Daheim im Hügelhaus - Hans Ernst - E-Book

Daheim im Hügelhaus E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Im Hügelhaus über dem See wohnen seit kurzer Zeit Andreas Murr und Mella, seine Frau. Die Leute von Steinkirchen machen es den Fremden aus der Großstadt nicht gerade leicht, sich einzugewöhnen. Ihre bis dahin harmonische, allerdings kinderlose Ehe gerät in der Einsamkeit des dörflichen Lebens in Gefahr; erst als sie die kleine Lena adoptieren, ziehen wieder Glück und Sonnenschein im Hügelhaus ein. So vergehen die Jahre, bis Lena zu einer schönen jungen Frau heranwächst und sie einige Aufregungen erlebt.

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LESEPROBE ZU

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2005

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: Michael Wolf, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54728-7 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Daheim im Hügelhaus

Im Hügelhaus über dem See wohnen seit kurzer Zeit Andreas Murr und Mella, seine Frau. Die Leute von Steinkirchen machen es den Fremden aus der Großstadt nicht gerade leicht, sich einzugewöhnen.

Ihre bis dahin harmonische, allerdings kinderlose Ehe gerät in der Einsamkeit des dörflichen Lebens in Gefahr; erst als sie die kleine Lena adoptieren, ziehen wieder Glück und Sonnenschein im Hügelhaus ein. So vergehen die Jahre, bis Lena zu einer schönen jungen Frau heranwächst und sie einige Aufregungen erlebt.

Der Bildhauer Andreas Murr und seine Frau Mella gaben ein Abschiedsessen in ihrer Wohnung, denn sie zogen nach Steinkirchen am See, wo Andreas vor kurzem einen kleinen Bauernhof günstig hatte ersteigern können – letztlich dank einer Statue aus Marmor, die ihm endlich Geld und Anerkennung gebracht hatte. Äcker und Wiesen gehörten nicht mehr zu dem Anwesen. Die hatten ein paar Bauern aus Steinkirchen ersteigert. Immerhin hatte das Haus einen sehr großen Garten mit Obstbäumen und Mella war glücklich über diese plötzliche Wendung in ihrem Leben, weil sie sich in dieser großen Stadt nie recht glücklich gefühlt hatte.

Sie stammte aus einem jener lieblichen kleinen Städtchen, wie sie am Lauf des Neckars zwischen Heilbronn und Heidelberg liegen. Dort war ihr dieser blonde, groß aufgeschossene Andreas Murr begegnet. Andreas war sofort gefesselt von ihrem Wesen. Sie war anders als die Frauen und Mädchen, die er bisher gekannt hatte. Sie war heiter, ihr Denken unkompliziert und gerade, ihre Reden kannten keine Seitenwege. Sie musste alles so sagen, wie sie es dachte, auch wenn sie damit manchmal wie ein Rammbock wirkte. Aber man nahm es ihr nicht übel, weil man wusste, dass ihre Veranlagung keine Unklarheiten vertrug. Jedermann mochte sie gerne und schätzte sie. Ihre Züge waren mild, ihr Mund von üppiger Weichheit. Sie war keine Erscheinung, wie der Blick eines Künstlers sie sucht, sondern eine klar ausgewogene Schönheit, die keine Hilfsmittel brauchte, um das zu steigern, was die Natur ihr geschenkt hatte.

So hatte Andreas Murr sie kennen gelernt. Fünfundzwanzig Jahre war sie damals, er zweiunddreißig. Sie war ihm in die Stadt gefolgt, hatte Mansarde, Hunger und Kälte mit ihm geteilt, bis sich die ersten Erfolge einstellten und sie sich diese Wohnung leisten konnten, in der sie ihre Zelte nun abbrachen.

Murr war ein wenig melancholisch gestimmt. Der Abschied von der Stadt fiel ihm doch schwer. Die kurze Pfeife zwischen den Zähnen, saß er da und war mit seinen Gedanken schon draußen bei dem kleinen See, über dem auf einem Hügel das Haus stand, das er erworben hatte. Er sah sich bereits beim Umbau. Ein paar Zwischenwände mussten herausgerissen und große Fenster eingesetzt werden, dadurch würde der Stall zu einer geräumigen Bildhauerwerkstätte werden.

Auf einmal spürte er Mellas Hand auf seinem Arm.

»Du hörst ja gar nicht zu, Andi.«

Er nahm die Pfeife aus dem Mund und griff nach dem Weinglas. »Entschuldige. Ich war jetzt tatsächlich mit meinen Gedanken nicht da. Worum geht es denn?«

»Fred hat gerade von der heutigen Gerichtsverhandlung gegen diesen Handelsvertreter Westhoff erzählt.«

»Was hat er denn gekriegt, der Kerl?«

»Fünfzehn Jahre Haft«, antwortete Fred, der als Journalist der Verhandlung beigewohnt hatte.

»Viel zu wenig«, sagte Frau Hofer, die Nachbarin aus dem ersten Stock, entrüstet. »Wer Menschenblut vergießt, kann dies nur mit dem eigenen Leben sühnen. Die Todesstrafe müsste wieder eingeführt werden.«

Der Handelsschuldirektor Kern widersprach. »Nein, denn die Statistik beweist, dass in Ländern mit Todesstrafe die Kapitalverbrechen deswegen nicht abnehmen. Und im Fall dieses Westhoff muss man doch wohl mildernde Umstände in Betracht ziehen. Ich könnte mir denken, dass es mehr eine Affekthandlung gewesen ist. So ein Handelsvertreter ist manchmal für Wochen unterwegs. Dann kommt er heim und überrascht seine Frau in den Armen ihres Freundes.«

»Ja, darauf hätte er seine Verteidigung stützen können«, räumte Fred ein. »Aber merkwürdigerweise gab er zu, dem Tiefentaler im Stiegenhaus aufgelauert und ihn ohne Wortwechsel niedergeschossen zu haben. Aus reiner Eifersucht.«

»Wer ist Tiefentaler?«, wollte Frau Hofer wissen.

»Tiefentaler war Prokurist bei der Firma, für die Westhoff als Vertreter tätig war«, erklärte der Journalist.

»War denn die Eifersucht begründet?«, fragte Mella.

Fred zündete sich eine Zigarette an und folgte mit den Augen den Rauchwölkchen. Dann sagte er:

»Das war einer der tragischsten Momente bei der Verhandlung. Die Frau des Angeklagten hätte ja die Aussage verweigern können. Aber sie gab offen und ehrlich zu, dass Tiefentaler immer dann bei ihr in der Wohnung erschienen sei, wenn ihr Mann länger als vorgesehen auf Reisen war und sie mit dem Geld knapp wurde. Sie rief dann die Firma an und Tiefentaler brachte ihr daraufhin jeweils einen Vorschuss auf das Gehalt ihres Mannes. Man habe dabei eine Tasse Kaffee getrunken und ein wenig geplaudert und sonst sei nicht das Mindeste zwischen ihr und Herrn Tiefentaler gewesen. Aber das wollte ihr Mann einfach nicht glauben. In diesem Augenblick sprang der Angeklagte auf und schrie tränenerstickt: ›Doch, Erika, ich glaube dir. Oh, was habe ich bloß getan ...‹«

»Das hätte er sich früher überlegen sollen«, sagte Frau Hofer ohne Mitleid.

»Konnte man den Aussagen der Frau auch Glauben schenken?«, fragte Kern.

»Ja, durchaus. Sie machte einen guten Eindruck und wurde auch als gute Mutter bezeichnet.«

»Die Leidtragenden sind immer die Kinder. Oder sind die Westhoffs kinderlos?«, erkundigte sich Frau Hofer.

»Sie haben einen Sohn von drei Jahren«, antwortete Fred.

Frau Kern fand, dass mit solchem Gespräch keine rechte Stimmung aufkommen konnte. Sie ergriff daher das Wort »Kinder« wie ein Rettungsseil. Sie hatte selbst zwei und nahm jede Gelegenheit freudig wahr, die Vorzüge ihrer Lieblinge ins Blickfeld zu rücken.

»Denkt euch bloß, was heute unsere beiden wieder angestellt haben. Das habe ich dir noch gar nicht erzählt, Robert«, wandte sie sich an ihren Mann und zupfte dabei ein Fädchen von seinem Ärmel.

Und nun folgte die Erzählung eines harmlosen Kinderstreiches, den Frau Kern in mütterlichem Stolz berichtete.

»Na ja, es sind halt Kinder«, schloss sie glücklich lachend.

»Soll man sie deswegen gleich immer bestrafen? Herr Murr, was meinen Sie darüber?«

»Ich kann da leider nicht mitreden, weil wir keine Kinder haben«, antwortete Andreas Murr.

»Ach ja, natürlich«, plapperte Frau Kern ohne Hemmung weiter. »Schade, schade. Kinder sind für eine Ehe doch so wichtig. Wie das Salz für die Suppe. Als wir im ersten Jahr unserer Ehe noch keines hatten, begann es langweilig zu werden, nicht wahr, Robert?«

Robert Kern bemerkte, dass Mella Murr auf einmal wie versteinert dasaß und dass ihre Hände nervös mit dem Weinglas spielten. In der Hoffnung, dass seine Frau das peinliche Thema änderte, stieß er sie unterm Tisch warnend an. Frau Kern aber begriff nicht, was er wollte, und schwatzte munter weiter.

»Gib nur zu, es wurde langweilig. Wir hatten uns kaum mehr etwas zu sagen an den langen Winterabenden. Dann aber meldete sich zum Glück Elisabeth an und die Brücke war geschlagen. Wenn man heiratet, dann müssen so schnell wie möglich Kinder herbei, wenn die Liebe nicht eintönig werden soll.«

Jetzt wurde es ihrem Mann zu viel und er unterbrach sie. »Nun lass auch andere mal zu Wort kommen!«

Aber es war nichts mehr zu retten. Mella rannte hinaus und da erst begriff Frau Kern, wie taktlos sie gewesen war, denn es war ja bekannt, wie sehr die Murrs sich ein Kind wünschten.

»Ach so«, sagte sie gedehnt. »Darum hast du mich vorhin unterm Tisch angestoßen! Ach, ich habe doch niemanden kränken wollen und es war überhaupt nicht böse gemeint. Was nicht ist, kann noch werden. Denkt doch an die Familie Kleist, gleich um die Ecke in der Sieglindenstraße! Bei denen kam nach sechs Jahren Ehe das erste Kind und dann wurden es noch fünf!«

Es half nichts mehr, die Stimmung war verdorben, der allgemeine Aufbruch kam daher jedem recht. Mella hatte sich mittlerweile wieder gesammelt und bot allen zum Abschied ein mildes Lächeln, das wie eine große Verzeihung aussah, obwohl sie außer Frau Kern niemandem etwas zu verzeihen gehabt hätte.

Als sie allein waren, legte Murr den Arm um die Schultern seiner Frau. »Du musst nicht traurig sein, Mella. Diese dumme Gans scheint aus lauter Unvernunft zu bestehen.«

Mella öffnete ein Fenster, damit der Rauch hinauszog.

»Aber im Grunde genommen hat sie Recht, Andi. Ich habe es dir bloß noch nie eingestanden, dass ich in ständiger Angst lebe, unsere Ehe könnte dir auch einmal langweilig sein, weil wir keine Kinder haben werden.«

Sie standen beide vor dem offenen Fenster. Der immerwährende Lärm einer Großstadt drang zu ihnen herein. Autos hörte man vorbeifahren und das Klingeln der Tram.

»Mella«, sagte er, »du sollst dir nicht immer Sorgen machen um etwas, das wir nicht wissen können. Wie oft geschehen völlig unerwartete Dinge!«

»Vergiss aber nicht, Andi, dass Professor Steiner mir jede Hoffnung auf ein Kind genommen hat.«

»Auch der kann sich täuschen. So sagte mein Zeichenlehrer immer: ›Murr, aus dir kann nie etwas Gescheites werden.‹ Und im Übrigen, Mella, habe ich dir jemals einen Vorwurf gemacht?«

»Bis jetzt noch nicht. Aber, Andi, ich sehe doch, dass du von Kindern ganz begeistert bist.«

Sein aufkommender Unwille verflog sofort wieder. Sie tat ihm Leid, unendlich Leid. Er sah ihr zerquältes Gesicht, die von Trauer umschatteten Augen.

»Ich verstehe es doch selbst nicht«, sprach sie leise klagend weiter. »Ich bin doch gesund! Wir waren sieben Geschwister und zwei meiner Schwestern haben ebenfalls Kinder. Warum bloß ich nicht?«

»Du sollst nicht so viel danach fragen«, versuchte er sie zu trösten. »Vielleicht hilft uns schon die Luftveränderung! Das soll schon öfter der Fall gewesen sein.«

Sie schloss das Fenster und drehte ihm ihr Gesicht zu. Es war jetzt wieder aufgehellt. »Ja, meinst du?«

»Natürlich, so ganz sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben.«

Andreas Murr lag noch lange wach und lauschte in die Stille. Manchmal schien der Atem neben ihm zu stocken. Er richtete sich auf und beugte sich über Mella.

»Du schläfst ja gar nicht, Mella. Warum nicht?«

»Doch, doch, ich war gerade im Einschlafen«, sagte sie und schluchzte leise auf.

»Was ist denn los, Mella?«

»Ich bin so unruhig, Andi.« Ihre Stimme klang ganz verschleiert.

»Das sollst du aber nicht. Es wird alles gut werden.«

»Ich wünsche mir doch bloß, dass alles so bleibt zwischen uns beiden, wie es ist. Dass du mir immer gut bleibst, Andi, so wie du es mir am ersten Tag unserer Ehe versprochen hast.«

»Ich bleib dir doch gut, Mella.«

»Ja? Gib mir deine Hand, Andi.«

Er gab sie ihr gerne. Sie schob seine Hand unter ihre Wange und schlief bald darauf ein.

Die Murrs hatten es gar nicht so leicht in Steinkirchen, wie sie es sich vorgestellt hatten. Obwohl Andreas Murr ein Mensch war, dem es nicht schwer fiel, Anschluss zu finden, nahmen die Ortsansässigen fast durchweg eine ablehnende Haltung ein. Er blieb für sie ein Fremder, auch wenn er nicht nur für einen Urlaub gekommen war, sondern ein Steinkirchner werden wollte.

Das erste Mal bekam er die Ablehnung bereits zu spüren, als er sich beim Toni-Bauern, dem Bürgermeister, anmeldete.

»So, so, Bildhauer?«, fragte der ohne sonderlichen Respekt. »Ist das so etwas wie ein Steinmetz?«

Murr konnte das Lächeln nur schwer verbeißen. »Also gut, wenn Ihnen das besser passt, dann meinetwegen Steinmetz.«

»Oh mei, oh mei«, seufzte der Toni-Bauer. »Dann seh’ ich schwarz. Die paar Grabsteine, die wir in Steinkirchen brauchen, die macht der Steinmetz Lechner von Bichl. Sie werden keinen Verdienst haben hier und das Ende vom Lied ist dann, dass Sie der Fürsorge zur Last fallen. Womöglich haben Sie auch noch einen Haufen Kinder?«

»Noch nicht. Aber ich habe mir sagen lassen, dass sie in dieser gesunden Luft hier recht gut gedeihen.«

»Ja, unsere Luft«, schmunzelte der Bürgermeister geschmeichelt. »Bloß schade, dass man sich die nicht bezahlen lassen kann. Jeder Atemzug wäre fünf Mark wert.«

»Dann habe ich ja das Anwesen da oben billig ersteigert.«

»Allerdings. Ich kann heut noch nicht verstehen, dass nicht einer von unseren Leuten es ersteigert hat. Ein Fremder hat kommen müssen!«

»Ich hoffe aber, dass wir uns bald nicht mehr fremd sein werden.«

»Sie, sagen Sie das nicht. Bei uns hier muss einer schon einen Zentner Erdäpfel gegessen haben, bis er sich bloß halbwegs heimisch fühlen darf.«

»Das dürfte bei meinem Bedarf an Kartoffeln in einem halben Jahr erledigt sein. Aber noch eine andere Frage: Wie steht es hier mit einem Fischwasser?«

Der Bürgermeister schaute den anderen an, als habe er von ihm verlangt, er solle ihm seine beste Kuh schenken.

»Da ist überhaupt nichts zu machen. Im See ist nicht viel drin und was die Ammer betrifft, so hat der Besitzer des Sägewerks, Distoller, das Fischrecht schon seit zwanzig Jahren auf zehn Kilometer hin.«

»Aha! Dann müsste ich mich also an den wenden?«

Nun musste der Bürgermeister laut herauslachen. »Ja, an den wenden Sie sich. Dann werden Sie schon hören, was der Ihnen sagt.«

Nun wurde Andreas Murr von jenem heftigen Trotz gepackt, der ihm immer zu Hilfe kam, wenn er irgendwo auf Widerstand stieß. Sich zu seiner ganzen Größe aufrichtend, sagte er mit verhaltenem Ernst:

»Hören Sie einmal zu, Herr Bürgermeister. Ich bin mit den besten Absichten hierher gekommen. Und Sie müssen sich damit abfinden, dass ich hier bleibe. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Mich kann niemand wegekeln. Und damit Sie es ganz genau wissen: Ich bin auch auf niemanden angewiesen. Mein Bestreben ist es, mit jedem gut auszukommen, ich lege Wert auf gute Nachbarschaft. Und das sollten Sie nicht so ohne weiteres von der Hand weisen. Niemand kann wissen, wie einer den anderen braucht.«

In seinem bürgerlichen Misstrauen gegen alle Fremden, die sich in Steinkirchen niederlassen wollten, hätte der Bürgermeister am liebsten gesagt: Wir sind bis jetzt ganz gut ohne dich ausgekommen. Aber irgendwie hatte dieser gertenschlanke Mann mit dem hellen Blondhaar doch etwas Imponierendes, etwas, das Respekt einflößte. So sagte er abschließend nur:

»Na ja, wir werden ja sehen. Bis jetzt hat es da oben beim Brugger geheißen. Jetzt heißt es halt –«, er warf noch einmal einen Blick auf das Anmeldeformular, »Murr heißen Sie?«

»Andreas Murr, jawohl.«

»Also dann, Herr Murr, schauen Sie nur, wie Sie zurechtkommen mit dem alten Gelump dort oben.«

»Ich werde schon zurechtkommen. Nur keine Angst. Und einen recht schönen guten Abend, Herr Bürgermeister.«

Vom Fenster aus sah der Toni-Bauer dem »Steinmetz« nach, der bedächtigen Schrittes, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Dorfstraße hinunterging und vor der Kirche stehen blieb. Mit schief gehaltenem Kopf schaute er zu dem Sattelturm hinauf, auf dem der Wetterhahn in der Abendsonne glänzte.

»Ja, geh nur hinein, das schadet dir nicht«, murmelte der Toni-Bauer hinter seinem Fenster.

Und als ob Andreas Murr dies vernommen hätte, stieg er tatsächlich die schiefen Steintreppen mit dem wackeligen Eisengeländer hinauf und betrat die alte Kirche. In der achten Bankreihe von vorn stand auf einem halb verrosteten Blechschild der Name Brugger. Also würde dies künftig sein Kirchenstuhl sein. Man würde sehr darauf achten, ob er und Mella sich hier an den Sonntagen zeigten.

Es erwies sich in den nächsten Tagen, dass der Toni-Bauer dem Neuen gegenüber noch recht lammfromm gewesen war, denn kaum vernahm Distoller, der Besitzer des Sägewerks, dass der »Reingeschneite« sich für ein Fischrecht interessiere, lief er schon krebsrot an.

»Dem wird aber der Schnabel sauber bleiben! Kommt daher und meint, er braucht nur zu sagen: Und ein Fischwasser will ich auch haben.«

Bürgermeister war zwar der Toni-Bauer, aber es geschah nichts in der Gemeinde, was gegen den Willen des Sägewerksbesitzers gewesen wäre. Sie duckten sich alle vor ihm, bis auf den Hahner, der sein Schwager war und dessen Hof gegenüber dem Haus lag, das Andreas Murr ersteigert hatte. Er war es auch, der Äcker und Wiesen des Bruggeranwesens an sich gerissen hatte, weil sie an seine Grundstücke grenzten. Und als sie nun am Samstagabend am Stammtisch saßen, meinte der Sägewerksbesitzer zu seinem Schwager in polterndem Vorwurf:

»Hättest die Hütte gleich mit ersteigert, dann hätten wir jetzt den unsympathischen Kerl nicht am Hals!«

Der Hahner, im Gegensatz zu seinem wohlbeleibten Schwager lang und dürr, begehrte auf: »Warum ich? Das hättest du genauso gut machen können.«

»Was tät denn ich mit der alten Bruchbude!?«

»Genau das, was der macht. Umbauen. Du hättest es ja dann vermieten können oder abreißen, dann braucht ich mich nicht zu ärgern, wenn ich beim Hinüberschaun sehen muss, wie die zwei stundenlang im Liegestuhl faulenzen und dem Herrgott den Tag stehlen.«

»Schau halt nicht hinüber, dann brauchst dich nicht zu ärgern. Im Übrigen muss einmal nachgefragt werden, ob die zwei überhaupt verheiratet sind.«

»Wie kommst jetzt darauf«, fragte der Hahner gespannt.

»Weil ich sie jetzt schon ein paar Mal durchs Dorf hab gehen sehen, Arm in Arm wie zwei Verliebte. Wenn man verheiratet ist, tut man nimmer so verliebt. Wenn sich rausstellt, dass die zwei nicht verheiratet sind, dann muss richtig aufgemischt werden. Wir können in unserem Dorf keine so unmoralische Sache dulden.«

Hier war aber nichts zu machen. Die beiden waren verheiratet. Der Distoller bekam es schwarz auf weiß zu sehen beim Bürgermeister. Die beiden schienen sogar an Gott zu glauben, denn am Sonntag sah man sie miteinander zur Kirche gehen, und die Weidnacher-Josefa hatte genau gesehen, wie beide tief die Knie beugten, bevor sie ihre Betstühle aufsuchten, er auf der rechten, sie auf der linken Seite, wie es üblich war.

Die Weidnacher-Josefa war eine stille wachsbleiche Näherin, die mit lispelnder Stimme auf den Bauernhöfen, wo sie zur »Stör« war, von den Dingen, die sie beobachtete, erzählte. Und dazu gehörte auch, dass sie erzählte, dass die Murrs in der Kirche dort den Platz einnahmen, wo auf dem Schild noch der Name Brugger stand.

Ein paar der Blütensamen von der weißen Hand der Näherin Josefa, hineingestreut in das misstrauische Abwarten der Leute von Steinkirchen, gingen auf. Beim Metzger Hirl zum Beispiel wurde Mella in der dritten Woche schon recht freundlich gegrüßt, weil sie nie anschreiben ließ. Und beim Bäcker Reindl war es jetzt auch auf einmal möglich, dass der Lehrbub jeden Morgen sechs frische Semmeln zum Murr hinaufbrachte und dort an die Türklinke hängte.

Ja, ganz langsam zerbröckelte die Ablehnung. Die Weidnacher-Josefa wurde von Mella Murr gebeten, Vorhänge zu nähen. Sie kam gerne und nahm alles in sich auf, was es an Schönem und Neuem dort zu sehen gab. Dazu gehörte auch, dass der Mann nach dem Mittagessen aufstand und seiner Frau einen Kuss auf die Wange gab, bevor er ins Atelier ging, in dem vorerst außer ein paar Flaschenzügen und ein paar Leitern noch nichts zu sehen war als in der Ecke ein altes Sofa, auf das der Herr des Hauses sich zum kurzen Mittagsschlaf hinlegte.

Josefa erzählte das überall und schmückte besonders den Kuss nach dem Mittagessen innig aus. Und vielerorts blieb etwas hängen von den ehrlichen Bemühungen der Weidnacher-Seffi, die Murrs in ein freundlicheres Licht zu heben. Langsam gewann man Vertrauen zu den Fremden da oben.

Aber dann kam die Sache mit der Straße. Ein ausgefahrener Feldweg, mit Schlaglöchern und Wasserrinnen, führte zum Murr-Haus und die vier Pferde des Spediteurs von Bichl gerieten in Schweiß, als sie den schweren Marmorblock hinaufzuziehen hatten, der mit der Bahn aus Italien gekommen war.

Der Sägemüller Distoller sah von seinem Bretterlager aus, dass dieses Ungetüm von einem Stein neben der Stallmauer abgeladen wurde.

Distoller war in schlechtester Laune. Gestern hatte er erst erfahren, dass der »Reingeschneite« beim Landratsamt eine Fischkarte beantragt und auch erhalten hatte. Er durfte zwar nicht in der Ammer fischen, sondern nur auf zwei Kilometer Länge in dem viel kleineren Kupferbach, in dem es Forellen gab. Aber jede, die von dort nicht mehr in die Ammer schwimmen konnte, war ihm, dem Sägewerksbesitzer Distoller, verloren. Diese unerfreuliche Tatsache hatte ihn bereits eine schlaflose Nacht gekostet. Nun stand er zwischen seinen Bretterstapeln und starrte zur anderen Höhe hinüber.

Es war ein heller Frühlingstag. Über dem See lag tausendfaches Lichtgezitter und der Wind flüsterte geheimnisvoll im Uferschilf, in dem ein Schwarm Wildenten gurrte.

Die Obstbäume blühten in ihrer ganzen Pracht, aus dem dunklen Bergwald schossen wie helle Flammenbündel die jungen Birken und Lärchen und die Berge standen mit einem herrlichen Blau unter dem hellen Himmel.

Inmitten dieses Friedens stand mit friedlosem Herzen der Sägemüller Distoller und überlegte, wie er dem Murr da drüben eins auswischen könnte. Plötzlich ging ein hämisches Lächeln über sein rundes, rotes Gesicht.

Die Hose hochziehend, schlurfte er in Pantoffeln über den Lagerplatz, bellte ein paar Befehle in das Kreischen der Sägegatter und ging dann die kleine Anhöhe hinauf, auf der sein schöner Bauernhof stand.

Eine der vielen Türen im Flur stand offen. Es war die Küche, aus der der Geruch von frischen Schmalznudeln kam.

»Meine Schuh her«, knurrte der Sägewerksbesitzer und stieß seine Pantoffel unter die niedere Bank neben dem Herd. Dann rieb er sich die Hände. »Jetzt weiß ich, wie ich dem da drüben beikommen kann.«

Die Sägemüllerin, eine stattliche Frau mit silber glänzendem Haar, zeigte recht wenig Interesse und sagte nur: »So, so.« Dann fischte sie mit einer großen Gabel die Schmalznudeln aus der Pfanne mit dem siedenden Fett.

Sabina stand gerade vor dem Spiegel und ordnete ihr dichtes blondes Haar. Sie war die Tochter des Sägemüllers Distoller, eine hoch gewachsene, schöne, junge Frau von dreiundzwanzig Jahren. Sie hätte eigentlich um diese Zeit drüben im Büro sein müssen, wo sie die Bücher zu führen hatte. Aber Sabina war die einzige in diesem Haus, die sich nicht widerspruchslos dem Willen des Vaters unterordnete.

»Wem willst du denn beikommen, Vater?«

»Dem Murr da oben. Schnür mir die Schuhe zu.«

Sabina tat es.

»Ich werde ihm das Leben hier schon so verleiden, dass er gern wieder geht.«

Langsam richtete Sabina sich auf und strich ein paar locker gewordene Härchen hinters Ohr. »Was hast du eigentlich gegen diesen Mann?«

»Allerhand! Kommt daher und spielt sich auf, als sei er weiß Gott wer.«

Sabina lächelte. »Ich glaube, Vater, dass er immerhin auch jemand ist«, sagte sie.

»So? Was denn?«

»Ein Künstler.«

»Dass ich nicht lache«, polterte der Sägewerksbesitzer heraus. Er hatte keine Ahnung von der Kunst und ihrer Schönheit. »Wo ist meine Jacke?«

»Dort, an der Tür, hängt sie«, sagte seine Frau.

Nun war er fertig. Bevor er die Küche verließ, drehte er sich nochmals um.

»Dass du dich für den so warm ins Zeug legst?«, fragte er seine Tochter. »Was gehen denn die Leut uns überhaupt an? Und wieso stehst du mitten am Vormittag hier herum und bist nicht in deinem Büro?«

Das Büro lag gegenüber der Küche und von seinem Fenster aus hatte man einen herrlichen Blick über den kleinen See auf die Höhen, auf denen verstreut die Häuser und Höfe lagen. Sabina sah zum Beispiel vorm Murr-Häuschen den Marmorblock liegen. Und sie sah jetzt, wie ihr Vater mit seinen Säbelbeinen ziemlich schnell den Fußweg zum Hahnerhof hinaufging, manchmal stehen blieb, sich den Schweiß von der Stirn wischte, rastete und dann seine Schritte wieder beschleunigte.

Er fand seine Schwester, die ihm ziemlich ähnlich sah, im Pflanzgarten beschäftigt und fragte ohne zu grüßen:

»Wo ist denn der Martl?«

»In der Werkstatt hab ich ihn gerade klopfen hören«, antwortete die Hahnerin ohne sich aufzurichten.

Der Hahner war beschäftigt, eine neue Lehne für die Hausbank zu zimmern. Es muss gesagt werden, dass er darin einiges Geschick bewies, und wenn ihn jemand lobte, erzählte er gerne, dass er am liebsten Schreiner geworden wäre. Aber er habe ja den Hof übernehmen und die Schwester des Sägewerksbesitzers heiraten müssen.

»Ah, da steckt er ja, der Herr Schwager«, lächelte der Sägemüller dünn, als er in den Schuppen trat. »Steht hier und sieht nicht, was draußen in der Welt vorgeht.«

Das Schnitzmesser fuhr ein paar Mal über die eingespannte Latte und nahm ein paar scharfe Kanten weg.

»Was soll denn schon los sein?«

Der Distoller setzte sich auf die Hobelbank und sagte: »Hast es schon gehört? Der Murr hat tatsächlich eine Fischkarte bekommen. Aber wart nur, wenn ich wieder mal nach Bichl komm. Dem Beamten werd ich einen Marsch blasen, dass ihm die Ohren wackeln.«

»Da wirst gar nichts machen können«, meinte der Hahner. »Gestern war übrigens sie da und hat gefragt, ob sie nicht jeden Tag einen Liter Milch haben könnte.«

»Und?«

»Ich hab gesagt, sie soll zum Lebensmittelgeschäft gehen. Aber wie ich gesehen hab, ist sie zum Lechner gegangen und dort haben sie anscheinend nicht nein gesagt.«

»Der Lechner ist immer schon ein Schleicher gewesen. Aber was anderes jetzt, Martl. Wie ist das eigentlich mit dem Fahrweg da hinauf? Das ist doch dein Grund und Boden?«

»Seit ich die Grundstücke da drüben ersteigert habe.«

»Also dann hat der Murr doch kein Recht, den Weg zu benutzen!«

»Eigentlich nicht. Aber –«

»Was aber? Nur nicht weich werden jetzt, Schwager. Heute früh hat der Spediteur von Bichl mit einem Transporter einen schweren Felsbrocken hinaufgefahren. Willst du dir deinen Weg zuschanden fahren lassen?« Der Distoller rieb sich vergnügt die Hände. »Da können wir ihn jetzt packen!«

Der Hahner legte das Schnitzmesser weg und suchte in der Hosentasche nach seiner kurzen Pfeife. »Schließlich müssen sie aber doch einen Weg ins Dorf herunter haben!«

»Dann sollen sie hinten hinuntergehn, aber nicht durch dein Grundstück.«

»Das ist ein Umweg von einer Stunde.«

»Ja, und? Die haben Zeit. Tun ja sowieso den ganzen Tag nichts. Soviel mir bekannt ist, ist der Weg da hinauf nicht als öffentlicher Weg eingetragen und niemand kann von dir verlangen, dass du ihn durchlässt.«

»Ich kann mich aber doch nicht hinstellen und den ganzen Tag aufpassen.«

»Du brauchst gar nichts zu machen, das überlass nur mir.«

Der Hahner sah eine Weile durch das Schuppentor hinaus auf den Hof, auf dem sich die Hühner tummelten.

»Mach, was du willst, mir soll es recht sein.«

Der Distoller rutschte von der Hobelbank. »Behüt dich, Schwager. Und sei nicht zu fleißig.«

Am Pflanzgartenzaun blieb er wieder stehen. Die Hahnerin war immer noch im Garten beschäftigt. Nur dass sie jetzt den Kinderwagen neben sich stehen hatte, in dem der jüngste Hahnerspross lag.

Der Distoller sah hinein, betrachtete das kleine Menschenkind eine Weile und meinte dann: »Jetzt habt ihr fünf, nicht wahr?«

»Sechs. Eins ist doch gestorben.«

»Richtig, ja. Es langen auch fünf, sonst kann man später keinem was Anständiges mitgeben.«

»Wir waren bloß zwei und du hast mir auch nicht übermäßig viel ausbezahlt«, sagte die Hahnerin und setzte eine neue Weißkrautpflanze in den schwarzen Boden.

»Es waren immerhin hunderttausend«, antwortete der Distoller.

»Was ist das schon gewesen? Das Sägewerk und der Hof sind zwei Millionen wert.«

Der Distoller schob seinen Hut in die Stirn und ging grußlos davon.

Am Abend standen am Beginn des Weges zwei schwere Eichenpfosten mit vierfach gezogenem Stacheldraht. Daneben eine Tafel, auf der geschrieben stand: »Benutzung des Weges streng verboten!«

Als Andreas Murr die Absperrung mit dem Stacheldraht sah, schrie er dem Hahner voll leidenschaftlichen Zorns ins Gesicht, dass er sich das nicht bieten lasse und dass er sich erstreiten würde, was man ihm mit gutem Willen nicht zugestehen wolle.

Den Prozess verlor er. Das Recht war auf der Seite des Hahner. Es war dessen Grund und Boden, durch den der Murr gehen und fahren wollte. Von diesem Recht ließ er sich nichts abzwicken.

»Es geht ja von der anderen Seite auch noch ein Weg hinauf«, meinte er.

»Ja, aber das ist eine Stunde Umweg.«

»Das macht doch nichts. Die Murrs laufen ja so auch stundenlang spazieren, während unsereiner arbeiten muss.«

»Das gehört nicht hierher«, sagte der Richter und sah wieder in die vor ihm liegende Planskizze. »Herr Murr, könnten Sie sich dazu entschließen, für das Fahrrecht eventuell ein kleines Entgelt zu entrichten?«

»Unter Umständen, ja. Aber das müsste dann notariell festgelegt werden.«

»Also, Herr Hahner, Sie haben es gehört. Sind Sie damit einverstanden?«

Der Hahner legte den schmalen Kopf zur Seite und überlegte. In seinem Innern mahnte ihn eine Stimme zum Nachgeben. Aber dann sah er das Gesicht seines Schwagers Distoller vor sich und er schüttelte heftig den Kopf. »Auf die paar Mark bin ich nicht angewiesen.«

»Das heißt also, dass Sie nicht wollen?«

»Genau das.«

Der Richter schlug zornig mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »So eine Sturheit! Dann lassen Sie es bleiben.«

»Ich bin so frei.«

Bis hierher hatte sich Andreas Murr standhaft zurückgehalten. Jetzt aber brach es leidenschaftlich aus ihm heraus:

»Gut, ich nehme es zur Kenntnis, dass ich es mit keinem Nachbarn zu tun habe, sondern mit einem Menschen, der mir einen unverständlichen, blinden Haß entgegenbringt. Ich war immer der Meinung, dass man in der Nachbarschaft gut miteinander auskommen soll, weil man nie weiß, wie einer den anderen einmal braucht.«

Der Hahner kicherte laut heraus.

»Sie brauchen gar nicht zu lachen«, schrie Andreas Murr und ballte die Fäuste. »Sie sind von einem Hochmut besessen, der schon sträflich ist. Mir wird Feindschaft geboten. Gut, ich nehme sie an. Was auch im Laufe der Zeit geschehen mag, vergessen Sie dann nie, dass Sie es gewesen sind, der die Saat zu allem Bösen gelegt hat. Und damit Sie es wissen, Hahner: Ich biete Ihnen und allen die Stirn. Bis jetzt habe ich alles geduldig geschluckt, eure Kälte, eure Gehässigkeit. Jetzt werde ich mich wehren, und wenn es sein muss, auch mit den Fäusten. Das merken Sie sich ganz genau und sagen Sie es vor allem auch Ihrem Schwager Distoller, vor dem ihr alle kriecht. So, mehr habe ich nicht zu sagen.«

In seiner Erregung vergaß er, sich von dem Richter zu verabschieden. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich danke Ihnen, Herr Richter, für Ihr ehrliches Bemühen um eine Vermittlung. Aber wo nur Stein ist, geht kein Same auf. Leben Sie wohl.«

Auf dem Stadtplatz von Bichl lag warmer Sonnenschein und die Glocken der Stadtkirche läuteten Mittag. Schlagartig quollen aus den Türen der Ämter die Angestellten, um von der kurzen Mittagspause recht viel zu haben.

Andreas Murr ging in das Gasthaus »Zur Krone« und sah dann von seinem Fensterplatz aus, wie der Hahner auf der anderen Seite drüben den Gasthof »Zum letzten Heller« betrat, wo es zu einem günstigen Preis Schweinsbraten und Knödel gab und einen Wein, der ein bisschen sauer schmeckte.

Der Hahner aber ging nicht wegen des Schweinsbratens und des Weines in den »Letzten Heller«, sondern wegen der Wirtin Isabella, die er in seiner Jugend geliebt hatte und deren Zuneigung er sich noch immer bewahrt hatte.

Dort blieb er sitzen, bis Isabella Zeit fand sich neben ihn auf die Bank zu schieben.

»Hast in der Stadt zu tun gehabt, Martl?«

»Ja, am Gericht.«

»Hast du gewonnen?«

»Freilich! Wär ja noch schöner.«

»Natürlich, du gewinnst ja immer.«

Er zog die dünnen Brauen hart zusammen. »Nicht immer. Dich habe ich zum Beispiel damals verloren.«

»Du hast es deswegen auch nicht schlecht getroffen. Trinkst du noch einen Schoppen?«

»Ja, einen noch, dann muss ich schauen, dass ich heimkomme.«

»Zu Frau und Kind«, ergänzte die Wirtin.

Um halb drei Uhr fuhr der Hahner heimwärts. Sonderbar, er konnte sich seines Sieges nicht recht erfreuen. Irgendwie hatten ihn die Worte des Andreas Murr doch getroffen und er hatte nur zu gut gemerkt, dass der Richter ihn mit Verachtung betrachtet und dann auch so verabschiedet hatte. Und wenn er ein wenig in sich hineinhorchte, dann stieg ihm doch so etwas wie Schamröte ins Gesicht. Es konnte aber auch sein, dass er rot wurde aus Zorn gegen seinen Schwager Distoller, der ihn zu der Sache verleitet hatte. Ihm wäre es wahrhaftig nicht eingefallen, den Weg zu sperren. Aber es war ja nicht das erste Mal, dass der Distoller ihm seinen Willen aufzwang. Es hatte damit begonnen, dass der seine Schwester an den Mann bringen wollte. Der Hahner hatte umgebaut und war in Schulden geraten. Gerade, dass er die Zinsen zusammenbrachte. Einmal musste er sich auch diese stunden lassen. Drei Tage nach Neujahr kam der Distoller bereits auf den Hahnerhof und fragte, ob man denn vergessen hätte, dass der erste Januar gewesen sei.

Sie hatten Unglück im Stall gehabt. Der Hahner versuchte, dies dem Sägewerksbesitzer zu erklären. Der Distoller wollte das lange nicht verstehen und fragte dann in seiner schonungslosen Art:

»Soll das heißen, dass du nicht zahlen kannst?«

»Wart halt noch ein Vierteljahr. Bis dahin geht es mir besser«, hatte der Hahner gebeten.

Daraufhin hatte der Distoller bloß gelacht. »Ja, wie stellst du dir denn das vor? Ich brauche mein Geld und möchte das Darlehen jetzt überhaupt kündigen. Das heißt, ich kann dir auch einen anderen Vorschlag machen. Heirate meine Schwester, die Burga.«

So war die Sägewerks-Burga die Frau vom Hahner geworden und die Kinder brachten Sonnenschein in diese Ehe. Aber immer stand wie ein grauer Schatten der Distoller im Leben des Hahner. Gewiss, er hatte sich durch die Mitgift der Burga von allem Belastenden befreien können. Burga hatte in allem eine glückliche Hand. Der Hof stand heute als einer der besten im ganzen Tal da.

Der Hahner fuhr noch weiter die Landstraße entlang. In der Ferne sah man bereits den See blitzen. Die Wiesen waren ein gelbes Meer von Dotterblumen. Weit hinten leuchteten die jungen Birken im Moor.

Vor dem Dorf zweigte der Hahner ab, zu seinem Hof hinauf. Er sah die zwei Pfosten mit dem Stacheldraht und hatte dabei das Gefühl, dass er dessentwegen noch manchen Ärger haben würde.

Darin sollte er sich auch nicht getäuscht haben. Am anderen Morgen schon war einer der Pfosten herausgerissen und mit dem Stacheldraht zur Seite gelegt, weil der Lehrbub vom Bäcker Reindl mit seinen sechs Semmeln nicht den weiten Umweg machen wollte.

Nicht der Hahner setzte die Sperre wieder ein, sondern mit unverdrossenem Eigensinn der Distoller, so als wäre es sein Weg, den er versperren müsste, obwohl Andreas Murr und seine Frau Mella ihn nicht mehr benutzten und lieber den weiten Umweg ins Dorf machten.

Um diese Zeit war es, dass in der großen Stadt eine junge Frau durch das Tor eines Krankenhauses auf den Raum zuschritt, über dessen Tür das Wort »Aufnahme« stand.

»Nehmen Sie Platz«, wurde ihr bedeutet. »Wie ist Ihr Name?«

Die junge Frau setzte sich unbeholfen und krallte die Hand wie in einem ziehenden Schmerz um die Lehne. Auf ihrer Stirn stand Schweiß.

»Erika Westhoff«, stieß sie mühsam hervor.

»Name des Mannes?«, fragte der Verwalter Höcherl.

»Eugen Westhoff.«

»Beruf?«

Die Frau stockte einen Augenblick, bevor sie sagte:

»Handelsvertreter.«

»Und wer hat Sie eingewiesen?«

»Mein Hausarzt, Dr. Schweiger.«

»Haben Sie die Papiere dabei?«

Die Frau öffnete ihr Handtäschchen und legte die Papiere hin.

»In Ordnung. Abteilung drei.«

Die Frau griff nach ihrem kleinen Koffer und wankte zur Tür. Eine Schwester sprang herbei um sie zu stützen und geleitete sie über die Stiege hinauf zur Abteilung drei.

»Westhoff, Westhoff?«, murmelte der Verwalter Höcherl vor sich hin und las immer wieder den ausgefüllten Aufnahmeschein. »Wo hab ich bloß den Namen vor kurzer Zeit gehört?«

Er schreib weiter und legte nach zwei Stunden den Federhalter weg.

»Jetzt hab ich es. Eugen Westhoff, Handelsvertreter. Das ist doch der, der einen Prokuristen namens Tiefentaler erschossen hat. Ja natürlich, ich hab damals den Fall genau verfolgt. Darum hat die Frau vorhin gestockt, als ich nach dem Beruf des Mannes fragte.«

In diesem Augenblick begrüßte oben im Kreißsaal ein piepsendes Stimmchen die Welt.

In sonderbar müder Erlöstheit schaute Erika Westhoff zu, wie das Kind, ein Mädchen, gewogen, gebadet und gewickelt wurde. Dann banden sie dem Kind ein dunkelblaues Bändchen um das Handgelenk und trugen es hinaus.

Erika Westhoff dachte an die Geburt ihres ersten Kindes. Das war ein Bub gewesen, der jetzt dreijährige Manfred, den sie inzwischen in Pflege gegeben hatte. Damals war alles noch ganz anders. Draußen vor der Tür war der Mann aufgeregt auf und ab gegangen. Und dann war er zu ihr ans Bett gekommen, hatte sich über sie gebeugt und in seiner Freude die unsinnigsten Worte gestammelt. Jetzt war der Vater ihres Kindes kein Handelsvertreter mehr, sondern ein Häftling.

Aufschluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht und hörte kaum die tröstende Stimme der Schwester, die sich über sie beugte.

»Sie müssen doch nicht weinen, liebe Frau. Es ist ein so gesundes und hübsches Mädchen.«

»Ja, ich bin undankbar«, schluchzte Erika Westhoff und ließ es dann teilnahmslos geschehen, dass man sie wieder in ihr Zimmer zurückbrachte.

Am vierten Tag wurde das Mädchen in der Kapelle des Krankenhauses auf den Namen Lena getauft. Am neunten Tag verließ Erika Westhoff mit einem Bündel im Arm und einem Koffer in der Hand das Krankenhaus.

Es regnete ein wenig und sie zog das Wolltuch über die Stirn des Kindes. Sie ging langsam dahin. Der Regen fiel auf ihren gesenkten Nacken. Einmal blickte sie flüchtig auf. Der Himmel hing grau und schwer über der Stadt. So grau wie die Zukunft, von der Erika Westhoff nicht wusste, wie sie sein würde.

Der Frühling hatte alles Blühen schon verschenkt und ging in den Sommer über. Die Bauern arbeiteten auf den Feldern. Die ersten Sommerfrischler kamen nach Steinkirchen und bei günstigem Wind hörte man von den Almen herunter die Herdenglocken bimmeln.

Mella Murr blühte mit diesem jungen Sommer auf. Auf ihrem Gesicht lag Sonnenbräune. Sie war immerzu im Freien beschäftigt, arbeitete im Garten, ging an den Kupferbach fischen oder auch in den Wald, um Kleinholz zu sammeln.

»Pass auf«, mahnte Andreas scherzhaft. »Eines Tages wird man dich wegen Schwarzfischens anzeigen!«

»Nein, Andi. Niemand wird das tun. Du ahnst nicht, wie sehr sich die Stimmung im Dorf schon zu unseren Gunsten gewendet hat.«

»Da brauch ich mich nur an die Wegsperre da unten zu erinnern!«

»Vielleicht gerade deswegen, Andi. Kein vernünftiger Mensch kann diese Bosheit begreifen.«

»Mag sein, aber glaube mir: Wenn ich nicht für dich auch eine Fischkarte besorgt hätte, dieser Distoller hätte dich längst schon angezeigt.«

Mella hatte ihm verschwiegen, dass sie mit Sägewerksbesitzer bereits hart aneinander geraten war. Sie wollte ihren Mann mit diesen Dingen nicht belästigen, seit er wieder arbeitete.

Bei dem Wettbewerb einer rheinischen Stadt für eine überlebensgroße Brunnenfigur hatte Andreas Murr den ersten Preis erhalten. Nun hatte ihn der Rausch des Schaffens wieder befallen. Die Figur wuchs zuerst in Ton unter seinen Händen, eine Frauengestalt von edlem Wuchs, das Antlitz niedergebeugt auf das Kind in ihrem Arm.

Manchmal saß Mella eine ganze Weile ganz still in einem Winkel der Werkstatt und sah mit Erschütterung zu, wie er plötzlich ganze Fetzen aus dem Ton wieder herausriss und neu einsetzte. So sehr sie sich ihm sonst nah fühlte, hier konnte sie ihm nicht folgen. Sie dachte in erster Linie an die finanzielle Seite der Sache und ihre Gedanken kannten nur den Kehrreim: Das bringt was ein. Vielleicht springt dann endlich ein neues Wohnzimmer heraus!

Andreas bemerkte es nur selten, wenn sie da hinten saß, die Hände im Schoß verkrampft, mit weiten, staunenden Augen. Er war ganz vertieft in sein Werk. Er lebte bereits mit seiner Figur. Nachts träumte er von ihr.

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