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Kann Deutschland Heimat werden für eine nach dem Krieg geborene Jüdin? Barbara Honigmann ist 1984 von Ost-Berlin nach Straßburg gezogen. Von dort, von ihrer neuen fremden Heimat aus, erkundet sie die zwei Seiten ihres Lebens: Das »Damals«, die vergangenen Spuren ihrer Familiengeschichte, und das »Danach«, ihre Gegenwart, die von der Vergangenheit geprägt bleibt. Ein überaus persönliches Buch, das davon erzählt, wie eng Gestern und Heute verknüpft sind.
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Seitenzahl: 136
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kann Deutschland Heimat werden für eine nach dem Krieg geborene Jüdin? Barbara Honigmann ist 1984 von Ost-Berlin nach Straßburg gezogen. Von dort, von ihrer neuen fremden Heimat aus, erkundet sie die zwei Seiten ihres Lebens: Das »Damals«, die vergangenen Spuren ihrer Familiengeschichte, und das »Danach«, ihre Gegenwart, die von der Vergangenheit geprägt bleibt. Ein überaus persönliches Buch, das davon erzählt, wie eng Gestern und Heute verknüpft sind.
Barbara Honigmann
Damals, dann und danach
Frau Schulze wohnte im ersten Stock, und ich wohnte unter dem Dach. Ich war Studentin, und was Frau Schulze für einen Beruf hatte, weiß ich heute noch nicht. Wenn ich an ihrer Tür vorbeilief, hörte ich oft ein merkwürdiges Lärmen dahinter und manchmal eine merkwürdige Stille, und beides kam mir unheimlich vor, und manchmal hatte ich sogar das Gefühl, daß sie hinter der Tür stand und mir auflauerte. Abends und lange bis in die Nacht hörte man sie mit ihrer lauten Stimme durch das ganze Haus schreien und lallen. Ich hatte bald begriffen, daß sie eine Trinkerin war.
Deshalb schlich ich so leise, wie es mir nur irgend möglich war, an ihrer Tür vorbei, mehrmals jeden Tag.
An einem Abend aber riß sie tatsächlich, wie ich es schon immer befürchtet hatte, als ich vorbeischlich, die Tür auf, zerrte mich in ihre Wohnung hinein, mit Gewalt zog sie an mir und schubste und stieß mich, daß ich mich nicht wehren konnte, und brüllte auf mich ein, komm, Anne, komm rein, jetzt kommst du endlich rein, Anne, und dann drückte sie mich auf einen Stuhl in ihrer Küche, und da sah ich und roch den Alkohol, weil Frau Schulze mich gar nicht mehr losließ und heulte und grölte, bis ich endlich sagte: »Was haben Sie denn, was ist denn los?«
Sie schrie immer mehr, warum ich nie gekommen sei, früher, was ich mir denn erlauben würde. »Warum bist du nie wieder zu mir gekommen, Anne?«
Ich sagte, daß ich nicht Anne heiße und nicht Anne sei und daß sie mich wohl mit jemandem verwechseln müsse.
»Aber du bist eine Jüdin, ich habe dich sofort erkannt!«
Ich habe »Ja« gesagt, »ich bin eine Jüdin«, sollte ich etwa nein sagen? Deswegen war ich noch lange nicht Anne! Doch nun ahnte ich es schon, woran es lag, daß sie so auf mich einschrie und mich nicht losließ. »Halt die Schnauze, Anne! Halt bloß die Schnauze, wag es nicht, mir zu widersprechen, du bist das undankbarste Geschöpf auf der Erde, und ich hab es immer gewußt.« Jetzt fing auch ich an zu schreien, sie sei ja verrückt und besoffen, und ich sei nicht Anne, sie solle das endlich begreifen, »ich bin es nicht, nein und nochmals nein« und jetzt wolle ich hier weg und hoch in meine Wohnung, und wenn sie mich nicht in Ruhe lasse, würde ich bei nächster Gelegenheit die Polizei holen. Sie hat mich losgelassen, hat weitergeheult, weitergebrüllt, alles mögliche vom Tisch geworfen, so daß ich in Deckung ging, und dann lief ich schnell zur Tür, aber sie holte mich schon ein und wimmerte bloß noch: »Warum hast du dich bloß nie wieder bei mir gemeldet, Anne?« Ich sagte wieder: »Bitte Frau Schulze, seien Sie doch vernünftig, ich bin nicht Anne, und ich weiß auch nicht, wer Anne überhaupt sein soll.« Dann hat sie mich wieder zurück ins Zimmer geschubst, hat Fotoalben, die da schon griffbereit lagen, herausgezerrt, und ich habe lauter Fotos von Frau Schulze und einem kleinen Mädchen gesehen, das tatsächlich ein bißchen so aussah, wie ich als kleines Mädchen auch ausgesehen habe, schwarze Haare, dunkle Augen, dicke Augenbrauen, und Frau Schulze sagte, daß Anne schließlich bei ihr gelebt und gewohnt hat, und daß sie sich um sie gekümmert habe, in der schlimmen Zeit. Aber dann sei ihre Mutter zurückgekommen, und Anne ist wieder mit ihrer Mutter mitgegangen, die Mutter hat sie abgeholt, hat gesagt, bloß schnell weg von hier, und sonst kein Wort, und die beiden haben nie wieder etwas von sich hören lassen. Ausgeflogen! Weggeflogen! Undankbar! Unverschämt! Nun ahnte ich ungefähr, was das für eine Geschichte gewesen sein mußte, und habe Frau Schulze versucht zu erklären, daß Anne ja um einiges älter sein müßte als ich, daß ich erst nach der »schlimmen Zeit« geboren worden bin, und daß sie auch meine Mutter hier im Hause schon manchmal gesehen hatte. Aber nachdem ich mich jetzt auf das Thema Anne überhaupt einließ, hörte sie erst recht nicht mehr auf, sie fing sogar erst richtig an und meinte, daß ich doch wenigstens wissen müsse, wo Anne jetzt sei, daß ich sie suchen und finden müsse, ja das müsse ich, und sie zu ihr zurückbringen, da ich auch eine Jüdin sei, wie sie ja sofort bemerkt habe, oder etwa nicht? Und wieder sagte ich: »Ja, natürlich, aber Frau Schulze, bitte verstehen Sie doch!«
Diese Szene hat sich im Laufe der Jahre viele Male wiederholt, obwohl ich jeden Tag versucht habe, lautlos, oder im Gegenteil in deutlicher Begleitung, an ihrer Tür vorbeizugehen. Immer wieder hat sie mich erwischt, hineingezerrt, ihr Drama von Anne vorgespielt und vorgejammert, inzwischen kannte ich auch schon die Höhe- und Wendepunkte der Vorstellung und auch den Moment, an dem sich ihre Gefühle erschöpfen würden und ich entfliehen konnte. Bald spielten wir unsere Rollen wie alte Komödianten, routiniert, ohne uns allzusehr zu verausgaben, und, schon an der Tür, kurz vor dem Abgang bevor ich die Tür zuknallte, war meine Schlußreplik immer dieselbe: »Sie sind verrückt und besoffen, ich habe mit Ihrer Geschichte nichts zu tun, ich kann Ihnen auch nicht helfen, ich bin es nicht, ich bin es nicht, Frau Schulze, ich bin nicht Anne!«
Mit den anderen Leuten im Haus hatte ich auch nicht gerade ein freundliches Verhältnis. Weil ich einen von dem ihren sehr verschiedenen Tagesrhythmus und immer viel Besuch hatte, nannten sie mich Schlampe und Hure und klopften an die Wände und holten auch manchmal die Polizei, die wir dann hereinbaten und aufforderten, sich doch mit in unsere Runde zu setzen, was sie natürlich nicht tat, aber etwas richtig Abscheuliches oder Kriminelles konnte sie bei uns auch nicht finden.
Mit Frau Schulze hatten die Hausbewohner allerdings auch immer Ärger, weil sie brüllte, tobte, offensichtlich verrückt war und alle beleidigte. Deshalb wurde sie eines Tages zur Schiedskommission beordert, wegen Beleidigung. Und weil sie ihr wirklich eins auswischen wollten, brachten sie als Hauptanklage vor, daß Frau Schulze von mir immer nur als »die Dreckjüdin« gesprochen habe, und das sei ja schließlich heute verboten. Die Ankläger waren vorher noch zu mir gekommen und hatten mich gefragt, ob das wahr sei, und ich sagte, daß sie mir das nie ins Gesicht gesagt habe, und was sie hinter meinem Rücken sage, wisse ich ja nicht. Nein, ob es wahr sei, daß ich Jüdin bin, und wieder sagte ich, natürlich, das sei wahr. Schließlich wollte ich ja eine stolze Jüdin sein.
Von diesem Tage an sagte niemand mehr im Haus Schlampe oder Hure zu mir, sie sprachen nämlich überhaupt nicht mehr mit mir, höchstens »guten Tag«, verhältnismäßig höflich. Frau Schulze wurde zu irgend etwas verurteilt, und wir waren nun beinahe Komplizen geworden. Jedenfalls wurde ich die Rolle, die sie mir in ihrem Drama zugewiesen hatte, nicht mehr los, bis zu dem Tag, an dem ich endlich aus dem Haus auszog und ihr ein letztes Mal versicherte: »Nein, Frau Schulze, ich bin es nicht. Ich bin nicht Anne!«
Mein Vater und meine Mutter sind tot. Die Rolle »Kind meiner Eltern« ist ausgespielt, ich muß selber in die vordere Reihe in der Kette der Generationen treten, wo zwischen dem Tod und mir niemand mehr steht. Aber nicht nur das ist es, was weh tut.
Ich glaube, wir Kinder von Juden aus der Generation meiner Eltern sind, vielleicht überall, aber in Deutschland besonders lange, Kinder unserer Eltern geblieben, länger jedenfalls als andere. Denn es war schwer, der Geschichte und den Geschichten unserer Eltern zu entrinnen. Andere haben solche Geschichten gehört: von der Front, von Stalingrad, von der Flucht aus Ostpreußen und Schlesien, von der Kriegsgefangenschaft, und von den Bomben auf die deutschen Städte. Die Legenden meiner Kindheit aber waren andere, und ich bin sehr lange in ihrem Bann geblieben. Im Bann der Gesänge von den mythischen Orten und Begebenheiten, tausendmal genannt und zugleich von viel Schweigen umgeben:
Die Routen des Exils
Überfahrten bei stürmischer See
Versunkene Städte
Die Treue der Gefährten
Die Untreue der Gefährten
Das rettende Land
Die Insel des Überlebens
Eine fremde Sprache
Wien vor dem Krieg
Berlin vor dem Krieg
Paris bis zur Okkupation
London
Bomben auf London
der Blitz.
Mein Vater wurde auf einer kleinen Schaluppe nach Kanada hinübergebracht und interniert. Meine Mutter war gerade beim Friseur, sie konnten sich nicht einmal mehr verabschieden. Im Lager mußte er Bäume fällen und hatte keine Ahnung, wo er da war, in Kanada. Ein Wunder, daß er heil zurückgekommen ist, links und rechts wurden die Schiffe versenkt mitten im U-Boot-Krieg. Ein paar versprengte deutsche Juden in einer Nußschale auf dem Ozean, zwischen Kanada und England, hingen über Bord und kotzten.
Später wurde mein Vater bei Reuters Chef vom European Service und meine Mutter Werkzeugmeisterin in einem Rüstungsbetrieb. So kämpften sie gegen die Deutschen, und dann kehrten sie nach Deutschland zurück.
Sie hatten sich für die russische Zone entschieden. Eine Art Überlaufen war das, von den Engländern zu den Russen. Sie lebten weiterhin nur unter Emigranten. Die Emigranten, das war der Adel, und der Adel verkehrte nur unter Seinesgleichen. Nicht-Emigranten waren nicht standesgemäß. Die Freunde und Freundinnen meiner Kindheit waren Kinder von Emigranten, so wie ich.
Jetzt, da meine Eltern tot sind, gebe ich leicht der Versuchung nach, wieder in den Bannkreis dieser Mythen zu treten. Aber ich höre nun auch die Dinge, die damals wahrscheinlich nicht gesagt worden sind, und sehe, oder glaube zu sehen, was versteckt wurde.
»Was ist eigentlich aus den anderen geworden, aus euren Familien in Ungarn, Österreich und Deutschland? Sind sie tot, leben sie noch, was für ein Leben, wo?
Warum sprecht ihr nicht von den Gräbern eurer Eltern, warum sprecht ihr überhaupt so wenig von euren Eltern? Was wolltet ihr um Himmels willen in der DDR? War es mehr als der Parteiauftrag? War es nur der Parteiauftrag? Warum habt ihr euch unterworfen?«
Diese Fragen waren schmerzlich und wurden es mit den Jahren immer mehr. Später habe ich sie, um meine Eltern zu schonen, nicht mehr gestellt. Meine Mutter hat nur mit den Schultern gezuckt. Mein Vater war etwas offener, und dies war sein Credo: »Ich bin ein Urenkel der Aufklärung, und ich habe an Vernunft und an die Idee der Gleichheit und Brüderlichkeit geglaubt. Nicht die Juden von Schtetl waren »unsere Leut«, sondern die Männer der kommunistischen Idee waren es. Außerdem bin ich ein deutscher Jude, ein jüdischer Deutscher, die wollten mich aus Deutschland weg haben, aber ich bin wiedergekommen, das gibt mir Genugtuung. Ich gehöre hierher, auch wenn es mir hier kühl und leer ums Herz ist.«
Vielleicht kam diese Kühle und Leere nicht nur davon, daß aus dem Sozialismus, den meine Eltern aufbauen wollten, nichts wurde, sondern auch davon, daß sie vollkommen zwischen den Stühlen saßen, nicht mehr zu den Juden gehörten und keine Deutschen geworden waren.
Viel später habe ich für mein Leben entschieden, daß auch das Jüdische darin Platz haben sollte. In den siebziger Jahren schrieb ich mich wieder in die Jüdische Gemeinde ein, aus der meine Eltern in den fünfziger Jahren ausgetreten waren. Es gab dort schon eine kleine Gruppe von mehr oder weniger jungen Leuten, aus ähnlichen Elternhäusern kommend, die »zurückkehren« wollten, und erst viel später erfuhren wir, daß wir Teil einer weltweiten Rückkehrbewegung zum Judentum waren. Wir fingen an, Hebräisch zu lernen und uns dafür zu interessieren, was in der hebräischen Bibel und in dem sagenumwobenen Talmud steht, denn wir hatten immerhin schon gehört, daß es mit der jüdischen Bibel auf dem Wege bis zur Lutherbibel etwa so wie bei dem Spiel ›Stille Post‹ zugegangen war. Jüdisches Wissen hatten mir meine Eltern verschwiegen oder hatten es selbst nicht gehabt.
Als mein erster Sohn geboren wurde, wollte ich, daß er nicht nur »jüdischer Herkunft« sei, sondern mit mir zusammen auch ein jüdisches Leben führen könne. Diese Entscheidung ist mir oft als Flucht in die Orthodoxie ausgelegt worden. In Wirklichkeit war ich auf der Suche nach einem Minimum jüdischer Identität in meinem Leben, nach einem selbstverständlichen Ablauf des Jahres nicht nach dem christlichen, sondern nach dem jüdischen Kalender und einem Gespräch über Judentum jenseits eines immerwährenden Antisemitismus-Diskurses. Ein Minimum, würde ich auch heute noch sagen, etwas, das mir gerade gut paßt für ein Leben zwischen den Welten, aber für deutsche Verhältnisse ist es eben schon zuviel.
Deshalb mußten wir weg. Die jüdischen Gemeinden sind zu klein und lassen zu wenig Spielraum für ein jüdisches Leben, und außerdem habe ich den Konflikt zwischen den Deutschen und den Juden immer als zu stark und eigentlich als unerträglich empfunden. Die Deutschen wissen gar nicht mehr, was Juden sind, wissen nur, daß da eine schreckliche Geschichte zwischen ihnen liegt, und jeder Jude, der auftauchte, erinnerte sie an diese Geschichte, die immer noch weh tut und auf die Nerven geht. Es ist diese Überempfindlichkeit, die mir unerträglich schien, denn beide, die Juden und die Deutschen, fühlen sich in dieser Begegnung ziemlich schlecht, sie stellen unmögliche Forderungen an den anderen, können sich aber auch gegenseitig nicht in Ruhe lassen.
Obwohl ich selbst das Jüdische thematisiere und auf meinem jüdischen Leben insistiere, bin ich schockiert, wenn man mich darauf anspricht, empfinde es als Indiskretion, Aggression, spüre die Unmöglichkeit, in Deutschland über die »jüdischen Dinge« unbelastet, unverkrampft zu sprechen. Ich reagiere gereizt, die Reaktionen auf beiden Seiten scheinen mir überstark und jedes Wort, jede Geste falsch.
Manchmal, eher selten, haben mir auch Deutsche gesagt, daß sie ein Gespräch über Judentum als ebenso quälend und eingeschränkt empfinden. Die gespielte Leichtigkeit derer, die ein bewußtes Judentum nur als einen Tick auffassen, ist allerdings noch schwerer zu ertragen, weil sie mir meine Identität gänzlich abzusprechen scheinen und ihre Unfähigkeit zeigen, ein anderes Leben als das ihre zu ertragen.
Es kommt mir manchmal vor, als wäre erst das jetzt die so oft beschworene deutsch-jüdische Symbiose, dieses Nicht-voneinander-loskommen-Können, weil die Deutschen und die Juden in Auschwitz ein Paar geworden sind, das auch der Tod nicht mehr trennt.
Es ist dieser Konflikt, diese Übergespanntheit, wovor ich weggelaufen bin. Hier, in Frankreich, geht mich alles viel weniger an, ich bin nur ein Zuschauer, ein Gast, eine Fremde. Das hat mich von der unerträglichen Nähe zu Deutschland befreit.
Fragte man mich, ob ich deutsch oder jüdisch sei, würde ich schon deshalb jüdisch sagen, um mich von den Deutschen abzugrenzen. Das deutsche Volk steht ja nicht in Frage, der Begriff vom jüdischen Volk aber bleibt doch immer im Vagen und Ungewissen. In guten alten DDR-Tagen durfte sogar offiziellerweise gesagt werden: »Wir kennen kein jüdisches Volk.« Schon deshalb mußte ich meine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk herausstellen. Mein Judentum ist eine wichtige Dimension meines Lebens, jedenfalls etwas, aus dem ich nicht heraus kann, selbst wenn ich es wollte; etwas, das mehr wie Liebe ist, die einen reich macht und trotzdem weh tut und außerdem das Denken darauf verengt, die Welt immer nur unter einem Aspekt zu betrachten, in diesem Falle ob sie nun gut für die Juden ist oder schlecht.
Ich bin auch eine Schriftstellerin, und es wird leicht gesagt, eine jüdische. Aber dessen bin ich mir nicht so sicher, denn all das, was ich da gesagt habe, macht mich ja noch nicht zu einer jüdischen Schriftstellerin. Es macht, daß ich mich existentiell mehr zum Judentum als zum Deutschtum gehörig fühle, aber kulturell gehöre ich wohl doch zu Deutschland und zu sonst gar nichts. Es klingt paradox, aber ich bin eine deutsche Schriftstellerin, obwohl ich mich nicht als Deutsche fühle und nun auch schon seit Jahren nicht mehr in Deutschland lebe. Ich denke aber, der Schriftsteller ist das, was er schreibt, und er ist vor allem die Sprache, in der er schreibt. Ich schreibe nicht nur auf deutsch, sondern die Literatur, die mich geformt und gebildet hat, ist die deutsche Literatur, und ich beziehe mich auf sie, in allem was ich schreibe, auf Goethe, auf Kleist, auf Grimms Märchen und auf die deutsche Romantik, und ich weiß sehr wohl, daß die Herren Verfasser wohl alle mehr oder weniger Antisemiten waren, aber das macht nichts.