Cryptos - Ursula Poznanski - E-Book
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Ursula Poznanski

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem SERAPH 2021 - Bester Roman! Wohin gehen wir, wenn wir nirgendwo mehr hinkönnen? Kerrybrook ist Janas Lieblingswelt: Ein idyllisches Fischerdorf mit viel Grün und geduckten Häuschen. Es gibt Schafe, gemütliche Pubs und vom Meer her weht ein kühler Wind. Manchmal lässt Jana es regnen. Meistens dann, wenn es an ihrem Arbeitsplatz mal wieder so heiß ist, dass man kaum mehr atmen kann. Jana ist Weltendesignerin. An ihrer Designstation entstehen alternative Realitäten, die sich so echt anfühlen wie das reale Leben: Fantasyländer, Urzeitkontinente, längst zerstörte Städte. Aber dann passiert ausgerechnet in Kerrybrook, der friedlichsten Welt von allen, ein spektakuläres Verbrechen. Und Jana ist gezwungen zu handeln … Extrem spannend – beklemmend aktuell! Nach Erebos und Erebos 2 erzählt Bestseller-Autorin Ursula Poznanski nun von einer Wirklichkeit, in der das Klimasystem bereits gekippt ist, und für die meisten Menschen nur die Flucht ins Virtuelle bleibt. Ein Thriller der Extraklasse aus dem Bereich der Climate Fiction über eine Welt, die dem Klimawandel erlegen ist.

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Seitenzahl: 548

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Inhalt

Kapitel 1 – Heute lasse ich …

Kapitel 2 – Blut sickert zwischen …

Kapitel 3 – Meine Vermutung ist …

Kapitel 4 – »Wie kann so …

Kapitel 5 – Auch hier ist …

Kapitel 6 – Meine Kopfschmerzen sind …

Kapitel 7 – Von meinen drei …

Kapitel 8 – Der Kontrast könnte …

Kapitel 9 – Ein reißendes Geräusch, …

Kapitel 10 – Dass ich meinen …

Kapitel 11 – Kaum ist Matisse …

Kapitel 12 – Ich habe vor …

Kapitel 13 – Erst Blut, dann …

Kapitel 14 – Der Schmerz verschwindet …

Kapitel 15 – Meine Sprachlosigkeit hält …

Kapitel 16 – Sie haben mir …

Kapitel 17 – Wieder schweben. Federleicht, …

Kapitel 18 – Der Fluss, der …

Kapitel 19 – Ich habe mir …

Kapitel 20 – Auf dem Turnierplatz …

Kapitel 21 – Wie sich herausstellt, …

Kapitel 22 – Tivon stimmt mir …

Kapitel 23 – Zurück in Cryptos, …

Kapitel 24 – Tivon und Konrad …

Kapitel 25 – Das Erste, was …

Kapitel 26 – Lauritz blinzelt gegen …

Kapitel 27 – Alles fort, der …

Kapitel 28 – Gefühlte Ewigkeiten lang …

Kapitel 29 – Bei Tag zeigt …

Kapitel 30 – In den nächsten …

Heute lasse ich in Kerrybrook die Sonne scheinen. Das ist angemessen nach drei Tagen mit wolkenverhangenem Himmel und Nieselregen. Es ist acht Uhr morgens, und die ersten Bewohner sind bereits vor Ort. Vierzehn Prozent, zeigt der Zähler an. Achtzehn. Siebenundzwanzig.

Kerrybrook ist die kleinste meiner Welten und die, die am wenigsten Arbeit, dafür aber den meisten Spaß macht. Ich habe sie nach dem Vorbild irischer Dörfer modelliert: hügelig, mit viel Grün, geduckten Häuschen und einer Burgruine, die über der Landschaft thront. Es gibt Schafe, gemütliche Pubs und jede Woche einen Markt auf dem Hauptplatz. Unendlich friedlich, all das. Manchmal ein bisschen eintönig vielleicht, aber das ist dann meine Schuld. Am liebsten würde ich selbst dort leben; das Schlimmste, was sich in den letzten vier Wochen getan hat, war eine Schlägerei im Goldenen Horn.

Zweiunddreißig Prozent. Ich gleite im Ansichtsmodus die Küste entlang. Die Sonne steht über dem Meer, lässt das Wasser funkeln. Ein paar Möwen kreisen um den Turm der Burg, eine von ihnen trägt einen Fisch im Schnabel. Am Fuß des Hügels spaziert eine Frau mit einem Korb über dem Arm, den Blick aufmerksam auf den Wegrand gerichtet. Sie sucht Goldschwämmchen, schätze ich. Ich habe die Pilze vor etwa zwei Monaten eingeführt, und sie sind ein voller Erfolg. Wer vierzig davon sammelt, kann sich einen Pass für eine von drei Welten aussuchen. Die Jagd nach den kleinen, golden schimmernden Hütchen hält meine Bewohner ziemlich auf Trab. So schön Kerrybrook auch ist, niemand hat etwas gegen eine Reise einzuwenden.

Acht Uhr dreißig, und neunundfünfzig Prozent der Bewohner sind anwesend. Ein Blick auf die Statistik: nur drei Transfers in andere Welten. Das ist ein ausgezeichneter Wert. Wer einmal hier ist, fühlt sich so wohl, dass er bleibt.

Auf Transfers muss ich nicht reagieren, nur auf Ausfälle, also wenn jemand, der zuletzt in meiner Welt war, überhaupt nicht mehr auftaucht. Weder hier noch anderswo im System. Meistens bedeutet das, die Person ist schwer krank oder tot. Bei einem Ausfall muss ich den jeweiligen Personalcode heraussuchen und Meldung machen, damit jemand beim entsprechenden Wohndepot vorbeisieht.

Acht Uhr fünfunddreißig, und in Kerrybrook weht kühler Wind vom Meer her. Ich seufze und wische mir den Schweiß von der Stirn. Hier bei uns ist es jetzt schon heiß, und das wird über den Tag hin noch schlimmer werden. Die Kühlung schaltet sich nie vor elf Uhr ein, und auch dann ist sie nur ein schlechter Scherz. Aber die vorhandene Energie wird für andere Dinge gebraucht.

Ich beginne den Funktionscheck für die nächste meiner Welten, Macandor. Bereits vierundachtzig Prozent der Bewohner anwesend. Ruhiger Schlaf ist dort schwieriger geworden, denn ich habe vor drei Tagen eine Horde von Feuerdämonen losgelassen. War nicht nett von mir, aber Macandor ist im Moment rettungslos überlaufen. Die Dämonen sollen ein wenig Platz schaffen; wer von ihnen gegrillt wird, der muss erst mal anderswo hingehen, je nachdem, welche Pässe er zur Verfügung hat. Der für Macandor ist dann futsch. Ich überprüfe die Statistik der letzten acht Stunden. Sieben Prozent sind den Dämonen zum Opfer gefallen, ich hatte auf acht abgezielt, aber was nicht ist, kann ja noch …«

»Hey, Jana!« Jemand tippt mir auf die Schulter, es ist Matisse, der mit einiger Verspätung in unserem gemeinsamen Workspace eintrifft. Er hält einen großen Becher in der Hand, auf dessen Außenseite sich Kondenswasser gebildet hat. Ich greife danach, das Gefäß ist verführerisch kalt.

»Danke dir!« Eistee mit Zitronenaroma. Ich trinke einen großen Schluck und schiele auf Matisse’ Trinkbecher. »Oh nein! Ehrlich? Synthetische Schokolade?«

Er blinzelt glücklich. »Ja. Eisgekühlt.«

Mich schaudert. »Da würde ich ja lieber in Milch pürierten Fisch trinken als dieses widerliche Gebräu. Sieht aus wie Dünnpfiff.«

»Jajaja, ich weiß. Du kannst das noch hundertmal sagen, mir schmeckt es trotzdem.« Er setzt sich vor den halbkreisförmigen Schild seiner drei Monitore, jeder davon fast zwei Meter hoch. »Wie läuft’s mit den Dämonen?«

»Gut eigentlich. Die Bevölkerung ist geschrumpft, aber es ist immer noch eine ziemliche Drängelei. Ich überlege schon, ob ich nicht ein paar Landstriche dazumodellieren soll. Einen großen Sumpf oder noch ein unterirdisches Höhlensystem. Oder eine Wüste, was meinst du?«

Matisse rümpft die Nase und schüttelt den Kopf. Seit drei Wochen ist sein dunkles Haar zu Cornrows geflochten; bei jeder Bewegung klirren am Ende der Zöpfchen bunte Perlen. »Als ob wir nicht schon Wüste genug hätten.«

Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Ausgedehnte Wüsten auf allen Kontinenten, und sie erobern sich immer noch neuen Raum, auch wenn die Baumbepflanzungen an den Rändern langsam Wirkung zeigen. Aber eben nur langsam. Wer Wüste will, muss in keiner der virtuellen Welten leben; schwitzen kann man auch ganz ohne Realitätsbereinigung.

Ein kleiner Trupp meiner Dämonen macht sich auf den Weg in Richtung Zaina. Die Stadt wird hauptsächlich von Elfen bewohnt, sie wurde erst vor drei Monaten gegründet, die Befestigungsanlagen sind noch schwach. Mit etwas Glück machen sie bis heute Mittag ein bisschen Feuer innerhalb der Mauern, und die acht Prozent Einwohnerreduktion sind geschafft.

»Du bist ganz schön gnadenlos zu deinen Leuten«, sagt Matisse grinsend.

»Es muss doch interessant bleiben.« Die ersten Elfen verlassen fliegend die Stadt, aber ich habe praktischerweise auch geflügelte Dämonen auf Lager. »Hey, wir gehören zu den Jungstars hier. Unsere Welten sollten aus der Masse herausstechen, findest du nicht?«

Nachdenklich nippt Matisse an seiner Schokolade und rollt mit seinem Arbeitsstuhl näher heran. »Ich fühle mich überhaupt nicht wie ein Jungstar, eher wie ein Fehlschlag. Ich kapiere nach wie vor nicht, warum manche Welten so gut funktionieren und andere nicht. Bei Venedig dachte ich, es wird der absolute Renner, aber es hat kaum Transfers gegeben.«

Ich kann ihm das Bedauern darüber immer noch ansehen, Venedig war eines seiner Lieblingsprojekte. »Vielleicht«, sage ich, »weil es schon so lange versunken ist. Es lebt doch keiner mehr, der es wirklich gesehen hat, also hat niemand Sehnsucht danach.«

Er zuckt mit den Schultern. »Glaube ich nicht. Die Fidschi-Inseln sind mein größter Hit, und die sind noch länger weg.«

Da ist was dran. Rick, unser Kollege mit dem zweifelhaften Humor, nennt sie deshalb auch gern Futschi-Inseln. Doch eigentlich war die Phase, in der Designer hauptsächlich die gute alte Zeit virtuell wieder zum Leben erweckt haben, schon längst vorbei, als ich hier angefangen habe. Zu Beginn war das wichtig – den Leuten blieb ihre vertraute Umgebung erhalten, und kaum einer wollte sie gegen die Schrecken der echten Welt eintauschen. Jetzt gibt es so gut wie niemanden mehr, der sich daran erinnern kann, wie es früher war, und …

»Seltsam«, unterbricht Matisse meine Gedanken. »Kann es sein, dass mit dem Zähler in Kerrybrook etwas nicht stimmt?«

Ich lasse die Dämonen Dämonen sein und wende meine Aufmerksamkeit den grünen Hügeln und der Burgruine am Meer zu. In dem Ausschnitt, den ich sehe, wirkt alles so harmonisch wie immer. Ein Paar spaziert Händchen haltend über eine Wiese, ein Hirte treibt Schafe vor sich her. Ich werfe einen schnellen Blick auf die Statistik. Sechsundneunzig Prozent Anwesenheit, fünfundzwanzig Neuzugänge – aber drei Ausfälle in den letzten zehn Minuten.

Das ist alarmierend. Drei Ausfälle in so kurzer Zeit? Dafür muss es Gründe geben – entweder ein Wohndepot hat einen Stromausfall, oder es gibt Schwierigkeiten innerhalb der Welt. Ich öffne meinen Infoassistenten.

»Hallo, Jana«, schallt mir eine fröhliche Stimme entgegen. »Was kann ich für dich tun?«

»Ich müsste wissen, ob es vor Kurzem zu Zwischenfällen in Wohndepots gekommen ist. Stromschwankungen irgendwo? Stürme, beschädigte Leitungen?«

»Nein«, gibt der automatische Assistent unmittelbar zurück. »Keine Störungsmeldungen an Depots in den letzten achtzehn Stunden.«

Ich nicke, mein Blick hängt am linken der drei Monitore, dem mit der Statistik. Sechs Ausfälle mittlerweile, keine Erklärung. Ich rufe die Servicedaten für Kerrybrook auf, doch die erscheinen nicht, stattdessen erhalte ich eine Meldung. Fünf mickrige Worte. Es ist ein Fehler aufgetreten.

Ein Fehler? Ich drehe mich zu Matisse um. »Läuft bei dir alles rund?«

»Na sicher«, sagt er und zieht eine Augenbraue hoch. »Würde ich sonst so ruhig hier sitzen?«

Ich werfe ihm freundschaftlich meinen Stressball an den Kopf und versuche es noch einmal. Es ist ein Fehler aufgetreten. Mit tiefem Seufzen lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. So etwas passiert mir zum ersten Mal.

»Welcher Fehler ist aufgetreten?«, frage ich den Infoassistenten. »Gibt es eine Fehlernummer?«

»Dazu liegen mir keine Informationen vor«, erklärt das Programm gut gelaunt.

Ich knalle den Becher mit dem Eistee auf den Tisch. Wie soll ich herausfinden, was los ist, wenn das System mir die Daten verweigert? »Hilft nichts«, murmle ich. »Dann muss ich eben selbst rein.«

Das Nebengebäude ist so etwas wie die Mini-Version eines Wohndepots. Vierundvierzig Einheiten, für jede Person fünf Quadratmeter, auf denen auch die Kapsel Platz finden muss. Ich laufe nach drüben, meinen Overall über dem Arm, und grüße zwei Arbeiter, die draußen zu tun haben.

Mürrisch grüßen sie zurück, sichtlich unglücklich über ihr Schicksal. Niemand wird gern in die Realwelt zurückbeordert, aber ganz ohne menschliche Arbeitskraft geht es eben nicht. Dafür bekommen sie Punkte, mit denen sie sich später neue Zugangspässe kaufen können. Oder ein hübscheres Äußeres.

Einheit zwölf ist frei, ich schlüpfe durch die Tür und verriegle sie mit meinem Identitätschip. Dann ziehe ich meine Sachen aus. Das ist nötig, denn der Overall muss buchstäblich wie eine zweite Haut auf meiner eigenen sitzen. Er saugt sich fest, was genau so lange unangenehm ist, bis ich mich in die Kapsel lege. Als Kind hat Monty die Kapseln mit aufklappbaren Riesenbohnen verglichen – das trifft die Sache ziemlich genau.

Ich frage mich, wo er gerade steckt. Das letzte Mal, als ich nach seinem Personalcode gesucht habe, war er in London. Allerdings im London des Jahres 1622. Ich muss bei Gelegenheit nachsehen, ob er schon weitergezogen ist.

Über das Bedienpanel schließe ich die Kapsel. Lege die Maske an, stecke Hände und Füße in die Kontakthüllen und warte, bis der Overall sich ans System anschließt.

»Identifikation«, sagt eine weibliche Stimme. »Jana Pasco. Zuletzt angemeldet in Mumbai. Rückkehr?« In der Maske wird mir groß ein Bild der Stadt angezeigt, kleiner daneben eine Unzahl von Thumbnails, so viele, dass sie nur winzige Lichtpunkte sind. Jeder steht für eine Welt, zu der ich Zugang habe.

Aber ich will nicht zurück nach Mumbai, dessen reale Vorlage auch schon längst unter der Meeresoberfläche liegt. Dort war ich nur, weil Matisse mich zu einem Ausflug überredet hat. »Nein. Kerrybrook«, sage ich.

»Kerrybrook«, wiederholt das System und spielt das passende Bild ein.

»Bestätigt«, sage ich, und im nächsten Moment wird mir schwarz vor Augen. Es ist ein Gefühl, wie kurz ohnmächtig zu werden und danach zu schweben. Ein paar Sekunden der Schwerelosigkeit, dann fühle ich Boden unter den Füßen und sehe vor mir die irisch-grünen Hügel. Die Burgruine an der Klippe. Die Steinhäuschen, an denen der Efeu hochwächst. Der Wind trägt vom Meer den Geruch nach Salz und Seetang zu mir, er weht mir das Haar aus der Stirn, und ich bedaure schon jetzt, dass mein Aufenthalt hier kurz sein wird.

In den alternativen Welten fühlt das Leben sich so viel besser an. Als hätte die Realität ein Upgrade bekommen. Ich bewege mich geschmeidiger, meine Stimme hat einen volleren, samtigeren Klang. Hätte ich einen Spiegel vor mir, bekäme ich die denkbar beste Version meiner selbst zu sehen. Wiedererkennbar, aber … geglättet, in gewisser Weise. Superjana.

»Guten Morgen, Jana«, sagt eine freundliche Männerstimme. »Hier kommt dein Horoskop für den heutigen Tag. Dir drohen keine Gefahren, aber rechne mit Überraschungen. Das Meer wird ruhig bleiben, die Temperatur mild. Der Lammbraten im Schwarzen Hahn ist nicht nach deinem Geschmack. Iss lieber den Gemüseeintopf. Beim Blumenmarkt würdest du heute Menschen treffen, mit denen du dich verstehst. Im Teestübchen nicht so sehr. Du solltest mindestens zweieinhalb Liter Wasser trinken.«

Ich grinse. Das Horoskop ist eine der Besonderheiten, die Kerrybrook von ähnlichen Welten abhebt. Es analysiert die Nutzerdaten und gibt dem Bewohner täglich maßgeschneiderte Tipps, die dafür sorgen, dass der Tag rundläuft. Keine Esoterik, bloß ein Algorithmus, der für Wohlbefinden sorgt, nicht nur in Kerrybrook, auch in der Kapsel.

Kein Lammbraten also. Ich mache mich auf den Weg zum Dorf, mein Blick schweift ganz automatisch über jedes Haus, jeden Baum. Wie bei einem Kontrollgang. Am Schild der Bäckerei entdecke ich eine blass-durchsichtige Stelle. Ein Glitch, der mir entgangen ist. Ich mache mir im Geist eine Notiz. Kleine Fehler dieser Art sind nicht schlimm, aber sie stören die Illusion.

Ich nehme den Umweg über den Hafen, atme den Salzgeruch ein. Auf einem niedrigen Steinmäuerchen sitzt ein Mann in einer langen Jacke und Fischerstiefeln. Er unterhält sich mit einem zweiten, älteren. Offenbar geht es um das Dorffest, das in zehn Tagen stattfinden soll. Ich geselle mich dazu. »Hey. Wird ein schöner Tag heute, nicht wahr?«

Der Fischer betrachtet mich neugierig. »Sieht so aus.«

Ich blicke mich um. Ein dritter läuft in ebenfalls kniehohen Stiefeln hin und her, als würde er etwas suchen, das er auf dem Weg verloren hat. »Alles wie immer, hm? Oder ist euch heute etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Die beiden Männer schütteln die Köpfe. »Nein«, sagt der Ältere. »Aber wenn du etwas weißt, gib uns Bescheid! Der Kabeljaufang ist ja bald vorbei!«

Richtig, diese Challenge läuft noch. Ein Kabeljau mit einem goldenen Ring im Magen, der hundert Prämienpunkte bringt. Ein Spiel für Kerrybrooks Fischer.

Als mit den alternativen Welten begonnen wurde, hat sich schnell herausgestellt, dass einfach nur rumhängen den Menschen nicht genügt, so schön kann die Umgebung gar nicht sein. Sie wollen herausgefordert werden, sich mit anderen messen. Probleme bewältigen und einen Lebenssinn finden, sonst stellen sie sich lieber der Realität mit ihren Tornados, Dürren und Überschwemmungen. Also versorgen wir sie mit Aufgaben und Geheimnissen, verstecken Schätze und lassen sie Gefahren meistern. Die ihnen natürlich nicht wirklich gefährlich werden können. Stirbt man, verliert man nicht sein Leben, sondern wird nur zurück in die Kapsel gespuckt. Meistens ist man dann eine Zeit lang für die Welt gesperrt, in der man gerade das Zeitliche gesegnet hat. Ärgerlich, aber kein Drama.

»Wie war dein Horoskop für heute?«, fragt mich der jüngere Fischer.

»Zweieinhalb Liter Wasser soll ich trinken und auf den Blumenmarkt gehen, dann wird es ein guter Tag. Außerdem soll ich den Lammbraten im Schwarzen Hahn meiden.«

»Ah«, macht der Fischer. »Na, das ist ausführlich. Bei mir hieß es vor allem, ich sollte dem kahlen Marcel aus dem Weg gehen. Der will sich angeblich mit mir prügeln.«

Das Stichwort kann ich nutzen, ich bin schließlich nicht zum Spaß hier. »Ist Marcel noch in Kerrybrook? Jemand hat erzählt, dass eine Menge Leute verschwunden sind«, sage ich. »Ist euch etwas aufgefallen?«

»Mir nicht.« Der Ältere zieht eine Pfeife aus seiner Jackentasche. »Eher, dass ständig Leute dazukommen. Nur Melinda, die früher im Werkzeugladen gearbeitet hat – die ist weitergezogen. Hat sich vor zwei Tagen verabschiedet.«

Das hilft mir nicht. Ich winke zum Abschied und blicke mich noch einmal um. Der dritte Fischer, der vorhin so hektisch herumgelaufen ist, steht jetzt seltsam starr auf einem rot gestrichenen Boot, das, von Felsen und einem dreimastigen Segelschiff halb verborgen, aufs Meer hinaustreibt. Jetzt hebt er eine Hand, streicht sich über die Stirn und klettert dann auf die Reling. Seine Jackentaschen sehen merkwürdig vollgestopft aus. Das Boot schwankt. Er bleibt noch einen Moment stehen, dann springt er ins Wasser. Geht unter und taucht nicht mehr auf.

Die beiden Männer auf dem Mäuerchen plaudern weiter, ich höre nicht mehr zu. Was war das eben, eine Mutprobe? Hat er etwas unter Wasser entdeckt, das er nach oben holen wollte? Ich warte, fixiere mit meinem Blick die Stelle, an der der Mann untergegangen ist, rechne jede Sekunde damit, dass sein Kopf die Wasseroberfläche durchstoßen wird, aber er bleibt verschwunden.

Ich kann es nicht fassen. Das war kein Unfall, der Mann ist freiwillig gesprungen. Warum? Wenn er aus Kerrybrook fortwollte, hätte er doch einfach einen Transfer machen können. Warum sich die Unannehmlichkeiten des Ertrinkens antun?

Etwas läuft hier ganz definitiv falsch, ich sollte schnellstmöglich zum Rathaus laufen, dort habe ich ein Kontrollpanel eingerichtet, von dem aus ich auf die Statistik zugreifen kann. Der ertrunkene Fischer wird dort als Exit aufscheinen, noch nicht als Ausfall. Dazu müsste er länger als drei Stunden in der Realwelt ausharren.

Auf dem Hauptplatz verkauft eine Frau Käse, es drängen sich Menschen um einen Lautenspieler und werfen ihm Kupfermünzen in eine Schale. Ich will gerade – mit einigem Kraftaufwand – die große Holztür des Rathauses öffnen, als ich in einer Nebengasse eine Gestalt auf dem Boden kriechen sehe. Sie zieht sich mit den Händen über die gepflasterte Straße, Zentimeter für Zentimeter. Es ist eine Frau. Aus dem Knoten, zu dem sie ihr rotes Haar geschlungen hat, lösen sich Strähnen und fallen ihr ins Gesicht.

Nun bleibt sie liegen, ein Zucken geht durch ihren Körper. Ich lasse den Knauf der Rathaustür los und gehe ein paar Schritte näher. Etwas stimmt hier nicht, und als ich auf zehn Meter heran bin, sehe ich auch, was es ist: Im Rücken der Frau steckt ein Messer.

Blut sickert zwischen die Pflastersteine. Ich rüttle an der Schulter der Frau, doch sie rührt sich nicht. Atmet nicht. Ich knie irritiert neben ihr.

Irritiert, nicht schockiert und schon gar nicht entsetzt, denn der Frau selbst ist natürlich nichts zugestoßen. Ihr virtuelles Ich ist allerdings tot, wie es scheint. Vorfälle wie dieser sind in Kerrybrook nicht vorgesehen, dafür gibt es andere Welten. Wer sich für Kerrybrook qualifiziert, dürfte vom Persönlichkeitsprofil her eigentlich nicht gewalttätig sein und mordlüstern schon gar nicht. Ab und zu gibt es Schlägereien, aber auch die sind eher spielerisch. Das System, das ausrechnet, für welche Welt man einen Pass bekommen kann, macht nur selten Fehler. Ich persönlich kann mich an keinen einzigen erinnern.

Das ist das eine. Das andere ist, dass ihr Horoskop die Frau eigentlich hätte warnen müssen, wenn einer der anderen Bewohner ihr etwas Übles wollte. So, wie es den Fischer vor dem kahlen Marcel gewarnt hat. Und mich vor Überraschungen.

Noch zwei Dinge also, die ich nach meiner Rückkehr überprüfen muss, Kerrybrook läuft mir wirklich aus dem Ruder. Immerhin eine Sache kann ich sofort herausfinden – da ich mich in einer meiner eigenen Welten befinde –, nämlich den Namen der Frau. Ich schließe die Augen und lege meine Hand auf ihren Arm. »Identität«, flüstere ich. Auf der Innenseite meiner Lider erscheint Schrift: Zoe Uhland. Personalcode 4TG9812E.

Ich bin gespannt, ob sie Beschwerde einreichen wird. Sie hätte jedes Recht dazu; wer nach Kerrybrook geht, darf davon ausgehen, dort nicht ermordet zu werden.

Aber wenigstens wird es kein Problem sein, den Übeltäter zu finden, denn das System dokumentiert alles und speichert es achtundvierzig Stunden lang. Ich werde das checken, sobald ich wieder an meinem Arbeitsplatz bin, doch zuerst will ich noch die Statistik überprüfen. Ich laufe zurück zum Marktplatz und spreche ein Paar an, das gemeinsam einen geflochtenen Weidenkorb voller Holzscheite trägt. »In der engen Gasse neben dem Rathaus liegt eine tote Frau. Jemand muss die Stadtwache informieren!«

Die beiden stellen ihren Korb ab und stürmen davon in die von mir angegebene Richtung; mindestens sieben andere, die mitgehört haben, folgen ihnen. Ich kehre zum Rathaus zurück. Die Stadtwache von Kerrybrook habe ich eigentlich nur der Atmosphäre wegen ins Leben gerufen. Damit jemand in einer hübschen Uniform durch die Straßen spazieren und Streitigkeiten in den Pubs schlichten kann. Mit einem Mord haben sich die fünf bisher nie auseinandersetzen müssen.

Ich drücke die schwere Tür zum Rathaus auf. Aus dem ersten Stock höre ich Stimmen, es riecht nach Kaffee und frisch gebackenem Kuchen. Doch mich führt mein Weg in den Keller, dort habe ich die Servicezentrale für Kerrybrook installiert. Sie ermöglicht mir Zugriff aufs System, sobald sie meine Identität erfasst hat.

Weil ich verspielt bin, habe ich in den Keller des Rathauses einen Brunnen gebaut, einen schönen, altmodischen Ziehbrunnen. Die dunkle Wasseroberfläche dient als Display. Ich drehe an der Kurbel, es quietscht.

»Jana Pasco«, hallt es aus dem Brunnenschacht.

»Richtig. Ich möchte Zugriff auf die Statistik und auf die Daten zu den Ausfällen bei den Bewohnern.«

Ich habe kaum fertig gesprochen, als Zahlen und Namen auf dem Wasser erscheinen. Mir bleibt die Luft weg. Dreiundzwanzig Ausfälle sind es nun schon. Dreiundzwanzig Bewohner, die nach dem morgendlichen Erwachen keinen Transfer vorgenommen haben. In keine der Welten.

Wenn man sich aber vor Augen führt, dass es sonst meist nur einen Ausfall alle zwei Wochen gibt, ist das nicht nur ungewöhnlich, sondern beängstigend. Wollten die Leute nicht in die Welten zurück? Oder – was ich für wahrscheinlicher halte – konnten sie nicht?

Ich überfliege die Liste mit den Namen der Betroffenen. Keiner davon ist mir vertraut; Zoe Uhland ist im Moment noch als Exit gekennzeichnet. Wenn sie sich in drei Stunden nicht für eine Rückkehr oder eine neue Welt entschieden hat, wird sie sich in die lange Liste der Ausfälle einreihen. Drei Stunden sind das Richtmaß.

Das passiert so selten, meist wirklich nur dann, wenn jemand schwer krank oder tot ist. In einer der Welten zu sterben hat keine großen Konsequenzen. Ist eine Illusion, wie Matisse und ich immer sagen. Man wird in die Realwelt zurückkatapultiert, die Kapsel öffnet sich. Der Bewohner ist verärgert oder traurig, macht vielleicht eine halbe Stunde Realitätsstopp, aber dann sucht er sich unter den Weltenpässen, die er zur Verfügung hat, einen neuen aus. Exit und dann Transfer, das ist normal. Ausfall ist es definitiv nicht. Was ist mit den dreiundzwanzig Leuten auf der Liste los? Brauchen sie alle so lange, um sich für einen ihrer Pässe zu entscheiden?

Ich schicke die Liste mit den Ausfällen an mein Arbeitsterminal und drehe die Kurbel in die entgegengesetzte Richtung. Das Display verschwindet, der Brunneninhalt sieht wieder aus wie gewöhnliches Wasser. Ich sollte mich auf den Rückweg machen.

Einer der Exit-Points, die ich in Kerrybrook angelegt habe, liegt direkt im Nebenraum, dem Weinkeller. Große Fässer säumen die Wände, darüber hängen Bilder. Das, hinter dem sich der Exit-Point verbirgt, zeigt einen Adler, der einen schneebedeckten Berggipfel umkreist. Das Gemälde müsste das zweite von rechts sein, doch schon als ich den Raum betrete, sehe ich, dass es nicht mehr da ist. Stattdessen hängt an der Stelle nun ein anderes Bild; das einer Taube, die vom Himmel stürzt, die weiß gefiederte Brust von einem Pfeil durchbohrt.

Ich bin absolut sicher, dass nicht ich es war, die die Gemälde ausgetauscht hat, ich sehe diese Taube zum ersten Mal, und keiner der anderen Designer hat einen erweiterten Bearbeitungszugang zu Kerrybrook. Dass Bewohner mein Konzept verändern, ist normal – sie bauen neu, pflanzen Bäume, brennen schon auch mal etwas nieder. Die Welten wandeln sich, so ist es gedacht. Aber die Bedienelemente sind fest installiert. Niemand, der in Kerrybrook wohnt, hätte das Adlerbild abnehmen können. Ein Designer nur dann, wenn ich ihm Bearbeitungsrechte gegeben hätte.

Noch etwas, das ich überprüfen muss, höchste Zeit zurückzukehren. Ich lege meine linke Handfläche auf die Taube. »Exit«, sage ich. Nichts passiert. Das Bild schaukelt nur leicht an seinem Wandhaken.

Ich gebe nicht sofort auf. Erst als sich nach zwei oder drei Minuten immer noch nichts tut, lasse ich die Hand sinken. Kein Ausgang. Macht ganz den Eindruck, als müsste ich länger in Kerrybrook bleiben.

Vor dem Rathaus hat sich eine Menschentraube gebildet. Die tote Zoe Uhland beherrscht die Gespräche, aber soweit ich es mitbekomme, denken alle, der Mord ist Auftakt zu einem neuen Rätselspiel. Sie lachen, stellen Mutmaßungen an und sind bester Laune. Ich lehne mich in geheuchelter Aufregung an die Theke des Käsestandes. »Weißt du, was passiert ist?«, frage ich die Verkäuferin.

»Eine Frau wurde erstochen«, flüstert sie verschwörerisch.

»Ach, wirklich? Hast du gesehen, wer es war?«

Erst schüttelt sie den Kopf, dann zuckt sie mit den Schultern. »Nein, leider. Aber sie sagen, er hatte eine Kapuze auf dem Kopf.«

Das bringt mich kein Stück weiter. Ich muss zurück, wenn nicht von hier, dann eben von einer anderen Welt aus.

Die Exit-Technik ist so eine Sache. Üblicherweise wollen die Menschen nicht raus aus der Welt, in der sie sich gerade befinden. Im Gegenteil, die meisten sind bemüht, die Phasen, die sie in ihren Wohndepots verbringen müssen, so kurz wie möglich zu halten. Aber wenn man einschläft, wacht man automatisch in der Realität auf, ein totales Abtauchen ist nicht vorgesehen. Auch deshalb, weil es Vorschriften gibt, die einzuhalten sind. Regelmäßiges Duschen zum Beispiel, auch wenn der Overall ein eigenes Hygienesystem aufweist. Außerdem soll der Körper die Bewegung in der wirklichen Welt nicht verlernen. Sie nennen das den täglichen Realitätsstopp, er dauert etwa vierzig Minuten. Für viele sind das die unangenehmsten vierzig Minuten des Tages, und genau so soll es im Grunde auch sein. Auch dazu dient der Stopp: Man soll sich zurückwünschen. Weltendesigner wie Matisse und ich werden deshalb so hoch gehandelt, weil wir es schaffen, die richtige Balance aus Aufregung und Sicherheitsgefühl zu finden. Aus Vertrautheit und Überraschung. Was wir uns einfallen lassen, ist so viel besser als die unwirtlichen Landstriche, die dem Großteil der Menschen sonst zur Verfügung stehen. Niemand soll sich nach einer Welt sehnen, die nur noch in wenigen Gegenden lebenswert ist.

Trotzdem muss es für Leute wie mich einen schnellen Ausgang geben. Dafür legt man Exit-Points an, die man aber nur benutzen kann, wenn man weiß, wo sie sich befinden. Genau so einen brauche ich jetzt, wenn nicht in Kerrybrook, dann eben anderswo.

Ich könnte meinen Transfer überall machen, wo niemand mich im Blick hat, aber üblich ist es, sich einen abgelegenen Ort zu suchen. Die Burg auf ihrem Hügel ist dafür wie geschaffen. Ich setze mich mit dem Rücken an die sonnengewärmte Mauer und blicke aufs Meer hinaus. Vierzehn Fischerboote zähle ich, die gerade in der Bucht von Kerrybrook unterwegs sind; garantiert alle auf der Jagd nach Kabeljau. Neben mir im Gras leuchtet ein Goldschwämmchen, das bisher noch niemand gefunden hat. Ich schließe die Augen. »Transfer.«

Die zahllosen Lichtpunkte werden auf die Innenseite meiner Lider projiziert, Tausende winzige Thumbnails. Sie alle durchzusehen würde Tage dauern, aber ich habe mich ohnehin bereits entschieden, welche Welt ich wählen werde. Eine, in der ich mich auskenne, deren Exit-Points ich problemlos finde. Eine, die ich selbst gestaltet habe. »Macandor«, sage ich.

Schatten, flüsternder Wind in den Blättern, schillernde Libellen an dumpf gurgelnden Bächen. Der Kontrast zu Kerrybrook ist riesig. Macandor ist eine Feenwelt, in der es fast überall dämmrig ist. Ein Großteil der Fläche ist mit Wäldern bedeckt, durch die nur da und dort das Sonnenlicht dringt, dafür geht von manchen Pflanzen grünliches oder goldenes Licht aus. Wer allerdings zu den geflügelten Wesen zählt, kann über den Baumwipfeln schweben, die Sonne über sich, und kann die Wälder wie ein grünes, wogendes Meer von oben betrachten.

Natürlich habe ich Flügel, wenn ich hier bin. Ich liebe es zu fliegen. Nicht nur der Aussicht wegen, sondern vor allem, weil es sich anfühlt, als würde jemand einem den Rücken massieren. Das war eine meiner besten Ideen, man kann danach geradezu süchtig werden.

Ich bin auf weichem Waldboden gelandet, wahrscheinlich im östlichen Teil der Welt. Macandor ist mindestens fünfmal so groß wie Kerrybrook und hat über hunderttausend Bewohner, auch nach der Feuerdämonenplage noch.

Ein kurzer Blick rundum – kein Dämon in der Nähe. Aber es ist ungewöhnlich ruhig, normalerweise findet man in Macandor kaum einen Flecken, den nicht schon drei andere Elfen, Kobolde oder ähnliche Wesen für sich beanspruchen. Total überfüllte Welt eben.

Ich fliege hoch, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen, und erkenne sofort zu meiner Linken das Kristallgebirge. Perfekt, dort gibt es nicht nur einen, sondern zwei Exit-Points, einer davon wird ja hoffentlich funktionieren.

Nicht weit von mir entfernt sehe ich drei Feen schweben, mit langen, durchsichtigen Flügeln. Sie winken mir zu, steigen höher, der Wind trägt ihr Lachen bis zu mir. Etwas weiter rechts steigt Rauch auf, da war wohl ein Dämon an der Arbeit. Gut, denke ich. Wenigstens hier laufen die Dinge, wie sie sollen.

Die Sonne lässt das Kristallgebirge funkeln, als wäre es mit Diamanten gespickt. In einer kleinen Höhle unterhalb eines Felsvorsprungs befindet sich der erste der Exit-Points. Ich sollte so schnell wie möglich an meinen Arbeitsplatz zurück, aber alles in mir sträubt sich. Es ist so schön hier, dass ich es noch ein paar Minuten lang genießen möchte. Ein bisschen fliegen. Endlich wieder einmal Sonnenstrahlen spüren, die freundliche Wärme verströmen, keine sengende Hitze.

Aber es hilft leider nichts. Ich muss, so schnell es geht, an mein Terminal, ich habe schließlich Verantwortung für meine Bewohner. Wenn ich versage, kostet mich das den Job und alle meine Privilegien. Dann kann ich zwar wieder in eine Kapsel zurück, aber bloß mit einer Auswahl sehr unerfreulicher Weltenpässe. Dass ich jung bin, ist keine Ausrede.

Ich fliege noch einmal hoch und kreisle dann langsam tiefer, mit weit ausgebreiteten Flügeln. Der Wind in meinem Gesicht ist kühl und duftet nach …

Etwas trifft meine Schulter, etwas Weiches, Feuchtes. Rutscht ab und fällt auf die Baumwipfel zu. Es ist weiß mit Spuren von Rot, es sieht aus wie …

Ich mache mich schmal und setze zum Sturzflug an. Zwei Sekunden, und ich greife danach, halte es zwischen meinen blutig verschmierten Händen.

Ein totes Tier, das fast genauso aussieht wie das auf dem Gemälde in Kerrybrook. Eine Taube mit pfeildurchbohrter Brust.

Natürlich kann ich sie nicht mit zurücknehmen, sosehr ich das auch möchte. Ich würde zu gerne Matisse fragen, was er davon hält. Ob er eine Idee hat, was es mit den toten Vögeln auf sich haben könnte – schließlich gehört ihm Venedig, und dort soll es von Tauben nur so gewimmelt haben. Während ich wieder höher steige, sehe ich mir den kleinen Kadaver genauer an. Der Pfeil ist aus schwarzem Metall – nicht nur die Spitze, auch der Schaft und die Federn, die seine Flugbahn stabil halten sollen.

Eine weiße Taube, nur die Enden der Schwingen sind dunkel. Ich muss überprüfen, ob die Sorte für Macandor vorgesehen ist und …

Hinter mir ein Zischen. Wie von einem geöffneten Ventil, aus dem Luft ausströmt. Hitze in meinem Rücken. Instinktiv fliege ich ein Stück höher, drehe mich um.

Vor mir schwebt ein blutrotes Wesen mit Augen wie aus geschmolzenem Metall. Die Schwingen ähneln denen einer Fledermaus, auch sie sind rot und von lavafarbenen Adern durchzogen. Den länglichen Kopf krönen grauschwarze Hörner, das aufgerissene Maul ist gespickt mit Zähnen der gleichen Farbe.

Einer meiner Feuerdämonen, und ich habe ihn nicht kommen hören. Leider rieche ich ihn auch erst jetzt – ein Gestank nach verbranntem Haar und altem Öl.

Ich lasse die Taube fallen und ergreife die Flucht, doch der Dämon reagiert sofort. Er schnellt an mir vorbei und bringt sich in Position; blendend helle Flammen schießen aus Maul und Fingerspitzen auf mich zu.

Der ist mir wirklich gut gelungen, denke ich noch, bevor das Feuer mich einhüllt und die Hitze unerträglich wird.

Die Kapsel öffnet sich mit einem Zischen, das dem des Dämons nicht unähnlich ist. Ich reiße mir die Maske vom Gesicht und setze mich auf. Sich grillen lassen ist natürlich auch eine Möglichkeit der Rückkehr, allerdings tut es echt weh.

Ich stemme mich hoch und steige mühsam aus der Kapsel. Wie jedes Mal nach einem Aufenthalt in einer der Welten fühlt sich mein Körper doppelt so schwer und wie eingerostet an. Auch das ist ein Grund, warum die Menschen keine Lust mehr auf die Realität haben. Hier sind sie ungelenker, behäbiger und – nennen wir es ruhig beim Namen – hässlicher. Wer neunzig Prozent seiner wachen Zeit in den Welten verbringt, erträgt beim Zähneputzen seinen Anblick im Spiegel meist nur noch schwer.

Ich schäle mich aus dem Overall, jeder Handgriff ist mühsam. Meine Haut prickelt, meine Fingerspitzen fühlen sich taub an. Es dauert gut zehn Minuten, bis ich meine normalen Sachen angezogen habe.

Als ich nach draußen trete, wird es schlimmer. Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel, und mein Kreislauf protestiert. Ich brauche etwas zu trinken. Die beiden Arbeiter von vorhin sitzen im Schatten der Bäume, die zwischen den Gebäuden gepflanzt wurden, und würdigen mich keines Blickes.

»Du warst lange unterwegs«, begrüßt mich Matisse.

»Ja. Ich musste über Macandor gehen, der Exit-Point im Rathaus von Kerrybrook funktioniert nicht.«

Matisse formt seine Lippen zu einem übertrieben überraschten O. »Ach. So was gibt’s?«

»Offensichtlich. In Macandor hat dann ein Feuerdämon die Sache beschleunigt. Tat sauweh. Sterben ist immer irgendwie scheiße.«

»Aber nur eine Illusion«, trällert Matisse, so wie jedes Mal, wenn ich mich angesichts der Erzählungen anderer Designer schüttle, in deren Welten der ständig drohende Tod das spannendste Element ist. Manchmal das einzig spannende. Sterben ist nur eine Illusion.

»Apropos Tod und so.« Er hat sich wieder seinen Bildschirmen zugewandt. »Helling hat nach dir gesucht.«

Immer noch mit dem Gefühl, Bleigewichte am Körper zu tragen, lasse ich mich auf meinen Bürostuhl sinken. Olga Helling, das auch noch. Echt nicht mein Tag heute. »Hat sie gesagt, was sie will?«

»Sie hat ihren üblichen Rundgang gemacht und wollte wissen, was das für Unregelmäßigkeiten in Kerrybrook sind.«

Verdammt. Dann ist dem Management also schon aufgefallen, dass etwas nicht stimmt. Und ausgerechnet Olga schicken sie, die mich sowieso nicht leiden kann. Nicht aus persönlichen Gründen – glaube ich wenigstens –, sondern weil ich eingestellt wurde, um einen ihrer Favoriten zu ersetzen. Ich habe diesen Tivon nie kennengelernt, aber es heißt, er war das Wunderkind unter den Weltendesignern, bis er sich dann irgendwie unbeliebt gemacht hat. Laut Matisse war er ein arroganter Typ mit Hang zu Wutanfällen. Angeblich sind alle froh, dass ich jetzt seine Stelle habe. Keine Ahnung, ob das stimmt. Für Olga Helling jedenfalls nicht, denke ich. Für sie bin ich nur ein trauriger Ersatz, wie sie mir gegenüber immer wieder mal andeutet.

Ich wische mir die Hände an der Hose ab und rufe auf dem mittleren meiner drei Bildschirme die Statistik für Kerrybrook auf. Nach wie vor dreiundzwanzig Ausfälle, seit meiner Abreise hat sich nichts mehr verändert. Auch das ist für sich betrachtet merkwürdig, beruhigt mich aber trotzdem. Ich gehe die Listen durch. Zoe Uhland steht immer noch bei den Exits, damit habe ich nicht gerechnet. Die drei Stunden sind bald vorbei, und sie hat sich immer noch nicht in eine andere Welt transferieren lassen. Warum?

Tja, das ist die große Frage. Was hat sie getan? Sitzt sie in ihren dunklen fünf Quadratmetern Wohnraum, starrt die Kapsel an und meditiert? Ist sie nach draußen gegangen?

Ich würde gerne ihren realen Aufenthaltsort checken, aber auf diese Information habe ich keinen Zugriff. Nur wenige Leute bei Mastermind dürfen die Datenbanken einsehen, in denen verzeichnet ist, wo jemandes Kapsel steht. Die meisten Wohneinheiten liegen in riesigen Depotsiedlungen, und deren Umgebung ist fast immer trostlos. Außer hässlichen Siedlungsklötzen bis zum Horizont wird Zoe draußen wahrscheinlich nichts finden. Nichts und niemanden, denn außer den Leuten, die für Wartungsarbeiten oder Ähnliches gebraucht werden, treibt sich dort niemand herum. Kann es trotzdem sein, dass sie ins Freie gegangen ist?

Ich strecke unter dem Tisch die Beine aus und denke daran, wie schauderhaft schwer das Leben sich anfühlt, wenn man gerade aus einer der Welten zurückgekehrt ist, so wie ich vorhin. Dabei war ich nur ein paar Stunden lang weg. Jemand, der die reale Welt über Jahre gemieden hat, erträgt ihre Umstände kaum mehr.

Genau so soll es ja auch sein. Das ist der Masterplan, der Masterplan von Mastermind, und er funktioniert.

Ich spüre einen leichten Lufthauch im Nacken und drehe mich um. Neben mir steht Olga Helling, die Hände auf dem Rücken, das dunkle Haar mit einem Schweißband nach hinten gehalten.

Ich habe sie nicht kommen hören, das tue ich fast nie. Sie bewegt sich lautlos durch unser Studio, huscht von einer Designstation zur nächsten und bleibt nur stehen, wenn sie Kritik loswerden möchte. Ich wappne mich innerlich.

»Jana.« Ihre Stimme ist weich, fast liebevoll. »Dein Kerrybrook hat in der Zentrale Alarm ausgelöst. Dreiundzwanzig Ausfälle! Was ist denn los?«

»Ich bin dabei, es herauszufinden«, sage ich, ohne sie anzusehen.

»Wir haben auch schon Nachforschungen eingeleitet«, sagt Olga, und obwohl ihr Ton sich nicht verändert, kann ich die Drohung darin hören. »Bei einer so hohen Zahl muss ein Fehler im System sein, meinst du nicht?«

Nun suche ich doch ihren Blick. »Wenn, dann ist es ein technischer Fehler, und für die bin ich nicht zuständig. Vielleicht machst du mal einen Kurzbesuch in der Programmierabteilung?«

Wenn sie lächelt, jagt sie mir wirklich Angst ein. »Keine Sorge. Dort war ich schon. Nachdem ich dich hier nicht vorgefunden habe.«

»Ich war vor Ort und habe mir die Lage angesehen«, erkläre ich und beiße mir sofort wieder auf die Zunge. Ich sollte nicht anfangen, mich zu verteidigen.

»Und? Irgendetwas Auffälliges?«

Ich denke an Zoe Uhland und das Messer in ihrem Rücken. An den Fischer, wie er in den Fluten versinkt. An den verschwundenen Exit-Point. »Nichts Beunruhigendes. Ein paar unvorhergesehene Ereignisse, aber das darf ja so sein. Die Welten sollen schließlich eigene Dynamik entwickeln, nicht wahr?« Ich straffe mich. »Außerdem gibt es eine Menge Transfers nach Kerrybrook. Mehr als Ausfälle. Die Benutzerzahl wächst.«

Wieder lächelt sie. »Na, das ist doch ein Glück.« Damit dreht sie sich um und geht, lautlos wie immer. Matisse späht an seinen Monitoren vorbei zu mir herüber. »Mach Olga ja keinen Ärger«, spöttelt er, sobald sie außer Hörweite ist. »Angeblich könnte sie zu den Alphas befördert werden, wenn ihre Abteilung weiterhin so erfolgreich ist. Ich will nicht in der Haut der Person stecken, die ihr das vermasselt.«

»Zu den Alphas?« Das höre ich zum ersten Mal. Ich kenne zwar keinen Alpha persönlich, aber die Elite Europas habe ich mir anders vorgestellt. Nicht als Ansammlung von Olgas. »Davon träumt sie doch nur, oder?«

»Wenn, dann träumt sie ziemlich intensiv, nach allem, was ich gehört habe.« Er kratzt sich am Kinn. »Was war denn los in Kerrybrook?«

»Eine Frau wurde erstochen und ist seitdem nicht mehr im System aufgetaucht, jemand ist vor meinen Augen ins Wasser gegangen, und ein Exit-Point wurde deaktiviert. Ich habe dreiundzwanzig Ausfälle und keine richtige Erklärung dafür. Aber ich suche mir jetzt die Aufzeichnungen der letzten zwölf Stunden raus, und dann weiß ich hoffentlich mehr.«

Matisse nickt mitfühlend. »Wenn du Hilfe möchtest, gib Bescheid.«

Am besten beginne ich bei dem Mord selbst, bei der Identifikation des Täters. Jemand, der psychisch so gestrickt ist, dass er einem anderen ein Messer in den Leib rammt, hätte nie einen Pass nach Kerrybrook bekommen dürfen. Hier liegt also schon der erste Fehler.

Ich hole mir die Stelle heran, an der sich der Zwischenfall ereignet hat. Als ich Zoe Uhland zuerst gesehen habe, war sie noch am Leben. Sie ist zwar unmittelbar danach gestorben, aber die Tat muss ein paar Sekunden, höchstens Minuten vorher passiert sein.

Ich gebe den passenden Timecode ein, dann zoome ich den Marktplatz und die Gässchen rund um das Rathaus heran. Ja, da ist die Verkäuferin an ihrem Käsestand. Zwei junge Mädchen gehen vorbei, ein älterer Mann setzt sich auf eine sonnenbeschienene Bank.

Und da kommt Zoe Uhland, in ihrem hübschen hellblauen Kleid. Sie hat sich etwas Altmodisches ausgesucht, sieht fast viktorianisch aus – es passt perfekt in mein Kerrybrook-Design. Zoe überquert den Marktplatz; am Rand bleibt sie kurz stehen und sieht sich um, als würde sie jemanden suchen. Ohne Erfolg. Sie zuckt mit den Schultern und geht … in die Gasse, in der sie gleich sterben wird.

Ich zoome noch näher, sehe ihr dabei zu, wie sie wieder stehen bleibt. Um sich blickt.

Was dann geschieht, ist merkwürdig. Etwas nähert sich, aber es ist kein Bewohner, es ist eher ein Schatten. Halb durchsichtig, halb trübe, als hätte jemand eine Figur gezeichnet, sie hässlich gefunden, sie aber nicht mehr ganz ausradieren können.

Das verschmiert wirkende Ding geht auf Zoe zu. Sie läuft nicht weg, sondern lächelt, nickt, dreht sich schließlich um und hebt den Arm. In diesem Moment stürzt sich der Schatten auf sie, eine heftige Bewegung, und sie bricht zusammen. Die schemenhafte Gestalt huscht davon – nicht auf das Rathaus zu, wie ich erwartet habe, sondern genau in die entgegengesetzte Richtung.

Ich zoome mich aus der Detailansicht raus, um dem Täter besser folgen zu können, doch nach ein paar Sekunden verliere ich seine Spur. Es ist, als würde er mit einer dunklen Stelle in einer Steinmauer verschmelzen und dort verschwinden. Vier-, fünfmal wiederhole ich die Sequenz, versuche herauszufinden, wohin der Schatten geflohen ist, aber es gelingt mir nicht.

Na gut. Dann finde ich jetzt den Personalcode des Täters heraus, was ganz einfach ist, wenn er auf dem üblichen Weg nach Kerrybrook gekommen ist. Ich muss nur den Analysemodus aktivieren und die Sequenz ein weiteres Mal wiederholen.

Diesmal ist kaum etwas von der Umgebung zu sehen, so dicht sind die Infodaten auf dem Monitor. Von jeder anwesenden Person bekomme ich Namen, Personalcode, Status, gültige Pässe und derzeitigen Stand der Prämienpunkte angezeigt. Es ist ein Chaos aus engen Zeilen, die sich mit dem jeweiligen Bewohner durchs Bild bewegen, einander überlappen, sich laufend ändern. Ich schwenke meine Perspektive in Richtung Tatort. Hier wird es einfacher sein, Zoe Uhland und ihr Mörder sind schließlich nur zu zweit, wenn es so weit ist.

Da kommt Zoe auch schon. Über ihrem Kopf schwebt ein Textblock in hellgrünen Lettern. Zoe Uhland, PC 4TG9812E. Pässe: NewYork1977, Luhara, Florestania, Space35, Paris1659, Asherville, Plantage12. Prämienpunkte: 471.

Sie bleibt stehen, sieht sich um, zuckt mit den Schultern, geht weiter, bleibt wieder stehen – ich kenne mittlerweile jede einzelne ihrer Bewegungen. Und weiß, dass es nur noch einen Wimpernschlag lang dauern wird, bis der verwaschene Umriss des Täters auftauchen wird.

Da ist er. Ich halte den Atem an und stoße ihn geräuschvoll wieder aus, als genau das passiert, was eigentlich nicht sein dürfte. Über dem Schatten erscheinen keinerlei Daten. Nicht einmal ein Name, nichts. Es ist, als gäbe es ihn gar nicht. Als würde er sich nicht in Kerrybrook befinden, doch das tut er offensichtlich. Es ist auch klar erkennbar, dass Zoe ihn sieht, sich ihm freundlich zuwendet – doch unmittelbar darauf ersticht er sie.

Ich schalte den Analysemodus aus und lehne mich zurück, ohne zu wissen, was ich mit dem eben Gesehenen anfangen soll.

»Was ist los?«, höre ich Matisse fragen.

Es dauert ein paar Sekunden, bis ich eine Antwort parat habe. »Sieht so aus, als hätten wir ein Phantom.«

Meine Vermutung ist natürlich ein Schuss ins Blaue. Ich habe noch nie ein Phantom gesehen, ich weiß nur, dass sie früher recht häufig waren. Lange vor meiner Geburt, als die Zugänge noch nicht so gut gesichert waren. Damals schleusten sich technisch begabte Menschen in Welten ein, zu denen sie eigentlich keinen Pass hatten, und richteten dort allerlei Unheil an. Anonym und unerkannt.

Wenn sich ein Phantom in Kerrybrook eingeschlichen hat, ist das wirklich übel, obwohl der Fehler dann wohl eher bei den Programmierern und nicht bei mir liegt. Sie fertigen gewissermaßen das Baumaterial an, mit dem wir dann kreativ arbeiten. Trotzdem wird man die Panne mit meinem Namen in Verbindung bringen. Es sind die Designer, die als die Schöpfer einer Welt gelten. Was nett ist, wenn alles gut läuft. Im anderen Fall …

»Du hast ganz sicher kein Phantom«, höre ich Matisse sagen. »Die gibt es seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr. Oder noch länger.«

»Dann komm und sieh es dir selbst an.« Ich rücke mit meinem Arbeitsstuhl zur Seite, als Matisse mit seinem herüberrollt. Während die Sequenz noch einmal läuft, betrachte ich nur seinen Hinterkopf. Sehe, wie die unzähligen Zöpfchen in Bewegung geraten, als er beim Auftauchen des Schattens zusammenzuckt. »Oh«, macht er. »So was habe ich wirklich noch nie gesehen.« Er bringt sein Gesicht näher an den Monitor heran und lässt das Bild einfrieren. Die Gestalt verschwindet. Sobald die Aufzeichnung weiterläuft, ist der verwischte Schemen wieder da. Sieht aus wie Dreck, denke ich.

»Weißt du was?«, murmelt Matisse. »Der Typ hat seinen Personalcode mit einem Störsignal verknüpft.« Er weist mit seinem bunt beringten Zeigefinger auf den Bildschirm. »Die Frau kann ihn ganz normal sehen, sie grüßt ihn – siehst du? Aber für uns hier draußen wirkt er wie ein Grafikfehler. Wir nehmen ihn überhaupt nur dann wahr, wenn er sich bewegt. Wenn er ruhig hält oder wir die Aufnahme anhalten, ist er unsichtbar.« Matisse demonstriert es noch einmal. »In gewisser Weise ist es also wirklich ein Phantom.«

Ich nicke. »Wie werde ich den wieder los?«

»Puh. Gute Frage.« Nun versucht auch Matisse zu verfolgen, wohin der Schatten sich nach dem Mord verflüchtigt hat. Klopft ungeduldig mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte. »Er löst sich einfach auf. Oder – er bleibt stehen und rührt sich nicht mehr. Jedenfalls ist er verschwunden. Für unsere Aufzeichnungen. Für die Leute in Kerrybrook natürlich nicht, die sehen ihn.«

»Oder sie.«

»Richtig. Am besten wäre, du versuchst mit Zoe Uhland selbst zu sprechen, sie kann dir sicher eine Personenbeschreibung geben, und damit finden wir leichter raus, wer das System ausgetrickst hat.«

Ich bin Matisse ehrlich dankbar für dieses »wir«. Ohne ihn würde ich jetzt wirklich nervös werden, dabei ist nichts allzu Schlimmes passiert. Obwohl mir ein Blick in die Statistik verrät, dass aus den dreiundzwanzig Ausfällen nun siebenundzwanzig geworden sind. Ich unterdrücke die böse Vorahnung, die in mir aufsteigen will.

»Okay«, sage ich betont munter. »Ich stelle einen Antrag auf Zoes Kontaktdaten, und dann werde ich mit der Technik …« Etwas in seinem Gesicht lässt mich verstummen. Sein Blick geht an mir vorbei, ich drehe mich um, und da steht Helling. Wieder habe ich sie nicht kommen gehört.

Sie steht einfach nur da, ihr Gesicht ist starr, ihr Blick gleitet zwischen mir und meinem Monitor hin und her. »Weißt du schon mehr?«, fragt sie.

»Ein bisschen«, antworte ich hastig. »Es gibt einen Eindringling, vielleicht ist es auch ein Bewohner, der seine Identität verschleiert. Er hat zumindest eine Gewalttat begangen, möglicherweise ist er für die Ausfälle verantwortlich. Das Opfer ist eine Frau, die bisher nicht wieder im System aufgetaucht ist.«

Olga verschränkt die Arme vor der Brust. »Zoe Uhland? Personalcode 4TG9812E?«

Ich nicke stumm. Hat das Management sich die Aufzeichnung schon angesehen?

»Tja«, sagt Olga. Jetzt blickt sie zu Boden. »Für diesen einen Ausfall haben wir immerhin eine Erklärung.« Ihr Gesichtsausdruck verheißt nichts Gutes, und ich ertrage ihre dramatische Sprechpause nicht.

»Hat Zoe Uhland Beschwerde eingereicht?«, stoße ich hervor. »Was hat sie gesagt?«

»Gar nichts.« Olgas Blick richtet sich erst auf Matisse, dann zur Decke, dann auf ihre Fingernägel, um am Ende auf mir zu verharren. »Sie konnte sich nicht beschweren. Sie ist tot.«

Ein Gefühl, als würde mein Inneres sich verflüssigen, aber dann setzt mein Verstand ein. Ich huste, räuspere mich. »In Kerrybrook, ja. Das habe ich gesehen. Aber …«

»Nicht nur in Kerrybrook. Zoe Uhland ist verstorben, offenbar hat ihre Maske ihr einen tödlichen Stromschlag versetzt. Es ist noch nicht offiziell, aber …« Sie heftet ihren Blick auf meine Monitore. »Mastermind hat einen Spezialtrupp in ihr Wohndepot geschickt, der die Umstände untersuchen soll.« Sie wendet sich um und geht, nach ein paar Schritten dreht sie sich noch einmal zu mir. »Ich hoffe, deine anderen sechsundzwanzig Ausfälle haben es besser erwischt.«

Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, aber wahrscheinlich sind es nur ein paar Sekunden, bis Matisse mich aus meiner Erstarrung reißt. Er packt mich an den Oberarmen und schüttelt mich leicht. »Jana? Das hat nichts mit dir zu …«

»Schon gut.« Ich befreie mich aus seinem Griff. »Ich bin nicht schuld daran, aber erzähl mir jetzt nichts von Zufall. Die Frau wird in einer der Welten erstochen und stirbt dann tatsächlich?«

»Aber an einem Stromschlag«, protestiert Matisse. »Wenn ihre Ausrüstung defekt war, ist das erst recht nicht deine Verantwortung.«

Er will mich trösten, und dafür bin ich ihm dankbar. Doch es ändert nichts daran, dass Zoe Uhland in einer meiner Welten gestorben ist. Noch dazu in der friedlichsten von allen.

Bei dem Gedanken, dass unter den anderen Ausfällen weitere Todesopfer sein könnten, fährt die Angst in mir spitze Stacheln aus. Ich klemme mich wieder hinter meinen Arbeitsplatz. Wiederhole die Sequenz noch einmal und noch einmal. Versuche, das Phantom zu identifizieren, irgendwie einen Blick hinter die Tarnung zu erhaschen. Vergeblich.

Also wende ich meine Aufmerksamkeit der Frau zu. Sie ist gewissermaßen ein offenes Buch für mich. Seit drei Monaten war sie Bewohnerin von Kerrybrook; davor hat sie acht Monate in einer Welt namens Florestania verbracht.

Die kenne ich, sie wurde von Kareen gestaltet und ist ein Meisterwerk. Grünes, blühendes Land, in dem die Bewohner neue Pflanzenformen entwickeln und pflegen. Ich war noch nie an einem Ort, der so fantastisch geduftet hat. Auch eine Welt, in der ich gerne geblieben wäre. Die Leute schließen sich zu Werkstätten zusammen und erfinden prachtvoll schöne, blühende Gewächse; in manchen davon kann man sogar wohnen. Das Gemeinschaftsgefühl ist groß, ich habe niemanden getroffen, der schlecht gelaunt war.

Ich sehe noch einmal Zoe Uhlands Pässe durch. Alles friedvolle Welten, die niemanden mit hohem Aggressionslevel zulassen. Eine davon weckt meine besondere Aufmerksamkeit: Plantage12. Das ist eine Übergangswelt, für Menschen, die auf ein Leben in der Wirklichkeit vorbereitet werden sollen, um zum Beispiel Wälder wieder aufzuforsten. Sollte Zoe Uhland nach draußen berufen werden? So wie ich vor zwei Jahren?

Meine Übergangswelt hieß Toplevel. Ohne dass ich es wusste, lief dort ein permanentes Casting in Weltendesign, und die Besten wurden in die reale Welt rekrutiert. Ich weiß noch, wie gering meine Begeisterung war, als sie mich dafür auswählten. Wie sehr ich versuchte, die Leute von Mastermind davon zu überzeugen, dass es viel bessere Leute gab als mich, denn Toplevel war ein grandioser Spielplatz. Wir bauten Welten und lebten dann selbst darin, es gab Themenwettbewerbe, Innovationswettbewerbe …

Ich fand mich eigentlich immer durchschnittlich, im Vergleich zu manchen anderen dort. Aber mich holten sie raus. In deinen Welten bleiben die Testpersonen am längsten und möchten immer gerne zurückkehren, hieß es. Deine Ideen sind einfallsreich, aber nicht um jeden Preis, sie sind benutzerfreundlich und haben einen hohen Wohlfühlfaktor.

Damit dürfte es vorbei sein, nachdem dort nun neuerdings Leute gekillt werden.

Ohne es zu bemerken, habe ich begonnen, an den Fingernägeln meiner linken Hand herumzubeißen. Ich balle sie zur Faust und rufe die Daten eines anderen Ausgefallenen ab. Robbie Breuger, 24, seit sieben Monaten in Kerrybrook. Hat im Pub gearbeitet, um Prämienpunkte zu sammeln.

Die Weltenpässe, die er in seinem Profil hat, lassen auf einen abenteuerlustigen Charakter schließen. Jopur, ein Paradies für Entdecker und Kletterer. Außerdem hat er einen Kombipass für drei Welten, die Hawaii, der Arktis vor der Eisschmelze und dem Great Barrier Riff nachgebildet sind.

Und auch in seiner Sammlung befindet sich eine Übergangswelt: Rescue. Dort werden Sanitäter und andere Einsatzkräfte für Katastrophengebiete ausgebildet.

»Gehen wir auf einen Snack?« Matisse ist hinter mich getreten und legt mir die Hände auf die Schultern.

»Keine Zeit«, murmle ich.

»Du brauchst eine Pause, das sehe ich dir an. Außerdem könntest du bei den anderen nachfragen, ob noch jemandem so viele Ausfälle passiert sind.«

Das ist ein Grund, der mir einleuchtet. Ich stelle meine Designstation auf Stand-by und tappe hinter Matisse her.

Der Zwischenfall mit Zoe Uhland scheint sich schon herumgesprochen zu haben. Als wir die Kantine betreten, richten sich alle Blicke auf mich. Ich erwidere sie nicht, starre stattdessen die Porträts der Familie Faber an, die in allen Gemeinschaftsräumen von Mastermind hängen, so wie früher die Fotos von Präsidenten. In gewisser Weise sind die Fabers exakt das. Heute haben nicht mehr Staatsoberhäupter das Sagen, sondern die Eigentümer der multinationalen Konzerne; bei Mastermind sind das Gregor, Theodor und Irina Faber. Sie treffen die Entscheidungen für uns alle, ihnen gehört Mastermind und damit die Welt. Oder, genauer gesagt, die Welten.

»Hey, Jana!«, ruft Rick, der gerade seinen Teller auf einen freien Tisch stellt. »Matisse! Setzt euch doch zu uns!«

Ich weiß nicht, ob ich heute in der Stimmung für Ricks Gesellschaft bin, ich würde mich lieber zu Babette setzen, die einen Tisch für sich allein am anderen Ende der Kantine hat. Sie ist erst kürzlich von einer französischen Designstation hierherversetzt worden und war mir auf Anhieb sympathisch. Ruhig und kompetent.

Aber Matisse hat bereits einen Daumen hochgestreckt. Er klopft mir aufmunternd auf den Rücken und packt sich einen Teller Nudeln mit undefinierbarer Soße auf sein Tablett. Das Display zeigt fünf Punkte an, Matisse seufzt. Stellt den Teller zurück, nimmt stattdessen den Linseneintopf mit Brot und eine Flasche Wasser. Alles zusammen vier Punkte. »Ich muss aufpassen«, sagt er. »Vorgestern habe ich mir Huhn gegönnt, das war ein schwerer Schlag für mein Konto.«

Das kann ich mir vorstellen. Kaum jemand von uns isst noch Fleisch, eben weil es so hohe Klimapunkte hat. Pro Monat dürfen wir zweihundertfünfzig verbrauchen, keinen einzigen mehr, sonst gibt es Sanktionen. Ich habe schon Leute für zwei oder drei Wochen nach Molar gehen sehen, weil sie sich verbotene Lebensmittel beschafft haben.

Für uns hier draußen ist es so viel schwieriger als für die Leute in den Wohndepots. An einem Tag in der Kapsel verbraucht man gerade mal einen halben Punkt für Atemluft, drei Punkte für den Energieanteil am alternativen Weltensystem und noch mal zwei für Essen und Trinken. Es gibt Nährlösungen, die alles Nötige enthalten. Sie schmecken widerlich, aber das bekommt man in der Kapsel nicht mit, das System gaukelt einem ein Festmahl vor. Lachs und Steak, Torten und Schokolade.

Wir fordern schon lange eine virtuelle Kantine für unsere Niederlassung, aber die Leitung von Mastermind ist dagegen. Es geht zu viel Zeit für An- und Ablegen der Overalls drauf, heißt es. Außerdem würden wir dann die Pausen ins Unermessliche ausdehnen und nicht mehr genug arbeiten.

Wir haben das lauthals abgestritten, aber natürlich hat die Führungsebene recht. Ich lade mir eine kleine Portion Rübenmus auf den Teller. Punkte: einer. Appetit: null.

Trinkwasser schlägt sich nicht auf das Klimakonto nieder, also nehme ich eine ganze Karaffe mit und trage das Tablett hinüber zu dem Tisch, von dem aus Rick uns schon erwartungsvoll entgegenblickt.

»Stimmt es, was sie rumerzählen?« Er hält sich nicht mit höflichen Einleitungen auf, das tut er nie. »Du hast jetzt eine Killerwelt?«

Ich würde ihm gern den Teller mit dem Rübenmus überstülpen, das würde sich gut auf seiner rot gefärbten Angeberfrisur machen, aber Nahrungsverschwendung geht gar nicht.

»Ich habe vor ein paar Wochen mal in deinem Kerrybrook vorbeigeschaut«, plaudert er weiter, »da war es die pure Idylle. Gut, dass du es aufgepeppt hast.«

Jemand wie Rick würde normalerweise nie Zugang zu Kerrybrook bekommen, dafür hat er einfach nicht das richtige Charakterprofil. Aber er ist Designer, und so wie wir alle hat er einen Generalpass.

»Ich habe gar nichts aufgepeppt.« Das Rübenmus schmeckt, als hätte man ihm Erde beigemengt. »Bei mir hat sich so was wie ein Phantom eingeschlichen, danach sieht es jedenfalls aus.«

»Stimmt.« Matisse stellt sein Tablett neben meinem ab. »Seltsames Ding. Mir ist so etwas vorher noch nie untergekommen.«

»Und die Frau ist wirklich tot?« Rick rührt in seinem Vitaminshake. »Das wäre ein Feature für Dropout, denkt ihr nicht? Würde die Sache viel spannender machen.«

Dropout. Eine von Ricks Welten, eine Mischung aus Rätselspiel und brutalem Kriegsschauplatz. Ausgesprochen beliebt bei Leuten, die Nervenkitzel lieben, und zwar die Art, bei der es ums Ganze geht. Es ist eine der Welten, die die Realität vor Menschen schützt, die mehr Schaden anrichten als andere. Wer sich für Dropout qualifiziert, hat praktisch keine Chance, jemals aus den Wohndepots rauszukommen. Von einem Fortpflanzungszertifikat ganz zu schweigen.

»Ja, sie ist wirklich tot«, sage ich, »und das ist kein Anlass, Witze zu machen. Ich hoffe, die Technik findet bald raus, welchen Fehler die Maske hatte. So etwas darf nicht noch einmal passieren.«

»Ach.« Rick steckt sich ein Stück Maisbrot in den Mund. »War sicher ein schnelles Ende, nicht wahr? Ein bisschen die Gehirnwindungen grillen, und zack – vorbei. Bei den meisten Gehirnen, die ich kenne, wäre das kein Verlust.«

Ein viertes Tablett wird auf den Tisch geknallt. Elsie – groß, dünn und so blond, dass sie fast weißhaarig wirkt – wirft sich auf den letzten verbleibenden Stuhl. »Du bist ein Idiot, Rick«, sagt sie nüchtern.

»Aber ein begabter Idiot.« Er grinst sie an. »Ich hab’s doch nicht ernst gemeint. Ich will nur, dass Jana sich besser fühlt.«

»Idiot«, wiederholt Elsie zufrieden, bevor sie sich mir zuwendet. »Ich habe gehört, was passiert ist. Tut mir so leid, aber es ist sicher nicht deine Schuld.«

»Danke.« Ich mag Elsie, sie ist fünf oder sechs Jahre älter als ich, war aber ebenfalls schon mit siebzehn bei den Designern. Ich freue mich jedes Mal, wenn wir uns sehen, bloß die Welten, die sie modelliert, ertrage ich kaum. Horrorszenarien mit Zombies und anderen Monstern; man kämpft dort ständig ums Überleben und muss an jeder Ecke damit rechnen, von einem grauenvoll entstellten Wesen angefallen und gekillt zu werden. Besonders stolz ist sie auf das Geruchsspektrum, das sie passend dazu gestaltet hat. Bisher ist zu meiner Überraschung noch keiner der Bewohner daran gestorben, dass er vor Ekel in die Maske gekotzt hätte.

»Ich würde gern mal so was wie Kerrybrook machen«, sagt sie und beißt nachdenklich von einem Stück Zwieback ab. »Aber mit lauter Spukhäusern, versteht ihr? Eine verfluchte Hütte neben der nächsten, und wer drei Tage überlebt, bekommt eine Reise nach … Venedig.« Sie grinst Matisse an. »Perfekter Ort, um sich zu erholen, nicht wahr? So ruhig, wie es ist.«

»Ja ja, bohrt nur in meinen Wunden«, brummt er.

Ich habe das Rübenmus bisher kaum angerührt, essen muss ich es aber. Nahrungsmittel zu verschwenden hat Konsequenzen, also löffle ich den Brei in mich hinein. Das Wasser, mit dem ich ihn hinunterspüle, schmeckt heute ebenfalls scheußlich. Nach Chlor? Ich muss das Gesicht verzogen haben, denn Rick lacht auf. »Widerlich, oder? Hättest dir auch einen Shake nehmen sollen, da übertüncht das künstliche Erdbeeraroma alles andere.« Er prostet mir mit seinem pinkfarben gefüllten Glas zu. »Spukhäuser«, sagt er dann zu Elsie gewandt, »in einer Gefängniswelt. Das wäre mal etwas anderes, oder? Wir könnten das zusammen machen, du sorgst für den Horror und ich dafür, dass keiner je wieder rauskommt, nicht einmal für den Schlaf-Exit.«

Als Elsie eine Grimasse zieht, wendet er sich uns anderen zu. »Wir sollen doch neue Ideen liefern, und so was wäre nagelneu! Noch dazu: Ich kann das! Joscha hat mich ein paar Tage lang an Molar mitarbeiten lassen, ich weiß, wie man eine Welt luftdicht abschließt! Wir nennen sie NoWayOut und lochen dort die wirklich bösen Jungs ein!« Er sticht ein paar Mal mit seiner Gabel auf imaginäre Opfer ein. »Wenn sie wieder rauskommen, sind sie streichelweich und schäfchenzahm.«

»Na dann, macht mal«, sagt Matisse kauend. »Ich bin sicher, Mastermind wird begeistert sein.«

Normalerweise hätte ich Spaß daran, mich an dem Geplänkel zu beteiligen und mir auch abartige Weltenkombinationen auszudenken, aber ich bin in Gedanken immer noch in Kerrybrook. Warum habe ich mich zu dieser Snackpause überreden lassen? Ich sollte besser an der Designstation sitzen und mich um meine Welten kümmern.

»Bei euch gibt es also keine Ausfälle?«, frage ich und lege den Löffel zurück auf den leeren Teller. Allgemeines Kopfschütteln. »Ein paar Transfers schon«, sagt Elsie, als könnte mich das trösten.

Ich nicke müde und stehe auf. Rick gähnt demonstrativ. »Gehst du Phantome jagen? Könntest du dann Babette fragen, ob sie sich zu uns setzen will?«

Ich würdige ihn keiner Antwort, aber auf dem Weg zurück an meinen Arbeitsplatz hallt seine Frage in meinem Kopf wider. Phantome jagen. Wenn ich wüsste, wie man das am besten macht.