Crash - Susanne Saygin - E-Book

Crash E-Book

Susanne Saygin

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Beschreibung

In einer verunsicherten Gesellschaft wird der Gute zum Bösen und der Böse zum Helden

*** Platz 1 der Krimibestenliste! Deutscher Krimipreis 2021! ***

Torsten Wolf steht unter Druck. Nach dem überraschenden Tod des Bauunternehmers Christof Nolden soll der Berliner Anwalt nun dessen Geschäfte lenken. Aber Wolf stößt im deutschlandweit agierenden Nolden-Konzern bald auf Ungereimtheiten - und auf massiven Widerstand im Unternehmen. Als Wolfs Assistentin spurlos verschwindet, deutet alles auf einen Zusammenhang mit den Geschäften des Immobilienkonzerns hin. Gemeinsam mit Isa Kurzeck, die bereits seit Jahren zu den kriminellen Machenschaften von Nolden-Bau recherchiert, versucht Wolf Licht ins Dunkel zu bringen. Aber je tiefer die beiden in die Konzernstrukturen eintauchen, desto deutlicher wird, dass es längst nicht mehr um die Geschicke eines Unternehmens geht, sondern um den Zusammenhalt unserer ganzen Gesellschaft.

»Glänzend geschrieben. Kühn konstruiert. Und hoffentlich nur Fantasie.« Wolfgang Schorlau

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Seitenzahl: 545

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DASBUCH

»Ich soll die Mandatsführung und den Beiratsvorsitz bei Nolden-Bau übernehmen. Im Gegenzug werde ich ab sofort zum Salary-Partner ernannt und in einem Jahr zum Equity-Partner? Korrekt?«, wandte sich Wolf an Pahlow.

»Genau«, sagte Pahlow. Stetten schwieg und starrte mit halb geschlossenen Lidern auf die Tischplatte.

»Das ist ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann, oder?«, fragte Wolf.

Pahlow lachte auf. »Richtig.«

»Falsch.« Stetten war aus seiner Trance erwacht. Pahlow hörte auf zu lachen.

»Falsch«, wiederholte Stetten. »Das ist kein Angebot.« Er lächelte und griff nach dem letzten Schinkenbrötchen.

Sekundenlang war es vollkommen still im Raum

»Torsten?«, fragte Pahlow.

Wolfs Pulsschlag beschleunigte sich. ›Time to go‹, dachte er, plötzlich euphorisch. ›Jetzt!‹ Und sofort darauf, scharf einschießend, wie Zahnschmerz oder ein Tritt in die Eier, die Erkenntnis, dass er gar nicht gehen konnte, weil, wenn er jetzt ginge, seine bürgerliche Existenz am Arsch wäre. Hilflose Scham flutete jede Zelle seines Körpers.

Mit kristallklarer Präzision und beeindruckender Beobachtungsgabe erzählt Susanne Saygin was passiert, wenn die Gesellschaft als Ganzes sowie der Einzelne als Individuum systematisch auf den Zusammenbruch zurasen. Ihre Milieustudien sind ebenso akkurat wie ihre Darstellungen einer überforderten Gesellschaft und eines überforderten Protagonisten. Dieser Roman ist klug, packend und erschütternd – und lässt einen nicht mehr los.

DIEAUTORIN

Susanne Saygin, geboren 1967, aufgewachsen im Rheinland, Geschichtsstudium in Köln und Cambridge, Promotion in Oxford. Danach Tätigkeit im akademischen Projektmanagement und in der freien Wirtschaft. Die Autorin mit deutsch-türkischen Wurzeln hatte ihren Lebensmittelpunkt knapp zwanzig Jahre lang in Köln. Seit 2010 lebt und arbeitet sie in Berlin. Für ihren von der Presse hochgelobten Debütroman »Feinde« hat die Autorin über fünf Jahre lang recherchiert. »Crash« ist ihr zweiter Roman.

Susanne Saygin

CRASH

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 09/2021

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München,

unter Verwendung von Arcangel Images/Paul Bucknall

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-24682-2V002

www.heyne.de

About suffering they were never wrong,

The old Masters: how well they understood

Its human position: how it takes place

While someone else is eating or opening

a window or just walking dully along

W. H. Auden

Ostara

Donnerstag

21. März 2019

Oderbruch

Brandenburg

Die handwerklich gefertigte Naturmatratze, auf der sie kniete, war angenehm unnachgiebig. Die Augenbinde lag weich und fest auf ihren Lidern. Sie hörte den ruhigen Atem des Mannes. Ein kaum wahrnehmbarer Duft wehte sie an, scharf mit einem modrigen Unterton. Sie schluckte, dann streckte sie ihre Hand aus und fand sein Gesicht. Von Bartstoppeln durchbrochene Haut, darunter der Schwung des Kieferbogens bis zum Kinn. Die Lippen waren rissig, vielleicht, weil der Mann viel draußen war. Seine Nase war kräftig, mit breitem, geradem Rücken. Ihre Finger strichen über seine Augenbinde, sie spürte den Linien auf der Stirn des Mannes nach und verlor sich schließlich in seinem vollen, fast widerspenstigen Haar, das sie sich dunkel und von erstem Grau durchsetzt vorstellte. Ihre Zeigefinger umspielten die Rundung der Ohrmuscheln und den weichen Widerstand der Ohrläppchen. Der Mann saß vollkommen still. Sein Atem schien noch ruhiger, dafür war der undefinierbare Geruch intensiver geworden. Ihre Hände glitten über den Hals des Mannes. Sie spürte das rasche Pochen der Schlagader, den Adamsapfel, die Kontur des Schlüsselbeins.

Im Hof wurde der Gong angeschlagen. Sein tiefes Dröhnen schien den gesamten Raum in Schwingung zu versetzen. Enttäuscht ließ sie die Hände sinken. Sie hörte dem Verhallen des Klangs nach und versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren.

Der Mann berührte sie erst, als es im Raum wieder ganz still war. Seine Fingerkuppen waren rau, aber seine Berührungen waren behutsam und passten nicht zu dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte. Der Mann erkundete ihr Gesicht auf ähnliche Weise wie sie es bei ihm getan hatte. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Atemzug weicher und leichter zu werden, während sie von dem modrig-scharfen Duft getragen wurde und der Mann seine Hände hinter ihrem Nacken verschränkte.

Der Gong ertönte zum zweiten Mal. ›Aber so war es doch perfekt‹, dachte sie mit Bedauern. Der Mann löste seine Hände, vermutlich, um seine Augenbinde abzunehmen. Sie selbst verharrte reglos, trotzig auf ihre Blindheit bedacht. Der Mann holte scharf Luft, als hätte ihn etwas erschreckt. Im nächsten Moment fühlte sie seine Hände wieder in ihrem Nacken. Wie erlöst legte sie den Kopf zurück und gab sich dem sanften Druck seiner Fingerspitzen an ihrem Hals hin. Der Duft war jetzt stark, fast berauschend. Gierig sog sie ihn ein, während sich der Druck auf ihren Hals verstärkte.

Mit einem Mal öffnete sich das Dunkel hinter ihrer Augenbinde zu einem strahlend blauen Himmel. Mauersegler wirbelten durch das lichte Azur bis es sich zu einem satten, beinahe violetten Ultramarin vertiefte. Sterne zogen auf und drehten sich über ihr in der jetzt nachtschwarzen Himmelskuppel, zuerst langsam, dann immer schneller, bis sie sich zu einer einzigen gleißenden Helligkeit verdichteten. ›So also ist das‹, dachte sie. Lange Schauer erfassten ihren Körper. Dann hörte sie auf zu denken.

Eins

Donnerstag

15. November 2018

Berlin

»Der Kopierer spinnt schon wieder. Ich hatte vorhin ständig Papierstau.« Tanja stand mit dem Rücken zu Mira an der Bindemaschine. »Hast du viel?«

»Hundertzwanzig.« Mira kontrollierte den Papierstand in den Fächern und legte die Kopiervorlagen in den Einzug. Es roch nach Heißkleber und verschmortem Kunststoff.

»Lass dich nicht ärgern. Übermorgen ist Wochenende.« Tanja packte einen Stapel gebundener Mandantenbroschüren in einen der Klappwagen, die die Sekretärinnen für Transporte im Haus benutzten. Mira murmelte etwas Zustimmendes und sah Tanja nach, die ihren Wagen in Richtung Aufzug zog.

Tanja hatte Übergewicht. Die meisten, die schon länger bei Hallmarck Stetten Werbellin waren, hatten Übergewicht. Nicht, dass sie grotesk fett gewesen wären, sie standen einfach nur gut im Fleisch. Stramme Schenkel und kräftige Hintern in No-Name-Jeans gepackt. Wohlgerundete Bäuche und üppige Brüste unter lockeren Tuniken in hellen, fröhlichen Farben. Praktische Kurzhaarfrisuren. Ungeschminkt. Nicht sexy, aber proper und irgendwie appetitlich. In einer anderen Zeit wären diese Frauen Ammen geworden, in züchtiger pastellfarbener Tracht und weißer Haube dazu abgestellt, die Brut der Herrschaft mit Nahrung, Wärme und Geborgenheit zu versorgen. Im Hier und Jetzt vermittelten sie genau die Verlässlichkeit, die den Laden am Laufen hielt.

Natürlich gab es auch die anderen, die schlanken Hübschen, sorgfältig Geschminkten mit Push-up-Bras unter den auf Figur geschnittenen Blusen. Die Kanzlei war für sie nur eine Zwischenstation, bevor sie irgendeinen Dennis, Robin oder Marco heirateten und ins neu gebaute Eigenheim im Speckgürtel entschwanden. Aber bis dahin sorgten sie für den diskreten erotischen Kitzel, der den Anwälten die Überstunden schmackhaft machte.

Und dann waren da noch die, die in keine dieser Kategorien passten – die hoch qualifizierten Kolleginnen jenseits der Vierzig. Schmallippige Frauen, die am Wochenende allein im Café saßen und in Magazinen, die für Achtsamkeit und Flow warben, Antwort auf die Frage suchten, was in ihrem Leben falsch gelaufen war. Bei HSW wurden diese Frauen misstrauisch beobachtet. Sie galten als launisch und neigten zu Widerworten. Allerdings brachten sie oft Know-how mit, auf das die Sozietät immer stärker angewiesen war, Fremdsprachenkenntnisse zum Beispiel oder Arbeitserfahrung und Kontakte in Ministerien und großen Unternehmen. Die Anwesenheit dieser Frauen wurde daher schulterzuckend als notwendiges Übel hingenommen.

Von außen betrachtet, dachte Mira, gehörte sie wahrscheinlich genau in diese Kategorie. Nur, dass sie ihre Wochenenden kaum noch in Berlin verbrachte.

Sie stellte die Anzahl der Kopien ein und drückte auf »Start«. Der Kopierer zog die Vorlagen mit einem Schnappgeräusch ein, verarbeitete die Information und begann dann in rasendem Tempo Papierstapel auszuspucken.

Mira stand mit der Hüfte an die Maschine gelehnt und sah in den Innenhof. Eine Krähe ließ wieder und wieder eine Walnuss aus vollem Flug auf das Pflaster prallen, bis die Schale aufplatzte und den hellen, hirnförmigen Kern freigab. Die Krähe stieß zu ihrer Beute hinunter. Einer der Junganwälte kam über den Hof und machte zum Spaß einen Ausfallschritt in ihre Richtung. Die Krähe flog auf. Der Anwalt trat, ohne es zu merken, auf den Nusskern und verschwand in der Cafeteria. Nach ein paar Sekunden kehrte die Krähe zurück und klaubte den Nussmatsch vom Boden. Draußen wurde es langsam dunkel.

Mira sah auf die Uhr. Kurz vor fünf. Mit Glück war sie um acht raus. Halb neun zu Hause, kurzes Abendbrot, fürs Wochenende packen, früh ins Bett, morgen pünktlich Schicht machen und dann gleich vom Büro aus zum Zug.

Das war der Plan.

Der Kopierer verhakte sich. Warnleuchten blinkten auf. Mira checkte die Darstellung auf dem Display, zog geschreddertes Papier aus dem Inneren des Geräts und drückte auf »Fortsetzen«. Mit einem schmatzenden Seufzer nahm der Kopierer die Arbeit wieder auf. Mira wartete, bis das Exemplar, das er gerade druckte, fertig war. Dann griff sie sich den Packen Papier und prüfte, ob alle Seiten durchgekommen waren. Noch während sie zählte, hängte sich der Kopierer erneut auf. Mira verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen. Das war es dann mit ihrer Zeitplanung.

Zwei Stunden später packte sie die hundertzwanzig gebundenen Mandantenbroschüren in einen Wagen und lieferte sie bei Sina am Empfang ab.

»Braucht ihr sonst noch was von mir für morgen?«, fragte Mira.

»Allet schick. Kannst dich entspannen, Süße.« Sina, grüne Augen, dunkler Pferdeschwanz, körperbetonter schwarzer Hosenanzug, lächelte sie an. »In der Cafeteria steht noch Fingerfood von der Mandantenveranstaltung vorhin«, sagte sie.

»Großartig. Ich war nicht zu Mittag, und vor halb zehn komm ich hier wieder nicht raus.«

»Lass dich nicht ärgern.«

»Moi?« Mira täuschte Erstaunen vor, dann klatschte sie Sina ab und ging in die Cafeteria. Ein paar Junganwälte arbeiteten sich mit großem Hallo am Tischkicker ab. Das Fingerfood war schon deutlich ausgedünnt. Mira lud sich vier durchgeweichte Mini-Wraps mit Lachscremefüllung auf einen Teller, zapfte sich ein Glas Mineralwasser und stellte sich an das Ende des Stehtisches, das den Sekretärinnen vorbehalten war.

Am anderen Ende unterhielten sich drei blonde Junganwältinnen.

»Also ich tu mich inzwischen schon auf dem Secondary Market um«, sagte die Hübscheste der drei. Einen Moment herrschte ratloses Schweigen, dann fiel bei den anderen der Groschen.

»Echt jetzt? Du datest Typen, die geschieden sind?«, prustete eine ihrer Kolleginnen los. »Krass!«

»Wenn mich sonst keiner nimmt.«

»Aber die wollen doch keine Kinder mehr«, gab Blondine Nummer drei zu bedenken.

»Den Kinderwunsch muss man denen ja nicht auf die Nase binden«, die Hübsche zuckte die Schultern. »Packen wir’s?«

Die drei verließen die Cafeteria in Richtung Aufzug. Ihre leeren Tassen ließen sie stehen.

Mira starrte auf die Lippenstiftspuren an den Tassenrändern und dachte an den Mann, der beim letzten Retreat ihr Zufallsgefährte gewesen war. Hatte er Markus geheißen? Jedenfalls war er Finanzvorstand oder Geschäftsführer oder irgendwas in der Richtung gewesen. In der Kleinrunde hatte er erzählt, wie oft er seine Frau und seine Kinder beobachtete und sich dabei fragte, wie diese Menschen in sein Leben gekommen waren und was sie darin suchten. Dann hatte er geweint. Mira hatte sich ihm sehr nah gefühlt. Der Sex mit ihm war allerdings eher enttäuschend gewesen.

Mira sah auf die Uhr. Zehn nach sieben. Sie stellte ihren Teller und das Glas in den Geschirrspüler, packte die letzten Lachs-Wraps auf einen Teller und ging zum Aufzug.

Ein Senior Counsel war mit Mantel und Aktenkoffer auf dem Weg zum Ausgang.

»Na, Kollege, wieder einen halben Tag freigenommen?«, rief ihm einer der Partner im Vorbeigehen zu. Der Counsel lächelte angestrengt.

Die Aufzugtür öffnete sich mit einem leisen Ping. Hinter Mira drängten zwei Mandanten in die Kabine. Mitte vierzig, Maßkonfektionsanzüge, geschmacksneutrale Krawatten, Business-Schuhe mit Ledersohlen, die zu dünn waren für den Berliner November.

»Diese aktive Zuhörerei von dem Heckermann geht mir so was von auf den Sack«, sagte der schlankere der beiden. »Ich meine, geht’s noch? Wie unauthentisch kann man sein?«

»Juniorvertriebler«, sagte der andere. »Der setzt die Inhalte aus dem Verkäufer-Coaching halt noch komplett unhinterfragt um. Den musst du einfach ein paar Mal um den Block schicken, dann verschleift sich das.«

Der Aufzug hielt im ersten Stock. Mira stieg aus und ging in Richtung Büro. Eine Sekretärin von der jungen, attraktiven Sorte kam ihr entgegen, und im Halbdunkel des Flurs dachte Mira für den Bruchteil einer Sekunde, die Frau sei untenrum nackt, so wie die alternde Alkoholikerin, die ihr kürzlich in Neukölln auf der Straße begegnet war, mit blankem Hintern und zotteligem Schamhaar. Die Kollegin kam näher, und Mira wurde klar, dass sie einfach nur eine Skinny-Jeans in der Modefarbe Nude anhatte.

Das Büro, das sich Mira mit Nadine teilte, war leer. Nadine saß, das konnte Mira durch die Glaswand sehen, beim abendlichen Briefing mit ihrem gemeinsamen Chef, Herbert Stetten, dem letzten noch aktiven Gründungspartner von HSW. Nadine hielt den Kopf leicht schräg, während sie in ihrer ordentlicher Mädchenschrift die Aufgaben mitschrieb, die Stetten ihr diktierte. Wenn Stetten mit ihr fertig war, würde sich Nadine auf ihren Platz gegenüber von Mira fallen lassen und mit vor Stolz bebender Stimme klagen, dass sie mal wieder nicht vor elf rauskommen würde.

Mira schloss die Tür zum Büro auf. Die Raumtemperatur lag gefühlt bei dreißig Grad. Leichter Schweißgeruch hing in der Luft. Mira stellte den Teller mit den Lachs-Wraps auf Nadines Tisch. Dann drehte sie die Heizung herunter und machte das Fenster auf. Straßenlärm brach herein. Die verstaubte Einhorn-Piñata, die seit Nadines Geburtstag im Mai an ihrer Tischleuchte hing, schaukelte im Luftzug. Das Krepppapier, das in vergilbten Regenbogenfarben aus dem Einhornmaul quoll, raschelte trocken.

Mira schloss das Fenster, zwängte sich an den Aktenkartons vorbei, die am Vormittag aus Köln angekommen waren, und setzte sich an den Rechner. In ihrer Mailbox waren neunundzwanzig neue Mails eingegangen, ungefähr die Hälfte davon von Herbert Stetten und sieben von Torsten Wolf, dem Senior Counsel, dem Mira seit zwei Wochen zusätzlich zuarbeiten sollte.

Wolfs Assistentin hatte Mitte Oktober gekündigt. Eine weitere Kollegin aus ihrer Praxisgruppe war seit Wochen krankgeschrieben, und die schon eingeplante Neubesetzung für das Partnersekretariat von Martin Kaltenborn war einen Tag vor Vertragsunterzeichnung abgesprungen. Das Officeteam der Praxisgruppe Bau- und Immobilienrecht von HSW am Standort Berlin lag damit genau ein Drittel unter Sollstärke. Sie waren also dramatisch unterbesetzt. Die Sozietät suche mit Hochdruck nach Ersatz für die fehlenden Vollzeitkräfte, hatte Matthias Pahlow, der für Personalangelegenheiten zuständige Partner, Ende Oktober in einer Mail geschrieben. Bis dahin appelliere er an das Durchhaltevermögen, die Kollegialität und das Verantwortungsbewusstsein des Officeteams, um die aktuelle Notlage zu meistern.

In den Tagen darauf hatte Pahlow eine Kollegin nach der anderen zu sich gerufen und die neuen Zuständigkeiten besprochen. Nur Mira war so lange außen vor geblieben, dass sie sich schon gesorgt hatte, ob ihr Vertrag nach der Probezeit verlängert werden würde. Als sie endlich doch noch zum Gespräch gebeten wurde, war sie fast erleichtert gewesen.

»Und?«, hatte ihre Lieblingskollegin Jenny gefragt, als sich Mira danach in der Teeküche ein Wasser holte.

»Senior-Assistenz für Torsten Wolf.«

»Oh, beim bösen Wolf persönlich.« Jenny klang mitfühlend. »Soll der nicht die Bensheim-Mandate aus Köln übernehmen?«

Mira reagierte nicht. Die Bensheim-Sache war vertraulich.

»Schon gut.« Jenny winkte ab. »Bekommst du wenigstens eine Junior-Assistenz dazu?«

»Linh Nguyên.«

»Das Fidschi-Mädchen mit den Pornonägeln? Na, herzlichen Glückwunsch. Aber wir können es uns nicht aussuchen, was, Süße?«

Mira hatte die Schultern gezuckt. Sie war aufs Klo gegangen und hatte sich im Spiegel über dem Marmorwaschbecken betrachtet. Vereinzelte graue Fäden im kastanienfarbenen Haar, müde Schatten unter den grüngrauen Augen. Davon abgesehen aber immer noch durchaus ansehnlich. ›Ihr kriegt mich nicht‹, hatte sie gedacht. Dann war sie zurück an ihren Schreibtisch gegangen.

Das war vor vierzehn Tagen gewesen, und jetzt saß Mira hier und rasterte ihre Eingangsmails. Zuerst die von Herbert Stetten: wichtig, aber nicht dringend. Dringend, aber nicht wichtig. Weder wichtig noch dringend. Ganz zum Schluss dann aber doch noch eine Flugbuchung für den nächsten Tag, eine Terminfindung mit den Baudezernenten von vier Großstädten im gesamten Bundesgebiet – und, zur Krönung, der Auftrag für eine Vertragsübersetzung, die Stetten morgen früh als Erstes gegenlesen wollte, damit Nadine sie vor neun Uhr an die Senatsverwaltung weiterleiten konnte. Mira öffnete den Anhang mit dem Vertrag. Fünf Seiten einzeilig. Sie lehnte sich in ihrem ergonomischen Bürostuhl zurück und atmete tief ein. Dann beugte sie sich wieder zum Bildschirm vor.

Eigentlich hätte sie sich als Nächstes um die Mails von Torsten Wolf kümmern müssen. Stattdessen klickte sie sich erst einmal durch sämtliche andere Nachrichten, die ihren Posteingang zuspammten: Terminbestätigungen, Rückfragen zu einer Reisekostenabrechnung, Infos der Personalabteilung zu drei neuen Mitarbeitern in der Wirtschaftsprüfung, Aufrufe zu kreativen Beiträgen für die Weihnachtsfeier in zwei Wochen, der Speiseplan der Kantine für KW 47, die Geburtsanzeige für das Kind eines Junior Counsels aus der Praxisgruppe Energierecht. Die Energierechtler saßen im dritten Stock, Mira hatte den Counsel nie getroffen, sie wusste noch nicht einmal wie der Mann aussah, trotzdem öffnete sie das PDF mit der Geburtsanzeige: ein instagramfähiges Foto eines krumpeligen Säuglings mit handgestricktem, bunt geringeltem Mützchen, Geburtsdatum, Gewicht, darunter: »Sophie-Charlotte ist da! Wir sind unendlich froh und dankbar. Alexander und Maja (mit Philip und Louise)«, eine Adresse im Prenzlauer Berg an der Grenze nach Mitte.

Während Mira sich noch fragte, wieso sie an einem Donnerstagabend, zwei Stunden nach ihrem eigentlichen Arbeitsende, auf Babyfotos von entfernten HSW-Mitarbeitern starrte, lief eine Mail von Sandra Schnütgen ein, der Assistentin von Michael Bensheim. Es war die Liste von Mandaten, die Torsten Wolf von Bensheim übernehmen sollte. Mira überflog die Einträge, dann atmete sie plötzlich scharf ein.

»Das kann nicht sein«, sagte sie fast lautlos.

Mira ging auf die Website der Kanzlei und scrollte sich durch die Referenzmandate. Danach loggte sie sich in die Kanzleisoftware ein und ging in eine der Akten in Sandra Schnütgens Aufstellung.

Fünf Minuten später rief sie Sandra Schnütgen an. Sie hatten schon ein paarmal wegen der Aktenübergabe gesprochen, und Sandra schien okay zu sein.

»Na, auch noch auf Schicht?« Sandra klang distanziert-ironisch wie immer.

»Ist doch erst halb acht«, gab Mira zurück. »Sag mal, ich bin gerade deine Liste durchgegangen.«

»Und?«

»Nolden-Bau. Die sind nicht auf der HSW-Website.«

»Wundert dich das?«

»Eher, dass wir die überhaupt betreuen.«

»Passt nicht so zum cleanen Image von HSW, oder?« Sandra klang jetzt fast ätzend. »Deshalb auch die ganze Geheimnistuerei. Fakt ist, Nolden-Bau ist die größte Cashcow von HSW. Als der Concrete Gold-Skandal damals hochgekocht ist, hat sich Nolden an Herbert Stetten persönlich gewandt. Stetten hat das Mandat angenommen und dann an meinen Chef durchgereicht. Außer Nolden-Bau hat Bensheim in den letzten vier Jahren praktisch nichts gemacht. Die anderen Mandate auf der Liste kannst du vergessen.«

»Hat dein Boss das allein durchgezogen – oder mit seiner Frau?«

»Allein. Seine Frau ist doch in einer ganz anderen Praxisgruppe.«

»Wie geht es deinem Chef überhaupt?«, fragte Mira. »Irgendeine Ahnung, wann der wieder an Bord sein wird?«

»Nein. Die halten sich hier sehr bedeckt. Aber ich glaube, der ist durch. Der kommt nicht wieder.«

»Und was machst du dann?«

»Ich gehe in fünf Monaten in Mutterschutz. Danach nehme ich erst mal die Elternzeit mit, und dann sehen wir weiter.«

»Klingt nach einem Plan.«

»Du, ich habe mir das auch anders vorgestellt.« Sandra gähnte. »Sorry, Sweetie, ich muss. Ich habe hier noch den Schreibtisch voll. Schönen Feierabend – wenn er kommt.« Sie legte auf.

Auf dem Bildschirm poppte eine ausrufezeichenbewehrte Mail von Torsten Wolf auf. Mira massierte sich mit einer Hand den Nacken und öffnete die Nachricht.

heute fristablauf vergabeverfahren braunschweig. stimmen sie sich mit linh nguyen ab. unterlagenversand zwingend vor 24h. wolf

Miras Puls beschleunigte sich. Sie ließ sich im Bürostuhl zurückfallen und trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. Dann ging sie auf das Karriereportal, auf dem sie vor etwas mehr als sechs Monaten ihren Job bei HSW gefunden hatte und suchte nach den aktuellen Stellenangeboten der Sozietät. Nichts. Genauso wenig wie in den anderen Jobbörsen. Noch nicht einmal auf der Kanzlei-Homepage selbst war eine Office-Position ausgeschrieben. ›So viel zur Hochdrucksuche nach Entlastung für unser Team‹, dachte Mira.

Ihr Blick glitt zu Nadines Schreibtisch. Ein offener Becher Schokopudding stand neben der Tastatur, die Reste des Sprühsahnehäubchens glänzten tranig. Unter der Einhorn-Piñata stapelten sich abgestoßene Mandantenbroschüren und hastig aufgerissene Packen mit Druckerpapier. Nadine war sechzehn Jahre jünger als Mira und sah ihre Lebensaufgabe darin, dem rastlos nach vorn preschenden Herbert Stetten bedingungslos zu Diensten zu sein. Dass sie dabei eine ständig anschwellende Bugwelle aus unerledigter Ablage, Altpapier und schlichtem Unrat vor sich herschob, blendete sie erfolgreich aus. Mira starrte auf den Kalender hinter Nadines Platz. Drei Babydelfine tollten durch unnatürlich blaues Wasser. Der rote Datumsschieber stand noch irgendwo am Anfang des Monats. In der Redaktion von Concrete Gold hatte Mira ein eigenes Büro gehabt, und an der Wand hatte Echtkunst gehangen. Vor allem aber, dachte Mira, hatte sie bei Concrete Gold einen sinnvollen Job gemacht.

Ihr Blick fiel auf den Bildschirm. Die Nolden-Akte war noch immer offen.

Auf einmal war Mira ganz ruhig.

Sie sah durch die Glastür hinüber in das Büro von Herbert Stetten. Die Wagenfeld-Leuchte auf dem Schreibtisch tauchte den Raum in intimes Licht. Stetten saß zurückgelehnt und war im Dunkel kaum zu erkennen. Nadine nahm noch immer mit konzentriert vorgeschobener Unterlippe seine Orders entgegen. Nichts deutete darauf hin, dass sie damit so bald fertig sein würde.

Mira loggte sich aus und wieder ein. Dann steckte sie einen USB-Stick in den Rechner und zog sich die Nolden-Akte herunter. Damals, vor vier Jahren, war Nolden einfach so davongekommen, aber mit dem Material aus der Akte konnte man die Geschichte vielleicht noch mal neu aufrollen. Oder noch ganz andere Sachen machen.

Der Kopiervorgang zog sich. Miras Herz raste. Sie sah rüber zu Stetten und Nadine. Alles unverändert. Mira tätigte einen Anruf übers Handy und beendete das Gespräch nach ein paar geflüsterten Sätzen. Dreißig Sekunden später fuhr sie den Rechner herunter, legte eine Nachricht auf Nadines Schreibtisch und griff sich ihren Mantel.

Weder Nadine noch Herbert Stetten sahen auf, als Mira das Büro abschloss und an der Glastür zum Chefbüro vorbei zum Aufzug ging. Sie fuhr in den dritten Stock zu Linh Nguyên. Linh war Mitte zwanzig, kam frisch von der Fachhochschule und sprang noch durch jeden Reifen, den man ihr hinhielt. Die Bestellung zur Junior-Assistenz für Torsten Wolf hatte sie als Auszeichnung begriffen. Mira erzählte Linh etwas von plötzlichen, unerträglichen Kopfschmerzen und übertrug ihr die alleinige Verantwortung für den Unterlagenversand im Vergabeverfahren Braunschweig.

»Klar, kannst du dich auf mich verlassen.« Linh glühte vor Diensteifer. »Fahr nach Hause, und erhol dich. Ich ping dich an, wenn die Sachen raus sind.«

»Du bist ein Schatz.« Mira deutete ein Küsschen an.

Zwei Minuten später verließ sie das Bürogebäude über den Hinterausgang und entfernte sich zügig. Als sie außer Sichtweite war, begann sie zu rennen. Drei Blöcke weiter konnte sie nicht mehr. Mira lehnte sich mit dem Rücken gegen die Marmorfassade eines Geschäftshauses und rang nach Atem. Dann begann sie plötzlich zu lachen. ›Karma‹, dachte sie. ›Fucking Karma‹. Sie blieb an die Wand gelehnt stehen und konnte nicht aufhören zu lachen.

Ein vereinzelter Passant, ein Mann Ende dreißig mit Hornbrille und teurem Mantel, nahm sie flüchtig in den Blick und beschleunigte dann seine Schritte. Erst in diesem Moment wurde Mira bewusst, dass ihr Gesicht nass war vor Tränen.

Zwei

Donnerstag

14. Februar 2019

Hannover – Berlin

Torsten Wolf hastete die Treppen zum Bahnsteig hoch. Das Schließsignal fiepte schon, aber die Türen des ICE waren noch offen. Wolf sprang auf die Waggontreppe. Hinter ihm schnappte die Zugtür zu. Wolf holte tief Atem und orientierte sich. Er war in der Holzklasse gelandet und würde sich bis zu seinem Platz in der Ersten durchkämpfen müssen. Als er sich in Bewegung setzte, touchierte er mit seiner Notebooktasche einen jungen Mann, der im Gang vor den Toiletten auf dem Boden saß.

»Ey, pass doch auf, Alter!«, blökte ihn der Junge an. Wollmütze hoch auf dem Kopf getragen, voluminöse Daunenjacke, MacBook Air. Kalte Wut stieg in Wolf auf. ›Nicht provozieren lassen‹, dachte er. Er wandte sich um und arbeitete sich weiter in den überfüllten Waggon hinein. Wahrscheinlich war der vorhergehende ICE wieder mal ausgefallen, und jetzt drängte sich das ganze Kroppzeug in der Pendlerverbindung nach Berlin.

Als Wolf endlich in der ersten Klasse angelangt war, saß eine zarte, dunkelhaarige Frau in buntem Minirock und Leggings auf seinem Platz und stillte ihr Kind. Wolf registrierte den vertrauten Milchdunst. ›Ben‹, dachte er, ›Ada‹. Für einen Moment wollte er nichts anderes, als sich neben die Frau setzen, den Kopf an ihre Schulter lehnen und mit geschlossenen Augen auf ihren Atem und den des Kindes hören. Die Frau hob den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen waren wasserblau. Der Bann war gebrochen.

Wolf drehte ab, er griff sich im Gehen eine FAZ und suchte sich einen Platz im Bordrestaurant.

Während er auf sein Pils wartete, checkte er seine Mails. Zur Abwechslung nichts Dringendes. Wolf legte das Handy weg, lehnte sich zurück und dachte an die Verhandlungen. Nach zähem Beginn war das Gespräch dann doch noch in die richtigen Bahnen gekommen. Der Baurat hatte sich überzeugen lassen, dass HSW genau die Expertise mitbrachte, auf die die Stadt bei der Rekommunalisierung ihres sanierungsbedürftigen Sozialbaubestands angewiesen war. Man hatte sich mit Handschlag verabschiedet, der Vertragsabschluss war für Mittwoch geplant. 900k Minimum würde das Mandat allein in diesem Jahr generieren, überschlug Wolf, mit ein bisschen Glück auch mehr. Herbert Stetten würde zufrieden sein.

Wolf sah aus dem Fenster, draußen war es dunkel, die Scheibe reflektierte sein Gesicht. Dunkles, etwas zu langes Haar, Seitenscheitel, kräftige Nase, jungenhafte Urbanität suggerierender Dreitagebart. Die Ringe unter seinen Augen waren allerdings nicht ganz so jungenhaft, genauso wenig wie der Bauch, der sich seit ein paar Wochen immer deutlicher unter Wolfs Hemden abzeichnete.

Die Kellnerin kam mit seinem Pils. Wolf nahm einen langen Zug, dann widmete er sich der Zeitung. Das Feuilleton machte mit einem großen Artikel zum Bauhausjubiläum auf. »Walter Gropius«, las Wolf, »Hannes Meyer«, »Ludwig Mies van der Rohe«, »Weimar«, »Dessau«. Wolf kannte diese Namen, aber es gelang ihm nicht, sich auf den Artikel zu konzentrieren. Er ließ die Zeitung sinken, lehnte sich im Sitz zurück und schloss die Augen.

Mit einem Mal erinnerte er sich an den ersten Tag in Dessau. Er sah Elise auf der Terrasse des Kornhauses sitzen, im Profil, mit Blick auf die Elbe, ein Bein untergeschlagen, zierlich und schmal wie eine Tänzerin, das dunkelbraune Haar hoch auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden, kurzer Pony, der die feingeschwungenen Brauen und die hohen Wangenknochen betonte. Mit Federn im Haar hätte sie ausgesehen wie ein Manga-Indianermädchen.

Elise hörte ihn kommen und wandte den Kopf zu ihm. Das goldene Piercing in ihrem Nasenflügel glitzerte in der Sonne.

»Coppa Cioccolata oder Schwedenbecher?«, fragte Wolf.

»Beides!« Im Gegenlicht waren Elises braune Augen annähernd bernsteinfarben.

Wolf hatte auf das Schokoeis spekuliert, stellte jetzt aber beide Becher vor Elise ab.

»Zu Befehl, Madame Nimmersatt.« Er küsste sie auf die Nasenspitze. Elise machte sich über die Eisbecher her. Gelegentlich gab sie Wolf einen Löffel ab.

Sie blieben auf der Terrasse, bis die Sonne elbeabwärts untergegangen war. Dann gingen sie zurück in ihr Gästezimmer im Bauhausgebäude. Wolf holte den Champagner aus dem Kühlschrank in der Teeküche. Als er ins Zimmer zurückkam, stand Elise mit dem Rücken zu ihm und sah durch das perfekt proportionierte Atelierfenster nach draußen in die Dunkelheit.

Wolf stellte die Flasche ab und umarmte sie von hinten.

»Das ist der schönste Ort, an dem ich je war«, flüsterte Elise.

»Für dich nur das Beste.« Wolf berührte Elises Brüste unter dem dünnen Seidenblouson mit den aufgestickten chinesischen Drachen. Elise stand einen Moment still gegen ihn gelehnt, dann wandte sie sich zu ihm um und küsste ihn auf den Mund. Wolf nahm sie in die Arme und trug sie aufs Bett.

Den Champagner tranken sie erst viel später.

Als Wolf am nächsten Morgen aufwachte, stand Elise in ein Bettlaken gewickelt auf dem Balkon.

»Schau dir das an«, sie zeigte auf ein vereinzeltes Kranichpaar, das schrill rufend nach Osten flog.

»Wohin ihr? – Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen. Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? – Seit Kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald«, rezitierte Elise. »Kennst du das?« Sie drehte sich zu Wolf. »Mein Lieblingsgedicht. Von Brecht.«

»Aber ich will mich doch gar nicht von dir trennen«, sagte Wolf. Er küsste Elise in den Nacken und zog sie sanft aber bestimmt zurück in Richtung Bett.

Kennengelernt hatten sie sich zwei Wochen vorher. Henning, sein bester Freund, hatte Wolf gefragt, ob er am Samstag mit ins Kraftwerk an der Köpenicker kommen wolle.

»Neue E-Musik.« Henning hatte gegrinst. »Julia will da hin. Geht die ganze Nacht. Nimm dir ein Kissen und eine Isomatte mit. Da kann man wohl auch pennen.«

Wolf stand nicht auf Stockhausen und Konsorten, aber er hatte an dem Abend nichts Besseres zu tun. Außerdem spekulierte er darauf, dass Hennings Freundin Julia, eine ausnehmend hübsche Kunsthistorikerin, eine Kommilitonin mitbringen würde.

Tatsächlich war Julia in Begleitung ihrer Freundin Elise gekommen. Die beiden Mädels rollten ihre Isomatten neben denen von Wolf und Henning auf einem großen Podest aus und vertieften sich dann in ein intensives Gespräch. Wolf und Henning tranken währenddessen an das Podest gelehnt Bier und zogen über die Musik ab – seltsam aggressives metallisches Gedengel, das von unablässigem Stroboskopflackern begleitet wurde.

Henning zeigte auf die Leute um sie herum, die mehr oder weniger leicht bekleidet auf Feldbetten und Isomatten lagerten.

»Pyjamaparty, oder?«

»Aus der Hölle.« Wolf sah verstohlen zu Elise hinüber, die im Schneidersitz zu Julia geneigt saß und ihr offenbar konzentriert zuhörte.

Um halb zwölf bauten die Musiker ihre Instrumente ab. Nach einer endlos langen Umbauphase trat ein einzelner schmaler Mann ans Mischpult. Kurz darauf erfüllte ein sanft grollender Bass die jetzt fast komplett dunkle Halle. Henning und Wolf kletterten zu den Mädels auf das Podest. Dort war es inzwischen voll geworden. Elise hatte ihre Isomatte dicht neben die von Wolf gerückt. Henning reichte irgendwelche Pillen herum. Wolf wunderte sich, mit welcher Selbstverständlichkeit Elise und Julia die Dinger einwarfen, aber als die Reihe an ihm war, schluckte er die herzförmige Tablette, als würde er das jedes Wochenende tun.

Er streckte sich auf seiner Isomatte aus und starrte zur Hallendecke hoch, die im diffusen Halblicht aussah, wie ein Filmset aus Blade Runner. Das hölzerne Podest unter ihm übertrug die Bässe der Musik direkt in seinen Körper. Flaumige Klangwolken schienen Wolf einzuhüllen. Er hörte Grillenzirpen und das Murmeln von Wasser. Über ihm projizierte die Lichtanlage Sternenkonstellationen an die Decke.

Plötzlich schienen sich die Mauern des Kraftwerks zu öffnen, und Wolf meinte, durch die Stadt hindurch auf endlos wogendes Gras zu sehen. Gleichzeitig fühlte er sich mit allem um ihn herum verbunden, mit der Musik, mit dem Holz des Podests unter ihm, mit den Menschen in der Halle, mit Henning und Julia, vor allem aber mit Elise, die keine dreißig Zentimeter von ihm entfernt lag. Wolf schien es, als ob von ihr ein unbestimmter Duft ausging, kein Parfum, sondern ein betörender animalischer Botenstoff, der ihn unweigerlich zu ihr hinzog.

Er drehte sich zu ihr. Elise lag zu ihm gewandt und lächelte ihn mit weit geöffneten Augen an. Wolf streckte die Hand aus und zog behutsam die Linie ihrer Augenbrauen nach. Elise strich ihm mit dem Rücken ihrer Hand über die Wange. Wolf dachte, dass er noch nie so sanft berührt worden war. Er spürte mit den Fingerspitzen die Konturen von Elises Gesicht nach und hatte das Gefühl, dass die Zartheit ihrer Haut, die Struktur der darunterliegenden Muskeln und Knochen, das Pulsieren von Elises Blut, der Rhythmus ihres Atems in diesem Moment und für immer ein Teil von ihm wurden. Neben ihm stöhnte Henning unterdrückt auf. ›Aber darum geht es doch gar nicht‹, dachte Wolf. Danach verlor sich sein Zeitgefühl.

Gegen sechs Uhr morgens wurde die Musik immer leiser und verstummte schließlich ganz. Elise richtete sich mit einer katzenartigen Bewegung auf, sie rollte ihre Isomatte und ihr Kissen zusammen und wandte sich zu Wolf.

»Kommst du mit?«, fragte sie.

Sie frühstückten bei einem türkischen Bäcker auf der Adalbertstraße. Nach der Vertrautheit der Nacht fühlte sich Wolf in Elises Gegenwart befangen. Bei Tageslicht schien sie ihm noch schöner als im Dunkeln des Kraftwerks.

»Und was machst du so?«, fragte er.

»Ich studiere Architektur in Weißensee.«

»Cool, hätte ich auch gern gemacht.«

»Aber?«

Wolf zuckte die Schultern. »In meiner Familie studiert man Jura oder Medizin.«

»Und für was hast du dich entschieden?«

»Jura.«

»Und? Macht Spaß?«

Wolf lächelte unentschieden.

Elise leckte sich einen Croissantkrümel vom Finger. »Ich mache immer nur das, was mir Spaß macht«, sagte sie.

›Genau so siehst du aus‹, dachte Wolf und nahm zum ersten Mal die feinen Sommersprossen auf Elises Nasenrücken wahr.

»Sehen wir uns noch mal?«, fragte er.

»Diese Woche ist schlecht. Ich muss ein Projekt zu Ende machen. Danach?« Elise stand auf und klemmte sich die Isomatte unter den Arm. »Ich melde mich.«

›Also nein‹, dachte Wolf.

Elise küsste ihn auf die Wange und ging. Wolf sah ihr nach und spürte, wie sich sein Herz zusammenzog.

Am Montag traf er Henning an der Uni.

»Du und Elise, da geht was, oder?« Henning grinste.

Wolf winkte ab. Er ging in die Bibliothek, um sich auf seine Probeklausur vorzubereiten, und versuchte, die plötzlich aufkeimende Hoffnung zu unterdrücken.

Eine Woche später lag eine Postkarte in seinem Briefkasten. Auf der Vorderseite der Spruch per aspera ad astra, auf der Rückseite in konsequenter Kleinschreibung: ich habe mein projekt fertig, willst du es sehen? e. Dazu eine Telefonnummer.

Wolf ließ sich einen Tag Zeit, dann rief er an. Elise nannte ihm eine Adresse im Wedding. Eine Dreiviertelstunde später stand Wolf in der Fabriketage, die sich Elise mit ein paar Kommilitonen teilte. Der offene Raum, eher ein Atelier oder eine Werkstatt als eine Wohnung, sah anders aus, als alle WGs, die Wolf bis dahin gesehen hatte. Er fühlte sich eingeschüchtert.

»Willst du ein Wasser?«, fragte Elise. Sie hielt eine angeschlagene Glaskanne hoch. Wolf nickte.

»Was ist das?« Wolf zeigte auf die violett durchscheinenden Kiesel auf dem Grund der Kanne.

»Heilsteine.«

»Glaubst du an so was?«

»War ein Geschenk von meiner Mutter.« Elise wirkte plötzlich unsicher.

»Zeigst du mir dein Projekt?« Wolf lächelte, um zu signalisieren, dass alles okay war.

»Klar.« Elise führte ihn zu ihrem Arbeitstisch und zeigte ihm ihre Planskizzen für mobile Kleinhäuser, die sie für eine Obdachloseninitiative entworfen hatte. Sie erklärte, wie sie das Verhältnis von Innen- und Außenraum aufbrechen wollte, damit Menschen, die jahrelang draußen gelebt hatten, wieder mit einem Dach über dem Kopf klarkamen. Wolf verstand nicht alles, was sie sagte. Er erinnerte sich an den Klassenausflug nach Dessau in der elften Klasse. Bauhaus, Weltkulturerbe. Danach hatte er Architektur studieren wollen.

»Sieht ein bisschen bauhausmäßig aus.« Er deutete auf die Skizzen.

»Bauhaus rules«, sagte Elise.

»Warst du schon mal in Dessau?«, fragte Wolf.

»Nein. Megapeinlich, oder?«

»Halt dir das Wochenende frei«, sagte Wolf. »Koordinaten schicke ich dir.«

»Okay«, Elise lächelte.

Wolf fuhr nach Hause und reservierte ein Doppelzimmer im Bauhausgebäude. Danach ging er in die Bibliothek zum Lernen. Am Freitag schrieb er seine Klausur und wusste schon bei Abgabe, dass er bestanden hatte. Am nächsten Morgen fuhr er mit Elise nach Dessau.

So hatte es angefangen mit ihnen. ›Alles so verdammt absehbar‹, dachte Wolf.

»Ist hier noch frei?« Eine Woge süßlichen Parfums brandete ihn an.

Wolf schreckte hoch und nickte.

Die Frau setzte sich. Sie war jenseits der fünfzig und hatte Übergewicht. Eine grob geschnitzte Schildkröte aus Jade baumelte an einem Lederband über ihrem schweren Busen.

›Wahrscheinlich ihr verficktes Krafttier‹, dachte Wolf.

Die Frau bestellte einen Sekt und das Valentins-Special – eine Lütticher Waffel in Herzform.

Der Zug passierte Stendal. Kurz darauf rief Matthias Pahlow an. Wolf stand auf und ging auf den Gang.

»Ich bin in der Bahn«, sagte er. »Falls der Empfang schlecht ist.«

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Pahlow.

»Montag kriegen wir den Vertrag.«

»Chapeau«, sagte Pahlow. »Wann bist du zurück in Berlin?«

»Gegen acht. Wenn sich nicht wieder irgendein Depri vor den Zug wirft.«

Pahlow schwieg einen Moment. »Komm noch mal rein, wenn du da bist«, sagte er dann.

»Ist das eine Anordnung?«

»Ja«, sagte Pahlow. »Von ganz oben.«

»Was ist?«, fragte Wolf. »Was Ernstes?«

»Nicht am Telefon«, sagte Pahlow.

»Kriege ich wenigstens ein Stichwort?«

»Nolden«, sagte Pahlow. »Es geht um das Nolden-Mandat. Bis nachher.« Er legte auf.

Kalte Angst kroch in Wolf hoch. Vor dreieinhalb Monaten hatte ihm Herbert Stetten das Mandat vertretungsweise übertragen und in den letzten Wochen hatte der Chef zunehmend Druck gemacht, dass er sich in die Sache einarbeitete. Hatte Wolf etwas übersehen? War ihm eine Frist durchgerutscht?

Wolf lehnte seine Stirn an das kühle Fenster des Gangs. Lähmende Erschöpfung breitete sich in ihm aus.

Nach einer Weile ging er zurück in den Speisewagen und ließ sich in seinen Sitz fallen. Die Schildkrötenfrau schob sich ein Stück Waffel in den Mund und kaute mit mahlendem Kiefer und leicht geöffnetem Mund. ›Wie eine Kuh‹, dachte Wolf, ›wie eine fiese, fette Kuh‹. Er stellte sich vor, die Frau abzuwatschen, rechts und links, immer wieder auf die wabbelnden Waffelbacken. Stattdessen faltete Wolf die Zeitung zusammen und trank sein Pils mit bedächtigen Schlucken. Bis Berlin war es noch eine Stunde.

Kurz vor Spandau legte der Zug einen außerplanmäßigen Halt ein. Wolf kam erst um halb neun in der Kanzlei an. Matthias Pahlow erwartete ihn in einem der Besprechungsräume.

»Stetten hat gerade angerufen«, sagte er. »Er ist noch in der Senatsverwaltung.« Pahlow zeigte auf einen Teller mit Kanapees. »Schnittchen?«

»Nein, danke. Sagst du mir jetzt, was los ist?«

Pahlow schüttelte den Kopf. »Chefsache.«

»Muss ich mir Sorgen machen?«

Pahlow lächelte. »Nicht mehr als sonst.« Er griff sich ein paar Trauben vom Obstteller. »Und? Hannover?«

»Smooth«, sagte Wolf.

»Prima«, Pahlow lehnte sich in seinem Besprechungsstuhl zurück. »Und sonst? Wie geht es Elise und den Kiddies?«

»Alles bestens.«

»Ihr solltet mal wieder zu uns zum Essen kommen«, sagte Pahlow. »Silvia würde sich freuen.«

Wolf entspannte sich. Jemand, von dem man sich trennen wollte, wurde nicht zu privaten Abendessen eingeladen.

»Wollen wir gleich nach einem Termin schauen?« Pahlow griff nach seinem Handy.

»Elise ist gerade ziemlich eingespannt«, sagte Wolf.

»Neues Projekt?«, fragte Pahlow.

Wolf nickte. ›Bullshit‹, dachte er. Aber vielleicht stimmte es ja auch irgendwie. Vielleicht musste man Derek, den Jungarchitekten aus Bristol, den Elise seit ein paar Wochen vögelte und der ihr das Gefühl gab, eine visionäre Architektin zu sein, vielleicht musste man diesen Derek mit seinen Flanellhemden und der albernen Holzfällerbart-Undercut-Wollmützen-Kombi einfach nur als Elises neuestes Projekt betrachten. Vielleicht würde das die Sache irgendwie erträglicher machen. Vielleicht aber auch nicht.

Pahlow schnippte mit den Fingern. »Hallo? Irgendwer zu Hause?«

»Sorry«, sagte Wolf. »Ich bin einfach nur total platt.«

»Frag mich mal«, sagte Pahlow. »Und dabei ist noch nicht mal Wochenende.«

Wolf nickte stumm und sah nach draußen. Im Dunkeln blinkte das Lichtsignal des Fernsehturms.

»Wie weit seid ihr mit eurer Datsche?«, fragte Pahlow. »Wie heißt der Ort noch mal, wo ihr seid?«

›Datsche‹. Wolf hätte fast laut losgelacht.

»Läuft«, sagte er. »Bad Herrenwalde.«

»War da nicht irgendwas?«, fragte Pahlow.

»Nazis«, sagte Wolf. »Da sind Nazis. Die Dorfglatzen haben einen Kampfhund auf ein achtjähriges Mädchen aus Syrien gehetzt.«

»Das war bei euch?«, sagte Pahlow. »Heftig. Bei uns im Kaff haben sich alternde Kulturschaffende aus Kreuzberg eingezeckt. Die kämpfen nur gegen Windräder.«

Wolf wären Windkraftgegner auch lieber gewesen als Naziskins. ›Dafür ist Pahlows Datsche aber auch kein Gropius-Entwurf‹, dachte er bitter.

»Guten Abend, die Herren.« Herbert Stetten betrat den Besprechungsraum. Er nickte Pahlow zu und schüttelte Wolf die Hand. »Danke, dass Sie noch reingekommen sind.«

Stetten ließ sich schwer in den Besprechungssessel am Kopfende des Konferenztischs fallen und zog den Teller mit den Schnittchen zu sich.

Wieder einmal war Wolf verblüfft, wie wenig Herbert Stetten dem Klischee eines Anwalts in seiner Position entsprach. Der letzte noch lebende Gründungspartner von HSW trug zwar wie gewohnt einen Maßanzug nebst sorgfältig ausgewähltem Hemd und Krawatte, aber diese Kleidungsstücke verfehlten ihre Wirkung: Anstatt Stettens Proportionen zu optimieren, hoben sie deren Schwächen erst recht ins Bewusstsein. Stettens rosige Fleischigkeit, sein mit Frisiercreme nach hinten gekämmtes, weißes Haar, die leicht hervortretenden, hell bewimperten blauen Augen und das fliehende Kinn erweckten den Eindruck einer etwas unbedarften Gutmütigkeit. Dieser Eindruck täuschte, wie Wolf wusste, seitdem er Stetten in seiner Anfangszeit bei HSW zu Vertragsverhandlungen mit einem besonders beratungsresistenten Mandanten begleitet und miterlebt hatte, wie der Häuptling den Mann in weniger als einer Stunde auf Kurs gebracht hatte. Als Stetten dem Mandanten zum Abschied die Hand schüttelte und lächelte, waren Wolf zum ersten Mal seine Zähne aufgefallen. Sie standen weit auseinander und waren kurz und spitz wie bei einem Frettchen.

Jetzt arbeitete sich Stetten gerade an einem Schinkenbrötchen ab und deutete in Richtung einer Colaflasche in der Mitte des Tischs. Pahlow öffnete die Flasche und reichte sie dem Chef. Stetten nahm einen langen Zug, schob sich noch ein Schnittchen in den Mund und wandte sich dann, immer noch kauend, an Wolf.

»Kollege Pahlow hat schon berichtet. Wir haben die Hannoveraner im Sack. Gute Arbeit.«

»Danke.« Wolf lächelte. ›Komm schon Alter, sag, was Sache ist‹, dachte er.

Stetten tupfte sich die Lippen sorgfältig mit einer Serviette ab und starrte sekundenlang ins Leere. Dann gab er sich einen Ruck.

»Christof Nolden ist tot«, sagte er.

Einen Moment herrschte Stille.

»Herzinfarkt«, ergänzte Pahlow schließlich. »Heute Nacht. Seine Frau hat uns angerufen. Die Medien wissen noch nichts.«

Wolf sah von Stetten zu Pahlow. »Was ist mit der Nachfolge?«, fragte er.

»Saskia Nolden übernimmt den Vorsitz der Geschäftsführung«, sagte Pahlow.

»Noldens Frau? Aber die war doch bisher überhaupt nicht ins Geschäft eingebunden.«

»Nolden hatte sonst wohl niemand, dem er getraut hat«, sagte Pahlow. »Und seine beiden bisherigen Prokuristen rücken in die Geschäftsführung auf. Entscheidend ist ja ohnehin die Gesellschafterversammlung.«

»Und wie sieht es da aus?«, fragte Wolf.

»Saskia Nolden bekommt einundzwanzig Prozent der Anteile«, sagte Pahlow. »Die drei Kinder jeweils achtzehn. Die Anteile der Kids werden bis zur Volljährigkeit von Treuhändern gehalten. Die restlichen fünfundzwanzig Prozent gehen an Alexander Windeck, einen Jugendfreund von Nolden. Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit von einundsechzig Prozent.«

»Das sind doch alles Nebenschauplätze, Pahlow.« Stetten langte quer über den Tisch nach dem Schnittchenteller.

An Pahlows Hals erschienen unschöne rote Flecken.

»Nolden hat per Testament einen Beirat eingezogen, bis die Kinder volljährig sind«, fuhr Stetten fort. »Voller Zugriff auf die Unterlagen der Geschäftsführung, weitreichende Kompetenzen, der Vorsitz liegt beim Mandatsführer von HSW.«

›Daher weht der Wind‹, dachte Wolf. »Wann kommt Bensheim zurück?«, fragte er. »Die Reha müsste doch bald abgeschlossen sein.«

Pahlow suchte Blickkontakt zu Stetten, aber der schien tief in Gedanken versunken.

»Das ist unser zweites Problem«, sagte Pahlow endlich. »Michael Bensheim hat aus gesundheitlichen Gründen um sein Ausscheiden aus der Sozietät ersucht.«

Wolf spürte, wie sich die Härchen auf seinem Unterarm aufstellten. Er hatte Bensheim zwei- oder dreimal bei irgendwelchen standortübergreifenden Veranstaltungen getroffen. Im Vergleich zu den anderen Partnern bei HSW hatte der Kölner etwas farblos gewirkt, trotzdem – der Mann war keine fünfzig und hatte einen eigentlich ganz fitten Eindruck gemacht. Als Bensheim Anfang November von einem Tag auf den anderen ausgefallen war und Stetten ihm die Vertretung angetragen hatte, war Wolf daher wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es um eine bloße Übergangsregelung für zwei, höchstens drei Monate ging. Das war jetzt offensichtlich nicht mehr der Fall. Damit verschob sich das gesamte Koordinatensystem.

»Michael Bensheim hat in den vergangenen Jahren gute Arbeit gemacht«, sagte Stetten. »Aber eigentlich hatten wir schon vor seiner Erkrankung entschieden, das Nolden-Mandat zentral von Berlin aus zu betreuen.«

Pahlow nickte. »Als wir im Herbst in der Partnerversammlung darüber beraten haben, war das Votum einstimmig«, sagte er. »Keiner der Counsels ist für diese Herausforderung annähernd so gut aufgestellt wie du.Und ehrlicherweise auch keiner von uns Partnern.«

Stetten lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Wir kommunizieren das zwar nicht nach außen, Herr Wolf, aber Nolden-Bau ist ein Kernmandat von HSW. Und wir vertrauen Ihnen dieses Mandat an, weil wir von Ihren Fähigkeiten überzeugt sind.«

›Verarschen kann ich mich selbst‹, dachte Wolf. ›Von den Partnern will sich mit Nolden-Bau keiner die Finger verbrennen, also soll ich die Kartoffeln aus dem Feuer holen.‹

»Das soll für dich natürlich auch wirtschaftlich abbildbar sein«, sagte Pahlow. »Salary-Partnerschaft ab sofort, Option auf Equity in einem Jahr?« Er lächelte Wolf an.

Wolf lächelte zurück. ›Du lächerlicher Popanz‹, dachte er. Pahlow war vier Jahre älter als er, Ost-Kindheit, nach dem Ausbildung zum Industriekaufmann, Jurastudium in Frankfurt (Oder), Master of Laws in Birmingham, Promotion in Greifswald, Syndikus bei einem mittelständischen Immobilienunternehmen, dann der Wechsel zu HSW. Dort eisern hochgedient. Nach fünf Jahren zum Equity-Partner ernannt. Stettens Mann für Personalthemen – also fürs Grobe. Ein Fleißarbeiter, ein Streber, dabei nicht einmal zwingend unsympathisch. Seit sieben Jahren stolzer Eigentümer eines Townhouse mit Blick auf die Rummelsburger Bucht, vor drei Jahren ein denkmalgeschütztes Pfarrhaus in der Prignitz für die Wochenenden dazugekauft. Die drei Kinder auf einer internationalen Privatschule in Mitte.

Äußerlich war Pahlow von seinen Kollegen aus den alten Bundesländern kaum zu unterscheiden. Nur manchmal, wenn er müde war, oder angetrunken, schlich sich noch ein ostischer Zungenschlag ein. »Die, die verdrängt haben, wo sie herkommen, sind die Schlimmsten«, hatte Wolfs Vater immer gewarnt. Und genau so ein Wendehals saß jetzt vor Wolf und trug ihm die Partnerschaft bei HSWan, als wäre eine Beteiligung an dieser Pommesbude der Jackpot im Lotto. ›Surreal‹, dachte Wolf, ›komplett surreal.‹

»Nur noch mal zum besseren Verständnis, Matthias«, wandte er sich an Pahlow. »Michael Bensheim kann das Nolden-Mandat aus gesundheitlichen Gründen nicht weiterführen und scheidet bei HSW aus. An seiner Stelle soll ich die Mandatsführung und den Beiratsvorsitz bei Nolden-Bau übernehmen. Im Gegenzug werde ich ab sofort zum Salary-Partner ernannt und in einem Jahr zum Equity-Partner? Korrekt?«

»Genau«, sagte Pahlow. Stetten schwieg und starrte mit halb geschlossenen Lidern auf die Tischplatte.

»Das ist ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann, oder?«, fragte Wolf.

Pahlow lachte auf. »Richtig.«

»Falsch.« Stetten war aus seiner Trance erwacht. Pahlow hörte auf zu lachen.

»Falsch«, wiederholte Stetten. »Das ist kein Angebot.« Er lächelte und griff nach dem letzten Schinkenbrötchen.

Sekundenlang war es vollkommen still im Raum. Wolf hatte plötzlich Henning vor Augen, vor acht Jahren auf Fuerteventura, braun gebrannt, schon im Neoprenanzug, das Board auf der Schulter. Auf dem Weg zum Strand hatten sie sich über ihre Ehen unterhalten.

»Weißt doch, wie es ist«, hatte Henning gesagt. »The secret to a long life is knowing when it’s time to go.«

Kurz darauf hatten sie, vielleicht zwei Meter voneinander entfernt, im Line-up gewartet. Wolf spürte, wie sich die Wasserwand unter ihnen aufbaute und an Kraft gewann, wie ein mächtiger Muskel, der sich langsam anspannte.

»Time to go!« Henning hatte gelacht. Zwei Paddelzüge, dann hatte er sich mit einer geschmeidigen Bewegung aufgerichtet und die perfekte Welle genommen.

»Torsten?«, fragte Pahlow.

Wolfs Pulsschlag beschleunigte sich. ›Time to go‹, dachte er, plötzlich euphorisch. ›Jetzt!‹ Und sofort darauf, scharf einschießend, wie Zahnschmerz oder ein Tritt in die Eier, die Erkenntnis, dass er gar nicht gehen konnte, weil, wenn er jetzt ginge, seine bürgerliche Existenz am Arsch wäre. Hilflose Scham flutete jede Zelle seines Körpers.

»Die Bestattung ist kommenden Dienstag. Am Mittwoch haben wir ein gemeinsames Treffen mit der Nolden-Witwe«, sagte Stetten. »Die Wirtschaftsprüfer sind Ende nächster Woche mit dem Jahresabschluss fertig, dann haben Sie mit dem Beirat knapp drei Wochen zur Prüfung. Die Gesellschafterversammlung ist Mitte März.«

Wolf nickte. Verzweiflung schlug über ihm zusammen.

»Schön, dass du an Bord bist, Torsten«, sagte Pahlow. »Kommst du morgen um neun zu mir ins Büro? Dann sprechen wir über die Vertragsdetails.«

Wolf stand auf. Stetten verabschiedete ihn an der Tür des Besprechungsraums. Er lächelte. Zwischen seinen Zähnen hingen Schinkenfetzen.

Drei

Dienstag

19. Februar 2019

Farneigh

Äußere Hebriden

Isa schob den Wiener Kalk von der Platte des Prunktischs, sie wischte sich die Hände an der Jeans ab und begutachtete ihre Arbeit. Vier Wochen hatte sie für das monströse Möbel mit seinen überbordenden Verzierungen und vergoldeten Beschlägen gebraucht. Es war gut, dass sie damit fertig war. Wenn Mischa morgen vom Festland herüberkam, würde sie ihm Bescheid geben, dass das Teil abgeholt werden konnte.

Isa ging ins Bad. Sie wusch sich die Hände und musterte sich dabei im Spiegel. Im letzten Jahr war sie fünfzig geworden. Erste graue Strähnen schimmerten in ihrem aschblonden Haar, ansonsten war das Alter bisher gnädig mit ihr gewesen. Die Konturen ihres Gesichts waren immer noch klar definiert. Hohe Wangenknochen, graue Augen mit manchmal sichtbaren goldenen Reflexen unter lang geschwungenen, dunklen Augenbrauen, eine große, leicht gebogene Nase, die sich zur Spitze hin verjüngte. Der großzügige Mund, den Isa, seit sie denken konnte, als zu sinnlich empfand, wurde durch eine markante Narbe am Kinn noch betont. Isa wusste, dass sie schön war, aber sie hatte sich nie viel aus dieser Schönheit gemacht, und hier auf Farneigh spielte Aussehen ohnehin keine große Rolle.

Als Isa kurz darauf in der Küche Teewasser aufsetzte, schepperte die Briefkastenklappe im Erdgeschoss. Papier schlug dumpf auf den Steinfliesen auf. Isa lief nach unten und holte die Zeitung. Das FAZ-Abo war eine der wenigen Sentimentalitäten, die Can und sie sich zugestanden hatten, seitdem sie auf Farneigh waren. Die Zeitung kam zwar mit tagelanger Verspätung auf der Insel an, aber es ging ihnen ja nicht um Aktualität. Gesprochen hatten Can und Isa darüber nie, aber vermutlich war die Zeitung für sie eine letzte Verbindung zu ihrem alten Leben. ›Oder zum Leben draußen überhaupt‹, dachte Isa.

Farneigh war nur per Satellit an Mobilfunknetz und Internet angeschlossen, und in Barraclaigh, dem Ort, in dem sie seit vier Jahren lebten, brach der Handyempfang oft über Stunden weg, das Internet manchmal für ganze Tage. Am Anfang waren Isa und Can noch regelmäßig an die Ostküste der Insel gefahren, wenn sie telefonieren wollten und gerade kein Netz hatten. Irgendwann hatten sie das aufgegeben. Überhaupt hatten sie vieles aufgegeben, seitdem sie auf Farneigh lebten.

Isa brühte ihren Tee auf. Sie schob Cans Kochbücher beiseite, griff sich ihre Lesebrille und setzte sich mit der Zeitung an den Tisch. Wie immer überflog sie zuerst die Börsenkurse. Als sie zu den Unternehmensnachrichten vorblättern wollte, fiel ihr Blick auf eine halbseitige Todesanzeige.

Christof Nolden, 1957–2019. Der Gründer und langjährige Geschäftsführer unserer Unternehmensgruppe wurde am 14. Februar 2019 jäh aus dem Leben gerissen. Er war der Architekt unseres Erfolgs. Unser Beileid gilt seiner Familie. Die Gesellschafter der Unternehmensgruppe Nolden-Bau.

Darunter, auf einer Viertelseite, die Anzeige von Noldens Familie, die üblichen Pathosformeln, Beisetzung im engsten Familienkreis. Saskia Nolden war nicht unter den Trauernden gelistet. Sie hatte eine eigene Anzeige geschaltet, die den Rest der Seite einnahm.

Wir hatten noch so viel vor. Ich werde Dein Vermächtnis weitertragen, Saskia mit Bertha, Ludwig und Pippin.

Maheesha, Noldens erste Frau, tauchte nirgends auf.

Isa blätterte weiter, bis sie den Nachruf fand. Sunnyboy mit Schattenseiten. Christof Nolden, Bauunternehmer aus Köln, stirbt mit 62. Eine ganze Seite. Genau so viel, wie die Todesanzeigen. Der Nachruf rekapitulierte zunächst Noldens Herkunft aus einer Kölner Beamtendynastie, sein Aufbegehren gegen die Familie und die Anfänge seines Unternehmens im Ostdeutschland der Nachwendejahre. Für Isa interessant wurde es erst danach.

Nolden bemühte sich um eine neue Unternehmenskultur. Seine Retreats für die Belegschaft waren legendär. Vor allem aber trat Nolden in der Öffentlichkeit für eine nachhaltige und transparente Bauwirtschaft ein. Deshalb und aufgrund seines bürgerschaftlichen Engagements – genannt sei hier insbesondere der von ihm privat finanzierte millionenschwere Stadionneubau für den populären Kölner Drittligisten SV Stellwerk 02 – galt Christof Nolden als Lichtgestalt der durch zahlreiche Skandale überschatteten Kölner Immobilienwirtschaft. Auch in dieser Zeitung wurde der Unternehmer mit dem lässigen Charme lange Zeit als Hoffnungsträger gefeiert. Das änderte sich schlagartig, als die für ihre fundierte Hintergrundrecherchen bekannte Architekturzeitschrift Concrete Gold unter der Ägide des Stararchitekten Max Schuen im Oktober 2014 mit einer Enthüllungsstory an die Öffentlichkeit ging, die Noldens zentrale Rolle in einem europaweiten Korruptionsnetzwerk aufdeckte. Auf Zeugenaussagen und interne Dokumente gestützt, konnte Concrete Gold nachweisen, dass Christof Nolden seit den frühen Neunzigerjahren auf seinen Baustellen systematisch Dumpinglöhner aus Südosteuropa eingesetzt hatte, die er durch Securitypersonal aus dem rechtsradikalen Kölner Hooliganmilieu in Schach halten ließ. Mindestens sechs Morde und eine Reihe weiterer ungeklärter Todesfälle gingen laut Concrete Gold auf das Konto von Noldens Schlägertrupp, der sich durch Menschenhandel und Zwangsprostitution ein zweites wirtschaftliches Standbein geschaffen hatte. Zur Vertuschung dieser Umtriebe hatte der bestens vernetzte Nolden Mitarbeiter in Behörden und Ministerien bis hinauf in die Schaltzentralen der EU über fast zwei Jahrzehnte mit Mafiamethoden unter Druck gesetzt.

In den Wochen nach der Veröffentlichung der Concrete Gold-Recherchen schien Christof Noldens Saubermann-Image irreparabel beschädigt, insbesondere, nachdem Europol Ermittlungen gegen den Unternehmer einleitete. Tatsächlich erlosch das Interesse an den kriminellen Machenschaften Noldens so schnell, wie es aufgeflammt war. Concrete Gold stellte das Erscheinen ein, die Redaktion unter der so engagierten wie sachkundigen Leitung von Isabelle Kurzeck verschwand von der Bildfläche. Der auf den Fall angesetzte Europol-Chefermittler legte wenige Wochen nach Beginn der Untersuchungen sein Amt nieder. Unter seinem Nachfolger gerieten die Untersuchungen ins Stocken und verliefen schließlich im Sande. Währenddessen gelang es Nolden-Bau, die kurzzeitig eingebrochenen Umsätze zu stabilisieren und sogar erneut in dynamisches Wachstum zu überführen. Angesichts der drängenden Wohnungsnot und der ausgewiesenen Expertise von Nolden-Bau im Bereich des kommunalen Wohnungsbaus steht das Unternehmen derzeit besser da als je zuvor. Auch Christof Noldens Beliebtheit bei der deutschen Finanzaristokratie wurde von dem Skandal, wenn überhaupt, nur vorrübergehend beeinträchtigt. Nolden und seine zweite Frau, die Unternehmertochter und Kunstsammlerin Saskia Nolden, geborene Karsdorf, waren gern gesehene Gäste bei Empfängen und hochkarätigen Kulturveranstaltungen. Nichts und niemand, so schien es, konnte Christof Nolden aufhalten. Nun ist er, wie erst jetzt bekannt wurde, in der vergangenen Woche im Alter von nur 62 Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Christof Nolden hinterlässt seine Frau und drei kleine Kinder. Die Zukunft seines Unternehmens mit rund 10 000 Mitarbeitern in ganz Deutschland ist offen. Insider vermuten jedoch, dass Noldens Witwe Saskia die Unternehmensführung übernehmen wird.

Isa nahm die Brille ab und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Dann stand sie abrupt auf und ging ans Küchenfenster. Tiefgraue Wolken schoben sich übers Meer in Richtung Küste. Für den Nachmittag war Sturm angesagt. Irgendwann vorher würde Can mit den anderen Männern aus dem Dorf vom Fischen zurückkommen, übernächtigt, mit vor Kälte rissigen Händen und Salzkrusten in den Augenwinkeln. Bis dahin würde Isa ihn nicht erreichen können.

Früher, dachte Isa, hätte sich Sergej gemeldet, um ihr zu sagen, dass Nolden tot war, aber seitdem Sergej mit seiner neuen Freundin zusammen war, hatte sich ihr Verhältnis geändert. Falsch, korrigierte sich Isa, ihr Verhältnis hatte sich nicht geändert, es hatte sich verflüchtigt. Sie drehte sich weg vom Fenster und ging hoch ins Schlafzimmer.

Fünf Minuten später war Isa in Laufklamotten auf dem Weg zum Strand. Es war Ebbe, und die Schorre unter ihren Füßen war hart und unnachgiebig. Isa begann zu laufen. Auch nach beinahe drei Jahren vermisste sie immer noch Liliths asthmatisches Schnaufen an ihrer Seite. Die alte Bullterrier-Hündin war im Frühjahr nach ihrer Ankunft auf Farneigh ganz plötzlich gestorben. Eine Woche später hatte einer von Cans Kneipengästen einen Korb mit Welpen in den Pub mitgebracht. Can hatte ihn weggeschickt. Er hatte Lilith nie gemocht, trotzdem war ihm klar gewesen, dass sie für Isa nicht ersetzbar war.

Also rannte Isa jetzt allein an der Brandungslinie entlang und rekapitulierte dabei die Toten, die auf Christof Noldens Konto gingen: die beiden Männer, die gegen die Arbeitsbedingungen auf einer Baustelle von Nolden-Bau in Dresden protestiert und kurz darauf ermordet in der Baustelleneinfahrt gelegen hatten. Isas Freund Saban, der Dachdecker, der auf einer Baustelle von Nolden-Bau in den Tod gestürzt war, weil sein billiger Sicherungsgurt nicht gehalten hatte. Cans Ex-Freundin, Marie, eine Sozialarbeiterin, die Noldens Security-Söldner erschlagen und in einem Müllcontainer entsorgt hatten, weil sie herausgefunden hatte, dass Nolden auch im Rotlichtmilieu Geschäfte machte. Die vier Männer, die Noldens Leute im Herbst vor vier Jahren in Köln umgebracht hatten. Jossif Babatov, der Junge, der gegen Nolden-Bau ausgesagt hatte und der, nachdem ihm das LKA den Zeugenschutz verweigert hatte, aus Angst vor Noldens Männern vor einen Zug gesprungen war. Die Frau, die Noldens Hools an einer serbischen Autobahnraststätte vor Cans Augen hingerichtet hatten.

Und Rudi natürlich.

Isa erinnerte sich an den Anruf von Nina an einem Nachmittag im November, kurz nachdem Can und Isa auf Farneigh angekommen waren.

»Rudi ist wieder drauf«, hatte Nina gesagt.

»Seit wann?«

»Paar Tage nachdem ihr in Brüssel wart.«

»Wie ist er an den Stoff gekommen?«

»Hat ihm wohl jemand angeboten.«

»Diese verdammten Arschlöcher!«

»Baro meint, einmal Junkie, immer Junkie.«

»Denkst du das auch?«

Nina hatte geschwiegen. Drei Wochen später hatte Rudi tot in dem Tourbus gelegen, mit dem Nina und ihre Sinti-Swing-Combo damals unterwegs gewesen waren. Goldener Schuss mit neunundvierzig. Kurz darauf hatte Rudis Vater seinen Posten bei Europol quittiert.

In dem langen Winter danach, in dem das Medieninteresse am Nolden-Skandal erloschen war und immer klarer wurde, dass Christof Nolden die Affäre unbeschadet überstehen würde, hatte es keinen Tag gegeben, an dem Isa nicht mit sich und der Welt gehadert hatte. An Silvester war Sergej zu Besuch auf die Insel gekommen. Isa hatte gegen die Behörden gewütet, die einen wie Nolden davonkommen ließen, weil sie gemeinsame Sache mit der organisierten Kriminalität machten, schlimmer noch, weil sie selbst Teil dieser organisierten Kriminalität waren.

Sergej hatte geschwiegen. Er hatte seinen Whisky getrunken und sich irgendwann für die Nacht verabschiedet. Erst als er abgereist war, hatte Isa begriffen, dass er nicht der richtige Adressat für ihre Empörung war. Sergej hatte nach dem Fall des Sowjetregimes innerhalb weniger Jahre ein Milliardenvermögen gemacht. Mitte der Neunziger waren seine Frau und sein kleiner Sohn in Moskau unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Seitdem lebte Sergej im Londoner Exil. Offiziell widmete er sich nur noch philanthropischen Projekten, aber als Isa und Can vor vier Jahren hatten untertauchen müssen, war es Sergej gewesen, der innerhalb von Stunden astreine neue Papiere an der Hand gehabt und sie sicher aus Deutschland herausgebracht hatte. Vermutlich, dachte Isa, war das nicht der einzige krumme Deal gewesen, den Sergej in den letzten Jahren gedreht hatte, und vermutlich war Sergejs Blick auf korrupte Staatsbedienstete pragmatischer als der ihre.

Sergej war seither nicht wiedergekommen, genauso wenig wie Max Schuen, der Isa im ersten Sommer auf Farneigh besucht hatte.

»Es war alles umsonst«, hatte Isa damals bei einem Dünenspaziergang mit Max gesagt. »All die Jahre. Die ganze Arbeit. Die Hintergrundrecherchen. Die Überstunden. Unser ganzes Leben. Für nichts. Nolden läuft weiter frei herum und lässt Menschen umbringen, und niemand interessiert das. Nolden hat gewonnen. Wie kann das sein, Max? Wir können alles beweisen und der Mann ist trotzdem noch im Geschäft?«

Der alte Architekt hatte sich in die Dünenböschung gesetzt, den Blick aufs Meer.

»Erinnerst du dich, als wir mit Concrete Gold angefangen haben, Isa? Da haben wir genau über diese Möglichkeit gesprochen. Damals hast du gesagt, das Risiko hättest du eingepreist, und es wäre dir egal.«

»Damals war ich mir selbst egal.«

»Und jetzt ist das anders?«

Isa hatte an ihrem Daumennagel genagt und stumm genickt.

»Wegen Can?«

»Weiß nicht.«

Aber natürlich wusste Isa, dass es an Can lag. Als sie vor knapp zwanzig Jahren zusammen mit Max Concrete Gold gegründet hatte, war sie Anfang dreißig gewesen, ihr Körper war vom Krebs gezeichnet, sie hatte einen Selbstmordversuch und Monate in einer psychosomatischen Klinik hinter sich. Dass sie sich je wieder von einem Mann, geschweige denn von Can, würde berühren lassen, war unvorstellbar gewesen. Berührt werden hätte bedeutet, etwas zu empfinden und das hätte Isa nicht mehr ertragen. Concrete Gold hatte ihr fast zwei Jahrzehnte die Möglichkeit gegeben, sich hinter Arbeit zu verschanzen und sich Menschen und Gefühle vom Leib zu halten. Can hatte in der Zeit Karriere bei der Kölner Mordkommission gemacht, und Isa vermutete, dass der Polizeidienst mit seinen ewigen Überstunden für ihn genauso funktioniert hatte, wie ihr Knochenjob bei Concrete Gold. Sie hatten sich die Wohnung im Belgischen Viertel geteilt und so getan, als wären sie nur eine x-beliebige Zweck-WG. Dann war Can vor vier Jahren bei Mordermittlungen im Dumpinglöhner-Milieu zufällig auf eine Spur zu Christof Nolden gestoßen, und mit einem Schlag hatte sich alles geändert. Can und Isa waren gemeinsam geflohen und hatten darüber noch einmal zueinander gefunden – ein Wunder, auf das Isa immer noch nicht recht vertrauen wollte. Umso mehr schmerzte es sie, dass Can sich so problemlos in das Leben auf Farneigh eingefunden hatte, während sie selbst von Unrast und Selbstzweifeln getrieben war.

»Ich habe es versaut. Ich habe zwanzig Jahre für eine Sache gekämpft und verloren«, hatte sie kurz nach Max’ Abreise beim Abendbrot zu Can gesagt.