den ich achtgeben muss, verursacht mir eine Gänsehaut. Mum und ich sind zu zweit schon überfordert. Nicht auszudenken, wie sich unser Leben verändern würde, hätte ich noch Geschwister.

Ja, was wäre, wenn?

Tatsächlich ist das eine Frage, die ich mir nur zu oft stelle. Was wäre, wenn dieser Jugendliche an diesem Abend nicht betrunken in das Auto meines Vaters gekracht wäre ... Wenn Mum und Dad noch zusammen wären ...

»Hey, Erde an Bonnie!« Amy richtet sich auf und blickt mich mit großen Augen an. »Heute ist bei dir aber auch echt der Wurm drin. Liegt das an der nächtlichen Vampirjagd?«

»Sorry«, sage ich leise und schüttele den Kopf, als würde mich das wieder klarer machen. Ich wünschte, ich wäre nur halb so cool wie Buffy Summers, die Vampirjägerin aus der alten TV-Serie, die Mum immer guckt.

»Die Glocke hat geklingelt, wollen wir rein?«

Mit einem Nicken stehe ich auf, schnappe mir meinen Rucksack und folge Amy.

Auf den Gängen ist die Hölle los, denn nach dem Pausengong sind alle auf dem Weg in die Klassen. Stimmen schallen durcheinander, ich bekomme nur einzelne Wortfetzen mit. Die einen sprechen über die kommenden Sommerferien und geplante Urlaube. Hier und da höre ich etwas über die anstehenden Zeugnisse. Manche Kids rennen, andere scheinen sich besonders viel Zeit zu lassen. So wie ich, denn ich habe gleich Mathe und gar keine Lust auf komplizierte Gleichungen. Viel lieber würde ich im Kunstunterricht sitzen oder wenigstens in Englisch.

Plötzlich knalle ich gegen etwas Hartes. Ich verliere den Halt und kippe hintenüber.

Autsch!

»Oh, tut mir leid!«, erklingt eine Stimme, die ich nicht direkt zuordnen kann. Sofort ist da eine Hand, die ich ergreife und die mich hochzieht.

Ich blinzele, und als ich mich aufrappele, blicke ich in das Gesicht von Dee, einer Mitschülerin aus der Parallelklasse. Sie ist letztes Jahr auf unsere Schule gekommen. Wieso sie gewechselt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie selbst im Sommer diese schwarze Lederjacke über ihrer Schuluniform trägt und ständig mit Kopfhörern herumläuft. Das macht sie irgendwie sympathisch. Und verdammt cool. Viel zu cool.

Sie streicht sich eine Strähne ihres braunen Haars aus der Stirn, das ihr gerade so über die Ohren geht. Ich bemerke ihren schwarzen Kajal, der einen Kontrast zu ihren ungeschminkten blassen Lippen bildet. Ihr Blick aus den strahlend meergrünen Augen ist weich und sorgt dafür, dass sich meine Wangen röten.

»Schon okay, ist ja nichts passiert.«

Oh mein Gott, klingt meine Stimme wirklich so mäuschenhaft piepsig, oder bilde ich mir das nur ein?

»Alles in Ordnung, Bonnie?« Amy kommt auf mich zugestürmt und legt mir eine Hand auf die Schulter. Sie kneift die Augen zusammen und starrt Dee unfreundlich an.

»Meine Schuld. Ich hab nicht aufgepasst«, entschuldigt sich mein Gegenüber erneut mit verlegenem Gesichtsausdruck.

Irgendwie sieht sie dabei verdammt süß aus.

Hallo, Hirn!?

Ich gebe mir Mühe, meine Fassung wiederzuerlangen. Es ist nicht der Sturz, der mich aus der Balance gebracht hat, sondern es sind Dees Augen, die mich weiter unverwandt ansehen.

»Wirklich, alles in Ordnung.« Ich schultere meinen schwarzen Rucksack, dessen Träger beim Aufprall leicht verrutscht sind, und sehe von Dee zu Amy.

»Du hättest besser aufpassen können«, faucht Amy unsere Mitschülerin an.

»Ich hab doch schon gesagt, es ist nichts passiert.«

Könnte sich bitte ein Loch im Boden auftun und mich verschlingen? Es ist lieb, dass mich meine beste Freundin beschützen will, das weiß ich zu schätzen, aber sie muss ja nicht gleich so unfreundlich sein.

Dee holt Luft, und ich bin froh darüber, dass sie nur seufzt und keinen Streit mit Amy anfängt. »Okay, na dann ... Man sieht sich.« Dee presst die Lippen aufeinander, schenkt mir ein vorsichtiges Lächeln, das meine Fingerspitzen zum Glühen bringt, und als sie an uns vorbeigeht, setzt sie ihre Kopfhörer auf und zückt das Smartphone.

Wie versteinert blicke ich ihr hinterher, bis mich Amy am Arm zerrt und vorantreibt.

»Genug der Aufregung, ab zu Mathe.«

Kapitel 2

Nach dem Unterricht verabschiede ich mich mit einer innigen Umarmung von Amy, und wir gehen in unterschiedliche Richtungen. Sie zur Haltestelle, ich in die Stadt.

Aus meinem Rucksack fische ich die großen Kopfhörer, die jedes Geräusch von außen verdrängen, und verbinde sie per Bluetooth mit dem Handy. Auch wenn ich meine physischen CDs liebe, unterwegs ist meine Musikbibliothek auf dem Smartphone praktischer.

Auf dem Weg in die Innenstadt gehe ich vollends im Sound der Musik auf. Am liebsten will ich sofort meine Hüften zum Beat bewegen. Ich kenne jede Strophe des Songs auswendig, doch ich beherrsche mich und zwinge mich dazu, meine Lippen nicht mitzubewegen. Innerlich bin ich ein Ozean bei Sturm, während ich für die Menschen um mich herum ruhig wie die stille See wirke. Niemand bekommt mit, was die Musik in mir auslöst.

Als der Blick eines älteren Mannes für einen Atemzug an mir haften bleibt, frage ich mich, was er wohl denkt.

Verträumte Blondine ...

Bestimmt irgendwie so was.

Wie oft habe ich mir schon irgendwelche Blondinen-Witze anhören müssen? In der Schule hat man mir in der fünften Klasse sogar den Spitznamen Augenbraue gegeben, weil meine Haare so viel heller sind als meine dunklen Augenbrauen. Vielleicht hasse ich Spitznamen, die einem andere verpassen, auch deshalb so sehr. Sie reduzieren eine Person oft auf Dinge, die nicht wichtig sind. Es gibt nur wenige Menschen in meinem Leben, die mich bei einem anderen Namen rufen dürfen.

Auf einmal taucht Dee vor meinem geistigen Auge auf, und ich erinnere mich an Details, die ich vorhin nur beiläufig wahrgenommen habe. Das kleine Loch in ihrer dünnen schwarzen Strumpfhose, direkt über dem Knie. Wie sie sich am Nacken gerieben hat, dort wo ihr Undercut beginnt ... Sie ist für mich ein einziges Mysterium. Ihre Augen sind unergründlich. Nie hätte ich mich getraut, sie überhaupt anzusprechen. Dee spielt in einer anderen Liga. Sie hat interessante Freund*innen, wirkt unnahbar und so locker, als sei sie niemals gestresst. Aber wenn sie mich ansieht, habe ich das Gefühl, als würden Schmetterlinge in meinem Bauch einen wilden Tanz aufführen.

Ich bezweifele, dass es ihr mit mir ebenso ergeht. Weiß sie überhaupt, wie ich heiße? Wahrscheinlich bin ich für sie nur das tollpatschige Mädchen aus der Parallelklasse.

Auch das ist eine Eigenart von mir, die ich lieber nicht zeige. Ich verknalle mich schneller, als Black Sabbath die Besetzung wechseln.

Heute bin ich in die Eine verknallt, morgen schon in den Nächsten.

Ich weiß nicht, woher das kommt, doch ändern kann ich an den unbändigen Gefühlen des Verliebtseins nichts. Wenn es passiert, dann frisst es mich mit Haut und Haar.

Aber Dee ...

Beim Stopp an einer befahrenen Straße öffne ich die Musik-App auf dem Handy und lege eine neue Playlist mit dem Namen 24. Juni an. Das heutige Datum.

Ich kann nicht anders, ich muss dem inneren Drang nachgeben, und der verlangt nach Musik, die zu meiner momentanen Stimmung passt.

Und zu ... Dee.

Ich schiebe den gerade laufenden Song For your Love der Band Måneskin in die Playlist und füge noch zwei weitere Lieder hinzu, die mir in den Sinn kommen, ehe ich die Straße bei Grün überquere.

»Cause, baby, for your love, I'll do whatever you want«, singe ich dieses Mal leise mit. Meine Lippen bewegen sich kaum merklich, während meine Gedanken wieder bei der abrupten Begegnung im Schulflur sind.

Ja, für so eine wie Dee würden manche alles tun. Wie im Song. Aber alles tun für die Liebe? Das klingt mir ein bisschen ... viel. Beinhaltet das nicht auch, sich selbst zu vergessen?

Genau deswegen liebe ich Musik so sehr: weil sie die philosophischsten Fragen in mir aufwirft. Songs wie dieser bringen mich zum Nachdenken.

Als ich die Playlist schließe und in das Hauptmenü der App zurückkehre, werden mir automatisch alle meine Playlists angezeigt. Manche haben ein Cover, das ich manuell hinzugefügt habe, wie Bilder aus der Schule, Fotos von Edinburgh oder den Blick aus meinem Fenster. Damit könnte ich eine ganze Pinterest-Pinnwand füllen.

Der aktuelle Song läuft aus, und ich überlege, welchen ich als Nächstes hören möchte. Beim Scrollen fällt mein Blick dann plötzlich auf eine ganz besondere Playlist.

My heart is a glass balloon.

Ja, ich habe einen Hang zur Dramatik, wenn es um Songs geht.

Als ich den Musikladen sehe, beschließe ich, die Playlist einfach anzuwerfen. Ein bisschen Nostalgie an diesem seltsamen Tag.

Ian's Records leuchtet in roten Lettern über dem Geschäft. Das R flackert, seitdem ich den Laden kenne. Ich schiebe die Tür auf, und der vertraute Tabakgeruch steigt mir in die Nase. Ian, der Besitzer, schaut vom Tresen auf und hebt kurz die Hand zum Gruß, während er an seiner Zigarette zieht. Keine Ahnung, ob das überhaupt erlaubt ist, aber es ist sein Laden.

Ich grüße mit einem freundlichen Nicken zurück und schlendere zum Regal mit Ians Highlights der Woche. Ist es im Laden noch wärmer als draußen? Mir kommt es so vor, als würde sich die Hitze in den Gängen stauen, und ich versuche, meine Konzentration auf die Musik zu lenken.

Die Playlist, die ich gerade höre, ist einzigartig. Okay, das behaupte ich vermutlich bei jeder einzelnen, dennoch ist diese ganz besonders. Es ist meine älteste Playlist. Die erste, die ich jemals erstellt habe.

Für ihn.

Luca.

Während ich durch den Laden gehe und stöbere, kommen all die Gefühle für Luca zurück. Ich denke an den Jungen, den ich im Sommerurlaub mit Mum und Dad kennenlernte. Wie kann es ein Song schaffen, diese Emotionen in mir zu wecken? Ich habe ewig nicht mehr an Luca gedacht.

Natürlich weiß er bis heute nicht, dass ich ihm eine Playlist gewidmet habe. So wie all meinen folgenden Crus‍hes. Sie alle haben eine eigene Playlist bekommen, mit Songs, die mich an die jeweilige Person erinnern. Mit keinem Schwarm war ich je zusammen. Aber so bleiben mir die Gefühle erhalten.

Ich blättere in einer Kiste durch ein paar Schallplatten, als mich der Refrain des Liedes mitten ins Herz trifft. Mystery of Love. Ein Song, den ich aus dem Film Call me by your name kenne.

Schlagartig sehe ich meinen Dad und mich am Strand stehen, wie wir lachen und uns gegenseitig das Wasser ins Gesicht spritzen. Es fühlt sich an, als sei ich zurück in Italien in diesem wundervollen Sommer. Eine unbeschwerte Zeit, ohne Sorgen, ohne Ängste.

Meine Mutter ruft uns aus dem Wasser, und gemeinsam gehen wir ein Eis essen.

Da ist er: Luca. Mit schwarzem Haar und von der Sonne geküsster Haut, die einen starken Kontrast zu meinem blassen Teint bildet. Er ist der Sohn des Eiswagenbesitzers, der seine Bude am Strand stehen hat. Ich sehe ihn während unseres Urlaubs täglich und beobachte aus der Ferne, wie er seinem Vater aushilft. Sein Lächeln ist untrennbar mit diesem Sommer verbunden.

Die Erinnerungen wirken so lebendig ...

Auf einmal wird es unerträglich heiß in dem Musikladen, und ich fächere mir mit der Hand Luft zu, während ich gleichzeitig eine Platte nach der anderen inspiziere.

Ist nur mir so warm?

Kurz blicke ich mich um, doch es hat sich nichts verändert. Noch immer sind nur Ian und ich im Laden. Vermutlich ist es die Sommerhitze, die mir zu Kopf steigt.

Ich blinzele, doch statt der Schallplattenhüllen sehe ich auf einmal ein Licht, das immer heller wird. Erst kneife ich die Augen zusammen, aber als das Licht nicht weichen will, schließe ich sie, fokussiere mich auf meine Atmung und beachte gar nicht mehr die Musik, die noch immer über meine Kopfhörer läuft.

Das Lied, das sich nach Sommer anhört und Erinnerungen hervorruft.

Das Lied, das ich mit Luca verbinde.

Meine Atmung normalisiert sich nicht, stattdessen wird sie immer schneller. Ich denke oft an alte Zeiten, doch so intensiv kann ich die Erinnerung sonst nie spüren. Halluziniere ich?

Mein Puls rauscht in meinen Ohren, und hinter meinen Augen brennt das grelle Licht. Ich wische mir mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Bekomme ich eine Panikattacke? Doch nicht hier bei Ian's Records! Der Laden ist mein sicherer Hafen! Ich halte mich an der Schallplattenkiste fest, doch ich habe das Gefühl, vollkommen wegzudriften.

Das Licht verändert sich, um mich herum wird es dunkel, und auch der Schmerz lässt endlich nach. Ich wage es, mich vorsichtig zu bewegen und glaube durch Wasser zu gleiten. Zu schweben. Ja, so muss es sein, anders kann ich dieses Gefühl der Schwerelosigkeit nicht beschreiben. Aber das ist vollkommen absurd! Ich muss einen Hitzeschlag haben oder so.

Und dann, als ich die Augen langsam öffne, um mich umzusehen, blicke ich in die Schönheit des Universums. Unendliches Schwarz und helle Sterne, die in bunten Strudeln leuchten. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, geschweige denn, was hier passiert, und gerade, als ich panisch schreien will, verändert sich die Umgebung, alles verschwimmt, und ich verliere das Bewusstsein.

Kapitel 3

Meine Knochen schmerzen. Es fühlt sich an, als hätte mich jemand auf eine Streckbank gebunden und würde nun langsam meinen Körper in die Länge ziehen. Doch ich gebe keinen Mucks von mir, und auch meine Knochen knacksen nicht. Eben noch habe ich die Schönheit des Weltalls gesehen. Leuchtende Sterne vor einem schwarzen Himmelszelt. Ferne Galaxien in bunten Farben. Jetzt ist da nur die Dunkelheit, die mich wie ein Mantel umhüllt.

Leere.

Eine allumfassende Stille.

Ich schließe die Augen, atme tief durch und rede mir selbst ein, dass es ein kleiner Ohnmachtsanfall war. Mehr nicht. Dass ich aus irgendeinem mir nicht erklärbaren Grund im Musikladen eine Panikattacke bekommen habe. Vielleicht auch einen Sonnenstich.

Doch als ich die Augen wieder öffne, befinde ich mich noch immer in absoluter Dunkelheit.

Nein, Moment ... das ist nicht nur Dunkelheit!

Ich schwebe im All.

Jetzt ist wirklich Zeit für Panik! Sofort beschleunigt sich mein Herzschlag und pulsiert rasend durch meinen Körper.

Nein, das ist nicht real. Nur ein Traum. Es muss ein Traum sein!

Vorsichtig blicke ich mich um und bemerke, wie leicht sich die Bewegung meines Kopfes anfühlt. Nun strecke ich auch mein Bein aus. Das Gefühl erinnert mich an das Gleiten durch Wasser. Kann ich im All schwimmen? Mein Versuch zu laufen endet damit, unelegant mit den Armen zu paddeln und kaum einen Schritt voranzukommen. Ich spüre mein Herz noch immer wie wild schlagen, als würde es gleich aus meiner Brust springen.

Atmen, Bonnie, atmen.

Es ist merkwürdig, nicht einmal beim Luftholen ein winziges Geräusch zu vernehmen, als würde meine Umgebung jeden Mucks aufsaugen. In meinen Ohren rauscht es nur. Vielleicht sollte ich mich weniger auf meinen Körper als vielmehr auf meine Umgebung fokussieren?

Konzentriert sehe ich mich genauer um, betrachte die Sternenkonstellationen und diese seltsamen bunten Farbkleckse im All. Sind das Milchstraßen? Ich habe mich nie wirklich mit dem Weltall beschäftigt. All mein Wissen um Planeten verdanke ich Sailor Moon. Was auch daran liegt, dass meine Eltern Serien aus den 90ern und 2000ern lieben und bei uns nichts anderes lief.

Nein, das ist natürlich nicht das Weltall! Das hier muss in meinem Kopf passieren. Ganz bestimmt bin ich ohnmächtig. Anders lässt sich das nicht erklären.

Denk nach, Bonnie!, ermahne ich mich und rufe mir die letzten Minuten im Musikladen ins Gedächtnis, bevor ich das Bewusstsein verloren habe. Über meine Kopfhörer hatte ich ein Lied gehört, während ich die Schallplatten begutachtete.

Mystery of Love.

Bei dem Song hatte es begonnen, in mir zu brodeln. Als mich die Lyrics gedanklich ans Meer getragen haben.

Wieder schließe ich die Augenlider, doch dieses Mal denke ich nur an den Song. Ich summe in meinem Kopf den Refrain, und meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln. Das Lied wird immer präsenter.

Auf einmal wird es hell. So unerträglich brennend, und für einen Sekundenbruchteil glaube ich, zu verglühen. Der Schmerz hält nicht lange an. Ich öffne die Augen, und ein weißes Licht blendet mich so stark, dass ich blinzeln muss. Es fühlt sich an, als breite sich eine Wärme in meinem Magen aus. Eine Wärme, die anfänglich guttut und dann mit einem Schlag so unangenehm heiß wird, dass ich fast aufstoße und mich übergebe. Doch als ich mir reflexartig an den Hals fasse, spüre ich aus dem Nichts einen Boden unter mir. Die Wärme in meinem Körper staut sich nicht mehr. Das weiße Licht ist noch da, also kneife ich die Augen zusammen. Auf einmal begreife ich, dass das Licht nicht mehr von überall kommt, sondern von oben. Das muss die Lampe im Musikladen sein. In diesem Moment reiße ich mir die Kopfhörer vom Kopf und höre jemanden.

»Bonnie, kommst du?«

Ich glaube, die Stimme meines Vaters zu hören, aber das kann unmöglich sein.

Vorsichtig bewege ich mein Bein und bin froh, nicht mehr das Gefühl zu verspüren, im Wasser zu laufen – aber dann stelle ich fest, dass der Boden unter mir aus Sand ist. Warm und weich. Sanft rieseln die feinen Sandkörner über meine Haut, während ich auf dem Bauch liege und realisiere, dass das helle Licht die Sonne ist, die mir auf den Kopf scheint.

»Ich glaube, sie will kein Eis.« Das ist ganz klar die Stimme meiner Mutter.

Ich rappele mich vom Boden auf, gehe auf die Knie und sehe unter mir ein Handtuch. Ich bin an einem Strand. Stimmen dringen an mein Ohr, und meine Kopfhörer rauschen. Kinder lachen unbeschwert, und ein Vogel krächzt in der Luft. Ich kenne diesen Ort.

Aber wie ...?

Das kann nicht sein!

Als ich mich umblicke, sehe ich meine Eltern nur ein paar Meter von mir entfernt stehen.

Dad.

Sein Anblick verschlägt mir den Atem. Ich wünsche mir seit seinem Tod nichts sehnlicher, als ihn noch einmal zu sehen und fest zu drücken, und nun steht er vor mir. Ich kann mich nicht mehr regen, so starr macht mich diese Begegnung. Mein Mund steht weit offen.

»Wir gehen schon mal vor!«, ruft er mir zu, und ich bemerke erst jetzt, dass er anders aussieht, als ich ihn in Erinnerung habe. Sein Bart ist dichter, die Haare etwas grauer. Er wirkt zwar wie mein Vater, aber etwas ist fremd.

Ich blinzele, hole tief Luft, und nachdem ich die Kopfhörer ausgeschaltet habe, richte ich mich mit einem Japsen auf. Den Sand an meinen Beinen fege ich mit einer schnellen Handbewegung weg. Als mein Blick an mir hinuntergleitet, stutze ich.

Der blaue Fleck an meinem Knöchel von heute Morgen.

Schnell richte ich mich auf, um auch den Rest an mir zu begutachten. Mit einer Hand fahre ich durch mein Haar. Es ist genauso lang und wild wie sonst auch, als wäre ich direkt aus dem Musikladen in diese Welt gestolpert. Aufmerksam betrachte ich meine Arme, meinen Rumpf, als sähe ich mich gerade zum ersten Mal. Mein Blick haftet an meinem Bikinioberteil. Nein, mein Körper sieht definitiv nicht mehr aus wie damals im Sommerurlaub in Italien.

Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Das hier ist ein Traum, oder?

Ich muss es herausfinden. Und dafür habe ich nur eine Möglichkeit ...

»Hey, wartet auf mich!«

Eilig laufe ich durch den Sand. Immer wieder sinke ich dabei leicht ein. Urplötzlich, als ich meinen Eltern entgegenlaufe, trifft mich ein bekanntes Gefühl der Nostalgie. Wie ein Déjà-vu. Ich war schon so oft hier an diesem Strand, bin genau den gleichen Weg vom Meer zu meinen Eltern gelaufen, doch seit dem Tod meines Vaters waren wir nicht mehr hier in Italien. Meine Mum musste mehr arbeiten, und wir hatten beide genug damit zu tun, ohne Dad weiterzuleben.

Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als die Silhouetten meiner Eltern mit jedem Schritt näher kommen. Ich spüre den Wind durch mein Haar fahren, sauge den vertrauten Duft der Umgebung ein und entscheide mich, diesen Moment anzunehmen. Ihn auszukosten. Was auch immer das hier ist, mein Dad lebt. Wir leben. Gemeinsam.

»Da bist du ja!« Mein Vater lacht breit, als ich bei ihm und Mum ankomme.

Ich kann mir nicht einmal eine Ausrede einfallen lassen, so überwältigt bin ich vom Anblick meines Dads, der in Badehose und mit einem Handtuch um die Schultern vor mir steht. Er ist echt.

Mein Vater gibt einen überraschten Laut von sich, als ich ihn umarme und fest an mich drücke. Ich kann einfach nicht anders. Ich muss spüren, dass er wirklich bei mir ist.

»Alles okay bei dir, Bonnie?«

Ich höre ihn lachen, vermutlich runzelt er gerade dabei die Stirn. Ich presse mich fest an den Körper meines Vaters. Er ist warm. Er riecht sogar wie früher nach diesem Parfum, das Mum ihm mal geschenkt hat.

In einem kurzen Moment der Stille begreife ich, dass mein Auftritt für Verwirrung sorgt, und so schwer es mir auch fällt, mich von meinem Dad zu lösen, ich tue es.

»Ich glaube, ich habe einen kleinen Sonnenstich abbekommen.« Ich rubbele mir den Hinterkopf, um meine Ausrede zu verstärken, und muss dabei ein Auge zusammenkneifen, weil mich die Sonne so stark blendet. Selbst wenn ich träume, will ich niemandem Sorgen bereiten.

»Na, dagegen hilft hoffentlich ein Eis. Und du gehst gleich mal in den Schatten.« Die Stimme meiner Mutter klingt nicht tadelnd, auch wenn sie die Hände in die Hüfte gestemmt hat. Erst jetzt bemerke ich auch an ihr gewisse Veränderungen. Ihre Haare sind länger und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ich erkenne keine Augenringe, die auf lange unruhige Nächte schließen lassen. Sie sieht gesünder aus, fröhlicher. Und ich sollte aufhören, sie so anzustarren, denn ein Stirnrunzeln von Mum zeigt mir, wie seltsam ich mich verhalte.

Gemeinsam schlendern wir in Richtung des Eiswagens, der am Rand des Strandes steht. Es ist ein weißer Kleinbus mit einem offenen Fenster in der Mitte. Auf einer Seite des Autos steht in großen roten Lettern Gelato geschrieben. Die falsche Deko-Eistüte darüber reflektiert im Sonnenlicht. Daneben befindet sich eine handgeschriebene Tafel, auf der die Eissorten des Tages zu erkennen sind. Das Bestellfenster des Wagens ist geöffnet, doch die Sonne knallt mir so stark ins Gesicht, dass sich meine Augen nicht an den Kontrast zu dem dunklen Wageninneren gewöhnen können.

»Ciao, Matteo!«

Ich höre, wie Hände einschlagen. Langsam kommen meine Augen mit dem Licht klar, da werden bereits weitere Worte gewechselt. Auf Italienisch.

»Wie geht es dir? Habt ihr heute viel verkauft?«

Moment ... Seit wann kann mein Vater Italienisch? Und wie kann es sein, dass ich diese Sprache auf einmal verstehe?

Ich hatte damals lediglich ein bisschen Italienisch gelernt. Ein paar einzelne Sätze, die mir helfen sollten, mich im Urlaub zurechtzufinden.

»Wunderbar, mein Freund! Heute ist ein richtig guter Tag für uns.«

Nein, so komplizierte Sätze kann ich bestimmt nicht verstehen.

Eigentlich.

Aber was ist hier gerade schon normal?

Ich trete einen Schritt zurück, um besser beobachten zu können, und verschränke die Arme vor der Brust, während mein Vater weiter mit dem Eiswagenbesitzer Matteo plaudert. Wie ein Gemälde im Kunstunterricht versuche ich, die Szene vor mir zu analysieren. Den Eiswagen. Meine Eltern.

Mums Haaransatz ist deutlich sichtbar, und ich weiß sofort, dass sie nach dem Urlaub einen Friseurtermin ausmachen wird. Sie beugt sich vor zu der Eiskarte, wählt sorgsam eine Sorte aus, die sie heute ausprobieren möchte, und dabei fällt mir auf, dass ihr Rückentattoo gar nicht existiert. Anstatt der schwarzen Rosen, die sich um ein Jahresdatum winden, das Hochzeitsdatum meiner Eltern, ist dort gar nichts. Nur blasse Haut, die rötlich schimmert.

In dem Moment wird mir bewusst, dass diese Veränderung nur logisch ist. Mum hat sich das Tattoo nach dem Tod meines Vaters stechen lassen. Als Erinnerung. Doch in dieser Traumwelt lebt mein Dad. Wahrhaftig.

Als wäre das nicht alles absurd genug, beugt sich Matteo aus dem Wagen zu meiner Mutter hinunter und gibt ihr Wangenküsse. Seit wann sind meine Eltern so dicke mit dem Eiswagenbesitzer?

Ich erinnere mich daran, dass wir nach dem Tag am Meer dort immer ein Eis gegessen haben, aber wir wussten nie mehr über das Familienbusiness als die Namen von Matteo und Luca.

Als hätte ich mit dem Gedanken an Luca etwas heraufbeschworen, spüre ich plötzlich Hände an meinen Schultern, und mein Herz macht einen Satz.

»Hab ich dich erschreckt, Bellina?«

Normalerweise hätte mich ein so unkreativer Spitzname verärgert, doch in diesem Moment spüre ich nur eine angenehme Wärme in meinem Bauch, die den Schock überspielt. Zurück ist dieses Gefühl des Déjà-vus.

Aber Moment ... Wieso ist mir Luca so nahe?

Er taucht von hinten neben mir auf und grinst so breit, dass er mich damit ansteckt.

»Hey, was machst du denn hier?«, frage ich lachend und bemerke sofort, wie bescheuert diese Frage ist. Er arbeitet hier, was sonst?

»Meinen Sonnenschein begrüßen.«

Ich erkenne in seinen leuchtenden Augen, wie sehr er sich darüber freut, mich zu sehen, und als wäre mein Puls nicht schon hoch genug, zieht er mich zu sich heran und küsst mich.

Luca küsst mich!

Bei allen zehn Studioalben von Metallica, was geht hier ab?

Ich komme vor lauter Überraschung gar nicht dazu, den Kuss zu genießen. Es bleibt nur ein leichter Nachgeschmack, der mich an Erdbeereis erinnert.

»Ihr habt euch doch erst gestern Abend gesehen«, kommentiert mein Vater, und ich könnte schwören, dass er mit den Augen rollt.

Fassungslos blicke ich Lucas Lippen hinterher. Seine Mundwinkel sind immer noch gehoben, und mir fällt auf, wie wunderschön die Sommersprossen auf seiner Nase sind. Unvermittelt frage ich mich, ob ich mit einem Stift die Sommersprossen auf seinen Wangen nachmalen kann, und ob sie dann ein Sternenbild ergeben.

Hey, Gehirn, du solltest dich lieber fragen, wieso er dich geküsst hat!

»Alles okay?« Lucas fröhlicher Gesichtsausdruck verändert sich nach meiner Reaktion, und ich habe so viele Fragen, dass meine Gedanken hin und her springen und ich kein Wort herausbringe.

Als sich die Stimme seines Vaters erhebt, bin ich wieder da. Zumindest so halbwegs.

»Ach, lass sie doch, Rob! Junge Liebe ist etwas Wundervolles.« Matteo beugt sich aus dem Fenster und reicht meinem Vater sein Eis über die Theke hinweg.

Meine Nase rümpft sich bei diesen Worten, denn so etwas will niemand von einem Elternteil hören. Und dann wird mir die Tragweite der Worte bewusst.

Junge Liebe.

Er spielt auf uns an.

Auf Luca und mich!

»Wir waren doch auch mal jung!«, fügt Lucas Vater hinzu, und in diesem Augenblick beugt sich mein Dad zu meiner Mutter, und sie küssen sich.

Ich glaube, mein Hirn platzt gleich. So viel auf einmal kann ein Mensch doch gar nicht verarbeiten!

Aber vielleicht bin ich kein lebender und atmender Mensch mehr? Möglicherweise bin ich ohnmächtig. Ich bin im Nirgendwo gefangen, und was auch immer von mir übriggeblieben ist, spielt mir jetzt Streiche. Da ich bisher noch nie ohnmächtig war, kann ich nicht wissen, wie sich das anfühlt. Ein heißer Tag in Edinburgh, und schon ist mir schwarz vor Augen geworden und ich träume. Kurz stelle ich mir vor, wie ein rosafarbener Elefant an den Strand kommt, um zu testen, ob ich den Traum steuern kann, doch nichts passiert. Vermutlich sollte ich einfach mitspielen.

Mein Blick bleibt an meinen sich immer noch küssenden Eltern hängen. Eigentlich sollte ich mich angewidert wegdrehen. Beschämt oder zumindest leicht peinlich berührt, doch für mich ist es immer noch so surreal, dass meine Eltern beide hier neben mir stehen, dass ich nicht wegschauen kann. Klar, ich habe schon oft von Dad geträumt, aber nie fühlte es sich so an wie das hier.

Und jetzt ist irgendwie alles zu viel.

Wie eine Welle trifft mich diese geballte Emotionsflut mitten ins Herz.

Luca, der mich besorgt ansieht, meine Eltern, die sich aus dem Kuss lösen, und Matteo, der mir wortlos ein Eis entgegenhält.

Schluckend fasse ich mir an die Schläfe und versuche, diese Eindrücke irgendwie zu verarbeiten. Aber wie?

»Du bist heute aber ganz schön mit dem Kopf in den Wolken, Bonnie«, höre ich meine Mutter sagen, die aus ihren Schuhen steigt. »Hier, zieh wenigstens meine Schlappen an, der Sand ist viel zu heiß.« Ich folge ihrem Vorschlag.

»Ich glaube, ich brauche einfach eine Pause.« Meine Stimme klingt ungewohnt piepsig, und auch wenn ich den Blick senke, sehe ich, wie mein Vater das Eis annimmt, das eigentlich für mich gedacht ist.

Ich spüre die aufmerksamen Blicke der Anwesenden auf mir, und nur für einen Sekundenbruchteil ist es still zwischen uns. Das Lachen irgendwelcher Kinder, die am Strand spielen, dringt in mein Ohr, und das Rauschen des Meeres verspricht mir einen wundervollen Sommer. Einen Sommer, der mich gerade einfach nur verwirrt.

»Also, wenn du eine Pause brauchst, habe ich eine Idee.«

Luca durchbricht die kurze Stille, und ich recke mein Kinn.

»Wenn das okay für dich ist?«

Mein Vater reicht Luca das Eis, das für mich bestimmt ist, und aus Reflex nicke ich. Luca nimmt meine Hand und führt mich von meinen Eltern fort.

Kapitel 4

Ich sehe den Moment wie in Zeitlupe an mir vorbeigleiten. Luca läuft in Sandalen und kurzer Hose über den Sand. In der einen Hand hält er mein Eis, die andere liegt seltsam vertraut in meiner. Ich stolpere hinter ihm her, versuche mit ihm Schritt zu halten. Luca bemerkt, dass ich kaum hinterherkomme, und sofort wird er langsamer. Er blickt sich über die Schulter um, und ich habe das Gefühl, dass er mir direkt in die Seele schaut. Wie kann er meine Verwirrungen nur mit einem Blick in Vergessenheit geraten lassen? Warme braune Augen, die mein Herz trotz aller Verwirrung zum Rasen bringen. Als wäre das noch nicht romantisch genug, scheint die abendliche Sommersonne orange und golden und ummantelt Lucas Silhouette wie eine heilige Erscheinung. Ich wünsche mir, diesen Augenblick mit einer Polaroidkamera festzuhalten, um mich später daran zu erinnern, wie perfekt alles wirkt. Wenn ich aufwache, dann ist all das hier fort.

Ich schiebe diese Gedanken erst einmal beiseite. Versuche, mich auf das zu konzentrieren, was gerade passiert. Die Zweifel und die Grübeleien können warten, denn diesen Traum erlebe ich so bestimmt kein zweites Mal. Vielmehr sollte ich akzeptieren, dass ich ins eiskalte Wasser gesprungen bin und diese angenehme Abkühlung willkommen heißen. Wenn das ein Traum ist, dann gibt es auch keine Konsequenzen. Dann kann ich einfach machen, was ich will. Und ändern kann ich an der Situation eh nichts. Gerade übernimmt mein Herz das Steuer, während mein Verstand auf stumm schaltet.

Ich will einfach nur genießen. Fragen kann ich später stellen.

»Geht's dir besser?«, wendet sich Luca an mich.

Ich bin nicht gerade sportlich, offenbar gilt das auch für diese Traumversion von mir. Wenn ich mehr als zehn Treppenstufen laufe, muss ich schon Pause machen und durchatmen.

»Ja«, mehr kriege ich nicht über die Lippen. Immerhin hat Luca das Tempo gedrosselt, und ich komme jetzt endlich wieder hinterher.

Er reicht mir das Eis, das schon begonnen hat am Rand der Waffel zu schmelzen.

»Danke dir.«

Ich lächele ihn an und nehme es mit der freien Hand entgegen, um sofort davon zu kosten. Der Geschmack von Erdbeeren hinterlässt ein Prickeln auf meiner Zunge. Fast wie der Kuss von Luca. Das Eis von Matteo ist einfach das beste.

Eine Weile gehen wir nebeneinanderher. Ich esse mein Eis, während Luca mir immer wieder verstohlene Blicke zuwirft. Das Schweigen zwischen uns ist nicht unangenehm oder peinlich. Es fühlt sich natürlich an. Das hier ist gerade zu schön, um wirklich wahr zu sein, was meine Theorie bestätigt, dass ich nur träume. Seine Finger fühlen sich warm in meinen an, und ich habe nicht eine Sekunde lang das Bedürfnis, ihn loszulassen.

Der Strand leert sich langsam. Die Urlauber*innen packen ihre Taschen, wollen vermutlich ins nächste Restaurant, um auf einer Terrasse in der Abendsonne Pasta und Wein zu genießen. Ich beobachte die Menschen, habe meine Kugel Eis fast vernichtet und knabbere bereits an der Waffel.

»Wir sind gleich da«, durchbricht Luca die Stille zwischen uns, und ich erinnere mich daran, dass er mir eine Auszeit versprochen hat.

Was auch immer er damit meint.

»Und wo ist dieses mysteriöse da?«

Ich grinse und muss aufpassen, dass mir die kleinen Bruchstücke meiner Eiswaffel nicht in den Ausschnitt fallen. Erst jetzt wird mir klar, dass ich außer dem Bikini nichts anhabe. Normalerweise hätte ich mir ein T-Shirt übergezogen oder zumindest ein Handtuch, doch alles ging so schnell, dass ich nicht reagieren konnte. Unweigerlich frage ich mich, ob Luca mein Bikini gefällt. Und: Gefalle ich mir? Ich habe keine Zeit, dem Gedanken nachzuhängen.

»Das wirst du gleich sehen.« Lucas Blick ist unergründlich, und in meinem Kopf herrscht gähnende Leere, wenn ich darüber nachdenke, wohin er mich wohl bringen könnte.

»Du machst es vielleicht spannend.«

Er zuckt nur mit den Schultern und lacht. Noch nie habe ich ihn so gesehen, er war für mich immer nur der süße Junge aus dem Eiswagen, doch plötzlich ist alles an ihm so vertraut. Als würde ich schon Jahre mit ihm verbringen.

Wir schlendern an der Promenade entlang, bis Luca den Weg zu den Klippen einschlägt. Die Bucht ist menschenleer. In der Sonne erscheint das dunkelblaue Wasser, das sanft gegen die Steine schlägt, fast schon ein bisschen lila. Das Rauschen der Wellen wird mit jedem Schritt intensiver, und auch die Geräusche der Menschen am Strand liegen hinter uns.

Als ich mein Eis aufgegessen habe, kann ich die Haarsträhnen aus der Stirn wischen, die der warme Wind mir um die Ohren weht, und habe direkt eine bessere Sicht auf das, was Luca vorhat. Er steht nun am Rand der Klippe und streckt mir auch die andere Hand entgegen, die ich annehme. Behutsam lasse ich mich von ihm heranziehen und wage einen kurzen Blick hinunter zum Wasser, bevor wir weitergehen.

»Das hier ist mein liebster Ort am Strand«, löst er schließlich das Rätsel. »Ich wollte ihn dir schon den ganzen Sommer zeigen, habe aber auf einen besonderen Moment gewartet.«

Und das hier, genau jetzt, ist für ihn ein besonderer Moment?

»Ist das dein üblicher Anmachspruch?«, kontere ich und grinse dabei. Ich blicke zu Luca auf und sehe, dass auch er lachen muss.

»Normalerweise frage ich die hübschen Urlauberinnen, ob sie ein Eis umsonst wollen.«

Ich stolpere unerwartet vor Lachen, aber Luca hält meine Hände. Mir stockt der Atem, als ich den Kopf recke und in sein Gesicht schaue.

»Atmen, Sonnenschein«, erinnert er mich und hebt seine Mundwinkel.

Sofort sauge ich Luft in meine Lunge, und mein Körper entspannt sich.

»Alles okay?«

Ich nicke.

»Mehr als okay.«

Das war nicht einmal erfunden.

»Dann komm, lass uns weitergehen.«

Luca löst seine Finger und hinterlässt dabei ein Prickeln, das mich fertigmacht. All die Verliebtheit, die ich für diesen Jungen damals im Urlaub gefühlt habe, schlägt mir jetzt entgegen. All die Emotionen sind wieder da, und ich komme kaum dazu, meinem Herzen eine Auszeit zu gönnen.

Als wir unseren Weg fortführen, der steil nach unten geht, legt er einen Arm um meine Schulter, damit ich nicht noch einmal aus dem Gleichgewicht gerate. Ich habe immer noch keine Ahnung, wohin er mich führt.

»Nur noch ein Stück«, verspricht er. »Mach die Augen zu, ich passe auf dich auf.«

Ich zögere keine Sekunde und spüre, wie Luca meine Schulter loslässt und stattdessen meine Hände nimmt. Zwar schließe ich die Augenlider, doch ich kann es nicht lassen, kurz zu blinzeln. Es sieht etwas wackelig aus, wie Luca rückwärtsläuft, um mich an beiden Händen zu halten.

»Hey, nicht schummeln!«

Wir lachen.

Es dauert keine Minute, bis er stehenbleibt und auch meine Beine zum Stillstand kommen. Es riecht noch intensiver nach dem Meer, und die Luft ist schwer und salzig. Ich bemerke, dass sich der Untergrund ändert, weicher wird.

»Du kannst die Augen jetzt aufmachen.«

Luca muss laut sprechen, damit ich ihn über die Wellen hinweghören kann, die gegen die Klippen peitschen. Er lässt meine Hände los.

Meine Lider öffnen sich langsam, gewöhnen sich an die Szenerie.

Ich stehe wieder im Sand. Wir sind umgeben von Klippen, wie in einer kleinen Höhle, die an einer Seite offen ist. Neben uns glänzt das Gestein in der Sonne, die vor uns untergeht. Ich kann verstehen, wieso er gerade diesen Ort so liebt.

»Das ist wunderschön.«

Mir bleibt der Mund offen stehen.

»Sag ich ja.«

Mein Blick ist gefesselt von alldem, doch aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Luca grinst.

Plötzlich liegt sein Arm um meine Hüfte. Fühlt es sich für ihn auch so normal an? Als hätten wir ein Leben lang nichts anderes getan, als uns zu berühren.

Dabei ist das hier definitiv nicht alltäglich für mich, und dennoch werden alle Zweifel ganz still. So ist das doch in einem Traum, oder? Man glaubt, es ist völlig realistisch, fliegen zu können oder Feuer zu spucken.

Er verringert jegliche Distanz zu mir, und ich drehe mich zu ihm. Seine Stirn an meiner, unsere Hände miteinander verschränkt. Das hier ist wirklich ein Ferientraum. Unsere Lippen berühren sich, doch dieses Mal bin ich davon nicht mehr so geschockt wie vorhin. Sein Mund ist ganz vertraut. Ich frage mich nicht, wie ich mich beim Küssen anstelle, überlege nicht, ob sich unsere Zungen berühren sollten. Es passiert einfach.

Nur widerwillig löst sich Luca von mir, und als ich die Augen öffne, sehe ich ihn lächeln.

»Ich wollte dir das schon längst gesagt haben, Bonnie.« Lucas Blick verändert sich.

Zurück sind die Fragezeichen in meinem Kopf.

Auf so eine Ansage folgt für gewöhnlich ein großes Oh-Oh. Und sollte in meinem Ferientraum nicht alles perfekt sein? Okay, vermutlich hat man auch während einer Ohnmacht nicht nur schöne Träume.

Meine Hand umfasst seine etwas fester, während ich mir auf die Unterlippe beiße. Sein Geschmack haftet noch daran.

»Ich möchte nach der Schule nach Edinburgh kommen. Zu dir.«

Was? Moment.

Luca sieht die Verwirrung in meinem Gesicht.

»Gefällt dir die Überraschung?«

Ja, eine gute Frage ...

Das bringt das Fass zum Überlaufen. Italien, meine Eltern, Luca. Ich weiß nicht, wie ich hier landen konnte, geschweige denn, was ich mit meiner Zukunft vorhabe. Da ist ein warmes Gefühl, wenn ich ihn ansehe. Wenn wir uns küssen.

Liebe?

So muss es sich anfühlen, oder?

Luca stupst mich mit der Schulter an, und ich begreife, dass er auf eine Antwort wartet.

»Oh, wow!«, sage ich mit einem Räuspern. Jetzt schaffe ich es auch, sein Grinsen zu erwidern, auch wenn meins weniger ehrlich ist. Hoffentlich merkt er das nicht. Klar, ich freue mich für ihn, aber was zur Hölle ist da zwischen uns passiert, dass er diesen großen Schritt wagt? Mir fehlen in diesem Traum einfach zu viele Puzzlestückchen.

Ich will Luca nicht enttäuschen. Er sieht mich nämlich an, als müsse ich eigentlich Luftsprünge machen. Zurück ist der Gedanke, dass es für mein Leben keine Konsequenzen gibt, wenn ich in diesem Traum einfach wegrenne und ins Wasser springe, und auf einmal ist da etwas in seinem Blick, das mich stutzen lässt. Meine Träume sind durchaus sehr lebendig. Ich kann fühlen, schmecken, riechen, doch für gewöhnlich hinterfrage ich meine Handlungen nicht. In Träumen ist alles klar und selbstverständlich, und das passt so gar nicht zu dem, was ich hier erlebe.

»Das sind ja mega News«, gebe ich zurück und falle ihm in die Arme. Er soll mir nicht ansehen, wie mein Gehirn arbeitet und versucht, zu begreifen.

Das geht mir alles ein bisschen schnell.

Luca hat Pläne.

Was sind meine? Nein, in einem Traum habe ich nicht von jetzt auf gleich massive Zukunftsängste. Was wird passieren, wenn ich Italien mit meinen Eltern verlasse? Geht die Schule nach den Ferien wieder los? Werden Luca und ich nach meinem Abschluss zusammenziehen, jetzt, wo er beschlossen hat, in meine Heimat zu kommen?

Was ist mit meiner Mum, ich kann sie doch nicht ...

Der Gedanke reißt ab.

Sie hat Dad.

Und mit einem Mal erschlägt mich diese Erkenntnis. Ich schwanke, doch Luca hält mich fest.

»Alles okay bei dir?«

Nein, gar nichts ist in Ordnung, doch Luca soll mir nicht anmerken, wie sich meine Gedanken verknoten und die Überforderung die Kontrolle übernimmt.

Vorsichtig löse ich mich aus seinen Armen, reibe mir mit den Fingerspitzen über die Stirn.

»Ich glaube, ich habe einen Sonnenstich«, versuche ich mich rauszureden. Ein Lächeln soll ihm zeigen, dass ich nur etwas Ruhe brauche. Dann kann ich auch besser nachdenken.

»Wie gut, dass wir schon mal im Schatten stehen.«

Lucas Hand landet sanft auf meinem Rücken, gibt mir Halt. Ein kleiner Schauer durchfährt meinen Körper, zeigt mir, dass ich sicher bin.

»Was hältst du davon, wenn wir zurückgehen?«

Es rührt mich, wie rücksichtsvoll Luca ist. Er hat mir gerade seine großen Pläne offenbart, und dennoch stellt er sich hintenan, weil er sieht, dass mit mir etwas nicht stimmt.

»Geht schon, ich glaube, ich muss mich einfach ein bisschen hinsetzen«, sage ich und lasse meinen Worten Taten folgen. Luca nimmt neben mir auf einem Stein Platz. Seine Hand, die auf meinem Rücken lag, verweilt nun auf meiner Schulter. Er ist mir ganz nah. Ich will seufzen, doch über meine Lippen kommt kein Ton. Mein Kopf ruht auf seiner Schulter, wir genießen den Sonnenuntergang und das Rauschen des Meeres. Ich streife die Schlappen, die mir nur ein kleines bisschen zu groß sind, von meinen Füßen und vergrabe die Zehen im Sand.

Als ich mein Kinn recke, lasse ich den Blick schweifen. Unbemerkt versuche ich, Luca etwas genauer zu mustern. An seinem olivfarbenen Muskelshirt hängt Sand. Vermutlich kann ich später auch meine kompletten Klamotten ausschütteln. Ich schaue hinauf. In seinen Augen spiegelt sich die rötlich schimmernde Abendsonne.

»Ist dir kalt?«

Luca sieht zu mir rüber, doch ehe ich antworten kann, zieht er bereits sein Shirt über den Kopf und reicht es mir wortlos.

Ich muss an mich halten, nicht seinen definierten Oberkörper anzustarren. Luca ist groß und schlank. Seine Arme und seine Brust sehen so aus, als würde er viel Sport machen. Der Blick sollte mir eigentlich nicht neu sein, wenn ich bedenke, dass Luca und ich zusammen sind. Und wieder flackert die Frage auf: Kann das noch ein Traum sein?

»Ähm, danke«, gebe ich mit roten Wangen zurück, schlucke und streife das Shirt, das nach Luca riecht, über den Bikini. Salzwasser und sein Parfüm, ein Hauch Bergamotte.

»Steht dir.«

Ein Lächeln umspielt seine Lippen, und ich kann gar nicht anders, als meine Hand an seine Wange zu legen. Die leichten dunklen Bartstoppeln sind weich, piksen mich nicht. Mir fällt auf, dass ich gar nicht weiß, wie alt Luca eigentlich ist. Wir müssen im gleichen Alter sein, oder?

»Ich freue mich wirklich, dass du nach der Schule nach Schottland kommen willst. Entschuldige, dass ich dir das nicht sofort gezeigt habe. Aber nur zur Sicherheit: Du meinst nächstes Jahr nach dem Abschluss, oder?« Etwas unsicher entgegne ich sein Lächeln.

»Natürlich«, antwortet er mit samtweicher Stimme, die meine Knie zum Schlottern bringt. Wie im Film nimmt Luca meine Hand von seiner Wange und küsst sie.

Kann das hier noch romantischer werden?

»Wir haben alle Zeit der Welt.«

Ja, kann es.

Mit wenigen Worten ist Luca imstande dazu, mein Hirn auszuschalten. Ich beuge mich vor, unsere Lippen berühren sich.

Und ich denke nicht an morgen.

Kapitel 5

Die Sonne küsst mich wach. Ich blinzele, gähne und strecke meine Glieder. Kein Albtraum, das erste Mal seit Tagen. Da ist nur angenehme Wärme. Gemächlich setze ich mich auf, schlage die Bettdecke zur Seite und realisiere, dass ich nicht zuhause in meinem Schlafzimmer bin.

Moment ...

Ich betrachte die gerahmten Gemälde von Sonnenblumen an der Wand, die Tapete mit dem blassen gelb-blau-gestreiften Muster und die beigen Vorhänge am Fenster, die offen stehen. Die Erinnerung kommt langsam zurück. Mir fällt wieder ein, dass ich gestern Nacht die Vorhänge absichtlich nicht zugezogen habe, damit die Sonne am Morgen in das Zimmer scheint.

Ich bin in der Ferienwohnung.

Immer noch in Italien.

Mit Daumen und Zeigefinger zwicke ich mir in die Wange und bereue es direkt, als der Schmerz einsetzt.

Fuck! Komm schon, wach auf!

Ich kneife die Augen zusammen, doch als ich sie wieder öffne, hat sich an der Szenerie nichts verändert. Kann man sich in einem Traum schlafen legen und aufwachen, nur um am nächsten Tag wieder zu träumen? Traumception, oder was ist das? Vielleicht brauche ich auch so einen Kreisel, um zu verstehen, wann ich wach bin und wann ich träume. Ich betrachte meine Beine genauer. Da sind mehr Sommersprossen auf meiner Haut, als ich es gewohnt bin. Ich nehme mir die Zeit, meine Finger zu mustern, durch meine Haare zu fahren, und als ich in einem Knoten hängenbleibe, seufze ich.

Träume fühlen sich anders an. Diese Möglichkeit ist mir bereits gestern eingefallen, doch vermutlich dachte ich am Ende des Tages, ich würde in meinem eigenen Bett in der Logie Green Road aufwachen. Und kaum zwicke ich mich erneut, dieses Mal in den Oberarm, wird es mir so richtig bewusst.

Bei allen Rockgöttinnen!

Ich reibe mir mit den Händen übers Gesicht, versuche Klarheit zu bekommen. Als ich aufstehe, bemerke ich das Shirt, das ich trage. Azurblauer Stoff, der bis zu meinen Knien reicht. Auf der Brust ist das Logo einer italienischen Fußballmannschaft zu sehen, das ich kopfüber zu lesen versuche. Empoli FC. Auf einmal steigt mir sein Duft in die Nase.

Luca.