Life on Stage - Johanna Tüntsch - E-Book

Life on Stage E-Book

Johanna Tüntsch

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Beschreibung

Die sojamilchtrinkenden Mütter in der Kölner Südstadt wären eigentlich schon schlimm genug gewesen, findet Hendrik. Selbst im kölschen Arbeitermilieu groß geworden, hat der Schauspieler einen pointierten Blick auf sein sich wandelndes Umfeld. Aber plötzlich gerät nicht nur sein Stadtteil, sondern sein ganzes Leben aus den Fugen. Sein Vater wird immer wunderlicher, sein Sohn braucht zu dubiosen Zwecken viel Geld und sein bester Freund verliebt sich in ein lackiertes Toastbrot. Kann man ein solches Desaster überleben?

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Für all jene, die sich nicht davon unterkriegen lassen, dass ihr Leben plötzlich zur Seifenoper geworden ist.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Wenn Ähnlichkeiten zu realen Schauplätzen, Personen und ihrem Leben auftreten, sind diese dem Zufall geschuldet.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Kapitel 1

Unzufrieden säbelt mein Vater eine dicke Scheibe von seiner glänzenden Bratwurst, schiebt sie durchs Kartoffelpüree und steckt sie in den Mund. „Du musst eine Küche haben“, kritisiert er. „Das ist nicht richtig, wie Du wohnst.

Mit 45 Jahren keine anständige Küche. Ich habe Dir jetzt eine bestellt. Das Kinderzimmer ist schon leergeräumt. Nach dem Nachtisch fangen wir an.“

Er legt eine Bohrmaschine auf den Tisch, deren Motor sofort stoßweise losgeht und ein grelles Alarmsignal ausstößt, das an meinen Nerven zerrt. Wieder und wieder klirrt und rappelt es.

Ich will aufspringen, die Bohrmaschine vom Tisch werfen und meinen Vater fragen, ob er spinnt. Ich mag meine Herd-Spüle-Kombination, und auch die offenen Regale, in denen ich Konserven und Weinflaschen verwahre. Außerdem kommt es nicht in Frage, dass Arthurs Zimmer ausgeräumt wird! Aber meine Glieder sind wie gelähmt, und mein Mund will sich nicht öffnen. Während ich gegen das Gefühl von Lähmung ankämpfe, verstummt die Bohrmaschine. Ich versuche mich zu sammeln und öffne die Augen. Grelles Sonnenlicht blendet mich, und gleich darauf zerreißt wieder ein Klingeln die Stille.

Erschöpft ziehe ich mir die Decke übers Gesicht, während mir langsam bewusst wird, dass ich zu Hause im Bett bin. Tatsächlich hat mein Vater mich gestern damit genervt, dass er mein Leben zu studentisch findet. Aber selbstverständlich sieht meine Wohnung noch genauso aus wie immer. Erleichtert merke ich, dass das Alarmsignal vorüber ist. Doch noch bevor ich mich auf die andere Seite gedreht habe, setzt es wieder ein. Resigniert greife ich zu meinem iPhone. Piotrs lachendes Gesicht blinkt auf dem Display.

„Was willst du?“, frage ich genervt.

Er antwortet nicht sofort. Dann höre ich ein undeutliches Geräusch, gefolgt von bellendem Schluchzen. „Hendrik“, japst er hell: „Hendrik! Etwas Schlimmes ist passiert!“

Argwöhnisch kneife ich die Augen zusammen. „Piotr, was ist los?“

„Ich war gestern mit Felix aus“, schluchzt er. „Gerade, als wir am Chlodwigplatz waren … er rannte los, um noch eine Bahn zu kriegen ...“ Dann nur noch Tränen.

Plötzlich ist mir eiskalt. Bilder meines besten Freundes tauchen vor meinem inneren Auge auf, sein Körper zweigeteilt von den erbarmungslosen Eisenrädern einer Straßenbahn. Im Hintergrund die leuchtende Reklame von Subway und Merzenich. Blaulicht, Martinshorn, Betrunkene, Passanten.

Panische Stimmen fragen: „Ist hier ein Arzt?“

„Sie hat mich einfach ignoriert“, heult Piotr.

„Was?“

„Einfach ignoriert“, wiederholt er, dramatisch schluchzend: „Ihr Typ hat den Arm um sie gelegt und seine Hand auf ihren Hintern gepackt. Ein intaktes Paar, verstehst du? Sie wirkten wie ein Paar, das jetzt nach Hause geht und Sex hat.“

„Was hat das mit Felix zu tun?“, frage ich wütend. „Was ist mit ihm?“ Ich springe auf, stolpere über meine Schuhe, fluche, greife nach der Jeans, um zum Krankenhaus zu fahren.

„Felix war doch gar nicht mehr dabei“, sagt er irritiert. „Der war schon gefahren.“

Etwas benommen sinke ich zurück aufs Bett. „Was?“, frage ich erneut, und fühle mich langsam etwas dämlich dabei.

„Hörst du nicht zu?“, fragt er, jetzt nur noch leicht schluchzend, vorrangig ärgerlich. „Felix war in die Bahn gesprungen. Und als sie dann abgefahren war, sah ich dahinter Katinka mit ihrem Typen! Sie hat mich auch gesehen, vollkommen sicher, kein Zweifel möglich. Wir hatten Blickkontakt, mit dieser völligen Intensität, weißt du? Ich weiß, sie kann es nicht ertragen, mir in die Augen zu sehen. Es geht ihr durch Mark und Bein, natürlich. Sie spürt diese Elektrizität, die da ist. Aber sie hat es einfach ignoriert. Hat mich ignoriert. Der Typ legt seine Hand auf ihren Arsch, und sie lässt mich einfach stehen.“

Ich hole tief Luft. Beiße ich ins Kissen? Vergrabe ich das Telefon unter einem ganzen Berg von Kissen? Am liebsten würde ich Piotr, diesem polnischen Dramatiker, ein Kissen in den Mund stecken. Ich entscheide mich für: in die Küche gehen und Kaffee aufsetzen. „Piotr“, frage ich mit vorgetäuschter Geduld, während die Kaffeemaschine rödelt: „Wer ist Katinka?“

Ein aufgesetztes, verletztes Lachen schallt aus dem Hörer. „Wer ist Katinka?!

Ja, du hast Recht, das zu fragen. Das sollte ich mich auch fragen. Nur, dass wir uns vor sechs Monaten auf einer Party begegnet und seitdem ständig über den Weg gelaufen sind. Ich weiß, dass sie mich liebt. Aber sie traut sich nicht, zu ihren Gefühlen zu stehen.“

„Piotr, du spinnst!“, sage ich, während ich einen Becher aus dem Regal nehme.

„Die Frau kennt dich wahrscheinlich einfach gar nicht. Also mach nicht so ein Drama! Ich dachte schon, es wäre wirklich etwas passiert!“ Ich höre Piotr Luft holen, um eine verbitterte Antwort zu geben, als mein Festnetztelefon klingelt.

„Sorry, ich muss ans andere Telefon. Ich rufe zurück“, sage ich schnell und lege auf.

Am anderen Telefon ist Marius.

„Ich war gestern großartig“, sagt er ohne Begrüßung.

„Guten Morgen Marius“, versuche ich – aber er würgt mich direkt wieder ab.

„Ich war mit der Geliebten vom Intendanten der städtischen Bühnen essen“,

verkündet er.

Städtische Bühnen? Intendant? Geliebte? Ich bin irritiert. „Mit wem warst du essen?“

„Ich habe es dir doch erzählt! Im Urlaub. In Bayern. Da war dieser kleine Kurort an der tschechischen Grenze, in dem sich eine Tänzerin in mich verliebt hat. Sie ist die Geliebte des Intendanten“, stellt er klar.

„Sollte sie dann nicht eher in ihn verliebt sein als in dich?“, wende ich ein, aber Marius überhört das geflissentlich.

„Sie fand mich toll, also will sie natürlich, dass ich ein festes Engagement bei ihnen bekomme. Sie arbeitet daran. Ich habe die Stelle so gut wie sicher“, meint er.

Ich rolle die Augen. Das ist SO typisch! Marius leidet in gleichem Maße an Größenwahn wie Piotr. Beide sind eigentlich viel zu talentiert für diese Welt.

Nur komischerweise hat das den einen dazu geführt, Lichttechniker an einer kleinen Privatbühne zu sein, während der andere sich mit kleinen freiberuflichen Engagements durchs Leben schlägt, nachdem seine Frau ihn vor die Tür gesetzt hat, weil sie nicht länger für seine Eskapaden draufzahlen wollte. Aber so ist das: Ich bin Schauspieler und von Idioten umgeben.

„Marius, das ist super! Kommst du trotzdem nachher noch zur Probe, oder hast du bereits die Koffer gepackt?“

Er hört meine Ironie nicht. „Gib mir noch ein halbes Jahr, dann wird Bettina darum betteln, dass ich sie zurücknehme. Was ich natürlich nicht tun werde“,

phantasiert er.

Ich höre das Klicken eines Feuerzeuges in der Leitung und sehe vor mir, wie er sich jetzt, die Kippe in der Hand, genüsslich zurücklehnt, um mir einen Vortrag über seine imaginären Erfolge zu halten. „Marius, sei mir nicht böse, aber hier kommen gleich Handwerker und ich muss noch unter die Dusche“, lüge ich.

Nachdem das Telefonat beendet ist, setze ich mich an den Küchentisch und denke an den gestrigen Abend zurück. Es war ein Papa-Abend. Was nicht bedeutet, dass ich meinen Sohn zu Besuch hatte, sondern dass ich meinen eigenen Vater getroffen habe. Seitdem meine Mutter gestorben ist, versuche ich, mir alle zwei Wochen einen Abend für ihn freizuhalten. Normalerweise gehen wir dann ins Rolandseck, essen etwas, trinken zwei, drei Kölsch und ich höre mir an, was ich in meinem Leben falsch gemacht habe.

Gestern hatte mein Vater sich der Frage nach meiner Einrichtung gewidmet.

Meine Küche ist ihm ein Dorn im Auge, denn er hat sein gesamtes Berufsleben damit verbracht, Küchen aufzubauen. Nur bei mir kam er nicht zum Zuge.

Nachdem Susanne, meine Ex-Frau, vor acht Jahren ausgezogen ist und dabei nicht nur unseren Sohn, sondern auch den Großteil unserer Möbel mitgenommen hat, konnte ich mich nie mehr dazu entschließen, mich durch ein Möbel-Pärchen-Paradies zu schieben, um die Leerstellen in der Wohnung neu zu bestücken. Also sind sie größtenteils einfach geblieben, beziehungsweise, ich habe sie nach und nach mit Fundstücken vom Sperrmüll aufgefüllt. Mich interessiert das alles nicht besonders, denn ich bin ohnehin nicht oft zu Hause.

Und in den seltenen Fällen, in denen ich eine Frau mit zu mir nehme, ist es mir nur recht, wenn sie gleich sieht, dass sie dieses ganze Nestbau-Ding mit mir gar nicht in Angriff zu nehmen braucht.

Kapitel 2

Als ich aus der Dusche komme, klingelt der Postbote. Mir fällt ein, dass ich neue Bettlaken bestellt habe. Ich hasse einfach diese Bettlaken, die sich auf der Haut nicht ganz glatt anfühlen. Aber in Mikrofaser schwitzt man, und Baumwolle hat immer irgendwelche Falten. Irgendwie haben die das Garn früher anders verzwirnt. Aber ich meine – wir leben in Deutschland, im 21.

Jahrhundert, oder nicht? Es muss doch möglich sein, dass diese industriellen Verbrecher anständige Bettlaken produzieren. Ich bin gespannt, ob diese nun endlich besser sind als die letzten, die ich alle zurückgeschickt habe. Trotzdem will ich dem Postboten nicht im Adamskostüm die Tür aufmachen. Also vertraue ich darauf, dass er das Paket bei einem meiner Nachbarn abgibt. In der Regel ist jemand da, der meine Pakete annehmen kann.

Inzwischen ist es elf Uhr. Komisch, dass Felix sich noch nicht gemeldet hat! Zumal er ja anscheinend gestern nicht unter die Bahn geriet, sondern nur vor Piotrs liebeskranken Ausbrüchen flüchtete. Ich rufe ihn an.

„Hi“, sagt er gut gelaunt: „Ich muss dir was erzählen!“

„Klar“, sage ich, „aber lass uns rausgehen! Um zwölf am Rhein?“

„Okay“, sagt Felix. Er klingt ein bisschen enttäuscht. Anscheinend hätte er seine Geschichte gerne sofort erzählt. Aber ich hasse dieses Rumsitzen bei Sonnenschein, und ich musste heute schon zwei idiotische Telefonate über mich ergehen lassen, also nehme ich das in Kauf.

Als wir uns eine Stunde später am Rheinauhafen treffen, ist er wieder bestens drauf. „In der Bäckerei bei mir um die Ecke gibt’s eine neue Bedienung“, strahlt er.

Ich warte darauf, dass die Geschichte weitergeht. Geht sie nicht.

„Ja, und?“, frage ich nach einer Weile, während wir am Wasser entlang gehen.

„Du, die ist toll“, schwärmt er. „So eine richtig schön mütterliche, süße Figur, und ein niedliches Gesicht … die wäre bestimmt eine tolle Mutter für meine Kinder!“

Ich muss lachen. Von Felix' Schwärmereien mit mütterlicher Figur habe ich schon einige gesehen. Die würden alle besser mal ein paar Möhren essen, statt sich mit Chips und Teilchen vollzuschieben. „Hast du sie schon gefragt, ob sie dich heiraten will?“, frage ich.

„Du nimmst mich nicht ernst!“, beschwert er sich: „Ich müsste ja ohnehin erst mal einen Ring kaufen! Aber bestimmt hat sie auch schon einen besseren ...“

Ich sehe Felix an. Er ist witzig und hochintelligent. Ich meine, wirklich hochintelligent! Mit Mitte 20 war er schon promovierter Arzt, hat dann aber die Medizin an den Haken gehängt, weil er Schauspieler werden wollte. Den Arzt hätten eigentlich nur seine Eltern gerne aus ihm gemacht. Dass er stattdessen jetzt im Theater im Hinterhof spielt, haben sie ihm nie ganz verziehen. Ich versuche, ihn durch die Augen einer jungen Frau zu sehen. Okay, er hat keinen Waschbrettbauch, aber im Großen und Ganzen ist er schlank und sieht gut aus.

Heute trägt er enge Jeans und braune Lederschuhe, dazu ein Shirt, auf dem lange Frauenbeine zu sehen sind. Na gut, das ist vielleicht ein Motiv, das sich nicht gerade geeignet, um Frauen zu beeindrucken. Aber diese Selbstzweifel, die er immer hat, sind trotzdem lächerlich!

„Was für ein Shirt ist das eigentlich?“, will ich wissen.

Er guckt an sich hinab. „Das hat mir meine Mama geschenkt“, sagt er.

Zum x-ten Mal an diesem Tag rolle ich die Augen.

„Sie sagt, es wäre cool“, verteidigt er sich, und macht es damit eigentlich nur schlimmer.

Ich meine, mal ehrlich – ein Mann Anfang 30, der sich von seiner Mutter sagen lässt, was cool ist – wie cool kann das sein? Noch dazu, wenn man bedenkt, dass seine Mutter in der niedersächsischen Provinz lebt und völlig gestört ist.

Felix spinnt. Aber dadurch ist er eben auch verrückt genug, mein Freund zu sein.

„Was ist denn jetzt mit dieser Bäckerin?“, komme ich zum Ausgangspunkt der Unterhaltung zurück.

„Ach, das klappt ja sowieso nicht“, sagt Felix fahrig und fährt sich verlegen mit der Hand durch die Haare. „Sie hat mir eben heute Morgen die Brötchen eingepackt … und so ...“

„Ja?“

„Ach, mehr war nicht“, ruft er und schlenkert die Hände, als wollte er den letzten Rest seiner mageren Geschichte aus dem Ärmel schütteln. „Vielleicht klappt es ja mit Florence“, sagt er dann.

„Wäre schön“, sage ich – wohl wissend, dass das nun gerade die einzige Frau ist, die er sich aus dem Kopf schlagen kann: „Aber die steht halt seit drei Jahren auf mich.“

Felix zuckt die Schultern. „Kölsch?“, fragt er, als wir an einem Kiosk vorbeikommen.

Ich winke ab. „Nee, ich hab nachher noch Probe.“

„Auch so ein Scheiß“, meint er.

„Was jetzt genau?“

„Naja, mit Marius!“

Im Gespräch mit Felix muss man manchmal ein bisschen rätseln. Aber dieses Mal kann ich mir ganz gut vorstellen, was er meint.

„Den hättest du echt besser nicht in den Hinterhof geholt“, ergänzt er.

„Stimmt.“

Nicht, dass ich Dankbarkeit erwarte. Marius suchte Arbeit, und wir einen, der den Mephisto gut als echtes Arschloch spielen konnte. So kam eins zum anderen. Jetzt macht der Trottel sich regelmäßig im Ensemble unbeliebt, weil er alles besser weiß. Sogar mit Nastacia hat er sich schon angelegt. Die hat ihm allerdings schnell gezeigt, woher der Wind weht.

Wir haben inzwischen eine Wiese erreicht und werfen uns in die Sonne.

„Wie war es eigentlich gestern mit deinem Vater?“, fragt Felix.

„Ach hör auf“, stöhne ich. „Der will mich jetzt bürgerlich einrichten.“

„Ein größeres Gästebett?“, fragt Felix hoffnungsvoll. Er kann es nämlich nicht leiden, nach durchsoffenen Nächten auf Arthurs verkürzter Matratze zu pennen.

„Ganz bestimmt nicht!“, sage ich nachdrücklich: „Eine Küche!“

„Wieso?“, fragt jetzt auch Felix. „Ist der Kühlschrank kaputt?“

„Nein, das Bier ist immer noch kalt genug“, sage ich, ein bisschen schnippisch.

Warum ich so gereizt bin, weiß ich eigentlich selbst nicht genau. Vielleicht, weil ich daran denken muss, dass ich den Kühlschrank gebraucht und überteuert von einem Onkel gekauft habe, den ich eigentlich nicht leiden kann, räsoniere ich.

„Wie geht es ihm denn?“, fragt Felix.

„Meinem Onkel?“

Irritiert schaut er mich an. „Deinem Vater!“

„Ach so. Ja. Gut, denke ich. Er findet immer noch etwas in der Nachbarschaft, über das er schimpfen kann. Und wenn der Ärger dort erschöpft ist, macht er halt bei mir weiter. Also alles so, wie er es gern hat.“

Felix grinst. Dann huscht ein Schatten über sein Gesicht.

„Meine Mutter fing heute wieder davon an, dass ich hier meine Intelligenz verschwende.“

Ich beobachte zwei Motorboote, die über den Rhein jagen. „Ich verstehe auch nicht, warum du jeden Tag mit ihr telefonierst.“

Ungeduldig atmet er aus. „Sie ist halt so alleine! Mein Vater ist ja immer bis abends unterwegs, und dann hat sie keinen zum Reden.“

„Außer deiner Schwester, deinen zwei Brüdern, deinem Schwager und deinen zwei Schwägerinnen“, zähle ich an den Fingern ab.

„Die taugen doch alle nichts! Würdest du mit denen reden wollen? Die machen sie nur noch mehr verrückt“, entgegnet er.

Skeptisch sehe ich ihn an.

„Ist doch wahr“, rechtfertigt er sich. „Meine Schwester und die Frauen von meinen Brüdern reden den ganzen Tag nur über den Windelinhalt ihrer Kinder, und wo sie schon Staub gewischt haben. Meine Brüder interessieren sich nur für Milchkühe und Traktoren, und mein Schwager ist nur an den Wochenenden zu Hause, und dann wird er einen Teufel tun, mit meiner Mutter zu sprechen.“

Ich denke an gestern Abend. „Ich verstehe ja, dass du mit deiner Mutter sprichst. Ich kümmere mich auch um meinen Vater. Aber muss es jeden Tag sein, und meistens sogar mehrmals?“

„Sie tut mir halt leid! Und sie arbeitet ja auch an sich. Ich habe ihr gesagt, dass das so nicht weitergeht. Dass sie mal raus muss. Sie ist jetzt sogar schon mal alleine bis zum Aldi gefahren.“

Stille. Ein Binnendampfer zieht träge vorbei. „Felix …“ Nein. Mir fehlen echt die Worte.

„Ja, ich weiß schon“, gibt er schließlich kleinlaut zu. „Sie spinnt halt. Aber sie meint es ja nicht böse, und sie macht sich Sorgen um mich.“

Mir fällt noch immer nichts ein, was ich sinnvollerweise sagen könnte.

Plötzlich wird er sauer. „Aber genervt hat sie mich jetzt auch wieder, die Alte! Ich soll nicht so viel durch die Gegend fahren, meint sie. Und die Stadt wäre gefährlich. Und dann fragt sie mich doch ernsthaft, ob ich beim Sex Kondome nehme! Ich meine, das ist doch übergriffig, oder nicht?“

Ich muss lachen. „Das hat sie echt gefragt?“

„Ja! Die spinnt doch. Ich habe gesagt, das geht sie gar nichts an. Aber nächstes Mal sage ich ihr, ich mach's nur mit Männern, und zwar von hinten, und die können nicht schwanger werden. Dann hat sie erst mal drei Wochen Schnappatmung und ich meine Ruhe.“

Grinsend stelle ich mir die Situation vor. Felix' Ärger amüsiert mich, während ich ihn natürlich auch verstehen kann. Absurde Auseinandersetzungen kenne ich nur zu gut.

Kapitel 3

Im Theater ist, als ich komme, die Hölle los. Marius stolziert durch die Garderobe und schreit. Florence steht blass in der Ecke und hält ein Stück Stoff in den zitternden Händen. Heinrich wieselt auf sie zu, um ihr eine Tasse Tee zu reichen.

„So muss man ja nun wirklich nicht mit einer jungen Kollegin sprechen“, sagt er, während er den Kopf halbwegs in Marius' Richtung dreht, gleichzeitig aber aussieht, als hofft er, dass der nicht antwortet.

„Was willst du mir denn sagen, du Wellensittich?“, braust Marius auf.

Eine heftige Röte zieht über Heinrichs Gesicht, und obwohl ich Heinrich selbst lächerlich finde, muss ich zugeben, das war ein Schlag unter die Gürtellinie.

Marius weiß genau, wie sehr Heinrich darunter leidet, kein Schauspieler zu sein.

Sobald ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet wird, fängt er an zu stottern. Also brach er die Schauspielschule ab und wurde Souffleur, was passt, denn er bräuchte nicht einmal ein Skript, sein Gedächtnis ist einfach phänomenal. Seine Minderwertigkeitskomplexe sind es allerdings auch, und so kompensiert er die fehlgeschlagene Bühnenkarriere mit übertriebener Political Correctness und Besserwisserei.

„Ich finde, das ist ein sehr schönes Kostüm, das gut zum Mephisto passt“, sagt Heinrich lahm und bricht dann ab, offenbar selbst merkend, wie schwach er wirkt.

Plötzlich zucken wir alle vier zusammen. Bromp! Bromp! Bromp! Wer mit solchem Poltern die Treppe herabkommt, ist klar. Nastacia, unsere unfassbar fette Theaterdirektorin, wuchtet die Tür auf. In einem lila Gewand, das an einen Talar erinnert, steht sie vor uns und schiebt sich dann auf Marius zu. Während sie den Kopf in den Nacken legt, um ihn besser fixieren zu können, hört man von niemandem auch nur den leisesten Atemzug

„Wie warrr das gerrrade?“, fragt sie drohend.

Während Heinrich, Florence und ich die Luft anhalten, schnaubt Marius nur überheblich und deutet mit einer lässigen Handbewegung auf das, was Florence in der Hand hält.

„Den Fummel ziehe ich nicht an“, entrüstet er sich.

Nastacia kneift die Augen zusammen. „Das entscheidest nicht du“, sagt sie nach einer langen Pause, dreht sich um und trampelt zurück Richtung Tür. Die wird in diesem Moment aufgerissen und Christopher tritt herein. Als er sich Nastacia gegenübersieht, wird er blass.

„T-tut mir leid, dass ich zu spät bin“, stottert er. „H-hat's schon angefangen?“

Nastacia lässt einen geringschätzigen Blick an ihm hinabgleiten. „Dämlack“, donnert sie: „Es ist ja gar nicht zu spät.“ Ohne weitere Erklärung rauscht sie an ihm vorbei und verlässt die Garderobe.

„Was war los?“, fragt Christopher mich, nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist.

„Gab Krach“, sage ich diplomatisch und sehe Florence nach. Still hat sie sich in den Nebenraum verzogen, wo die Kostüme verwahrt werden. Ich gehe zu ihr.

„Was war denn los?“, frage ich. Da ich dieses Arschloch Marius hier reingeholt habe, fühle ich mich für den Kack verantwortlich, den er verzapft.

Mutlos zuckt sie die Achseln. „Wir können uns nicht einigen über sein Kostüm“, sagt sie leise. „Alles, was ich vorschlage, findet er entweder 'sowas von schon dagewesen' oder 'den lächerlichen Versuch, experimentell zu sein' oder 'einfach proviziell'. Langsam habe ich keine Ideen mehr. Aber zum Glück ist ja noch etwas Zeit.“

„Lass ihn doch nackt auftreten“, schlage ich vor.

Mit großen Augen sieht Florence mich an. „Dein Ernst?“

Ich verziehe kurz die Mundwinkel. „Keine Ahnung. Ist einen Versuch wert, oder? – Jedenfalls: Mir tut's leid, wie er dich behandelt! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich nie ...“

„Ist schon gut“, fällt sie mir mit einem dankbaren Lächeln ins Wort.

„Wie läuft's denn mit dem Studium?“, will ich wissen.

„Ach, naja … ich schreibe gerade zwei Hausarbeiten … ist ziemlich viel, mit der Arbeit noch hier … Aber ich hab mir für die Premiere ein Kleid entworfen!“ Plötzlich strahlen ihre Augen, und sie zieht ihr Smartphone aus der Tasche: „Ich zeige dir Bilder!“ Sie hält mir das Display unter die Nase, auf dem ich mit Mühe und Not die abfotografierte Skizze eines bunten, schulterfreien Etwas erkennen kann.

„Toll!“, lobe ich sie: „Sieht phantastisch aus! Hast du mit der Arbeit daran schon angefangen?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Das ist … Ich wollte warten, bis meine Eltern im Urlaub sind.“

Mit Florence ist das so eine Sache. Ich denke, wenn Marius nicht gerade seine narzisstische Eitelkeit auslebt, arbeitet sie gerne hier im Hinterhof, denn eigentlich kommen wir alle gut mit ihr klar. Aber noch lieber wäre sie gar nicht am Theater, sondern Designerin. Das finden ihre Eltern, die beide bei großen städtischen Schauspielhäusern Karriere gemacht haben, allerdings inakzeptabel.

Sie hätten sie gerne auch auf die Bühne gezerrt. Dass Florence es hasst, von mehr als zwei Leuten gleichzeitig angesehen zu werden, wäre ihnen egal. Mit ihrem Studium, Theaterwissenschaften, hat sie einen vermeintlichen Kompromiss gewählt. Nur, dass es eigentlich kein Kompromiss ist, denn sie quält sich durch das Studium und interessiert sich nicht wirklich dafür. Ich versuche schon lange, ihr klarzumachen, dass sie ihren Weg leichter gehen kann, wenn sie nicht länger bei ihren Eltern im Haus wohnt, aber aus irgendeinem Grund klebt sie dort fest.

„Hendrik?“ Christopher steckt den Kopf rein. „Stör ich?“, fragt er mit einem dummen Grinsen.

So ein Trottel! Er weiß genau, dass zwischen Florence und mir nie was laufen wird! Sie ist für mich viel zu sehr ein kleines Mädchen, mit ihrer ganzen bürgerlichen Art und ihren 23 Jahren. Umgekehrt sieht das schon anders aus, und so errötet sie nun auch prompt.

„Was willst du?“, frage ich gereizt.

„Ich muss mit dir reden“, platzt er heraus und grinst wie irre.

Ich weiß schon, was jetzt kommt. 'Ich habe mir was überlegt', wird er sagen.

Und dann kommt irgendeine völlig bescheuerte Idee, wie er seiner winzigen Rolle einen möchte-gern-spektakuläreren Anstrich verleihen kann.

„Ich hab mir was überlegt“, beginnt er. „Du, was hältst du davon, wenn ich bei dieser Szene, also ich meine die Szene im Studierzimmer, wenn ich da mal was ganz Neues mache?“

Er hätte nicht sagen müssen, dass er die Szene im Studierzimmer meint. Das ist klar, denn das ist die einzige, in der er auftritt. Also sage ich nur: „Mh.“

Ihn ermutigt das ausreichend. „Also, ich könnte doch sagen: Ich muss euch noch auf Facebook adden.“ Erwartungsvoll sieht er mich an.

Ich sehe zurück.

„Verstehste nicht? Na – auf Facebook adden! Das wäre doch total genial. So … einfach der Faust in der heutigen Zeit. Witzig irgendwie. Modern.“

Ich sehe ihn weiter an.

„Ich meine, er sagt doch, also der Schüler, also ich sag doch: 'Ich muss euch noch mein Stammbuch überreichen! Gönn eure Gunst mir dieses Zeichen!' Na, und da wäre es doch total witzig, wenn ich stattdessen sagen würde: 'Ich muss euch noch auf Facebook adden! Würden Sie mich bitte als Freund bestätigen?'“

Außer, dass das sprachlich beschissen klingt. Außer, dass unsere ganze Interpretation komplett klassisch aufgezogen ist. Außer, dass die Zeit, als Facebook groß und neu war, auch schon wieder ein paar Jahre zurückliegt. Und außer der kleinen Tatsache, dass Nastacia jede Form von Einmischung in ihre Arbeit hasst, und sie ist nun mal die Regisseurin.

„Super Idee“, lüge ich. „Ich würd's Nastacia nur nicht gleich jetzt erzählen, sie ist heute schlecht drauf.“ Und bis morgen hat er dann eh eine neue Schnapsidee.