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Susanne Saygin

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Beschreibung

Für den türkischstämmigen Polizisten Can und das Ermittlungs-Team um seine Vorgesetzte Simone fängt alles mit einem Doppelmord im Roma-Milieu in einer deutschen Großstadt an. Doch dieses Verbrechen zieht schnell weite Kreise: Korruption, Menschenhandel und das Schicksal derjenigen, die von der Gesellschaft nichts mehr zu erwarten haben, sind der Schmelztiegel, in dem sich dieser fesselnde, emotionale und realistische Roman um das Leben und Überleben in unserer heutigen Zeit entfaltet. Der Polizist Can tut alles, um die Wahrheit zu finden und gleichzeitig seine Menschlichkeit nicht zu vergessen. Sein Kampf gegen die eigene Fehlbarkeit ist zugleich eine kraftvolle Suche nach Erlösung und Liebe.

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Das Buch

Für den türkischstämmigen Polizisten Can und das Ermittlungs-Team um seine Vorgesetzte Simone fängt alles mit einem Doppelmord im Sinti- und Roma-Milieu in einer deutschen Großstadt an. Doch dieses Verbrechen zieht schnell weite Kreise: Korruption, Menschenhandel und das Schicksal derjenigen, die von der Gesellschaft nichts mehr zu erwarten haben, sind der Schmelztiegel, in dem sich dieser fesselnde, emotionale und realistische Roman um das Leben und Überleben in unserer heutigen Zeit entfaltet. Der Polizist Can tut alles, um die Wahrheit zu finden und gleichzeitig seine Menschlichkeit nicht zu vergessen. Sein Kampf gegen die eigene Fehlbarkeit ist zugleich eine kraftvolle Suche nach Erlösung und Liebe.

Die Autorin

Susanne Saygin, geboren 1967, aufgewachsen im Rheinland, Geschichtsstudium in Köln und Cambridge, Promotion in Oxford. Danach Tätigkeit im akademischen Projektmanagement und in der freien Wirtschaft (u. a. für einen Finanzberater für deutsche Fußball-Erstligavereine). Die Autorin mit deutsch-türkischen Wurzeln hatte ihren Lebensmittelpunkt knapp zwanzig Jahre lang in Köln. Seit 2010 lebt und arbeitet sie in Berlin. Für ihren Debütroman »Feinde« hat die Autorin über fünf Jahre lang recherchiert.

Susanne Saygin

FEINDE

THRILLER

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Susanne SayginCopyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Heiko ArntzUmschlaggestaltung: Cornelia Niere unter Verwendung eines Motivs von © Joe Pedro Domingues/EyeEM/gettyimagesSatz: Leingärtner, NabburgISBN: 978-3-641-20161-6V002
www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden,

diese ein wenig Flüchtigern noch als wir selbst …?

RAINER MARIA RILKE

1

Eine Axt. Can wollte eine Axt, um mit einem Schlag den Schädel zu spalten, um die Hirnmasse bloß zu legen und den Schmerz für immer auszulöschen.

Der Anfall hatte während der Besprechung begonnen. Cans rechte Gesichtshälfte wurde taub, das Auge trübte ein, dann kam die Übelkeit in langen Wellen. Irgendwie stand er die Besprechung durch. Danach kotzte er sich auf der Bürotoilette die Seele aus dem Leib. Als er zurückkam, musterte ihn Simone kurz und schickte ihn dann nach Hause. Das diffus-grelle Licht des Spätsommernachmittags fraß sich in Cans Netzhaut. Der August war der heißeste seit Jahren gewesen. Die Stadt lag seit Wochen unter einer Glocke aus Abgasen und Staub. Can ging mechanisch vom Präsidium zur Haltestelle und nahm die erste Bahn. In der abgestandenen Luft des Waggons fiel ihn der saure Schweißgeruch der Frau neben ihm ungeschützt an. Zu Hause, in der kühlen, dämmrigen Wohnung, erbrach er sich nochmals lange. Danach legte er sich aufs Bett und überließ dem Schmerz die Regie.

Isa kam Stunden später nach Hause. Sie hielt Cans Kopf, als er sich gegen halb drei ein letztes Mal übergab. Danach klammerte er sich zitternd ans Waschbecken. Isa legte den Arm um ihn und brachte ihn zurück zum Bett. Sie war fast schon wieder draußen, als Can sich bedankte.

»Beinahe wie früher, was?«, sagte Isa, ohne sich umzudrehen. Dann zog sie die Tür hinter sich zu.

Um halb sechs riss ihn das Telefon aus einem dumpfen Halbschlaf. Graues Licht drang durch die Ritzen der Jalousie.

»Vergiss es, Simone! Der hat die ganze Nacht gekotzt.« Isas Stimme war rau vor Müdigkeit.

Can rappelte sich hoch, öffnete die Tür zum Flur und nahm Isa das Telefon aus der Hand.

»Simone, was ist?«

»Doppelmord. Wir brauchen jemand, der Türkisch kann«, Simone klang angespannt.

»Was ist mit Erdal?«

»Hat Urlaub.«

Can legte die Hand über sein rechtes Auge und lehnte sich an die Wand.

»Wo muss ich hin?«

»Butzweiler Hof. Der Wertstoffhof von der AWB, Sperrmüllanlieferung.«

»Gib mir ’ne halbe Stunde.«

Can rief ein Taxi und ging ins Bad. Sein Gesicht im Spiegel war aschfahl. Tiefe, leberfarbene Schatten lagen unter seinen Augen. Er duschte und zog sich an.

Als er aus dem Bad kam, wäre er fast über Isas Bullterrierhündin Lilith gestolpert, die sich an einem Kauknochen zu schaffen machte. Isa stand in ihren Laufklamotten in der Küche und schenkte sich einen Espresso ein. Selbst ihrem Rücken war anzusehen, dass sie sauer war. Sollte sie doch. Can hatte seinen Job zu tun. Er griff seine Jacke und ging, ohne sich zu verabschieden.

Im Taxi schlug ihm das klebrig-süße Aroma eines Duftbäumchens entgegen. Can drehte das Fenster herunter und versuchte seine Übelkeit zu unterdrücken.

Am Wertstoffhof standen Dutzende Streifenwagen. Rot-weißes Absperrband war quer über die Straße gespannt. Dahinter war der Erkennungsdienst zugange. Ein Scheinwerfer warf grelles Licht auf zwei Körper, die eng beieinander auf dem Asphalt lagen. Der Staatsanwalt war offenbar schon wieder weg. Journalisten waren auch nicht zu sehen. Simone stand bei einer Gruppe Kollegen. Als sie Can sah, kam sie zu ihm herüber.

»Was ist passiert?«, fragte er.

Simone hatte einen harten Zug um den Mund. Genau wie Müller, der Leiter des Erkennungsdienstes, der mit einem knappen Kopfnicken zu ihnen getreten war. Ein junger, blonder Streifenbeamter, der unruhig am Absperrband auf und ab lief, kam Simone zuvor.

»Zwei Zigo-Stricher. Nasenlöcher mit Tape zugeklebt, in 69er-Stellung gebracht, Schwanz und Eier ins Maul, dann das Ganze mit Spanngurten fixiert. Na, was glaubst du, was die gemacht haben?« Der Blonde machte eine obszöne Hüftbewegung in Cans Richtung und schnappte mit den Zähnen. »Happa-happa!« Blondie kicherte nervös.

Can drehte sich um, ging hinter einen der Streifenwagen und kotzte, bis aus seinem Magen nur noch Galle pumpte. Danach lehnte er erschöpft an dem Wagen. Simone reichte ihm eine Flasche Wasser. Can nahm einen tiefen Zug. Das Wasser schmeckte süß.

»Was für ein Wichser«, sagte Simone.

»Hat halt jeder seine Art, mit so was klarzukommen.« Can nahm noch einen Schluck. »Stimmt, was er erzählt?«

Simone nickte stumm und nagte an ihrem Daumennagel. »Die Jungs waren höchstens zwanzig«, sagte sie schließlich. »Sind vermutlich aus einem fahrenden Wagen abgeworfen worden. Da haben sie noch gelebt.«

»Wann?«

»Drüben im Möbelhaus wird bis elf gearbeitet. Irgendwann danach. Ein Wachmann vom Wertstoffhof hat um halb fünf den Notruf abgesetzt. Den haben wir schon befragt. Der weiß nichts.«

»Und wieso Zigeuner?«

»Roma«, korrigierte Simone. »Zigeuner ist eine negative Fremdbezeichnung.«

»Oh, die Sprachpolizei reitet wieder.«

»Du willst ja auch nicht Kanake genannt werden, oder?«

»Okay, noch mal. Wieso gehen wir davon aus, dass das Roma sind?«

»Klein, dunkel, bulgarische Pässe. Außerdem sind hier am Schrottstrich nur Roma zugange. Da liegt der Schluss nah.«

»Seit wann ist hier ein Strich?«

»Schrottstrich. Betonung auf Schrott. Kein Sex. Morgens, wenn der Wertstoffhof aufmacht, fahren hier die bulgarischen Transporter vor und laden ihre Männer ab. Alles Roma. Die stehen dann an der Auffahrt und versuchen, den Leuten ihren Sperrmüll abzuquatschen, bevor sie den auf die Kippe fahren. Vor allem Waschmaschinen, Kühlschränke und Tiefkühltruhen. Wenn die Männer Glück haben, kriegen sie tatsächlich was ab. Das, was davon brauchbar ist, holt am Abend der Transporter, der Rest fliegt in die Büsche.«

»Wer kontrolliert das Geschäft?«

»Unklar. Aldenhoven und Terzuolo sitzen dran. Um neun ist Einsatzbesprechung.« Simone starrte auf einen ausgeweideten Kühlschrank, der am Straßenrand lag. »Du warst länger nicht mehr hier, oder?«, fragte sie unvermittelt. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Warum auch. Ihr habt ja nichts mehr zum Wegwerfen.«

Can registrierte die Spitze. Simone war seit Monaten dauergereizt, und es fiel ihm immer schwerer, ihre Seitenhiebe zu ignorieren. In diesem Fall hatte sie aber zumindest in der Sache recht: Isa und er hatten tatsächlich nichts mehr zum Wegwerfen. Vor ein paar Jahren hatte Isa die Wohnung im Belgischen Viertel gekauft, in der sie schon seit den Achtzigern zur Miete gewohnt hatten. Nach dem Kauf hatten sie radikal entrümpelt. Geblieben waren nur Dinge, die ihnen etwas bedeuteten – der Küchentisch aus der Anfangszeit der WG, die dänischen Teakmöbel von Cans Eltern, das Knoll-Sofa vom Sperrmüll, eine der beiden klassizistischen Kommoden, die Isa Anfang der Neunziger auf einem Flohmarkt in der Eifel gekauft hatte, ein paar alte Stühle. Die blanken Wände waren weiß gekalkt, in manchen Zimmern auch lichtgrau. Isa hatte die Bodendielen mit einem Gasbrenner angeflämmt und mit Wasser abgelöscht. Danach hatte sie die verkohlte Oberfläche abgeschliffen und mit Leinöl versiegelt, bis sich das jetzt schieferfarbene Holz wie Samt unter den Füßen anfühlte.

Simone war nicht die Einzige, die die Wohnung unwirtlich fand. Cans Freund Thomas bezeichnete sie wahlweise als »Eispalast« oder »Reinraumlabor«. Can mochte das so. Klarheit. Keine Sentimentalitäten. Eine feste Burg gegen den Zoo da draußen.

Müller, der Mann vom Erkennungsdienst, riss ihn aus seinen Gedanken. »Identifizierung wird schwierig. An den Pässen sind nur die Fotos echt.« Er reichte Simone und Can einen Farbscan aus dem mobilen Einsatzbüro.

Can studierte die Passbilder der Toten. Die beiden Männer hatten kurzes, schwarzes Haar und bronzefarbene Haut. Der eine war dunkeläugig, mit einem mädchenhaft feinen Gesicht, das nur durch eine auffällige Narbe an der linken Wange überraschende Härte erhielt. Der andere hatte große, helle Augen und einen üppigen Mund.

›Hübsche Jungs‹, dachte Can.

»Wie ist das Streifenhörnchen vorhin eigentlich darauf gekommen, dass das Stricher waren, wenn hier nur in weißer Ware gemacht wird?«, wandte er sich an Simone.

»Die Jungs hatten die Augen mit hellgrünen Halstüchern verbunden und in den Hosentaschen hell- und dunkelblaue Tücher.«

»Und?«

»Hanky Code«, sagte Simone. »In der Szene hat jedes Tuch eine Bedeutung, hellgrün – Stricher, hellblau – Schwanzlutscher, dunkelblau – anal und so weiter. In allen Farben des Regenbogens. Ist eine Queer-Geschichte. Musst du nicht kennen.«

Can musterte Simone verstohlen. Sie war seit zwölf Jahren seine Chefin und wenn es nach ihm ging, waren sie befreundet. Trotzdem gab es Dinge in ihrem Leben, die ihm immer fremd bleiben würden. Simone war gleich nach dem Abitur aus einem erzkatholischen Eifelkaff nach Köln gekommen. Zwei Semester später hatte sie ihr Theologiestudium geschmissen und war zur Polizei gegangen. Ihre Abschlussarbeit an der Akademie hatte sie über das verklemmte Verhältnis der Bullerei zu Schwulen und Lesben geschrieben. Das hatte Simone ein paar anerkennende Berichte in überregionalen Zeitungen eingebracht, ihr aber den Einstieg bei der Truppe nicht unbedingt erleichtert. Die ersten Jahre hatte Simone sich als Streifenpolizistin in Berlin-Kreuzberg durchgebissen, dann war sie nach Köln zur Mordkommission gekommen, die einzige Erste Kriminalhauptkommissarin unter lauter Männern, keine Schönheit, dafür durchtrainiert wie ein Pitbull.

Niemand hatte damals mit ihr arbeiten wollen. Can hatte sich aus purem Gerechtigkeitssinn in ihr Team gemeldet und seine Entscheidung nie bereut. Simone war eine exzellente Polizistin, sie redete wenig und ließ im Normalfall nicht die Chefin raushängen. Wenn sie unter Druck war, wurde sie manchmal rauer im Ton, aber da konnte Can eigentlich immer ganz gut gegensteuern, genau wie Simones Freundin, Claudia, eine große, etwas sperrige Frauenärztin, mit der Simone seit sieben Jahren zusammen war. Im letzten Sommer hatte Claudia einen Adoptionsantrag gestellt. Seitdem warteten die beiden Frauen auf ein Kind. Die Vorstellung, dass sich Claudia und Simone nach Feierabend in der Szene herumtrieben, womöglich noch mit irgendwelchen bunten Tüchern in den Hosentaschen, berührte Can peinlich. Von seinen anderen Kollegen wollte er ja auch nicht wissen, ob sie am Wochenende in den Swinger-Club gingen.

Simone hatte sich inzwischen durch die Passkopien geblättert. Jetzt legte sie die Ausdrucke entnervt weg.

»Kyrillisch war noch nie meins, und wieso der Wachmann behauptet, dass die Bulgaren hier alle Türkisch sprechen, muss ich auch nicht verstehen, oder?«

»Schon mal was vom Osmanischen Reich gehört?«, fragte Can. »Schlacht auf dem Amselfeld? Die Türken vor Wien? Na, klingelt da was?«

»Danke für die Multikulti-Geschichtsstunde, Can Efendi, aber eigentlich will ich hier einfach nur Polizeiarbeit machen. Passt das, oder willst du lieber nach Hause, deine Mädchenmigräne schieben?«

Can sah Simone an. Dieses Mal hatte sie sich im Ton vergriffen. Er würde mit ihr reden müssen. Aber nicht jetzt. Später, wenn sie hier fertig waren.

»Wie willst du’s angehen?«, fragte er.

»Der Wertstoffhof macht um acht auf. Kurz danach schlagen die ersten Schrottsammler auf. Von denen brauchen wir eine Aussage. Bis dahin kannst du vielleicht noch mal dein Glück mit dem Wachmann versuchen.«

Der Wachmann, ein verhärmter Mann um die sechzig, sah in seinem akkuraten grauen Synthetik-Anzug wie verloren aus. Er saß mit halb geschlossenen Augen in einem Streifenwagen und murmelte tonlos vor sich hin, während die Perlen einer Gebetskette durch seine Finger glitten. Can sprach ihn behutsam auf Türkisch an.

»Ich habe nichts gesehen. Ich habe damit nichts zu tun, Herr Kommissar.« Der immer gleiche demütige Singsang, in den ältere Migranten oft gegenüber Vertretern der deutschen Obrigkeit verfielen.

»Das glaube ich Ihnen«, sagte Can. »Aber Sie haben meinen Kollegen erzählt, dass die Schrottsammler Türkisch sprechen, und da haben wir gedacht, Sie hätten die Toten vielleicht gekannt.«

»Die waren doch ganz neu da! Und glauben Sie, nur weil die Türkisch sprechen, rede ich mit denen? Betteln und klauen, was anderes können die nicht! Und zu Hause stellen sie sich dann ihre Paläste hin! Dieses Zigeunerpack haben sie in die EU geholt, aber wir Türken sind dafür nicht gut genug.«

›Hoch lebe die internationale Solidarität‹, dachte Can.

»Gehören die Schrottsammler irgendwie zusammen? Waren die vielleicht verwandt?«, fragte er.

»Bei denen sind doch alle miteinander verwandt. Die ficken ihre eigenen Mütter, wenn sie können. Das sind schlechte Menschen. Die haben das verdient, was die mit denen gemacht haben.« Der Wachmann vergrub sein Gesicht in den Händen und begann still zu schluchzen.

Can besorgte eine Thermoskanne Tee und ein paar Päckchen Zucker. Er reichte dem Wachmann einen Becher und schenkte sich selber ein. Dann setzte er sich neben den Mann und hörte dem Klicken seiner Gebetskette zu.

Kurz nach acht rief ihn Simone zu sich.

»Sie sind da«, sie zeigte auf einen verbeulten, weißen Transporter, der an der Auffahrt zum Wertstoffhof stand. »Der wollte gleich wieder abdrehen, als er uns hier gesehen hat. Die Kollegen konnten ihn gerade noch abfangen.«

Can sah zu dem Transporter. Am Lenker saß ein massiger Mann um die vierzig. Er rauchte und starrte gleichmütig zu ihnen herüber. Sein Unterarm hing aus dem Fenster. Can registrierte die Knasttätowierungen, die sich von den Fingern des Mannes bis zu den Ellenbogen zogen und wusste, dass von ihm keine Kooperation zu erwarten war. Blieb die Handvoll Männer, die sich an der Ladeklappe des Transporters drängten. Die Angst vor dem Fahrer stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Can besprach sich kurz mit Simone, dann orderte er zwei besonders hoch gewachsene Streifenpolizisten mit breitem Kreuz zu sich. Sie gingen zusammen zu dem Transporter.

»Raus! Papiere!«, herrschte Can den Fahrer auf Deutsch an.

Der Mann ließ sich Zeit beim Aussteigen. Grinsend reichte er Can seinen abgegriffenen Reisepass. Der Pass war in Ordnung, ebenso wie die anderen Papiere des Fahrers. Trotzdem reichte Can die Dokumente an die Streifenpolizisten weiter und gab dem Fahrer Order, mit den beiden mitzugehen. Der Mann zuckte mit den Schultern und ließ sich von den Polizisten zu einem entfernt parkenden Streifenwagen geleiten.

Sobald der Fahrer außer Hörweite war, wandte sich Can den Männern an der Ladeklappe zu. Er musterte sie schweigend und winkte schließlich den Ältesten zu sich, einen hageren Mittdreißiger mit den verbrauchten Zügen eines Mannes, der seinen Hunger sein Leben lang mit Zigaretten betäubt hatte. Als Can ihn auf Türkisch ansprach, flackerte im Gesicht des Schrottsammlers für einen Moment Überraschung auf, dann verschlossen sich seine Züge wieder.

»Wo kommt ihr her?«, fragte Can.

Der Mann zögerte, bevor er antwortete. »Bulgarien. Plovdiv. Stolipinovo«, sagte er schließlich kaum hörbar.

»Was macht ihr hier in Köln?«

»Wir sammeln Elektroschrott. Den verkaufen wir in Bulgarien. Das ist nicht verboten. Was wollen Sie von uns?«

Can zeigte dem Mann die Scans der Passfotos. »Die beiden Männer hier sind tot. Ermordet. Die Leichen lagen vorne in der Auffahrt. Wir wollen rauskriegen, wer das war. Dazu brauchen wir eure Hilfe.«

Der Schrottsammler sah auf die Bilder. Eine Ader über seiner Schläfe begann zu pochen.

»Nie gesehen.« Er blickte auf. Can sah ihn prüfend an. Der Schrottsammler hielt seinem Blick unbewegt stand. Can wartete ein paar Sekunden, dann bedeutete er dem Mann, dass er gehen konnte.

Simone hatte die Szene an einen Streifenwagen gelehnt beobachtet und gesellte sich jetzt wie beiläufig zu ihm. Neben den Männern wirkte sie bullig, und für einen Moment dachte Can, dass sie mit ihrem ausrasierten Nacken und dem weißblond gefärbten Bürstenschnitt aussah wie eine Skinbraut aus dem Osten. Gut so, ein wenig Einschüchterung konnte nicht schaden.

»Ich werde denen ein bisschen Druck machen müssen. Hast du ein Problem damit?«, fragte er.

»Wenn’s der Wahrheitsfindung dient«, Simone zuckte mit den Schultern. »Pass aber auf, dass von der Journaille keiner was mitbekommt. Den Clown vom KM haben Müller und ich vorhin schon verarztet.«

Can wandte sich wieder den Männern zu.

»Zwei von euren Leuten sind umgebracht worden«, sagte er auf Türkisch. »Wir suchen die Mörder. Ich befrage jetzt jeden einzelnen von euch. Danach prüfen meine Kollegen eure Papiere. Falls da was nicht in Ordnung ist, werdet ihr morgen ausgewiesen und bekommt drei Jahre Einreisesperre. Verstanden?«

Die Männer standen stumm. Can führte einen nach dem anderen zum Streifenwagen und zeigte die Fotos. Das Reaktionsmuster war immer das gleiche: Erkennen. Angst. Leugnen. Nur der Jüngste war der Sache nicht gewachsen. Er warf einen Blick auf die Fotos und versuchte im nächsten Moment zu türmen. Nach ein paar Metern hatte Can ihn eingeholt. Er rang ihn nieder, drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihm ein Knie ins Kreuz.

Der Pass des Jungen steckte in der hinteren Hosentasche. Jossif Nikolov Babatov, achtzehn, wohnhaft in Plovdiv-Stolipinovo, Bulgarien, laut eingeklebtem Gewerbeschein selbstständiger Trockenbauer. Can betrachtete das Passbild: Babatovs verschlossenes Straßenkatergesicht sah jünger aus als achtzehn, und der Junge war so dünn, dass sich seine Rippen unter dem verwaschenen T-Shirt abzeichneten.

Can drehte sich um. Die anderen Männer waren außer Hörweite. Er drückte den Jungen grob zu Boden und beugte sich zu ihm hinunter.

»Du glaubst, dass sie dir was tun, wenn du uns sagst, was du weißt«, raunte er Babatov ins Ohr. »Du brauchst keine Angst zu haben. Wir können dich schützen. Wir sind die Polizei. Ich taste dich jetzt weiter ab. Wenn ich fertig bin, steckt eine Karte mit meiner Handynummer in deiner Hosentasche. Mein Name ist Can Arat. Falls du uns was erzählen willst, rufst du mich an. Aber auf keinen Fall von einem Handy, nur von einer Telefonzelle. Verstanden?«

Babatov murmelte erstickt Zustimmung.

Wenn sie Pech hatten, würde der Junge untertauchen und nach Bulgarien zurückgehen, ohne sich zu melden. Aber vielleicht hatten sie ja auch Glück, und Babatov würde auspacken. Die Frage war, welche Sicherheiten sie ihm dann bieten konnten. Aber das würden sie klären, wenn es so weit war. Jetzt kam es darauf an, dass die anderen Männer keinen Verdacht schöpften. Can riss den Jungen hoch und stieß ihn zum Transporter.

»Du bleibst dabei, dass du nichts weißt, Wichser?«

»Mit Bullen red ich nicht!«

Babatov stand jetzt breitbeinig vor den anderen Männern und zeigte Can mit beiden Händen den Mittelfinger. »Ich fick deine Mutter, Alter!«

»Meine Mutter ist tot«, sagte Can eher zu sich selbst, während er zu dem Streifenwagen zurückging, in dem Simone saß. Dann signalisierte er den Kollegen, dass sie den Fahrer laufen lassen konnten. Kurz darauf kam der Mann zum Transporter zurückgeschlendert. Er winkte seine Leute in den Wagen, hievte sich auf den Fahrersitz, zeigte Can und Simone das Victory-Zeichen und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

»Arschloch«, sagte Can.

Simone ließ wortlos den Wagen an.

Zurück im Präsidium, musste Simone Rückmeldung beim Staatsanwalt geben. Can ging in sein Büro und fuhr den Rechner hoch. Die Festplatte gab mahlende Geräusche von sich und begann dann quälend langsam Updates herunterzuladen.

Can sah durch die Trennscheibe in den Nebenraum zu Tommaso Terzuolo und Benedikt Aldenhoven. Aldenhoven starrte verbissen auf seinen Bildschirm, Terzuolo hatte den Telefonhörer zwischen Kopf und Schultern geklemmt und hämmerte etwas in die Tastatur, während ihm eine störrische schwarze Haarsträhne immer wieder ins Gesicht fiel. Die beiden Sachbearbeiter saßen an der Hintergrundrecherche zu ihrem Fall, und Can wusste aus Erfahrung, ihnen würde kein Detail entgehen. Dass Simone und er seit Jahren die beste Aufklärungsquote im KK 11, dem Kriminalkommissariat für Todesermittlungen, hatten, war nicht zuletzt das Verdienst der beiden Männer im Innendienst.

Terzuolo, klein, durchtrainiert und immer unter Strom, hatte seinen Sinn für Zahlen und die Begabung zum Netzwerken von seinem Vater geerbt. Der war Ende der Sechzigerjahre aus Palermo nach Köln gekommen, hatte ein Mädchen aus der Südstadt geheiratet und mit ihr einen italienischen Supermarkt aufgemacht. Dass sein einziger Sohn nicht in den Familienbetrieb eingestiegen, sondern zur Polizei gegangen war, hatte Terzuolo senior tief getroffen.

»Der Alte soll sich locker machen«, hatte Terzuolo einmal bei einem Bier zu Can gesagt. »Da, wo der herkommt, müsste er jeden Monat erst mal fünf Riesen hinlegen, damit ihm die Cosa Nostra nicht den Laden zerlegt. Der kann froh sein, dass er hier ist und einen Sohn auf der richtigen Seite hat.«

Neben seinem wendigen Kollegen wirkte Benedikt Aldenhoven mit seinem schweren Körper und dem rheinischen Rundschädel auf den ersten Blick grobschlächtig, fast tumb. Dieser Eindruck täuschte. Schon als Kind hatte Aldenhoven im täglichen Kleinkrieg zwischen seinem despotischen Vater und seiner dünnhäutigen Mutter ein feines Gespür für falsche Töne entwickelt. Vor dem Unglück zu Hause hatte er sich in Bücher geflüchtet und sich dabei das irrwitzige Lesetempo antrainiert, mit dem er sich jetzt durch Aktenberge und Datenbänke fräste und dabei mit schlafwandlerischer Sicherheit immer genau die Bruchstellen aufdeckte, an denen Can und Simone bei ihren Ermittlungen ansetzen konnten.

Wie Terzuolo war auch Aldenhoven zur Polizei gegangen, weil es ihm um Gerechtigkeit ging und weil er Menschen helfen wollte. Welche Hautfarbe diese Menschen hatten, spielte für die beiden dabei genauso wenig eine Rolle wie die Frage, was diese Menschen im Bett trieben oder zu welchem Gott sie beteten.

Can war froh, dass Simone und er Terzuolo und Aldenhoven an Bord hatten und nicht irgendwelche abgefuckten Schreibtischsöldner. Nach Dienstschluss gingen sie oft noch zusammen auf ein Kölsch. In den letzten Monaten allerdings weniger. Terzuolo hatte nie Zeit. Aldenhoven hatte sich vor einem Jahr mit seiner Freundin ein altes Reihenhaus in Bickendorf gekauft und war seither in jeder freien Minute mit Renovieren beschäftigt.

Can klopfte an die Trennscheibe und machte den Kollegen Zeichen, ob sie Kaffee wollten. Sie wollten. Er ging in die Küche und füllte drei Tassen mit dem teerartigen Konzentrat, das seit Stunden in der Kaffeemaschine vor sich hin simmerte.

Als er ins Büro zurückkam, war auch Simone wieder da. Sie gingen in den Besprechungsraum. Das harsche Morgenlicht, das durch die verstaubten Fenster fiel, leuchtete unbarmherzig jede Rötung und jede Unebenheit in ihren Gesichtern aus. Can fuhr sich mit der Hand über das rechte Auge. In der abgestandenen Luft des Besprechungsraums meldeten sich seine Kopfschmerzen mit Macht zurück.

»Die Pässe sind gefälscht, aber wir gehen davon aus, dass die beiden Toten aus Plovdiv-Stolipinovo waren, genau wie die anderen Schrottsammler«, schloss Simone ihre Zusammenfassung der Tatortergebnisse.

»Die Bulgaren am Wertstoffhof haben die Opfer eindeutig gekannt«, sagte Can. »Aber die machen zu. Um an die ranzukommen, brauchen wir mehr Info.«

»Euer Part.« Simone nickte Terzuolo und Aldenhoven zu und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

»Die ersten Schrottsammler sind nach der EU-Osterweiterung 2007 aufgetaucht.« Rumänien und Bulgarien haben damals Visafreiheit bekommen. Ein paar Wochen später haben die Roma von da unten angefangen, in den Westen rüberzumachen«, sagte Aldenhoven.

»Auf dem Balkan sind die ungefähr das, was die Afroamerikaner in den Südstaaten sind – Nigger«, sekundierte Terzuolo. »In Rumänien und Bulgarien nennen sie die Roma tatsächlich oft ›die Schwarzen‹. Wegen der dunklen Haut. Ursprünglich kommen die nämlich aus Indien. Die ersten sind wohl so im dreizehnten Jahrhundert vor irgendwelchen Stammeskriegen im Kaschmirgebiet geflüchtet und dann über Persien und die Türkei nach Europa eingewandert.«

»Da hat man aber nicht unbedingt auf sie gewartet«, übernahm Aldenhoven wieder. »In Rumänien waren die Roma bis in die 1850-er versklavt. Woanders auf dem Balkan war es auch nicht besser. Die waren immer Außenseiter. Und im Zweiten Weltkrieg Freiwild für alle – die deutsche Wehrmacht, die Ustascha in Kroatien, die ganz normalen Bauern auf dem Land. Jeder durfte mal. Zigeunerschlachten war damals Volkssport.«

»Die, die überlebt haben, sollten dann nach dem Krieg in die sozialistische Arbeiterschaft integriert werden, so mit Zwangsumsiedlungen, Sprachverbot und Arbeitspflicht«, sagte Terzuolo. »Bis ’89 haben die meisten auch tatsächlich Jobs gehabt – in der Landwirtschaft, bei der Müllabfuhr, im Bergbau. Nix Dolles meistens, aber Arbeit, mit der sie irgendwie über die Runden gekommen sind.

»Und dann kam die Wende«, Aldenhoven griff nach seiner Kaffeetasse. »Die Wirtschaft im Ostblock ist zusammengebrochen, und die Roma waren die Ersten, die rausgeflogen sind. Arbeit hat von denen seitdem praktisch keiner mehr. Wenn sie Glück haben, machen sie irgendwelche Gelegenheitsjobs. Die meisten leben inzwischen in Ghettos. Auf Müllkippen oder in abgerockten Plattenbausiedlungen, Ferentari in Bukarest, Fakulteta in Sofia, oder eben Stolipinovo in Plovdiv.«

»Laut Regierungsangaben wohnen in Stolipinovo zwanzigtausend Roma«, sagte Terzuolo. »Die Nichtregierungsorganisationen vor Ort gehen von rund sechzigtausend aus. Neunzig Prozent Arbeitslosigkeit. Keine Heizung, Wasserleitungen marode, keine Kanalisation. Die Müllabfuhr kommt alle paar Wochen. In der Zwischenzeit schmeißen die Leute den Abfall einfach aus dem Fenster, und da bleibt er dann liegen.«

»Du siehst die Bilder und denkst, das ist Kalkutta. Schon klar, warum die alle wegwollen«, sagte Aldenhoven. »Sind halt nur ganz schön viele. Die EU geht von zehn Millionen Roma in Europa aus. Die meisten davon auf dem Balkan. Bisher zumindest.«

Simone hatte den Ausführungen von Aldenhoven und Terzuolo immer angespannter zugehört. Jetzt schüttelte sie unwillig den Kopf. »Das bringt uns nicht weiter«, sagte sie abrupt. »Wir sind hier doch nicht im Proseminar Sozialgeschichte. Wir brauchen polizeitaktisch relevante Informationen.«

Aldenhoven und Terzuolo schwiegen irritiert. Sekundenlang herrschte Stille im Raum. Can beobachtete, wie sich ein Tropfen Kondenswasser vom Rand der Wasserflasche vor ihm löste und ganz langsam seinen Weg nach unten suchte. »Kann ich dich mal sprechen, Simone?«, sagte er und ging zur Tür. Simone folgte ihm widerwillig nach draußen.

»Sag mal, was ist heute eigentlich mit dir los?«, fragte Can, sobald die Tür zu war. »Du bist mich vorhin schon ein paar Mal auf ’ne Art angegangen, die ich nicht okay fand, aber wenn du dich jetzt auch noch auf Aldenhoven und Terzuolo einschießt, ist irgendwann mal Ende Gelände.«

»Komm schon, Can, was die beiden da gerade geboten haben, war doch einfach für die Tonne!«

»Und das ist ein Grund, die so anzuranzen?«

»Natürlich nicht.« Simone ließ sich in einen der abgenutzten Kunststoffschalensitze fallen, die an der Wand montiert waren. »Ist halt nur Scheiße, wenn ich von oben die Ansage bekomme, dass wir maximal eine Woche für den Fall haben und keine zusätzlichen Leute kriegen, weil wir ja Terzuolo und Aldenhoven haben, die – Zitat Staatsanwalt – ›so gut sind wie vier normale Sachbearbeiter‹. Und dann haben die zwei Supernasen nach einem halben Tag Recherche nichts zu bieten außer Best of Allgemeinwissen.«

»Eine Woche?« Can lehnte sich mit dem Rücken an die speckige Wand.

»Yep.«

»Für einen Doppelmord?«

»An zwei bulgarischen Roma.«

»Spielt das eine Rolle?«

Simone sah ihn wortlos an. Mit einem Mal wirkte sie unendlich müde.

Can massierte sich sekundenlang schweigend die Schläfe. Dann stieß er sich mit den Schultern von der Wand ab.

»Egal. Normative Kraft des Faktischen. Wir gehen da jetzt wieder rein. Und du hältst erst mal den Rand. Verstanden?«

Simone nagte einen Moment lang an ihrem Daumennagel. Dann nickte sie resigniert und folgte ihm in den Besprechungsraum.

»Noch mal von vorn.« Can sah Terzuolo und Aldenhoven an. »Was gibt es an internem Material?«

Aldenhoven zuckte mit den Schultern. »Fehlanzeige bei Mordsachen, ein bisschen was bei der Unterleibskriminalität, ansonsten fast nur Eigentumsdelikte und Betrug. Aber selbst da – das meiste sind Memos von irgendwelchen ›Task Forces‹ und ›Schwerpunktarbeitsgruppen‹, die mal für ein paar Monate auf das Thema angesetzt waren, bevor wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben worden ist. Statistiken, Handlungsempfehlungen. Gerne auch mal schon ein paar Jahre alt. Mehr ist da nicht.«

»Übergreifende Ermittlungsansätze?«, fragte Can.

»Was genau schwebt dir da vor?«

»Gezielte Datenerhebungen? Zusammenführung von Ermittlungsergebnissen?«

»Ah, unser Kollege möchte die Zigeunerzentrale wiederaufleben lassen.«

»Was bitte?«, fragte Simone.

»Zigeunerzentrale«, sagte Aldenhoven. »1899 von der Münchener Kripo gegründet. Die haben da dreißig Jahre lang nichts anderes gemacht, als deutschlandweit Daten zu Sinti und Roma zu sammeln, angeblich zur Kriminalitätsprävention. 1936 in die ›Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens‹ überführt. Sehr effiziente Behörde. Besonders, als es um die Deportation der deutschen Sinti ins KZ ging. Das haben die von München aus koordiniert. Unter Rückgriff auf ihre zentralen Datenbanken.«

»Und weil die Reichszentrale sich so um die Belange des deutschen Volks verdient gemacht hat«, ergänzte Terzuolo, »war sie ab 1946 schon wieder operativ. Hieß dann zwar ›Landfahrerstelle‹, das Personal war aber weitgehend das gleiche wie vor ’45.«

»1970 wurde der Laden dann endlich wegen Verfassungswidrigkeit zugemacht. Seitdem werden offiziell keine vernetzten Ansätze mehr gefahren.«

»Und inoffiziell?«, fragte Can.

Aldenhoven sah ihn amüsiert an.

»Schon gut«, Can winkte ab. »Buschfunk?«

»Ich kenne einen beim Zoll«, Terzuolo malte Kringel und Kreuzchen auf seinen Block. »Der hat fast nur noch mit Bulgaren und Rumänen zu tun. Seit 2014 dürfen die hier zwar ganz normal wie andere EU-Bürger auch arbeiten. Das greift aber nur für qualifizierte Arbeitskräfte. Alle anderen arbeiten entweder schwarz oder sind scheinselbstständig mit eigenem Gewerbe unterwegs. Oft als Tagelöhner. Den Behördenkram erledigen Profi-Kümmerer, die sich damit auskennen. Das erklärt, warum eure Jungs an der Müllkippe korrekte Gewerbescheine haben. De facto sind die wahrscheinlich komplett abhängig von ihrem Capo.«

Can dachte an den Fahrer am Wertstoffhof und die Tätowierungen auf seinem Arm.

»Was genau geht an der Müllkippe ab?«, fragte er.

»Der KM hat mal ’ne Reportage dazu gemacht.« Aldenhoven reichte Can die Kopie eines Artikels aus dem Kölnischen Morgen. Can überflog den Text. Die ausgemusterten Haushaltsgeräte, die die Schrottsammler am Wertstoffhof zusammenbettelten, gingen im Container auf den Balkan, wurden dort repariert und dann weiterverkauft. Offenbar ein einträgliches Geschäft. Die Schrottsammler vor Ort sahen zwar kaum etwas von der Kohle, aber selbst das, was für sie abfiel, lag wohl immer noch deutlich über dem Geld, das sie zu Hause machen konnten. In Bulgarien legten ganze Familien zusammen, damit einer von ihnen nach Köln konnte. Ähnliche Modelle gab es in fast allen deutschen Großstädten.

Can reichte den Artikel an Simone weiter. »Was sagen die von der Organisierten Kriminalität dazu?«, wandte er sich an Terzuolo.

»Zu kleine Fische für die. Behaupten sie zumindest.« Terzuolo zuckte mit den Schultern. »Wenn du mich fragst, haben die einfach keinen Plan, wie sie an die Szene rankommen sollen. Für Kaffern und Ithaker gibt’s ja inzwischen solche wie dich und mich bei der Truppe. Aber Zigo-Polizisten? Vergiss es. Wer es bei denen aus dem Ghetto rausschafft, wird was Vernünftiges, Arzt oder Anwalt oder so, aber sicher nicht Bulle. Und von außen kommst du an die nicht ran. Die reden nicht mit Externen.«

»Ich hab mit einem Bekannten bei den Eigentumsdelikten gesprochen«, sagte Aldenhoven. »Die haben seit 2007 fast nur noch mit sogenannten mobilen Tätergruppen aus Südosteuropa zu tun. Dass das überwiegend Roma sind, darf keiner sagen, weil das stigmatisierend ist, aber wahrscheinlich vor allem, weil man sich sonst mal ernsthaft drüber Gedanken machen müsste, warum die Leute keine Jobperspektive haben, außer Klauen.«

»Okay.« Simone bearbeitete ihr Nagelbett. »Unterm Strich haben wir nichts.« Sie sah in die Runde. »Gibt’s trotzdem irgendwas, wo wir ansetzen können?«

»Hier ist eine Liste mit den Adressen von Bulgarenhäusern. Bei denen wissen wir, dass da Roma aus Bulgarien wohnen. Die könnt ihr ja mal abfahren«. Aldenhoven schob Simone einen Ausdruck zu. »Ansonsten bleibt nur die Stricherspur. Ich habe euch für halb elf einen Termin mit dem Leiter der Stricherhilfe gemacht. Der ist da erster Ansprechpartner für hübsche Balkan-Boys. Vielleicht fällt dem ja was zu der Taschentuchnummer ein.«

Can und Simone fuhren zum Eigelstein. Die Stricherhilfe saß im Erdgeschoss eines Geschäftshauses aus den Siebzigern.

Giorgi Kardaras, der Leiter des gemeinnützigen Vereins, war Anfang vierzig, dunkel und schmal, mit tief liegenden Augen. Die Holzregale in seinem Büro bogen sich unter der Last der Akten. Auf dem Schreibtisch stand ein großer Karton Kondome. Ein überdimensionierter Gummipenis beschwerte einen Stapel Flyer mit wenig Text in kyrillischen Lettern, dafür umso mehr eindeutigen Abbildungen.

Kardaras folgte Cans Blick. »Die meisten unserer Klienten sind Analphabeten, da kommen wir mit Bildern weiter als mit Text«, sagte er.

Simone reichte ihm die Scans mit den Fotos der beiden ermordeten Männer.

»Nie gesehen«, sagte Kardaras, nachdem er sie eingehend studiert hatte. »Muss aber nichts heißen. Die Freier wollen Frischfleisch. Die Jungs sind ständig auf Achse. Gut möglich, dass die beiden ganz neu in Köln waren. Und selbst wenn nicht, müssen sie nicht unbedingt bei uns aufgelaufen sein. Wieso kommt ihr überhaupt drauf, dass das Stricher waren?«

Simone erzählte ihm von den Tüchern und wie die Jungen gestorben waren. Kardaras sagte nichts.

»Mal angenommen, die beiden haben tatsächlich angeschafft«, fragte Can. »Wie sind die dann nach Köln gekommen?«

»Kommt darauf an.« Kardaras lehnte sich in seinem billigen Bürostuhl zurück. »Bei manchen läuft das wie bei den Mädels – falsche Versprechungen in der Heimat, auf der Fahrt nehmen die Schlepper den Jungs den Pass ab, und dann werden sie in irgendwelchen Wohnungen so lange durchgebumst, bis sie straßentauglich sind. Unsere Klienten sind aber eher die, die auf eigene Faust ihr Glück suchen. Quasi als kleine Ich-AG. Das müsst ihr euch in etwa so vorstellen, irgendwo in Rumänien oder Bulgarien hängen ein paar Jungs ab, zwischen fünfzehn und zwanzig, oft schon verheiratet, manchmal auch mit Kindern. Keine Schulbildung, kein Job, keine Perspektive. Ein Kumpel erzählt, dass es nur ums Schwanzlutschenlassen geht und dass man damit in ein paar Monaten mehr Geld einfahren kann als in einem ganzen Balkan-Loser-Leben. Die Jungs machen eine Kosten-Nutzen Rechnung auf, spekulieren darauf, dass sie in Deutschland schon irgendwo bei Verwandten unterkommen können, setzen sich in den Bus nach Germaniya, und ab ins Vergnügen. Von HIV nie was gehört, dafür ist der finanzielle Druck so groß, dass sie alles machen, was die Freier wollen. Mit Schwanzlutschen ist es da bald nicht mehr getan und schon gar nicht mit Schwanzlutschenlassen, und auf einmal wird den Jungs klar, dass sie den Ekel nicht in ihren Businessplan eingepreist haben, und die Verachtung ihrer eigenen Leute auch nicht.« Kardaras zuckte mit den Schultern. »Einen, der sich in den Arsch ficken lässt, den will man nämlich nicht im Haus haben, selbst wenn es der eigene Bruder ist. Deshalb schlafen die Jungs oft draußen oder im Auto. Spätestens da fangen die meisten mit den Drogen an. Das kostet natürlich. Mit der Kohle, die übrig bleibt, geht es ab und zu nach Hause zur Gattin, mit der man selbstverständlich ungeschützten Verkehr hat. Wenn das so weitergeht, erledigt sich das Zigeunerproblem auf dem Balkan, HIV sei Dank, irgendwann von selbst.«

Simone machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Stört Sie das böse ›Z‹-Wort, Frau Kommissarin?« Kardaras grinste. »Ich darf das. Ich bin selber einer von denen. Meine Eltern sind Anfang der Neunziger als Kriegsflüchtlinge in einem Schwarzwaldkaff gelandet. Aus Bosnien. Mein Vater war damals so schlau, niemandem auf die Nase zu binden, wer wir wirklich sind, und schon hat’s geklappt mit den Nachbarn.«

Kardaras starrte für einen Moment geistesabwesend auf den Aktenberg vor sich, dann wandte er sich wieder zu Simone und Can.

»Lasst mir die Fotos da, und schickt mir so bald wie möglich den Zeugenaufruf. Am besten auf Türkisch und Bulgarisch. Wenn’s geht, auch auf Rumänisch. Ich hör mich um, ob irgendjemand was weiß. Ich sag euch aber gleich, dass die Jungs nicht über so was reden. Mit mir nicht und mit euch schon gar nicht. Ich glaub aber sowieso nicht, dass die beiden Stricher waren.«

»Wieso nicht?«, fragte Simone.

»Weil man sie dann irgendwo rausgeschmissen hätte, wo Stricher stehen, Aachener Weiher, Herkulesberg, Cranachwäldchen. Aber am Wertstoffhof? Das ergibt keinen Sinn.«

»Und warum waren die Jungs dann als Stricher ausgeflaggt?«, fragte Can.

Kardaras zuckte mit den Schultern. »Die Berufsbilder sind bei uns nicht so klar definiert. Einer, der heute als Tagelöhner auf dem Bau arbeitet, ist morgen Straßenmusiker oder geht putzen. Vielleicht macht er auch einen Bruch oder sammelt Schrott. Und wenn gar nichts anderes geht, muss er halt auch mal den Arsch hinhalten. Vielleicht war das ja die Botschaft – dass die Schrottstricher damit rechnen müssen, auch mal richtig rangenommen zu werden, wenn jemand das so will.«

»Sie meinten vorhin, dass manche von den Jungs über Schlepper nach Deutschland kommen. Gibt es da Verbindungen zu den Leuten, die den Schrottstrich kontrollieren?«, fragte Simone.

»Keine Ahnung. Wir machen hier ein niedrigschwelliges Angebot. Unsere Klienten können sich bei uns aufwärmen, was essen, die Klamotten waschen, mit einem Arzt sprechen. Ob und was da nebenher läuft, interessiert uns nicht. Genau deshalb vertrauen uns die Jungs. Wenn ich anfange, hilfsweise eure Arbeit zu machen, kann ich den Laden dichtmachen.«

»Na, dann können wir uns den Weg hierher ja sparen, wenn demnächst noch mehr Männer an ihren abgebissenen Eiern ersticken«, sagte Simone. Sie stand auf und wandte sich zum Gehen. Can erhob sich ebenfalls.

»So war das nicht gemeint.«

Simone hatte die Hand schon auf der Klinke. »Doch, Herr Kardaras. Das war genau so gemeint.« Sie verließ das Büro, Can im Schlepptau.

»Gibt es Sozialarbeiter eigentlich nur in den Geschmacksrichtungen ›Zyniker‹ und ›Gutmensch‹?«, fragte Can, als sie draußen waren.

»Weiß nicht«, Simone stieg in den Wagen. »Ich kenn mich mit Sozialarbeitern nicht so gut aus wie du.«

›Touché‹, dachte Can. Letzten Winter hatte er sich in eine Sozialarbeiterin verliebt. Für ein paar Wochen hatte er geglaubt, dass er den Rest seines Lebens mit Marie verbringen würde, dann war die Sache plötzlich genauso schnell vorbei gewesen, wie sie begonnen hatte, und über das, was danach passiert war, wollte Can nicht nachdenken.

»Lass uns noch mal zum Wertstoffhof fahren und die Männer dort fragen, wo sie bis letzte Woche gearbeitet haben«, schlug Can vor.

»Ich glaube nicht, dass die heute noch mal zurückgekommen sind«, meinte Simone.

Ein Kollege vom Erkennungsdienst, der noch vor Ort war, bestätigte ihren Verdacht. Sie fuhren zu der Adresse, die die Männer als Wohnanschrift angegeben hatten. Zehn Minuten später standen sie vor einem gepflegten Mehrparteienhaus in Weidenpesch, dessen biodeutsche Bewohner nichts von bulgarischen Nachbarn wussten.

»Wundert uns das?« Can griff nach Aldenhovens Liste mit den Bulgarenhäusern. Die erste Adresse lag in Nippes.

»Alles Übel dieser Welt kommt aus Nippes, Kalk und Ehrenfeld«, zitierte er, als sie über die Neusser Straße stadteinwärts fuhren.

Simone schwieg und schob eine CD ein. K. D. Lang greinte aus den Lautsprechern.

»Ah, aktuelle Hitparade für Kugelstoßerinnen?«

Simone klickte weiter auf der CD. Tocotronic sangen »Ich mag dich einfach nicht mehr so«.

»Besser?«

Can grinste und starrte demonstrativ aus dem Fenster. So war das mit ihnen. Sie waren ein eingespieltes Team.

In den nächsten Stunden fuhren sie eine trostlose Folge von verkommenen Alt- und bröckelnden Neubauten ab. Dunkelhaarige Männer und Frauen mit bronzefarbener Haut und billigen Klamotten standen davor, als würden sie auf etwas warten, während sie Sonnenblumenkerne knackten und stoisch den Kindern zusahen, die im wild verstreuten Müll spielten.

Can und Simone hatten absichtlich keinen Streifenwagen genommen, trotzdem verschwanden die Kinder, sobald sie aus dem Wagen stiegen, und die Erwachsenen zogen sich wie von ungefähr in die Häuser zurück. Niemand reagierte auf ihr Klingeln. Wenn es Can und Simone dennoch gelang, in die Häuser hineinzukommen, standen sie vor verschlossenen Wohnungstüren, die sich auf Klopfen bestenfalls spaltbreit öffneten und sofort wieder zuschlugen, sobald Can die Fotos der ermordeten Männer zeigte.

In anderen Häusern gab es keine Türen mehr. Hinter den leeren Rahmen lagen Wohnungen, in denen auf dreißig Quadratmetern Großfamilien hausten. Die Apathie der Bewohner ersetzte die fehlende Grenze zur Außenwelt. Manchmal mischte sich in den Urin- und Abfallgeruch, der über diesen Absteigen lag, der beißende Geruch von Verdünner oder Klebstoff. Auch in diesen Häusern wollte niemand die beiden ermordeten Männer gekannt haben.

Gegen halb drei machten Can und Simone in einer Dönerbude auf der Merheimer Straße Mittagspause. Can pickte lustlos an seinen Pommes. Sie waren jetzt seit über acht Stunden im Einsatz. Er fühlte sich zerschlagen und ungewaschen, die Migräne hing ihm immer noch in den Knochen. Außerdem nervte ihn Simones Einsilbigkeit.

»Was ist eigentlich los mit dir?«, fragte er. »Kriegst du deine Tage, oder was?«

Simone stellte ihre Diet Coke ab. »Wenn du nicht so auf Machoarschloch machen würdest, wäre bei mir alles easy.«

»Verstehst du jetzt keinen Spaß mehr?«

»Hängt vom Spaß ab. Das, was du da heute Morgen mit dem Jungen am Wertstoffhof abgezogen hast, fand ich jedenfalls nicht lustig. Wolltest du dem zeigen, wie die deutsche Staatsgewalt aussieht? Oder hast du dir gedacht, bei einem Zigo kannst du als Türke endlich auch mal die Sau rauslassen?

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Ich hab den so hart angepackt, damit die anderen nicht merken, dass ich ihm meine Nummer zugesteckt habe! Der Junge hat Angst. Wenn einer von denen anfängt zu reden, dann der.«

Simone schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich fass es nicht! Sag mal, hast du eine Sekunde lang nachgedacht, was das geben soll? Angenommen, der packt tatsächlich aus, was sagen wir dem, wenn er fertig ist? ›Danke für Ihre Aussage. Guten Tag und guten Weg‹? Was soll aus dem Jungen werden?«

»Zeugenschutz?«

»Das kriegen wir nicht durch.«

»Wollen wir den Fall jetzt klären, oder nicht?«

»Interessiert sich ja sonst niemand dafür.«

»Na dann ist er doch bei der Kampflesbe und dem Kanaken vom Dienst genau in den richtigen Händen, oder? Los, weiter! Raboty, raboty!«

Can ging zum Wagen, Simone hinterher.

Sie fuhren weiter die Bulgarenhäuser in Ehrenfeld ab. Ohne Erfolg. Kurz nach sechs hielten sie vor einem wuchtigen Jahrhundertwende-Bau in Schlachthofnähe. Bis in die späten 1980-er war hier das Ehrenfelder Zentralpostamt gewesen. Dann hatte die Post das denkmalgeschützte Gebäude an einen Immobilienentwickler abgestoßen, der die weitläufigen Büroetagen in Einzimmerapartments umgewandelt und als Anlageobjekte an Zahnärzte, Studienräte und andere Menschen mit zu viel Geld verkauft hatte. Um die Vermietung hatte sich eine Hausverwaltung gekümmert. Meistens waren die Apartments an Studenten gegangen. Früher, als Can noch in Ehrenfeld Streife gefahren war, hatten sie manchmal ausrücken müssen, wenn in dem Haus wieder einmal eine lautstarke Semesterabschlussparty gestiegen war. Jetzt standen auf den mit handgeschriebenen Schildern verkrusteten Klingeln nur noch Namen, die nach Balkan klangen, und bei der Polizei wurde das Haus als Gefahrenort geführt.

Simone drückte sich systematisch durch den Klingelblock. Niemand öffnete. Can erinnerte sich an einen Notausgang zum Hinterhof, der früher oft offen gestanden hatte. Sie gingen um das Haus herum, vorbei an überquellenden Müllcontainern und Sperrmüllhaufen. Auf dem Hof standen ein paar Transporter mit bulgarischen Kennzeichen, mehrere Pkw ohne Nummernschild und eine brandneue, schwarze S-Klasse mit leuchtend roten Sitzbezügen und Augen gegen den bösen Blick am Rückspiegel. Aus einer der Wohnungen wummerte bösartiger Balkan-Techno. Die Basswellen brachen sich an der Wand des gegenüberliegenden Hauses, brandeten von dort zurück und brodelten im Hof als aggressiver Mahlstrom weiter.

Der Notausgang stand offen, das Schloss war herausgeflext. Das neonbeleuchtete Treppenhaus mit den rohen Betonwänden erinnerte an einen Bunker. Die Hausordnung verbot auf Deutsch, Türkisch und in kyrillischen Lettern das Lagern von Unrat, das Verrichten der Notdurft sowie offenes Feuer im Treppenhaus und in den Wohnräumen. Offenbar hielt sich niemand daran.

Can und Simone arbeiteten sich durch die überbelegten Wohnungen. Männer dämmerten auf schmutzigen Matratzen, manchmal auch nur auf Kartonunterlagen, die auf dem blanken Boden lagen. Frauen und Kinder saßen vor alten Fernsehern und verfolgten blicklos deutsche Vorabendserien, den Ton auf Anschlag gedreht. Die Fotos der ermordeten Männer wurden auch hier bestenfalls mit Kopfschütteln quittiert.

Nach anderthalb Stunden gaben Can und Simone auf. Sie setzten sich in das portugiesische Café gegenüber und bestellten Schinken-Käse-Toasts.

»Hier gehen die also frühstücken«, sagte Simone

»Wie kommst du darauf?«

Simone zeigte auf unbeholfene Zeichnungen von Speisen und Getränken mit Preisangaben, die über dem Tresen hingen. »Funktioniert wie bei den Flyern von der Stricherhilfe. Bilder kapiert jeder.«

»Wäre ein Tipp für die Hausverwaltung drüben.« Can folgte mit müdem Blick der schwarzen S-Klasse mit den roten Sitzen, die sich gerade in Richtung Hornstraße entfernte.

»Schichtwechsel im Puff«, konstatierte Simone.

»Scheißtag«, sagte Can.

»Yep.« Simone starrte auf eine aufgeplatzte Mülltüte, die im Hauseingang gegenüber lag. »Ich versteh nicht, wie die das in dem Siff aushalten.«

»Zu viele Menschen auf zu wenig Platz. Früher haben da vielleicht achtzig Leute gewohnt. Wenn’s hochkommt. Wie viele haben wir da gerade drinnen gesehen? Zweihundertfünfzig? Dreihundert? Da fällt automatisch mehr Müll an.«

»Sicher, aber das da drüben macht ja eher den Eindruck, als ob die sich in dem Dreck einrichten. Mal abgesehen von der Scheißmucke.«

»Abgrenzung. Revierverhalten. Weißt doch, wie das funktioniert.«

»Schon klar. Trotzdem möchte ich da nicht wohnen wollen.« Simone griff nach ihrer Cola.

»Schön, wer die Wahl hat«, kommentierte der alte Mann am Nebentisch. »Meine Frau will nur noch weg, seit das hier mit den Zigeuners angefangen hat. Aber mit unseren siebenhundert Euro Rente? Nee, sag ich immer zu meiner Frau. Hier kommen wir nur noch mit den Füßen voran und in der Kiste raus.« Die wässrigen Augen des Mannes suchten den Blick von Can und Simone und verloren sich dann in der Leere des Gastraums.

Simone schob mit dem Messer Toastbrösel auf ihrem Teller herum. Can schwieg. Die Mieten in der Stadt explodierten seit Jahren. Selbst hier am Schlachthof wurden inzwischen zehn Euro kalt aufgerufen.

»Nichts für ungut«, der alte Herr legte ein paar Münzen neben seine Espressotasse. Er stand mühsam auf, querte die Straße und verschwand in dem schäbigen Altbau neben dem Bulgarenbunker.

»Lass uns auf der Veedelswache vorbeifahren«, schlug Can vor. »Ich habe da meinen Streifendienst gemacht. Vielleicht kenne ich da ja noch jemanden.«

Kurz darauf warteten Can und Simone an einer Behelfsampel auf der Liebigstraße. Dicke schwarze Kabelstränge hingen quer über die notdürftig asphaltierte Straße. Can starrte auf die verdreckten Verkehrsbaken.

»Wie lange basteln sie jetzt schon an der Baustelle rum? Fünf Jahre? Sieben?«, fragte er.

Simone machte das Radio an. Im Deutschlandfunk lief ein Feature zum Messehallenskandal. Fast vierhundert Millionen Euro müssten die Kölner Steuerzahler dafür hinlegen, dass die Stadt den Auftrag nicht ordnungsgemäß vergeben hatte, referierte ein Journalist. Simone schaltete auf einen Privatsender um. Eine Jungreporterin berichtete mit atemloser Begeisterung vom Richtfest für das neue Stadion des SV Stellwerk 02. Pünktlich zum Saisonstart würde der SV auf dem Gelände des ehemaligen Eisenbahnstellwerks in Nippes aufspielen können. Dann wurde ein O-Ton des Oberbürgermeisters eingespielt:

»Der avantgardistische Bau des Liverpooler Star-Architekten Terence Harriss nimmt geschickt die Formsprache des Stadtwappens auf. Mit dem Stadion gewinnt Köln eine weitere architektonische Attraktion von internationalem Rang«, sagte der OB. »Gleichzeitig ist der Neubau aber auch Ausdruck der tiefen Heimatverbundenheit des Bauunternehmers Christof Nolden. Mit dem Stadion macht Nolden der Stadt Köln ein großzügiges Geschenk und verbeugt sich vor den historischen Leistungen der Stellwerker.«

»In welcher Liga spielen die gerade?«, fragte Can.

»Dritte.«

»Die Macht am Rhein.«

»Ey! Nix gegen meinen Verein!«

»Stellwerk, do blievs ming Winner, för immer …«, knödelte Can.

»Arschloch!« Simone schlug mit der Faust in seine Richtung. Claudia und sie hatten seit Jahren Dauerkarten für den SV. Can lachte.

Fünf Minuten später parkten sie vor der Polizeiwache Ehrenfeld, einem Zweckbau aus den Neunzigern. Die Jungpolizistin am Einlass kannte niemanden mehr von der alten Garde, mit der Can damals Streife gefahren war. Nur Dieter Neumann war noch da und für diesen Abend sogar zum Innendienst eingeteilt.

Auf den Fluren der Wache hing der gleiche Geruch aus Putzmitteln und Dönerbudendunst wie früher. Neumanns Büro wurde von einem zahnsteinfarbenen Schreibtisch beherrscht. Rechts neben dem Tisch stand ein überquellendes Aktenregal, links türmten sich Kartons mit ausgemusterten Polizeiuniformen. Das weit geöffnete Fenster gab den Blick auf den Parkplatz eines Discounters frei. Der Bahndamm hinter der Wache schien zum Greifen nahe.

»Can Arat! Welch Glanz in meiner Hütte.«

Dieter Neumann musste jetzt Ende fünfzig sein. Sein nagelneues blaues Polyesterhemd mit den drei Sternen spannte über dem Bauch. Der Polizeiobermeister lächelte, aber sein Blick war müde. Can stellte ihm Simone vor, zeigte die Fotos der beiden Toten und fragte ihn dann nach dem Bulgarenhaus.

Neumann deutete auf zwei Regalmeter Akten. »Das ist das, was wir zu dem Haus haben – Verdacht auf Sozialbetrug, Autoschieberei, Körperverletzung, Prostitution, BTM-Delikte. Das volle Programm. Mord kommt sicher auch noch.«

Simone zog eine Akte aus dem Regal

»Ihr nennt das Haus wirklich ›Mogadischu-Festung‹?«, fragte sie, nachdem sie die ersten Seiten überflogen hatte.

Neumann zuckte mit den Schultern. »Da drin haben die Warlords das Sagen.«

»Und das nehmt ihr so hin?«

»Bei uns sind seit anderthalb Jahren fünf Stellen nicht besetzt. Die Kollegen, die noch da sind, schieben Überstunden ohne Ende, und unser neuer Einsatzleiter gibt bevorzugt das Arschloch vom Dienst. Der Krankenstand ist entsprechend. Und weiter oben interessiert das sowieso keine Sau. Also machen wir da nur eingeschränkten Winterdienst.«

Neumann stand auf und ging ans Fenster.

»Und falls du’s wissen willst – ja, es kotzt mich an. Es kotzt uns alle an. Das ist einfach nicht vermittelbar, dass wir nichts tun. Das war hier immer ein Arbeiterviertel, und Zuwanderer hat es auch immer gegeben. Erst die Italiener und Griechen, dann die Türken und Marokkaner, zuletzt die Portugiesen und die Polen und ein paar Afrikaner. Immer, wenn wieder wer Neues dazugekommen ist, hat es am Anfang ein bisschen geruckelt, und irgendwann haben sich dann alle miteinander arrangiert. Aber jetzt die Nummer da am Schlachthof, das sprengt die ganze Struktur. Die Roma halten sich nicht an die Regeln, und die Alteingesessenen haben das Gefühl, dass wir sie im Stich lassen. Die Stimmung ist auf der Kippe. Ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es da mal knallt.«

»Was ist da eigentlich los?«, fragte Can. »Das Haus war doch immer ganz solide.«

»Krimineller Hausverwalter.« Neumann lehnte sich an die Fensterbank. »Letztes Frühjahr ist den Eigentümern die alte Hausverwaltung zu teuer geworden. Also musste was Neues her. Einer aus der Eigentümervertretung hat einen Klüngelsbruder aus seinem Karnevalsverein an den Start gebracht, einen Rechtsanwalt, der ihm die Hausverwaltung zum Freundschaftspreis angeboten hat. Sein Geld hat sich unser Prinz Karneval an anderer Stelle wieder reingeholt. Statt an je einen Studenten hat der die Apartments nämlich an acht bis zehn Bulgaren vermietet, die achtzig Euro pro Person und Woche in Cash an den Hausmeister abgedrückt haben. Der hat ständig in dem Portugiesen-Café gegenüber gesessen und jedem, der es nicht wissen wollte, von seinem geilen Bulgarienurlaub erzählt. Goldstrand. All inclusive. Auch die Nutten.« Neumann zündete sich eine Zigarette an. »Einmal in der Woche hat der Hausverwalter die Kohle abgeholt. Den Eigentümern hat er die reguläre Miete überwiesen, den fetten Rest hat er selbst eingesackt. Aufgeflogen ist das erst, als die Nebenkosten explodiert sind. Da war das Geschrei dann groß. Der honorige Herr Rechtsanwalt ist sofort abgetaucht. Seitdem suchen wir den mit internationalem Haftbefehl. Hatte wohl noch ein paar andere solche Dinger am Laufen. Kurz drauf war auch der Hausmeister weg. Der liegt jetzt wahrscheinlich mit Betonschuhen am Goldstrand im Meer. Dafür schlagen sich die Eigentümer mit den Bulgaren rum, weil sie die nicht mehr aus dem Haus kriegen.«

»Räumungsklage?«, fragte Simone.

»Die haben alle vollkommen legale Verträge, und irgendwer ist bis heute auch so schlau, dafür zu sorgen, dass es nie irgendwelche Mietrückstände gibt.«

»Was ist mit dem Ordnungsamt? Die müssten doch schon allein wegen der Überbelegung ran?«, fragte Can.

»Die Kollegen sehen entweder keinen Handlungsbedarf, oder sie behaupten, sie hätten nicht die Kapazitäten, da was zu machen.« Neumann lächelte vieldeutig.

»Versteh ich nicht«, sagte Simone. »Wer soll ein Interesse dran haben, dass das so läuft, wie es läuft?«

»Gute Frage«, sagte Neumann. »Darf man nur so nicht mehr stellen bei uns.«

Simone hob eine fragende Augenbraue. Neumann zuckte resigniert mit den Schultern.

»Vor ein paar Wochen hat mir eine junge Kollegin auf Streife wieder mal ein Ohr abgekaut, so von wegen ›die Bulgaren machen uns das Veedel kaputt, wann tun wir endlich was‹. Ich hab ihr empfohlen, einfach mal die Blickrichtung zu ändern und zu fragen, wer was von der Mietabzocke hat, oder von den Mädels, die im Grünstreifen neben dem Haus für’n Zehner ’ne schnelle Nummer ohne Gummi schieben. ›Follow the money, und du kommst drauf, wieso wir die Füße stillhalten sollen‹, hab ich zu der Kollegin gesagt. Am nächsten Tag habe ich einen Einlauf vom Einsatzleiter bekommen – ich sollte das Team nicht mit meinen Verschwörungstheorien kirre machen.« Neumann zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder zum Fenster. »Halt ich eben das Maul. Mir soll’s egal sein. Ich hab meine Pensionierung beantragt. Ende des Jahres ist hier für mich Schicht. Dann kümmere ich mich um meine Frau und meinen Garten, und der Rest geht mir am Arsch vorbei.«

Can schwieg.

»Danke für die Hilfe«, Simone stellte die Akte zurück und bedeutete Can, dass sie gehen wollte. Neumann drückte seine Zigarette aus und verabschiedete sie aus seinem Büro.

»Mann, Mann, Mann! Solche Burn-out-Bullen gehen mir so was von auf den Zeiger«, sagte Simone, als sie wieder im Wagen saßen. »Ich geb mir die Kugel, bevor ich so ende.«

»Hat Neumann vor zehn Jahren auch gesagt.« Can schnallte sich an. Simone seufzte genervt und startete den Wagen.

Zehn Minuten später setzte sie Can vor seiner Haustür ab. Es war kurz vor halb elf. Can duschte lange. Dann setzte er sich mit einem Bier in die Küche. Auf dem Küchentisch lag die letzte Ausgabe von Concrete Gold, dem Architektur-Magazin, das Isa seit Mitte der Neunziger herausgab. Can blätterte kurz durch das Heft, sah Reportagen über irgendwelche Großprojekte in Frankfurt und Berlin und Promi-Fotos von Bauherren und Stararchitekten und kam wieder einmal zu dem Schluss, dass Concrete Gold wohl so etwas wie die Gala für Architekten war. Unmutig legte er die Zeitschrift weg. Er fand, dass Isa mit ihrem Talent etwas Besseres hätte anfangen sollen, auch wenn er nicht genau wusste, was. Can leerte sein Bier, dann ging er in sein Zimmer, legte sich aufs Bett und schlief ein.

Mitten in der Nacht fuhr er hoch. Er hatte von dem Bulgarenhaus am Schlachthof geträumt. Die Fassade des Gebäudes hatte unter tief liegenden Winterwolken drohend über ihm aufgeragt. Im Hintergrund hatten Elstern gekrächzt. Mehr war nicht passiert. Trotzdem hatte Can seit Jahren kein Albtraum mehr so erschreckt.

Er sah auf seinen Wecker. Kurz nach drei. Can stand auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Aus der Küche drang schwaches Licht. Isa saß regungslos vornüber gesunken am Küchentisch. Ihr Kopf lag auf der Tischplatte. Can spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Dann sah er, dass sich Isas Rücken ruhig hob und senkte. Sie war einfach nur am Tisch eingeschlafen. Als er sie sachte am Arm berührte, zuckte sie zusammen. Im diffusen Nachtlicht wirkte ihr Gesicht verquollen, als hätte sie geweint. Die groben Kerben und Schnitte in der Tischplatte hatten sich in ihre Wange eingeprägt wie tiefe Narben. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Was ist? Was willst du?«

»Ssschhh, alles gut. Du bist eingeschlafen. Ich bring dich ins Bett.«

Can half ihr auf und führte sie in ihr Schlafzimmer. Isa legte sich aufs Bett, er zog ihr die Schuhe aus und deckte sie behutsam mit dem alten Leinenlaken zu, das sie seit Jahren als Sommerdecke benutzte. Obwohl Isa so groß war, wirkte sie plötzlich zerbrechlich.

Can hatte sich schon zum Gehen gewandt, als sie flüsterte: »Leg dich zu mir. Bitte, Can. Nur bis ich eingeschlafen bin, ja?«