Daffke. - Johanna Tüntsch - E-Book

Daffke. E-Book

Johanna Tüntsch

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Beschreibung

Die unkonventionelle Anja ist ohnehin experimentierfreudig, und für die konservative Simone kann es derzeit gerade nur besser werden. Also nehmen die ungleichen Frauen eine längst eingeschlafene Freundschaft wieder auf und kämpfen sich zusammen durch den Irrsinn des Alltags, satellitenartig begleitet von Anjas gutem Freund Theo. Von so einem Netz kann Daniela nur träumen. Ihr bleibt nur ihr Tagebuch, dem sie ständig ihr Herz ausschüttet. Aber es zeigt sich, dass Licht und Schatten manchmal anders fallen als vermutet. Schließlich braucht jeder der vier eine gehörige Portion Daffke: also die Fähigkeit, trotz allem aufzustehen, jetzt erst recht zu lachen und den Rückschlägen des Lebens die Stirn zu bieten.

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Für meine Freundinnen und meine Freunde.

Und für Justus, ohne den es dieses Buch nie gegeben hätte.

Namen & Figuren

Simone, Rechtsanwältin für Strafrecht. Schulfreundin von Anja.

Mutter von Frederik. Getrennt von Moritz.

Anja, Reporterin. Schulfreundin von Simone.

E-Mail-Freundin von Theo.

Daniela, Protokollführerin bei Gericht. Fremd in der Gegend; vermisst ihre Heimat. Partnerin von Chris.

Theo, Journalist. Verheiratet und Vater von zwei Kindern.

E-Mail-Freund von Anja.

Frederik, Kindergartenkind. Sohn von Simone und Moritz.

Moritz, Anwalt. Vater von Frederik. Getrennt von Simone.

Chris, Nachtclubbetreiber. Partner von Daniela.

Anke, Mutter von Chris.

„Daffke.“ ist eine frei erfundene Geschichte.

Wenn Ähnlichkeiten zu realen Personen und ihrem

Leben auftreten, sind diese dem Zufall geschuldet.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3.

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

1

Simone.

Apfelbaumplantagen rauschten an ihr vorbei. Sie war noch nicht erwacht aus der morgendlichen Benommenheit, die sie seit einer Woche bei jedem Aufwachen in ihrem Bann hielt. Eine Benommenheit, von der sie noch nicht wusste, ob sie grausam oder gnädig war. Kalt kribbelte es in ihren Fingern, in ihren Armen, in ihrer Brust. Alles fühlte sich irgendwie taub an. Und gleichzeitig wie tausend Nadelstiche.

Sie tastete auf dem Beifahrersitz nach ihrer Tasche. Sie hatte doch die Akte eingesteckt? Ja, da war sie. Aber was war das? Ihr Finger fuhr die zerkratzte Plastikoberfläche einer Tupperdose entlang. Sie hatte keine Tupperdose eingesteckt!

Sie fühlte weiter, schob Portemonnaie und Filofax zur Seite, zerrte die Dose heraus, das Lenkrad mit der linken Hand haltend – um dann verblüfft in ihrer Rechten die rosa Brotdose zu finden, die sie durch all ihre 13 Schuljahre begleitet hatte.

Sie machte eine Vollbremsung vor dem Zebrastreifen, gerade noch rechtzeitig, um eine zeternde alte Bauersfrau mit Kopftuch, braunem Anorak und wadenlangem Rock unverletzt von einer Straßenseite zur anderen humpeln zu lassen. In der Mitte der Straße blieb die Alte stehen, gestikulierte wütend mit ihrem Krückstock und setzte ihren mühseligen Weg dann fort.

Mit den Augen folgte sie ihr, bis hinter ihr lautes Hupen erklang. Sie sah in den Rückspiegel. Eine Kolonne von Autos. Sie erinnerte sich. Pendler.

Mittwochmorgen. Berufsverkehr. Leute wollten zur Arbeit, und sie war ein Teil von ihnen.

Sie sah auf die rosa Brotdose, die sie unbewusst noch immer in der Hand hielt.

Schließlich gelang es ihr, die Dose vorsichtig zurück in die Tasche zu legen, mit rechts den Schaltknüppel zu erwischen, den ersten Gang einzulegen und ihren Weg fortzusetzen.

Das Hupkonzert hinter ihr war inzwischen so laut, dass sie erst an der übernächsten Querstraße, als wieder Ruhe eingekehrt war, einordnen konnte, welch seltsames Getöse sie nun schon wieder irritierte. Sie biss die Zähne zusammen, schaltete vom röhrenden ersten Gang gleich in den dritten und tuckerte am Ortsausgangsschild vorbei, ein weiteres Stück Landstraße entlang, zwischen weiteren Apfelbaumspalieren hindurch, zum nächsten Ortseingangsschild.

Links die Schulstraße, rechts das alte Café. Dahinter die abbiegende Vorfahrtsstraße. Sie fuhr jetzt vollkommen automatisiert. Dort war das kleine Gericht. Sie war lange nicht hier gewesen, kannte es aber von früher gut.

Sie bog in die Einfahrt ein, ließ den Wagen auf einen leeren Parkplatz rollen, schaltete den Motor ab. Drehte sich zum Beifahrersitz um und sah wieder die rosa Brotdose, die sie jetzt nahm und öffnete. Der Geruch von Graubrot mit Leberwurst nebelte ihr entgegen, doch die liebevoll geschmierte Stulle, die ihn ausstrahlte, war verborgen unter einem Zettel mit der Handschrift ihrer Mutter.

„Vergiss das Essen nicht, Kindchen!“

Ein Kloß explodierte in ihrem Hals und sie brach in Tränen aus.

Im Verhandlungssaal saßen bereits ein ungeduldig mit den Fingern trommelnder Richter und eine schnippisch dreinblickende Staatsanwältin. Schemenhaft nahm sie einige Besucher auf den Zuschauerbänken wahr, doch ihr Mandant war nirgendwo zu sehen. Das war schlecht.

„Entschuldigen Sie meine Verspätung“, murmelte sie matt.

Der Richter sah sie resigniert an. „Das fällt mir leichter, als die Abwesenheit Ihres Mandanten zu entschuldigen.“

Sie wühlte in ihrer Tasche nach dem Handy. „Ich werde ihn gleich mal anrufen und fragen, wo er steckt.“

„Danke, aber das ist nicht nötig. Er hat gerade selbst angerufen.“

Sie ließ das Handy wieder in die Tasche gleiten. „Er hat angerufen? Wo? Hier?“

Der Richter nickte, sichtlich gereizt. „Genau hier“, bestätigte er. „Erst rief er an und sagte, er habe kein Geld für die Fahrkarte hierher. Nachdem ich ihm gesagt habe, dass er gut daran täte, es sich dann schleunigst zu beschaffen, rief er zehn Minuten später an, um zu sagen, er habe es jetzt organisiert und fahre los.

Zwanzig Minuten später stellten mir die Wachtmeister erneut ein Gespräch durch: Ihr Mandant war dran, und er wollte mir sagen, dass die Züge in diese Richtung alle Verspätung hätten! Ich habe das nachgeprüft im Online-Fahrplan; es stimmte nicht.

Aber es kommt noch besser: Just bevor Sie gerade die Tür öffneten, rief er an, um mir zu sagen, dass er jetzt wieder zu Hause sei, weil ihm das alles zu aufwendig wäre, und dass ich die Sache mit Ihnen allein verhandeln solle. Er scheint über seine Pflichten nicht so ganz aufgeklärt worden zu sein.

Jedenfalls habe ich jetzt veranlasst, dass er in Gewahrsam genommen wird. Dann muss er eben im Knast ein paar Wochen lang auf den nächsten Verhandlungstermin warten.“

Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hatte. Augenscheinlich nahm nicht einmal ein Betrüger, den sie vor zwei Monaten erst knapp aus einer drohenden Haftstrafe herausgeboxt hatte, sie ernst genug, um wenigstens bei ihr persönlich abzusagen. Stattdessen leistete er sich eine hochnotpeinliche Lügengeschichte gegenüber dem Richter und ließ sie auflaufen wie die größte Idiotin.

Vom Richter zu erfahren, dass der eigene Mandant nicht kam! Beschämt fühlte sie rote Flecken in ihren Wangen aufsteigen. Der Richter, sichtlich genervt davon, dass nun auch noch sie selbst eine halbe Stunde zu spät kam, setzte noch eins drauf: „Sie haben wohl Ihren Mandanten nicht so richtig im Griff!“ Und mit einem Blick auf die Uhr, die oberhalb der Tür hing: „Manchmal kann‘s helfen, wenn man selbst ein gutes Vorbild ist!“

Sie fühlte Tränen in ihre Augen steigen. Sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie eine Dreiviertelstunde lang auf dem Gerichtsparkplatz gesessen und geheult hatte. Gleichzeitig fragte sie sich, was mit dem Richter los war; was mit der ganzen Welt los war. Sie kannte ihn seit ihrem Referendariat; er war eigentlich einer der nettesten im ganzen Bezirk. Vor zwei Wochen noch hatte sie sich darauf gefreut, für diese Verhandlung aus der Stadt herauszukommen und ihn wiederzusehen.

Unerwartet sah sie plötzlich Betroffenheit in seinem Gesicht, das mit einem Mal die alte Freundlichkeit zurückgewann. „Ich werde neu terminieren und Sie dann benachrichtigen. Machen Sie sich keine Gedanken; verspäten kann sich ja jeder mal. Und Ihren Mandanten werden wir schon zurechtstutzen.“ Jetzt lächelte er aufmunternd: „Dann fahren Sie wohl am besten zurück in Ihre Kanzlei, oder nach Hause, oder dorthin, wo Sie sonst erwartet werden.“ Sie nickte nur, unfähig, noch ein Wort hervorzubringen. Heiß kribbelte es auf ihren Wangen.

Unglaublich, sie war tatsächlich im Gerichtssaal in Tränen ausgebrochen.

***

Anja.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Dienstag, 15.02. 21:53

Betreff: Glücklicher Zufall

Lieber Theo!

Du glaubst nicht, was mir heute passiert ist! Ich war im Gericht, und rate mal, wen ich dort getroffen habe? Meine alte Schulfreundin Simone!!!

Sie war jahrelang meine allerallerbeste Freundin. Als Teenager waren wir unzertrennlich. So sehr, dass es unsere Eltern schon total genervt hat. Wie es eben normal ist in dem Alter.

Wir haben Händchen gehalten, uns aus unseren Tagebüchern vorgelesen, beieinander übernachtet und stundenlang gequatscht; uns gegenseitig durch Liebeskummer und Stress mit unseren Eltern getröstet – wir wussten praktisch alles voneinander.

Aber nach dem Abi haben wir uns dann immer mehr aus den Augen verloren. Wir haben uns irgendwie auseinandergelebt.

Wir waren immer schon ein Stück weit sehr verschieden. In manchem waren wir ein Herz und eine Seele, aber da, wo wir es nicht waren, standen sich unsere Meinungen diametral gegenüber. Und je älter wir wurden, desto mehr haben wir uns in entgegengesetzte Richtungen entwickelt. Irgendwann hatten wir uns einfach nichts mehr zu sagen.

Sie ist – na ja, das fand ich jedenfalls, sie ist irgendwie versnobt geworden. Hat Jura studiert und war eine von diesen typischen Juristinnen: Perlenstecker, Perlenkette, Barbour-Jacke, Burberry-Karos. Zur rosa taillierten Bluse ein marineblauer Kaschmirpullover, im Poloschnitt und über die Schultern drapiert, dazu enganliegende Stretchhosen oder Minirock in Beige – Du kennst diesen Typ Frau.

Gibt es alternativ übrigens auch als Mann; dann daran zu erkennen, dass statt der Perlenstecker eine Hornbrille das Gesicht betont und die Hose Bundfalten hat. Ansonsten völlig gleich.

Also, wie auch immer. Sie hat damals nicht mit mir in Bonn studiert, sondern in Hamburg. Und hat sich deshalb total aufgeblasen, wie selbstständig sie ist, dass sie in die große, weite Welt geht, während ich noch bei meinen Eltern wohnte. Ich war damals so sauer!

Ich meine, ist ja kein Kunststück, in einer anderen Stadt zu studieren, wenn man von Mami und Papi alles bezahlt bekommt … Für mich war das halt nicht drin. Na ja, das war nicht der erste Knacks, den unsere Freundschaft bekommen hat, und es blieb nicht der letzte.

Aber dann steht sie nun heute plötzlich in Rheinbach im Gericht! Kommt Ewigkeiten zu spät, nachdem ihr Mandant schon den Richter richtig dreist versetzt hat.

Dementsprechend war der also völlig genervt, als sie dann hereinplatzte, und hat sie erst mal zur Schnecke gemacht.

Wobei ich sagen muss, dass er einen Sch*tag gehabt haben muss, denn eigentlich ist er der netteste Mensch der Welt.

Das hat er heute gut versteckt.

Und Du glaubst nicht, was dann passiert ist: Sie ist in Tränen ausgebrochen! Ausgerechnet Simone. Für mich war das alles wie ein einziger, bizarrer Film. Sie ist der disziplinierteste, beherrschteste Mensch, den ich kenne!

Und natürlich tat sie mir auch leid. Sie ist so lange meine beste Freundin gewesen.

Heute ist mir klar geworden: Mit der ersten allerbesten Freundin ist es wie mit der ersten großen Liebe. Das bleibt immer etwas Besonderes. Ich habe so viele Freundinnen, die besser zu mir passen als Simone, und ich habe so viele Jahre lang echt nur ganz sporadisch mit ihr Kontakt gehabt, und wenn, dann meistens so, dass es mich im Nachhinein eher genervt hat. Aber als der Richter sie heute so anpampte, war ich innerlich wieder 14 Jahre alt und wollte sie einfach nur fest in den Arm nehmen und sagen: „Vergiss den Idioten!“

Genau das hab ich auch gemacht. Sie war total überrumpelt, als ich hinter ihr die Treppe hinunterlief, und ich glaube, erst mal hat sie sich geschämt, dass ich sie so gesehen habe. Aber dann lagen wir uns in den Armen, und sie hat nur noch geschluchzt.

Ich habe sie erst mal in ein kleines Café gebracht, damit sie sich beruhigen und erzählen konnte. Aber viel habe ich nicht aus ihr rausbekommen. Nur, dass sie verheiratet ist und sich vor wenigen Tagen von ihrem Mann getrennt hat. Die Ehe muss irgendwie schrecklich gewesen sein.

Ich hätte das nie gedacht, denn für mich passten die beiden schon super zusammen; auch wenn er leider genau die Facette an ihr bedient hat, die ich am wenigsten leiden konnte.

Ich kenne ihn nur flüchtig. Wir waren vor Jahren mal zu viert mit meinem damaligen Freund aus. Ich fand ihn einen ätzenden Angeber, der den ganzen Abend nur von seiner

1.000-Euro-Kaffeemaschine erzählt hat. Jurist eben. Ich erinnere mich, wie die beiden in ihren Ralph-Lauren-Hemdchen uns gegenüber am Tisch saßen; er blau, sie rosa, beide mit gesticktem Pferdchen auf der Brust. Sahen aus wie Barbie und Ken in der Oxford-Version.

Jetzt wohnt sie wieder bei ihren Eltern – mit Kind! Sie hat nämlich inzwischen einen Sohn. Drei oder vier ist er wohl, ich weiß nicht genau. Jedenfalls spricht er schon und findet es super, jetzt jeden Tag seine Großeltern zu sehen.

Das ist natürlich gut; dadurch ist der Schock, dass sein Vater nur noch unregelmäßig auftaucht, nicht so groß. Aber für sie ist es der Super-GAU!

Verständlicherweise. Wer will schon mit Anfang 30 wieder in sein Kinderzimmer zurück? Dann liegt ihr auch noch ihre Mutter ständig in den Ohren mit so überflüssigen Sprüchen

wie: „Wir haben es dir ja gleich gesagt.“ Die wollten nämlich, dass sie einen Arzt heiratet, und zwar am besten einen, der mal die Orthopädiepraxis des Vaters übernehmen könnte.

Oh, Mann! Manchmal kann‘s im Leben echt ganz schön übel umschlagen. Simone war für mich immer der Inbegriff dessen, wie geregelt, sauber und unchaotisch das Leben laufen kann, wenn man es besser auf die Reihe kriegt als ich. - Und jetzt das … Puh!

Ich habe schon überlegt, ihr mein WG-Zimmer anzubieten, wenn Miriam Ende des Monats auszieht. Aber ich weiß nicht, ob ich das möchte – hier mit Kind wohnen? Und dann, wie gesagt, passen sie und ich ja auch eigentlich heute gar nicht mehr zusammen. Trotzdem merke ich, dass das jetzt gerade eigentlich keine Rolle spielen sollte und für mich gefühlsmäßig auch wirklich keine Rolle spielt. Im Gegenteil – vielleicht ist es die Chance, meine beste Freundin zurückzugewinnen.

Wie gesagt – eigentlich gibt es keine, an der ich so hänge wie an ihr. Auch keine, die mich je so sehr genervt und zur Weißglut getrieben hat. Aber das macht die Liebe eben nur umso größer.

Trotzdem – mit Kind! Was meinst Du? Ich meine, ich mag ja Kinder. Aber mit einem Vierjährigen zusammenwohnen, so von jetzt auf gleich? Hm, hm, hm. Ich überlege mir das mal. - Aber der Vorteil wäre, auch pragmatisch gesehen: Ich hätte dann erst mal wen, der die Miete mitträgt. Ansonsten muss ich die Semesterferien wieder alleine überbrücken, das wäre auch Mist. Neue Studenten findet man ja erst ab April wieder. Und – zurück zu den Eltern kann sie ja immer noch, wenn es nicht klappt.

Was meinst Du?

Liebe Grüße,

Anja

***

Daniela.

15. Februar (Dienstag)

Heute war auf der Arbeit großes Drama. Erst kommt der Angeklagte nicht und ruft dreimal an mit der schlechtesten Ausrede aller Zeiten: kein Geld, kein Zug, kein Haste-nich-gesehen. Dann stürzt fast eine Stunde später eine junge Anwältin rein, stellt sich als seine Verteidigung vor und weiß nicht, dass ihr Mandant gar nicht erschienen ist. Richter Schulze, völlig abgenervt, lässt sie ziemlich zickig auflaufen – und sie bricht in Tränen aus! So was hab ich in dem ganzen Jahr, das ich jetzt hier bin, noch nicht gesehen. Nachdem sie dann aus ihrem Prada-Täschchen ein Taschentuch gezubbelt hat, entschuldigt sie sich und geht.

Dann folgt Teil 2 der wundersamen Inszenierung: Die Journalistin, die uns regelmäßig besucht, packt hektisch ihren Kram zusammen und folgt ihr – alles mitten während einer laufenden anderen Verhandlung. Ich hätte ja zu gerne um die Ecke gespinkst, um zu sehen, wie es draußen weiterging. Ob die sich kannten? Na ja, ich werd‘s wohl nicht erfahren. Schulze hatte jedenfalls den Rest des Tages eine echte Scheißlaune. Das kennt man gar nicht von ihm! Na, ist ja okay, er darf ja auch mal schlecht drauf sein – aber muss er‘s an mir auslassen? Wahrscheinlich war‘s ihm unangenehm, dass er ‘ne junge Frau zum Heulen gebracht hat.

Na ja, das Problem hat Chris jedenfalls nicht. Dem hab ich heute Morgen gesagt, wie allein ich mich gestern Abend gefühlt hab, als er mit seinen Jungs was trinken war. Und was sagt er? „Na, heul doch!“ Das Schlimmste war, genau das hab ich dann gemacht, obwohl ich echt nicht wollte, und ich hab mich total geschämt. Er fand‘s, glaub ich, auch nur scheiße. Hat sich schnell auf die andere Seite gedreht und die Decke über den Kopf gezogen.

Aber es ist echt so schrecklich, hier ständig ganz allein zu sein. Morgens fahr ich auf die Arbeit, er pennt noch. Nachmittags komm ich irgendwann wieder, in eine leere Wohnung – er ist beim Sport. Also hau ich mich vor‘s Fernsehen und bereite irgendwann das Abendessen vor. Wenn ich Glück habe, ist er zum Essen da. Wenn ich noch mehr Glück habe, isst er, was ich gekocht hab. Aber da müssen schon Weihnachten und Ostern zusammenkommen. Manchmal habe ich das Gefühl, sein Ernährungsplan wechselt wöchentlich. Meistens kocht er ja eh lieber selbst, mit seinem ganzen Gemüse- und Fleischkram.

Ja, und dann ist es auch schon wieder so weit, dass er in seine Bar muss. Ich räum auf, putze und geh dann schlafen. Ganz so hab ich mir das ja nicht vorgestellt, als wir uns kennengelernt haben … Aber gestern Abend hab ich mit Lilly telefoniert; das hat mich total deprimiert. Die sucht jetzt schon seit 18 Monaten einen Job; dabei hat sie doch einen besseren Abschluss gemacht als ich! Wenn‘s mit der Arbeit anders wäre, würd ich vielleicht wieder nach Hause gehen. Aber eine unbefristete Festanstellung tauschen gegen was mit Jahresfrist? Vielleicht muss ich einfach mehr rausgehen. Dann ist Chris zwar eifersüchtig, aber so geht‘s jedenfalls auch nicht weiter. Ich würd ihm ja in der Bar helfen! Aber das will er nicht. Erst, wenn die Bar dann schließt und außer putzen nix mehr zu tun ist. Ich glaub, die Angestellten wissen gar nicht, wer ich bin. Die halten mich bestimmt für ‘ne Stalkerin. Oder denken, ich bin die Putzfrau …

2

Anja.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Mittwoch, 17.02. 07:45

Betreff: Vorsicht, Perlhuhngefahr!

Liebe Anja,

na, da hat Deine Freundin Simone ja eine ganz schöne Achterbahnfahrt hinter und zum Teil auch noch vor sich. Zu beneiden ist sie dabei sicher nicht. Ich hätte mit 30 jedenfalls nicht wieder bei meinen Eltern einziehen wollen, auch wenn ich damals noch keine Kinder hatte.

Aber sie in die WG zu nehmen? Das solltest Du Dir gut überlegen! Ich spiel ja nur ungern die negative Stimme aus dem Off, aber Du sagst doch selbst, dass Eure Freundschaft daran zerbrochen ist, wie unterschiedlich Ihr seid. Mal frei nach Deiner Beschreibung – ich glaube auch nicht, dass sie sich bei Dir wohlfühlen würde. Du lebst ja schon eher in einem kreativen Chaos, und sie mag es offensichtlich gerne geordnet. Was das Kind angeht, hätte ich aus Deiner Sicht jetzt nicht so große Bedenken; schlimmstenfalls wirft es Euch sonntags um acht aus dem Bett. Aber ob SIE sich damit arrangieren könnte, dass ihr Kind in einer Lebenswelt wie Deiner aufwächst – das ist schon eine andere Frage … Versteh mich nicht falsch! Aber ich kenne auch diese

„Perlhühner“. Zwar weniger aus meinen Essener Studientagen, aber ich bin ja seitdem auch schon ein paar Jahre in der Welt unterwegs gewesen. Nach dem, was Du schreibst, sehe ich die Gefahr von Zickenalarm.

Aber ich lasse mich natürlich gerne eines Besseren belehren!

Solltest Du Dich für die WG mit Deiner ehemals besten Freundin entscheiden, drücke ich Euch auf jeden Fall die Daumen, dass es ein Erfolg wird! Notfalls komm ich auch zum Kistenschleppen vorbei. Hört sich ja so an, als wenn sie gerade keinen hat, der ihr so richtig unter die Arme greifen kann.

Und sonst? Wie geht‘s denn jetzt mit Deinem Matthias und Dir weiter? Habt Ihr schon ein erstes Treffen abgemacht?

Liebe Grüße!

Theo

***

Simone.

Im kleinen Kaffeehaus hatte sich nichts verändert, seitdem sie es vor Jahren zuletzt betreten hatte. Noch immer die dunklen, abgegriffenen Thonet-Stühle, glänzend von Patina, noch immer das schummerige Halbdunkel von gelben und roten Milchglas-Leuchtern, die unregelmäßig über und zwischen den Tischen verteilt hingen, noch immer die gleichen roten Terrakottafliesen.

Sie setzte sich an den einzigen freien Tisch. Es war der am Treppenabgang.

Noch immer zog hier, unschön vertraut, die leicht stechende Note der Räumlichkeiten hoch, die dort unten seit 30 Jahren den Studenten, Intellektuellen und Träumern, die gerne herkamen, zur Verrichtung ihrer Notdurft zur Verfügung standen.

Sie atmete unwillkürlich tiefer ein. ‚Absurd‘, dachte sie, und fragte sich, ob sie nicht lieber möglichst flach atmen sollte. Aber, seltsam, die leicht schäbige Atmosphäre des Cafés wirkte beruhigend auf sie, ebenso wie alle sinnlichen Eindrücke, die dazu gehörten.

Sie dachte zurück. Hier hatte sie Anja zuletzt gesehen. Damals waren sie beide noch im Grundstudium gewesen.

Was war passiert seitdem? Warum eigentlich hatten sie so ganz den Kontakt verloren? Sie erinnerte sich an ein Gespräch, das sie mit Moritz gehabt hatte.

„Warum willst du sie zu unserer Hochzeit einladen? Ihr habt seit Jahren keinen Kontakt mehr. Sie passt auch gar nicht zu dir. Sie wird kommen in irgendeinem schrecklich bunten Sari, der nach Räucherkerzen riechen wird, und keiner wird neben ihr sitzen wollen. Bis irgendwann alle Männer einen im Tee haben und nur noch ihre langen roten Locken sehen, die sie lasziv um den Finger wickelt.

Ab diesem Zeitpunkt werden alle deine Freundinnen sie hassen – und dich dafür, dass du sie eingeladen hast.“

Jetzt öffnete sich der Windfang aus schwerem, rotem Samt und spuckte die Freundin aus. Ihre orangeroten Korkenzieherlocken waren heute zu einer unmöglichen Hochsteckfrisur aufgetürmt, die sich nach allen Seiten auflöste.

Dafür wäre ihre Kleidung mit Jeans, weinrotem Strickpulli und schwarzem Anorak relativ normal gewesen – wenn da nicht das Palästinensertuch gewesen wäre.

Simone fühlte Tränen in den Augen und einen ähnlichen Effekt wie eben, als das Aroma der Waschräume die Treppe hinaufgezogen war. Sie drückte die Freundin herzlich, und diese strich ihr liebevoll das schwarze Haar aus dem schmalen Gesicht.

„Mone! Ich glaube, in den letzten zwei Tagen bist du noch dünner geworden.“

Sie stellte ihre braune Umhängetasche neben Simones rosa Handtäschchen und rieb sich die Hände. „Jetzt bestellen wir erst mal einen Keksteller!“

Die Freundinnen sahen sich an und lachten. „Gibt es die hier überhaupt noch?“, fragte Simone.

„Oh, bestimmt. Wenn nicht, gehen wir uns beim Koch beschweren und sagen, er soll wen zum Kaisers schicken, damit er die billige Keksmischung kauft, ohne die das hier nicht mehr das Café Krümel ist!“ Anja lachte, setzte sich, legte ihre Hände auf Simones und zuckte kurz zurück. „Puh, sind die kalt!“

Dann griff sie mit ihren festen, sommersprossigen Händen Simones zarte, feingliedrige Hände, um sie energisch und liebevoll zu rubbeln. „Wie geht es dir, Schätzchen? Gibt‘s was Neues?“

Simone schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Aber das ist mir auch lieber so. Er hat neulich mal kurz tagsüber bei meinen Eltern angerufen, um sein nächstes Treffen mit Frederik zu verabreden. Mir geht er aus dem Weg. Das Arbeiten in der Kanzlei ist der Horror. Ich würde gern meinen Chef fragen, ob ich einige Büroarbeit von zu Hause aus machen kann, aber ich habe Angst vor seiner Reaktion.“

Anja unterbrach für einen Moment ihre Rubbelei und sah sie aus grünen Augen erstaunt an. „Warum? Er wird doch sicher Verständnis haben für deine Situation?“

Simone blickte aus dem Fenster. Eine Bahn fuhr gerade vorbei. Sie schloss die Augen und wünschte sich für einen Moment, in dieser Bahn zu sitzen, ihr monotones Rumpeln zu hören und niemals mehr aussteigen zu müssen.

„Ach … Das ist halt kein Berufszweig, wo man sagt: Hey, ich bin grad ein bisschen fertig, weil ich mich von meinem Mann getrennt habe. Mein Chef wird sagen: Wenn es Ihnen nicht gelingt, private Belastungen aus Ihrem Job herauszuhalten, steht es Ihnen frei zu kündigen.“

„So schlimm?“, staunte Anja, drückte noch einmal fest Simones Hände und ließ dann von ihnen ab. „So, meine Liebe, wärmer wird‘s nicht. Also – du meinst, wenn du deinem Chef sagst, dass du Schwierigkeiten hast, legt er dir nahe zu gehen?“

Simone zuckte die Schultern. „Na ja, vielleicht nicht sofort, aber ich muss sicher nicht darauf warten, in der Kanzlei in Watte gepackt zu werden. Man spricht da einfach nicht über private Probleme.“

Eine Kellnerin erschien und nahm die Bestellung auf. Ein halbes Kind, wie Simone fand. „Beschäftigen die hier jetzt Schülerinnen?“

„Studentinnen! So haben wir auch mal ausgesehen, Schätzchen“, grinste Anja mit hochgezogener Augenbraue.

Kurze Zeit später standen Milchkaffee, Kakao mit Sahne und ein Keksteller vor ihnen. Anja schob ihn in Simones Richtung. „Iss mal! Du brauchst jetzt Kraft!“

„Ach, hör bloß auf“, schimpfte Simone, halb gerührt, halb genervt: „Damit liegt mir meine Mutter schon genug in den Ohren! Neulich hat sie mir ein Butterbrot in die Tasche gemogelt – in meiner alten rosa Tupperdose! Als ich das gesehen habe, hab ich geheult. Es war einfach zu viel für mich. Die Vorstellung, wie vor ein paar Jahren noch alles in Ordnung war – und jetzt???“

Anja rührte die Sahne ihres Kakaos unter und lächelte so geduldig, wie man ein Kind anlächelt, das sich zum ersten Mal das Knie aufgeschlagen hat. „Vor ein paar Jahren war die Welt nicht mehr und nicht weniger in Ordnung als heute. Du bekommst das nur jetzt langsam auch mal mit. – Und es tut mir leid, dass das auf so schmerzhafte Weise passieren muss“, schob sie hastig nach, als sie Simones verletzten Blick sah. „Also, mit deinen Eltern, das ist kein Zustand, oder? Ich habe mir was überlegt. Wenn du willst, kannst du bei mir einziehen. Ihr beide natürlich, Frederik und du. Meine Mitbewohnerin zieht in zwei Wochen aus, und dann steht ihr Zimmer leer. Es ist groß, man kann da mühelos ein normales Bett und ein Kinderbett reinstellen. Und wenn der Kleine am Sonntag um acht Uhr wach wird, stört mich das auch nicht. Solange ich nicht aufstehen und ihm Frühstück machen muss.“

Simones Augenbrauen waren, während Anja sprach, immer weiter in die Höhe gewandert, zwei perfekt geschwungene, filigrane schwarze Bögen über kornblumenblauen, großen Augen. Sie sah Anja an und sagte, auch als diese ihren Vortrag beendet hatte, erst einmal nichts. Hinter der weißen Stirn arbeitete es sichtbar.

Anja rutschte ungeduldig näher an sie heran. „Überleg doch mal! Das wäre DIE Chance. Die Chance für dich, auf eigenen Füßen zu stehen. Dich erst mal zu orientieren, was du willst. Ohne finanzielles Risiko; die Miete ist ja viel niedriger, als wenn du jetzt für Frederik und dich eine Wohnung suchst. Wenn es dir nicht gefällt, bist du ganz schnell wieder draußen. Aber es wird dir gefallen! Ich habe so nette Nachbarn, meine Wohnung ist wunderbar gelegen, drum rum sind ganz viele Kneipen, da lernst du ratzfatz wen Neues kennen, und ich kann aus nichts was Tolles kochen …“ Überrumpelt konzentrierte sich Simone auf das, was sie momentan am entschiedensten kommentieren konnte: „Jemand Neues kennenlernen will ich gar nicht.“

Anja grinste. „Musst du ja auch nicht! Aber es ist auch viel lustiger, wenn man zu zweit lebt. Schau mich an! Seit ich mich für die WG entschieden habe, geht es mir viel besser …“

„Ich weiß. Du kannst nicht alleine sein“, kommentierte Simone trocken.

Mit einem seltsamen Blick sah Anja sie an. Einen Moment lang schwiegen beide. „Nein“, sagte Anja dann. „Ich kann nicht alleine sein. Aber seitdem ich in der WG wohne, gelingt es mir immerhin, nicht immer gleich von einer Beziehung in die nächste zu stürzen.“

„Sondern?“, fragte Simone gedehnt.

Anja lachte vergnügt. „Das erzähl ich dir ein anderes Mal.“

Obwohl ihr nicht danach zumute war, musste Simone grinsen. Sie sah in die grünen Augen der Freundin, die noch so sprühten wie vor Jahren, obwohl sie längst von ersten Fältchen umkränzt waren. Anja war ganz die Alte und würde es immer bleiben. Eine Welle von Wärme durchflutete sie.

Bevor sie antworten konnte, sprach Anja schon weiter, leiser und ruhiger jetzt.

Sie schien, eine Seltenheit für sie, die richtigen Worte sorgsam auszusuchen.

„Außerdem habe ich mir gedacht … es ist auch eine Chance für … uns.“ Sie blickte auf, sah Simone voll an und lächelte breit. „Du hast mir total gefehlt, Mone. Ich habe so viele Freundinnen, aber keine ist so wie du. Keine habe ich als Spaßbremse so lieb, und mit keiner kann man so gut lachen wie mit dir. Auf keine war ich so oft sauer und würde trotzdem jederzeit alles für sie tun. Ich fände es wunderbar, wenn du bei mir einziehen würdest! Ist bestimmt keine Dauerlösung, irgendwann wirst du eine normale Wohnung haben wollen mit deinem Kind. Aber bis dahin hätten wir so viel Gelegenheit, noch einmal von vorne anzufangen! Oder – vielleicht nicht vorne. Sondern mittendrin. Als es am schönsten war! Weißt du noch, als wir auf Klassenfahrt in Paris waren? Wie Stefan und Christian auf unserem Zimmer waren, und wir haben die ganze Nacht gelacht …“

„Und uns vorgestellt, wenn Janneke in ihrem dritten Bett jetzt aufwachen würde, würde sie ein Kreuzzeichen machen“, kicherte Simone.

„Und dann“, gluckste Anja, „als wir schlafen wollten und die Jungs wollten nicht gehen, bist du aufgestanden, hast das Bett angelupft – und Christian rollte einfach auf den Boden!“

Über Kaffee und Kakao hinweg sahen sie sich verschwörerisch an, sahen, wie sich in den immer noch so unglaublich vertrauten Augen der jeweils anderen ein Kichern anbahnte, das schließlich zu einem hemmungslosen Lachanfall wurde, bis beiden die Tränen über die Wangen liefen. Ein Lachen über die neue Chance, und ein Weinen über die verlorenen Jahre der Freundschaft.

Simone suchte in ihrer Tasche nach Tempos. Anja dagegen zog nur fest die Luft ein, biss sich kurz auf die Lippen, sah die Freundin dann spitzbübisch an, meinte: „Na, zum Glück sind wir nur im Café Krümel. Mit dir kann man nicht

‚für gut‘ weggehen“, stand auf und huschte mit feuchten Augen die Treppe hinunter.

Simone sah ihr einen Moment lang nach und angelte dann in ihrer Handtasche nach der Spiegeldose mit Kompakt-Make-up. Sie restaurierte die Schminke um ihre Augen herum und hielt schließlich inne, um sich anzusehen. Das gelöste, fröhliche Mädchen, das ihr aus dem Spiegelglas entgegensah, war ihr schon lange nicht mehr begegnet. Sie sah aus dem Fenster. Wieder fuhr eine Straßenbahn vorbei. „Carpe diem“, hatte jemand mit Graffiti daraufgesprüht.

Als Anja die Treppe wieder heraufkam, sah ihr Simone entgegen, die um zwei Jahre jünger schien als wenige Minuten zuvor. „Ich mach‘s“, sagte sie zufrieden.

„Ich zieh bei dir ein. Mit Frederik.“

Anja strahlte überrascht. So schnell hatte sie nicht mit Zustimmung gerechnet.

„Darauf essen wir einen Keks!“ Gleichzeitig griffen sie nach den staubigen Waffelcreme-Keksen, die jemand ohne viel Mühe auf der weißen Untertasse angerichtet hatte, sahen sich in die Augen, prosteten sich mit den bescheidenen Gebäckstückchen zu und genossen das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein.

***

Daniela.

19. Februar (Freitag)

Also, da sieht man mal, wozu so Schlägereien alles gut sind! Heute hatten wir vor Gericht zwei hübsche Jungs, die sich im Music-Park die Köpfe eingeschlagen haben. Das passiert ja eigentlich ziemlich häufig. Aber heute saß ich zufällig hinterher mit Nina in der Teeküche zusammen, die immer im Wochenwechsel mit mir die Protokolle zu den Verhandlungen schreibt, und wir haben noch ein bisschen drüber gequatscht. Und da fragte sie mich, ob wir nicht mal zusammen in den Music-Park gehen wollen!

Ich war überrascht, weil ich eigentlich nicht gedacht hab, dass das was für sie ist. Aber sie sagt: Doch, bevor sie mit ihrem Freund zusammengezogen ist, ist sie viel ausgegangen. Aber weil er keinen Spaß dran hat, ist sie jetzt auch viel häuslicher geworden – eigentlich. Ab und zu zwickt es sie aber in der Sohle, und dann will sie tanzen gehen. Jetzt sind wir für nächsten Samstag verabredet. Ich freu mich schon! Ist zwar nicht das Gleiche wie früher mit Lilly – wie gesagt, ich kann mir Nina im Club eigentlich noch nicht mal so richtig vorstellen. Aber was soll ich jeden Abend hier allein rumsitzen? Na, Chris wird jedenfalls Augen machen. Ist ja sogar noch Konkurrenz! Aber – selbst schuld. In seinen Club soll ich ja nicht. Na, ich werd mir erst mal vorher schön die Strähnchen neu machen lassen, Fingernägel, und vielleicht geh ich auch noch mal auf die Sonnenbank. Der wird sich schon umgucken.

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3.

Anja.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Montag, 21.02. 10:34

Betreff: Ab ins kalte Wasser!

Lieber Theo!

Wir tun‘s! Simone und Frederik ziehen bei mir ein!! Ich bin total aufgeregt. Miriam hat schon gesagt, weil das Semester vorbei ist und sie ja jetzt sowieso bei ihrem Freund einzieht, will sie nächste Woche schon das Zimmer räumen.

Ich glaube, sie macht es auch, weil ihr Simone leidtut. Wir sind total sprachlos darüber, was der Kerl ihr alles angetan hat. Neulich hab ich sie in unserem alten Lieblingscafé getroffen, im Café Krümel, und die hat mir Sachen erzählt – unglaublich!

Der war so eifersüchtig, dass er einmal die Kamera von einem Typen zertreten hat, der beim Ausgehen ein Foto von ihr gemacht hat. Und dabei war das nicht mal ein Fremder, sondern der Freund einer Freundin, und genau genommen hat er einfach die beiden Mädels zusammen fotografiert. Mir ist das alles zu absurd.

Sie ist auch richtig fertig. Das merkt man echt. Selbst, wenn sie mal kurz lacht, sieht sie so aus, als könnte sie in der nächsten Sekunde anfangen zu weinen.

Ansonsten, mein Lieber – ich weiß nicht, was Du für ein Bild von mir hast! Warum sollte jemand nicht mit meinem Lebenswandel zurechtkommen? Der letzte Typ war Thomas. Mit dem habe ich vier Wochen lang fast täglich gemailt, bis wir uns dann mal getroffen haben. Das grenzt ja schon an Sesshaftigkeit. Dass es dann nichts mit uns gegeben hat, weil er eine Ausstrahlung wie Toastbrot hatte, als ich ihm mal gegenüberstand, war ja nicht mein Fehler.

Und dass ich beim letzten Mitarbeiterstammtisch Matthias zu tief in die Augen geschaut habe, um nach acht Jahren gemeinsamer Arbeit endlich mal festzustellen, wie schön die sind … das kann doch passieren! Immerhin versuche ich jetzt schon hartnäckig seit drei Wochen, ihn rumzukriegen.

Ich finde, ich bin sehr solide. Du siehst: Im Alter werde ich ruhig!

Aber sag mal: Wie geht es eigentlich Deiner Familie? Du hast lange nichts von Coco und Max erzählt. Und wie geht es Melanie?

Bestimmt werde ich dich mit tausend Fragen löchern, wenn Frederik erst mal hier wohnt. Du kannst mir ja bestimmt jede Menge Tipps zum Umgang mit kleinen Terroristen geben.

Irgendwie ist das ja schon alles sehr skurril und komisch, nach all der Zeit ausgerechnet mit Simone zusammenzuleben – und dann bringt sie auch noch ihr Kind mit! Und so eine Geschichte! Vor zwei Monaten hätte ich jedem, der mir das prophezeit hätte, einen Vogel gezeigt. Zwischendurch habe ich auch Momente, wo ich mich frage, ob ich spinne.

Ich meine, die kann schon echt spießig und snobig sein, und sie hat mich damit manchmal ganz schön verletzt. Aber dann sehe ich sie wieder dastehen, im Gericht, weinend – und wie ihr Kartenhaus zusammenfällt. Und ich denke: Hey, das ist ja meine alte Mone, die da unter dem ganzen Mist zum Vorschein kommt. Ich finde es eine total faszinierende Entdeckung, wie Freundschaften, die man in jungen Jahren oder eben als Kind geschlossen hat, einen noch immer, auch trotz aller Widrigkeiten, so tief berühren können.

So, jetzt nimm Deine Funktion als Kassandra wahr und sage mir, dass ich zu naiv und zu idealistisch in diese neue WG stolpere, und dass Freundschaften nicht auf einmal auf einem Stand von vor 15 Jahren neu beginnen können. Ich warte gespannt. ;-)

Liebe Grüße,

Anja

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Simone.

Die hölzernen Treppenstufen, die sich unter weinrotem Linoleum verbargen, knarzten wie eh und je. Wie schon so häufig, zog sie einen seltsamen kleinen Trost aus der Berührung des geschnitzten Handlaufes, dessen Oberfläche durch Generationen von Benutzern so glatt poliert worden war, dass sie nun die Innenseite ihrer Hand sanft streichelte. Oben schien ihr kein Licht entgegen, was nicht weiter verwunderlich war – schließlich hatte sie bewusst ein Zeitfenster gewählt, in dem sie mit Sicherheit davon ausgehen konnte, Moritz nicht in der Wohnung anzutreffen.

Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte und ihr Blick auf das Sternchenmuster der Milchglasscheibe fiel, riss eine Erinnerung sie in die Tiefe.

Es war kurz nach ihrer Hochzeit. Sie hatten die Wohnung gerade neu bezogen und waren noch dabei, sich die Gegend zu erschließen. An einem Nachmittag schlug sie vor, die notwendigen Einkäufe mit einem kleinen Bummel zu verbinden. Als Antwort hörte sie, was sie damals so oft hörte: „Ich habe keine Zeit, aber geh du ruhig!“ Sie hatte abgewehrt, nein, nein, das wäre etwas für sie beide gemeinsam, und dann würde sie eben auf einen günstigeren Zeitpunkt warten und nur schnell zum Supermarkt flitzen. Aber er hatte sie liebevoll umarmt, auf die Schläfe geküsst und gesagt: „Geh mal, Prinzessin! Was sollst du denn dumm hier herumsitzen?“

Nach einem zweistündigen Ausflug war sie dann voll bepackt zurückgekommen und hatte, wie heute, vor einem nicht erleuchteten Türfenster gestanden. Es war ein früher Winterabend, und das ungastliche Dunkel in ihrem neuen Zuhause hatte sie befremdet. Ob er doch noch einmal weggegangen war? Sie hatte aufschließen wollen, doch das Schloss war blockiert. Er musste also da sein und den Schlüssel von innen ins Schloss gesteckt haben. Sie hatte gewartet: Sicher hatte er ihr Klappern an der Tür und auch ihre Schritte auf der Treppe längst gehört, hellhörig wie das Haus war. Als nichts geschah, hatte sie schließlich geklingelt.

Ein paar Wimpernschläge später schleppten Schritte sich langsam näher. Sein verschwommenes Bild erschien hinter dem Milchglas, er öffnete ihr. Glücklich begann sie zu erzählen. „Hallo mein Schatz! Es war wunderbar! Ich habe mich in den Buchladen verliebt, und in ein ganz, ganz süßes Kaffeegeschäft, das es hier gibt – und in einer Seitenstraße ist ein französischer Bäcker, da müssen wir mal Kaffee trinken gehen, wenn wir Zeit haben! Für heute Abend habe ich frische Brötchen mitgebracht – und Corned Beef, das magst du doch so gern!

Also, hier können wir bleiben! Ich bin ganz sicher. Das Einzige, was mir noch fehlt, ist eine Boutique für elegante Damenmode. Aber gute Geschäfte für Kinderkleidung scheint es hier einige zu geben!“

Während sie ihre Neuigkeiten hervorsprudelte, pellte sie sich aus der warmen Wintergarderobe und stand schließlich erwartungsvoll strahlend vor ihm. „Wann magst du Abendessen?“ Erst jetzt sah sie, dass er ihre Begeisterung augenscheinlich nicht teilte. „Ist alles okay?“

Er sah sie mit stoischer Ruhe an. „Bei dir ist anscheinend alles okay, ja.“

Sie öffnete die Augen weit, hob die Brauen. „Das habe ich nicht gemeint! Ich meine, ist bei dir alles okay? Bist du gut vorangekommen?“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, der jedoch hart und unbeweglich in seiner Position verharrte, die Hand in der Tasche.

„Oh ja.“ Der Sarkasmus in seiner Stimme legte sich um ihr Herz wie eine eiskalte Hand. „Ja, ich bin sehr gut weitergekommen. Ich habe die ersten 30 Seiten einer 100-seitigen Akte gelesen, wobei ich immerhin zehn Prozent auf Anhieb verstanden habe. Die anderen 90 Prozent waren ein kardiologisches Gutachten, zu dem ich jedes einzelne Wort googeln musste.“ Er nahm die Hände aus der Tasche, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie von oben herab an. „Ja, ich konnte einiges für morgen schaffen. Ich konnte den Hauch einer Idee ermitteln, worum es in diesem Fall überhaupt geht. Ich habe aber noch keine Ahnung, wie ich bis nächste Woche ein Votum dazu geschrieben haben soll, UND ich habe noch zwei weitere solche Akten bei mir liegen, die ich bis zur kommenden Woche fertig haben muss. Ich denke, deine Brötchen wirst du allein essen müssen.“

Er wandte sich ab und ging stolzen Schrittes den Flur entlang. Auf der Schwelle zu seinem Arbeitszimmer drehte er sich noch einmal um. Ein kaltes Lächeln umspielte boshaft seine Lippen. „Es freut mich aber natürlich zu hören, dass du Spaß hattest. Sicher wirst du auch noch eine Boutique finden, die deinen Ansprüchen genügt.“ Spöttisch deutete er eine Verbeugung an und schloss die Tür hinter sich.

Zu ihren Füßen lagen die Einkaufstüten. Ein Joghurt war aus der Tüte gerollt.

‚Der Joghurt muss in den Kühlschrank‘, dachte sie. ‚Sonst macht er mir gleich Vorwürfe, weil die Kühlkette zu lange unterbrochen wird. Andererseits ist es hier im Flur so kalt, dass es vielleicht keinen großen Unterschied macht. Und was ist das eigentlich für ein Ziehen in meinem Rücken?‘ Sie kniff dreimal kurz die Augen zu, als müsse sie aus einer Art Trance erwachen. Langsam entspannten sich ihre Rückenmuskeln; erst jetzt merkte sie, mit welcher Anspannung sie kerzengerade vor ihm gestanden hatte. Ihre Augen bewegten sich zuerst, wanderten den Flur entlang. Küchentür geschlossen.

Arbeitszimmer geschlossen. Wohnzimmertüren zu. Aus allen Türen hatte ihr das gleiche, gleichgültige Antlitz einer Milchglasscheibe entgegengeblickt, hinter der es nicht erleuchtet war.

Sie ging am herumliegenden Joghurt vorbei, hängte ihre Jacke an die Garderobe, bückte sich nach dem Joghurt und den zwei Tüten und steuerte als Erstes die Küche an. Dunkelheit und Kälte schlugen ihr entgegen. Sie knipste das Deckenlicht an, zur Sicherheit auch noch das Licht über dem Herd und drehte die Heizung voll auf. Nun ging es besser.

Jetzt stellte sie ihre Tüten auf dem Tisch ab, atmete tief ein und ging durch den Flur in ihr eigenes Arbeitszimmer, das zugleich auch Wohnzimmer war. Hatte sie nicht zumindest hier die Heizung laufen lassen, als sie gegangen war?

‚Seltsam‘, dachte sie, als sie die Heizung aufdrehte und das Licht an ihrem Schreibtisch einschaltete. Behagliches Dämmerlicht breitete sich jetzt in dem großen, noch halb leeren Raum aus.