Dancing with Raven. Unser wildes Herz - Jana Hoch - E-Book

Dancing with Raven. Unser wildes Herz E-Book

Jana Hoch

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Beschreibung

Sie hatte sich geschworen, nie wieder zu reiten. Bis Raven kam. Auf dem neuen Internat soll Katrina zwei Dinge tun: Freunde finden und reiten. Doch genau das kommt nicht infrage. Denn sie hat sich geschworen, nie wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen - und für neue Freunde ist sie nicht bereit. Nicht nach allem, was passiert ist. Selbst als sie Raven trifft, den ungestümen Palomino, der sich von niemandem etwas sagen lässt, hält Katrina an ihrem Vorsatz fest. Trotzdem will sie bei ihm sein, denn Raven gibt ihr etwas zurück, das Katrina glaubte verloren zu haben: das Gefühl von Freiheit, das Gefühl von Leben. Doch nicht nur Raven zieht Katrina Schritt für Schritt aus ihrer Trauer. Da ist auch Henry. Der Junge, der Katrina mehr herausfordert als jeder andere … und der hartnäckig versucht, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Diese Geschichte sorgt für Herzklopfen! Mit ihrem Liebesroman "Dancing with Raven" entführt Jana Hoch Leser*innen und Pferdefans ab 12 an ein abgeschiedenes Internat und sorgt dort für ganz große Gefühle und jede Menge Pferdemagie. Weitere Bücher von Jana Hoch im Arena Verlag: Royal Horses (1). Kronenherz Royal Horses (2). Kronentraum Royal Horses (3). Kronennacht Weitere Infos zur Autorin unter www.jana-hoch.de oder auf Instagram unter @janahoch.autorin.

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Seitenzahl: 478

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Weitere Bücher von Jana Hoch im Arena VerlagRoyal Horses. KronenherzRoyal Horses. KronentraumRoyal Horses. KronennachtPony Jamie – einfach heldenhaft! Tagebuchvon der Pferdekoppel (Band 1)

© Tanja Saturno

Jana Hoch wurde 1992 in Hannover geboren und lebt heute immer noch in der Nähe der Stadt. Seit frühester Kindheit hat es sie begeistert, eigene Welten und Charaktere zu entwickeln und diese auf Papier festzuhalten. Die Pferdetrainerin nutzt jede freie Minute zum Schreiben – der perfekte Tag beginnt für sie bei Sonnenaufgang, mit dem Laptop auf dem Schoß und einer Tasse Kakao, und endet auf dem Rücken ihres Pferdes Jamie.

Mehr Infos unter www.jana-hoch.deund auf Instagram unter @janahoch.autorin

HINWEIS

Dieses Buch kann sensible Themen enthalten. Weitere Informationen dazu am Ende des Buches. (Achtung: Diese Hinweise enthalten Spoiler!)

1. Auflage 2021

© 2021 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Text: Jana Hoch

Cover- und Innenillustrationen: Clara Vath, unter Verwendungvon Motiven von Shutterstock.com: © KieferPix, © KieferPix,© abrakadabra, © Mari Dein, © Caracolla, © coldsun777Lektorat: Anna WörnerUmschlaggestaltung: Juliane Lindemann

ISBN 978-3-401-60519-7

E-Book ISBN 978-3-401-80971-7

Besuche den Arena Verlag im Netz:www.arena-verlag.de

Jeder Traum beginnt mit dem ersten Schritt. Diese Geschichte ist meiner.

Danke, Tanja, dass du von Anfang an mich geglaubt und mich ermutigt hast, und danke, Christiane, dass du so etwas wie meine gute Fee bist und mit mir zusammen aus einem Kürbis eine Märchenkutsche mit weißen Pferden … und einem Palomino gezaubert hast.

Dieses Buch ist für euch!

Prolog

Dunkelheit. Nichts um mich herum als Dunkelheit und das laute Geschrei des Unwetters, das gegen die Scheiben peitscht, als wolle es sie einschlagen. Grelle Blitze zucken über das Firmament und lassen es für den Bruchteil einer Sekunde wie ein bizarres Kunstwerk strahlen. Die Bäume am Straßenrand winden sich wie Ertrinkende, während sie verzweifelt versuchen, dem Sturm standzuhalten. Ich wage kaum zu atmen, aus Angst, das Gewitter könne seine dürren Finger nach mir ausstrecken, um mich für immer fortzureißen.

Das ist alles, woran ich mich erinnere, bevor sie starb.

Kapitel 1

»Keine nächtlichen Partys, keine Zigaretten und pass bloß auf mit den Jungs! Natürlich kann ich dir den Umgang nicht verbieten, das ist mir klar. Ich will ja bloß, dass du vorsichtig bist und …«

Bla, bla, bla. Ich starrte aus dem Fenster von Peters Geländewagen und ließ seine Worte einfach durch mich hindurchfließen. Nicht mehr lange und ich würde ihn los sein. Und dann trennten uns 585 Kilometer. In Gedanken wiederholte ich die Zahl wie ein Mantra. 585 Kilometer, 585 Kilometer …

»Versteh das nicht falsch, ich hätte auch nichts dagegen, wenn du einen Freund hättest. Aber eben keinen, der …«, Peter suchte nach den richtigen Worten, »… sich nur für Onlinegaming und Fitnessstudios interessiert. Ach, du weißt schon, was ich meine.« Er räusperte sich, als wäre ihm gerade selbst aufgefallen, wie überzogen und bescheuert das klang. »Was ist eigentlich mit Patrice Moreau? Der war doch sehr anständig und ich glaube, er fand dich gut.«

Patrice? Beinahe hätte ich gelacht. Ich hatte den blöden Typen letzte Woche bei einer Operngala kennengelernt. Nach außen hin hatte er zwar den perfekten Bankierssohn gemimt, aber in der Pause hatte ich ihn dabei ertappt, wie er in einer der Logen Pillen vertickte. Sehr anständig!

Peter wusste davon allerdings nichts. Ich hatte es für mich behalten, der Kerl war mir egal.

»Ich könnte Frédéric Moreau einmal anrufen und den Kontakt herstellen, wenn du möchtest.«

»Nein, danke, Pete. Aktuell will ich mich ausschließlich auf die Schule konzentrieren. Patrice würde mich da nur ablenken.«

Ein kurzer Seitenblick verriet mir, dass dies die One-Million-Dollar-Antwort gewesen war. Peters Gesicht hellte sich auf und er lächelte mir zu. Und das, obwohl ich ihn Pete genannt hatte. Dafür bekam ich für gewöhnlich einen vielsagenden Seitenblick zugeworfen.

»Ich bin sicher, dass es dir auf der neuen Schule richtig gut gefallen wird.«

Das würde es ganz sicher. Allein die Tatsache, dass der Umzug in ein Internat fast sechs Stunden Autofahrt zwischen Peter und mich brachte, war die Sache wert. In Berlin hatte ich mich nie wohlgefühlt und bei Peter schon gar nicht. Achtzehn Monate hatte ich nun bei ihm gelebt, aber manchmal kam es mir so vor, als wäre ich erst vor wenigen Wochen von Amerika nach Deutschland gekommen. Ich hatte versucht, hier klarzukommen. Wirklich. Aber ich vermisste mein Zuhause noch genauso wie am ersten Tag. Mein richtiges Zuhause, in Florida.

»Und warte erst einmal ab, bis du die Überraschung bekommst, die ich mir für dich überlegt habe.«

Ich schaute zu Peter. »Kann’s kaum erwarten«, murmelte ich und hoffte, dass es wenigstens ein bisschen neugierig klang. Innerlich fragte ich mich allerdings, wie lange es wohl noch dauerte, bis wir ankamen und ich endlich aussteigen konnte. Weit konnte es nicht mehr sein, wir waren vor wenigen Minuten von der Autobahn auf eine wenig befahrene Landstraße gewechselt.

»Willst du gar nicht wissen, was es ist?«, fragte Peter.

Ich seufzte. Die ominöse Überraschung erwähnte er jetzt schon das vierte Mal, seit wir losgefahren waren. Von all den Malen davor ganz zu schweigen.

»Du wirst es mir sowieso nicht verraten.«

»Genau, Pumpkin. Sonst wäre es keine Überraschung mehr.«

Pumpkin. Bei diesen Worten musste ich sofort das Fenster herunterlassen, damit mir der kühle Fahrtwind ins Gesicht wehte. So hatte mich meine Mom genannt, als ich noch klein gewesen war, und Peter hatte kein Recht, diesen Namen zu benutzen. Immerhin hatte er uns verlassen, bevor ich richtig laufen gelernt hatte. Er hatte den Großteil meiner Kindheit verpasst. Und die Tatsache, dass wir nun schon eineinhalb Jahre koexistierten, bedeutete rein gar nichts. Spitznamen hätte er mir vor zehn Jahren geben können. Jetzt war es zu spät. Vor zwei Monaten war ich sechzehn geworden, auch wenn er das nicht wahrhaben wollte. Sechzehn. Bei dem Gedanken daran musste ich unweigerlich schlucken. Es war bereits der zweite Geburtstag ohne Mom gewesen. Ohne meine Freunde, ohne Tante Helen und unsere Pferde.

»Es ist jedenfalls schön, dass du dich für dieses Internat entschieden hast«, riss Peter mich aus meinen Gedanken. Er trommelte mit den Fingern auf dem superteuren Lederlenkrad, passend zu dem Lied, das gerade im Radio lief. »Es wird dir guttun, wieder Pferde um dich zu haben.«

»Ich habe mir die Schule ausgesucht, weil die meisten Fächer auf Englisch unterrichtet werden«, erinnerte ich ihn, wie schon Hunderte Male zuvor. Zwar konnte ich durch meinen jahrelangen Fremdsprachenunterricht und die Zeit in Berlin einigermaßen gut Deutsch, aber nicht, wenn es um Mathe oder gar Chemie ging. »Und ich werde nicht mehr reiten«, schob ich hinterher. Nicht, solange Daisy nicht zurück ist. »Du weißt genau, warum.«

Von einem Moment auf den nächsten versteinerte sich Peters Miene. »Ich glaube, dazu habe ich alles gesagt, Katrina.«

Sein Tonfall klang plötzlich ganz ruhig, beinahe geschäftsmäßig, und duldete keinen weiteren Kommentar. Typisch! Sobald ich ihn an Daisy erinnerte, packte er den Anwalt aus. Widerspruch zwecklos!

Mit einem tiefen Seufzen ließ ich den Kopf gegen die Scheibe sinken. Ich kannte Peter gut genug, um zu wissen, dass eine Diskussion nichts bringen würde. Wenn ich Daisy wirklich zurückholen wollte, musste ich mich zusammenreißen und nach seinen Spielregeln spielen.

»Ach ja«, sagte Peter da. »Nenn mich bitte Dad, wenn wir bei der Schulleitung sind.«

Gut, vielleicht nicht nach allen Spielregeln. Denn Dad würde ich ihn ganz bestimmt nicht nennen, das konnte er vergessen. Vielleicht würde ich es mir sparen, ihn vor der Direktorin mit Pete anzusprechen. Aber Dad? Niemals. Und mal ehrlich, glaubte er wirklich, das würde uns familiärer wirken lassen?

Ich antwortete nicht und schloss die Augen. Wir schwiegen einige Minuten, bis Peter mich mit der Hand anstieß.

»Sieh mal, da steht’s schon.« Er deutete auf ein Schild mit der großen roten Aufschrift: Silver Willow International School.

Ich hob den Kopf. Tatsächlich!

Wir bogen auf eine lange Einfahrt ab. Auf beiden Seiten des Weges reihten sich Bäume, dahinter entdeckte ich strahlend weiße Zäune. Eine Gruppe zierlicher bunter Ponys graste am Rand und ein Schecke mit zweifarbiger Mähne hob den Kopf und begleitete unser Auto eine ganze Weile, bis der Zaun es nicht mehr zuließ.

»Das Pferd freut sich schon auf dich«, stellte Peter fest und lachte.

Na klar. Ich presste die Lippen zusammen, damit mir kein blöder Kommentar herausrutschte. Das hier war immerhin meine Chance auf einen Neuanfang. Und wenn alles gut lief, würde ich auch Daisy wiedersehen. Das hatte Peter zumindest vor ein paar Monaten gesagt, als ich ihn gefragt hatte, was ich tun musste, damit er mir meine Stute zurückkaufte. Seine Antwort hatte ich mir ganz genau gemerkt: Er hatte gewollt, dass ich eine Therapie machte und anschließend meinen Privatlehrer wieder gegen eine Schule tauschte, neue Freunde kennenlernte und gute Noten schrieb. Dass ich »endlich ankam«, hier in Deutschland. Er wollte ein ganz normales Leben für mich, ohne Panikanfälle, ohne Rückfälle.

Genau das hatte er gesagt.

Und ich nahm ihn beim Wort.

Allerdings musste es dafür hier auf Silver Willow möglichst glatt laufen. »Sehen wir es als Probezeit«, hatte Peter geschäftsmännisch gesagt, als ich ihm das Internat vorgeschlagen hatte. »Wir versuchen es und wenn du dich gut einlebst und dich die Situation nicht … nun ja … überfordert, dann sehen wir weiter. Und sollte es dir doch zu viel werden, dann hole ich dich ganz einfach zurück nach Berlin und wir versuchen es ein andermal.«

Ein andermal. Das würde bedeuten, dass ich Daisy so schnell nicht wiedersah. Und deshalb durfte ich diese »Probezeit« auf keinen Fall in den Sand setzen.

Peter steuerte den Wagen durch das Hoftor und stellte ihn auf einem der Besucherparkplätze ab. Kaum, dass er den Schlüssel abgezogen hatte, sprang ich heraus und sah mich um. Direkt vor mir lag das u-förmige Haupthaus des Internats. Das wusste ich, weil ich das rötlich schimmernde Steingebäude bereits im Internet gesehen hatte. Mit der efeubewachsenen Fassade und den kleinen Türmchen sah es aus wie ein Schloss. Im Innenhof entdeckte ich einen einzelnen Baum auf einer ordentlich gepflegten Rasenfläche. Vermutlich eine Silberweide. Zwar kannte ich mich mit Bäumen nicht gut aus, aber ich konnte mir denken, dass es sich bei diesem hier um den Namensgeber des Internats handelte. Zwei Mädchen, die im Schatten der Blätter saßen und ihre Bücher ausgebreitet hatten, blickten auf und begannen zu tuscheln. Sofort machte sich ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen breit und ich setzte meine Sonnenbrille auf.

Ruhig bleiben, Katrina, sagte ich mir. Das ist nur, weil du die Neue bist. Nichts weiter.

Vielleicht fanden sie auch nur Peter peinlich, der sein Aussehen in der Autoscheibe prüfte und zuerst seine Krawatte und anschließend seine Frisur richtete.

»Wollen wir?«, fragte er im Anschluss.

Ja. Ich nickte. Zumindest diesen einen Wunsch hatten wir gemeinsam.

Im Gegensatz zu der hochmodernen Website des Internats machte das Büro der Schulleitung eher einen klassischen Eindruck: schwerer Eichentisch, dunkle Regale, ein Haufen Bücher. Das Einzige, was ganz offensichtlich aus diesem Jahrhundert stammte, war der riesige Computerbildschirm.

»Herzlich willkommen«, begrüßte uns eine elegant gekleidete Frau mit kurzen rostroten Haaren. Sie trug einen grauen Blazer, glänzende Stiefel und einen feinen braunen Ledergürtel. Beim Anblick der goldenen Schnalle, die aussah wie ein Olivenkopfgebiss, fiel mir das Atmen schwerer. Genau so einen Gürtel hatte Mom oft getragen, wenn sie mich zu einer meiner Springprüfungen begleitet hatte. In meinem Hals begann es zu brennen.

Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich.

»Ich bin Ines Lorenzen, die Direktorin.« Die Frau lächelte warm. »Und du musst Katrina von Lindenberg sein.«

»Katrina Carter«, korrigierte ich ganz automatisch und schüttelte ihr die Hand.

Peter setzte sein professionelles Anwaltslächeln auf. »Carter war der Name ihrer Mutter. Linda Carter. Katrina heißt jedoch von Lindenberg. So wie ich.«

Das stimmte leider. Zum Zeitpunkt meiner Geburt hatten meine Eltern noch geplant zu heiraten. Deshalb hatte ich Peters Namen erhalten. Aber damit würde ich mich niemals identifizieren können. Ich war eine Carter und das würde auch für immer so bleiben.

Zum Glück verzichtete die Direktorin darauf, weiter nachzufragen. Stattdessen zwinkerte sie mir zu. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr rechter Arm von einer Schlinge getragen wurde, die sie unter ihrem Blazer versteckte.

»Ich habe mir das Schlüsselbein gebrochen«, erklärte sie, als sie meinen Blick bemerkte. »Reiten ist und bleibt der schönste Sport der Welt … aber auch ein gefährlicher.« Die Direktorin tippte sich gegen den Arm. »Das war allerdings mein Fehler, nicht der des Pferdes. Ich habe die Distanz zwischen zwei Hindernissen falsch eingeschätzt und dachte, das würde noch passen. Das war leichtsinnig von mir. Aber aus Fehlern lernt man ja bekanntlich.«

Neben mir versteifte sich Peter spürbar. Oh nein! Ich warf ihm über die Schulter einen scharfen Blick zu. Das Letzte, was ich jetzt hören wollte, war seine Meinung zum Thema leichtsinniges Verhalten in Verbindung mit Pferden. Ich hatte seinen Appell so häufig über mich ergehen lassen müssen, dass ich ihn auswendig kannte. Und obwohl er mich nur ansah, wusste ich, dass er sofort an meinen eigenen Unfall dachte. Die Worte standen ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben. Du hättest tot sein können, Katrina. Verstehst du das denn nicht?

Die Direktorin räusperte sich. »Wir freuen uns sehr, dass du dich für Silver Willow entschieden hast. Dies ist zwar eine internationale Schule, aber jemanden mit amerikanischen Wurzeln haben wir hier auch nicht so häufig. Du kommst aus Berlin, oder?«

»Nein, aus Ocala. Das liegt in Florida.«

Die Direktorin musterte mich aufmerksam. Peter wollte etwas einwenden, doch sie hob die Hand und sagte nur: »Dort muss es sehr schön sein.«

Oh ja, und wie. Ocala war die Heimat so vieler Spitzenpferde und Rennbahnlegenden. Mom und ich hatten auf einer Ranch gelebt, auf der sie als Trainerin gearbeitet hatte. Wir hatten unser eigenes Haus auf dem Gelände gehabt und sogar einen kleinen Stalltrakt nur für uns. Jeden Morgen vor der Schule war ich noch an den Paddocks vorbeigelaufen und hatte unsere Pferde begrüßt.

»Normalerweise finden bei uns vor den Sommerferien Einführungstage für neue Schüler statt.« Die Schulleiterin lächelte mich an. »Aber da du ja später einsteigst, müssen wir das etwas unkonventioneller handhaben.«

Wirklich nett ausgedrückt für: Da du zu dieser Zeit noch in Therapie warst und leider nicht herkommen konntest.

Ich nickte und sie zog einen Stapel Papiere hervor, den ich für meine Anmeldeunterlagen hielt.

»Mir ist aufgefallen, dass hier noch gar kein Sportschwerpunkt angegeben ist. Hast du dich schon entschieden?«

Allerdings.

»Nein, noch nicht«, log ich. Tatsächlich war mir längst klar, dass ich der Fußballmannschaft beitreten wollte. Aber davon brauchte Peter nichts wissen. Wie ich ihn kannte, würde er sich dann bloß einmischen, weil ich auch genauso gut wieder reiten konnte. Und außerdem gab es da ja noch die ach so tolle Schachgruppe. »Ich schaue mir einfach alles einmal an.«

»Gute Idee«, erklärte Frau Lorenzen. »Wir haben eine wirklich große Auswahl. Du kannst Bogenschießen oder Tanzen lernen, wenn du möchtest. Unsere Rudermannschaft ist auch sehr erfolgreich. Und der wichtigste Schwerpunkt ist natürlich das Reiten. Ich selbst leite diese Sparte. Wenn ich deinen Vater richtig verstanden habe, bist du früher M-Springen geritten und warst hoch platziert. Unsere Springmannschaft könnte noch Verstärkung gebrauchen.«

»Katrina ist eine exzellente Reiterin«, mischte Peter sich ein und strahlte mich an, als wäre ich gerade eben erst mit einer goldenen Schleife aus dem Parcours gekommen.

»Ja, aber ich reite nicht mehr.«

Ich hatte ganz leise gesprochen, doch Frau Lorenzen signalisierte mir, dass sie es gehört hatte.

»Und trotzdem bist du hier. Wenn man Pferde einmal geliebt hat, kann man sich ihrem Zauber nie wieder entziehen. Ist es nicht so?«

Ich zuckte mit den Schultern, um nicht antworten zu müssen, und zum Glück klopfte es genau in diesem Moment an der Tür.

»Ja?«, fragte die Direktorin und keine Sekunde später schob ein Junge seinen Kopf durch den Türspalt. Sie lächelte. »Ah, Henry, da bist du ja, wie schön. Komm ruhig rein.«

Ich musterte den Typen. Groß, sportlich, mit dunklen, leicht zerzausten Haaren. Eigentlich ganz attraktiv … wenn man einmal von seinem Shirt absah. War das etwa das Schullogo, das da auf der einen Seite seiner Brust prangte?

»Katrina, das ist Henry McKenzie, dein Pate«, sagte Frau Lorenzen da. »Er ist zwei Jahrgänge über dir und hat früher in England gelebt. Ihr werdet euch sicherlich prima verstehen.«

Ich hob die Augenbrauen. Das letzte Mal hatte ich einen Paten gehabt, als ich auf die Highschool gekommen war. Molly war auch zwei Jahrgänge über mir gewesen und unfassbar talentiert darin, coole Flechtfrisuren zu machen. Wenn ich an unsere gemeinsamen Pausen auf dem Schulhof dachte, vermisste ich sie sofort. Ich sah zurück zu Henry, der mir nur kurz zunickte und dann mit begeistertem Lächeln Peters Hand ergriff.

»Sie müssen Peter von Lindenberg sein, oder?«, fragte er in lupenreinem Deutsch, vollkommen ohne jede Spur eines Akzents. »Ich habe Ihren Artikel in der letzten Ausgabe der Wirtschaftswoche gelesen. Und ich finde es wirklich großartig, dass Sie sich für Amnesty engagieren, und das nicht nur mit Ihrem Geld, sondern auch persönlich.« Henry lächelte. »In den letzten Sommerferien habe ich ein Praktikum dort gemacht.«

O Gott. Der Typ sah meinen Vater an wie ein Hund, der ein Kunststück aufgeführt hatte und nun Lob erwartete. Klar, Peter war Geschäftsführer einer renommierten Wirtschaftskanzlei, aber musste er ihn wirklich so anhimmeln? Schließlich konnte man sich denken, dass Peter nur Geld an Amnesty International spendete, damit er einen Karmaausgleich hatte. Auf der einen Seite beriet er Wirtschaftsunternehmen, wie sie ihre dreckig erwirtschafteten Milliardengewinne am Fiskus vorbeischleusten, und auf der anderen Seite überwies er regelmäßig großzügige Summen an diverse Wohltätigkeitsorganisationen. Menschenrechte waren ihm halt wichtig, behauptete er, wenn man ihn danach fragte.

Jetzt nickte er und lächelte warm. Nichts mochte er lieber, als erkannt zu werden. Noch dazu von jungen Menschen, die sich seiner Meinung nach ja viel zu wenig mit den wichtigen Themen des Lebens befassten.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er, um Henry dann genauer zu mustern. »Sie haben also ein Praktikum bei AI gemacht? Hier in Deutschland?«

Henry schüttelte den Kopf. »In London. Ein Großteil meiner Familie wohnt noch dort.«

»Oh, London! Katrina wollte schon immer mal dorthin. Stimmt doch, oder?« Peter strich mir über den Kopf. Jetzt ging er eindeutig zu weit. Ich war ja kein Pudel!

»War das nicht die Londoner Amnesty-Gruppe mit diesem Skandal um veruntreute Gelder?«, fragte ich scheinheilig. »Peter hatte dafür großes Verständnis, das ist eigentlich genau sein Metier.«

Peters Lächeln verschwand und mir wurde schlagartig klar, dass ich gerade zu weit gegangen war. Auch Henry sah irritiert aus.

»Ich …« Verdammt, warum hatte ich nicht eine Sekunde länger nachgedacht? »… meine ja nur, dass … ach egal.«

»Henry, willst du Katrina nicht schon einmal den Campus zeigen?«, rettete mich Frau Lorenzen aus der unangenehmen Situation. »Wir erledigen dann hier den Papierkram und kommen nach.«

»Das wäre toll«, sagte ich, dankbar, dass sie mir eine Möglichkeit bot, aus der Nummer wieder herauszukommen. »Ich kann es kaum erwarten, alles zu sehen.«

»Henry.« Kaum waren wir draußen auf dem Gang, blieb ich vor ihm stehen und sprach seinen Namen so langsam aus, als hätte ich einen seltsamen Geschmack auf der Zunge. »War das nicht irgend so ein Tyrannenkönig, der reihenweise seine Frauen umgebracht hat?«

Mister Schullogo legte bloß den Kopf schief. »Und Katrina? Hieß so nicht der Wirbelsturm, der 2005 New Orleans verwüstet hat?«

Was? Ich musste so entgeistert aussehen, dass es Henry zum Schmunzeln brachte. Dann sagte er: »Henry der Achte lebte im späten Mittelalter und hat nur zwei seiner sechs Frauen hinrichten lassen, nämlich Anne Boleyn und Catherine Howard.«

Ah ja. Er trug also nicht nur das Silver-Willow-Emblem auf dem Shirt, er war tatsächlich ein Oberstreber.

»Ist das deine Art, Mädchen zu beeindrucken? Mit Geschichtswissen?«

Seine Augen funkelten belustigt, während er sich in Bewegung setzte und den Flur entlanglief. »Nein, da kenne ich effektivere Methoden.«

Effektivere Methoden, soso. Ich wollte ihn gerade fragen, was er damit meinte. Aber da redete Henry bereits weiter.

»Das Internat wurde 1892 gegründet. Einer der Gründer ist ein direkter Vorfahre von Frau Lorenzen. Sein Name war Johann von Henndorf.« Es sprudelten immer mehr Informationen aus Henry heraus und bereits nach wenigen Minuten fragte ich mich, ob das hier eine Museumsführung werden sollte. Doch schließlich beendete er seine Rede und blieb im Foyer stehen. »Die Details unserer Schulgeschichte kannst du später in dem Korridor vor der Bibliothek nachlesen.«

Da konnte ich mich wohl gerade noch beherrschen.

Henry grinste, als hätte er meine Gedanken gelesen, und öffnete mir die Tür.

Wir gingen nach draußen und er zeigte mir die Mensa, die einzelnen Unterrichtsgebäude und die Aula, einen frei stehenden Bau mit seitlicher Verglasung.

»Die Schule legt sehr viel Wert auf Tradition und kulturelle Weiterbildung«, sagte er und hielt vor der Fensterscheibe an, damit ich einen Blick hineinwerfen konnte. Der Raum war riesig mit einer Bühne und sogar einer Empore, auf der allerhand Scheinwerfer und technische Geräte standen. »Mehrmals im Jahr veranstalten wir Theateraufführungen, Tanzveranstaltungen und … auch Partys. In ein paar Wochen steigt zum Beispiel die jährliche Halloweenparty. Darauf freuen sich alle immer total, besonders Emily. Du wirst sie nachher auch noch kennenlernen.«

Emily, wer war denn jetzt schon wieder Emily? Vielleicht seine Freundin? Ich überlegte kurz, ob ich nachhaken sollte, entschied mich dann aber anders. Nach der stundenlangen Autofahrt mit Peter war ich müde und durchgeschwitzt. Umso schneller wir zu dem Teil der Führung kamen, an dem er mir mein Zimmer zeigte und sich verabschiedete, desto besser. Außerdem war ich nicht scharf darauf, Einzelheiten seiner Lovestory zu erfahren.

»Aber wir sind auch sportlich echt gut aufgestellt.« Henry lief weiter und ich folgte ihm über einen gepflasterten Weg zur Sporthalle und den angrenzenden Plätzen. Zwar hatte ich mir den Campus schon auf Google Maps angesehen, aber ich staunte nicht schlecht, wie weitläufig das Gelände war. Über riesige Grasflächen führten gepflegte Wege, die die verstreut liegenden Gebäude miteinander verbanden.

Henry zeigte mir die Tennisplätze, das Trainingsgelände des Leichtathletikteams und die Bogenschießanlage.

»Die Schule veranstaltet mehrfach im Jahr Wettkämpfe, zum Beispiel das Pfingstturnier oder die Rudermeisterschaften. Wusstest du, dass Silver Willow eine Reihe berühmter Absolventen vorweisen kann?«

Jetzt klang er so stolz, als hätte er selbst deren Ausbildung übernommen. Ich nickte bloß, sagte aber nichts, weil meine Aufmerksamkeit plötzlich von etwas anderem angezogen wurde. Wir näherten uns einem Fußballfeld, auf dem einige Jungs Torschüsse übten. Ohne auf Henry zu warten, lief ich näher heran und beobachtete sie. Der Torwart war wirklich gut und hielt fast jeden Ball, selbst die schwierigen. Nur einer streifte ihm über die Fingerspitzen, ehe er mit voller Wucht im Netz landete.

»Seht ihr, Jungs, so macht man das!«, rief der Schütze, ein blonder Junge mit frechem Grinsen, und riss triumphierend einen Arm nach oben. Als er Henry und mich entdeckte, kam er zu uns herübergejoggt.

»Hey, Alter, hast du diesen WM-würdigen Schuss gesehen? Beim nächsten Spiel ziehen wir die Gegner aber so richtig ab!« Er hielt seine flache Hand hoch und nahm sie erst wieder herunter, als Henry sie abklatschte. Dann sah er mich an und sein Grinsen wurde noch breiter.

»Ist das die Neue, Mann? Die ist eindeutig zu hübsch für dich.« Bevor Henry auf den Spruch reagieren konnte, streckte der Junge mir die Hand entgegen. »Hi, ich bin Daniel Hansen. Steht auch auf dem Trikot.« Er drehte sich um, damit ich den Schriftzug auf seinem Shirt lesen konnte. »Merk dir meinen Namen, ich werde nämlich der beste Mittelfeldspieler des Universums.« Mit blitzenden Augen fügte er hinzu: »Und der Bestaussehendste bin ich schon. Aber das ist dir bestimmt längst aufgefallen.«

Ich konnte es nicht verhindern. Zum ersten Mal an diesem Tag musste ich grinsen.

»Und du bist?«, wollte er wissen.

»Katrina Carter … aus Florida.«

Okay, seine Vorstellung war deutlich cooler gewesen. Aber auf die Schnelle war mir nichts Besseres eingefallen.

»Freut mich sehr, Katrina Carter aus Florida.« Daniel zwinkerte mir zu. »So, ich muss jetzt wieder zurück. Sonst haben die anderen Pfeifen kein Vorbild, an dem sie sich orientieren können.« Er lachte und klopfte Henry zum Abschied auf die Schulter. »Wir sehen uns nachher. Und nicht vergessen, morgen halb fünf Training!«

Henry nickte und als Daniel wieder zu den anderen lief, warf er einen Blick auf die Uhr. »Wir sollten zurückgehen, wir sind schon ziemlich lange unterwegs.«

Ich protestierte nicht. Je eher wir die Tour beendeten, desto früher konnte ich mir mein Zimmer ansehen und mich mit allem vertraut machen. Zum Glück hatte ich bei der Anmeldung in dem Feld für weitere Anmerkungen angegeben, dass ich ein Einzelzimmer haben wollte. Das bedeutete, dass ich gleich einfach mal kurz allein sein, mich ausstrecken und die Augen schließen konnte.

Doch dazu kam es nicht. Denn gerade als Henry und ich den riesigen Baum im Innenhof hinter uns gelassen hatten, schwang die schwere Doppeltür des Haupthauses auf und Peter und Frau Lorenzen traten in die Sonne.

Peter lächelte. »Ihr kommt gerade rechtzeitig zurück. Frau Lorenzen und ich haben alles besprochen und es wird Zeit für die große Überraschung, Katrina.«

Kapitel 2

»Sowohl Cassiopeia als auch Morning Star haben großes Potenzial. Beide sind wahre Schätze im Umgang und springen diese Saison auf L-Niveau«, schwärmte die Direktorin und lehnte sich an den Zaun. Peter nickte, ich reagierte nicht. Innerlich bebte ich jedoch vor Wut. Was glaubte Peter eigentlich, was er da tat? Wir hatten über Daisy gesprochen und er hatte mir seine Bedingungen genannt! Nie war die Rede von einem neuen Pferd gewesen und ich wollte kein anderes. Nur sie!

Mit zusammengepressten Zähnen stützte ich die Arme auf die Reitplatzbegrenzung und beobachtete, wie die Pferde, zwei dunkle Stuten und ein großrahmiger Fuchswallach, nacheinander durch den Parcours galoppierten.

»Morning Star wird bei richtigem Training aber auch zeitnah in höheren Klassen erfolgreich sein können. Sie ist eine wahre Schleifensammlerin, genau das, was Sie für Katrina suchen.«

Frau Lorenzen lächelte mich an, aber ich erwiderte die Geste nicht und blickte weiter stur geradeaus. Fiel denn hier niemandem auf, dass ich kurz davor war zu explodieren? Offenbar nicht. Lediglich Henry runzelte die Stirn und warf mir einen fragenden Blick zu.

»Sie kennen die Hintergründe unserer Schulpferde?«, wandte sich die Direktorin wieder an Peter. Der schüttelte den Kopf, aber ich konnte mir denken, worauf sie hinauswollte. Als ich nach Internaten gesucht hatte, die möglichst weit von Berlin entfernt lagen, war ich zufällig darauf gestoßen. Und obwohl ich nicht vorhatte, mich einer Reitgruppe anzuschließen, hatte mir die Philosophie gefallen.

»Silver Willow verfügt dauerhaft über fünfzehn bis zwanzig Schulpferde. Einige kommen aus schlechter Haltung, manche wurden als Schlachtfohlen gerettet. Aber die meisten unserer Pferde sind hier, weil sie einmal sogenannte Verhaltensauffälligkeiten gezeigt haben: missverstandene Pferde, solche, die schnell unsicher werden, Steiger, Durchgänger … na, Sie wissen schon.« Sie lächelte und fügte hinzu: »Uns geht es nicht nur ausschließlich um den Sport, sondern auch um Vertrauen und Teambuilding. Sie glauben gar nicht, wie diese Pferde und unsere Schüler in der Zusammenarbeit gleichermaßen aufblühen. Cassiopeia zum Beispiel ist, als sie zu uns kam, jedes Mal panisch geworden, wenn irgendwo etwas geraschelt hat. Heute ist sie eines unserer sichersten Springpferde und kommt nie ohne Schleife vom Turnier.«

»Und Ihre Schüler bilden diese Pferde mit aus?«, hakte Peter interessiert nach.

Frau Lorenzen nickte. »Ganz genau. Natürlich alles unter Aufsicht. Sicherheit steht immer an erster Stelle. Und die schwierigeren Pferde werden ausschließlich von unseren Oberstufenschülern mit dem Schwerpunkt Reiten betreut. Diese haben die nötige Erfahrung und können die Pferde begleiten. Wenn sie ihren Abschluss gemacht haben, können sie ihre Schützlinge entweder selbst übernehmen oder wir verkaufen sie weiter. Einige bleiben auch bei uns, wenn sie sich als Lehrpferde eignen.« Sie hatte leuchtende Wangen bekommen und man sah ihr an, wie sehr ihr das Thema am Herzen lag. »Mein Vater hat dieses Konzept in den 70er-Jahren entwickelt und ich führe es weiter. Durch die Arbeit mit diesen meist verunsicherten, nicht richtig verstandenen Pferden erkennen die Schüler, dass sie nicht nur dann gewinnen, wenn sie auf dem Siegertreppchen stehen. Sie können noch so viel mehr gewinnen, wenn sie sich Zeit nehmen und sich das Vertrauen eines Pferdes erarbeiten. Diese Erfahrung kann für die Jugendlichen sehr prägend sein.« Sie deutete auf den Fuchswallach und Peter folgte ihrem Wink. »Westminster, oder Westy, wie wir ihn liebevoll nennen, hat sich dank seiner fürsorglichen Betreuerin von einem hektischen Jungpferd zu einem motivierten und nervenstarken Springtalent entwickelt. Er ist erst acht Jahre alt und schon sehr sicher im Parcours unterwegs.«

Als ob es ihre Worte gehört hatte, segelte das bronzefarbene Pferd mit der auffällig gezackten Blesse gekonnt über eines der Hindernisse nahe des Zauns.

»Und Katrina, was meinst du?«, fragte Peter. »Wäre der etwas für dich? Oder eher Morning Star? Die scheint ja regelrecht ein Garant für das Turnier zu sein und Luft nach oben klingt für mich auch gut.«

Ich antwortete nicht, grub mir stattdessen die Fingernägel in die Handflächen. Merkte er nicht, dass er die Grenze bereits deutlich überschritten hatte?

»Katrina?«, hakte Peter nach und räusperte sich noch einmal mit Nachdruck, um mir zu verstehen zu geben, dass er eine Antwort erwartete. Das war dieser eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Ich will kein neues Pferd«, presste ich hervor und egal, wie sehr ich mich anstrengte, die Wut überlagerte nun jedes Wort. »Warum kapierst du das nicht? Ich will nur Daisy!«

Stille. Ich spürte die Blicke von Frau Lorenzen und Mister Schullogo auf mir. Selbst auf dem Reitplatz drehten sich zwei Schüler zu mir herum. Was sie jetzt über mich dachten, konnte ich mir schon denken: Verwöhnte Göre. Da will ihr reicher Papa ihr ein Pferd kaufen und sie macht hier so eine Szene.

Aber klar, woher hätten sie auch wissen sollen, wie es in mir aussah und wie es sich anfühlte, dass Peter Daisy, meine Daisy, einfach so durch ein neues Pferd zu ersetzen versuchte? So als wäre sie nichts weiter als ein Fahrrad, bei dem er mir einfach ein besseres Modell hinstellen konnte. Dabei bedeutete sie mir alles. Sie war nicht nur ein Pferd, sondern auch meine beste Freundin. Die einzige, die mir noch geblieben war.

Niemand sagte etwas, bis das Schweigen und die Blicke so unangenehm wurden, dass ich es nicht mehr aushielt.

»Bitte, lass uns das Thema einfach vergessen«, erklärte ich knapp an Peter gewandt und trat einen Schritt zurück, um klarzumachen, dass ich mir die Pferde nicht länger anschauen wollte. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass ich mich gerade komplett verarscht fühlte, aber ich schluckte die Worte herunter. Das konnte ich später mit ihm besprechen. Wenn ich jetzt eine Szene machte, würde ich nur zielsicher zum Gesprächsthema werden, bevor ich einen einzigen Tag an der neuen Schule durchgehalten hatte.

Also murmelte ich bloß: »Ich werde jetzt mal mein Zimmer suchen und … meine Sachen auspacken … oder so.« Damit drehte ich mich um und lief so schnell davon, wie ich konnte.

Hinter mir hörte ich Peter noch sagen: »Teenager. Man kann es ihnen nicht recht machen. Na, Katrina wird sich schon wieder beruhigen.«

Tränen brannten in meinen Augen, als ich zurück zum Hauptgebäude stapfte. Ich konnte nicht fassen, wie wenig Peter mich nach eineinhalb Jahren kannte. Und seine sogenannte Überraschung zeigte auch nur, dass er mir wieder einmal nicht zugehört hatte. Sonst wüsste er ja, dass es mir nicht darum ging, wieder zu reiten oder auf Turnieren zu starten. Ich wollte Daisy zurückhaben – mein Pferd, das er mir einfach weggenommen hatte. Mehr nicht!

Aber anstatt sein Wort zu halten, versaute er mir lieber meinen Start an der neuen Schule. Nach meinem Dramaabgang eben hielten mich vermutlich alle für eine verwöhnte Tussi. Großartig! Und wie ich Frau Lorenzen einschätzte, würde sie nun wissen wollen, was es mit Daisy auf sich hatte und warum ich so merkwürdig reagiert hatte. Ich konnte mir denken, was Peter erzählte.

Die Entscheidung, das Pferd wegzugeben, ist mir wirklich nicht leichtgefallen. Aber mir blieb keine Wahl. Katrina hatte Probleme, sie war krank und eine Gefahr für sich selbst.

Wenn ich nur daran dachte, wurde mir schon ganz anders.

Die letzten Meter bis zum Hauptgebäude rannte ich, riss die Tür auf und stürmte ins Foyer. Hier war ich allein und einen Augenblick lang stand ich unentschlossen herum, versuchte, meine Gedanken zu ordnen, und ließ meinen Blick von einer Seite des Raumes zur anderen schweifen. Sandfarbene Marmorböden, eine breite Flügeltreppe, ein Kronleuchter an der Decke. Ich kam mir vor, als wäre ich in der Zeit zurückgereist. Lediglich die Sitzgruppe aus modernen Ohrensesseln und bunten Kissen, die vor einem der vielen Bücherregale stand, war eindeutig der Gegenwart entsprungen. Oder besser gesagt einem schwedischen Möbelhaus. Kurz überlegte ich, mich in einen hineinfallen zu lassen, aber dann tastete ich mit der Hand nach der Chipkarte, die Frau Lorenzen mir eben auf dem Weg zur Reitanlage gegeben hatte.

»Damit kommst du jederzeit auf dein Zimmer und natürlich auch raus. Nur abends ist der Durchgang zum Flügel der Jungs geschlossen und umgekehrt ebenfalls«, hatte sie gesagt und dabei leicht geschmunzelt. »Außerdem ist dein Stundenplan darauf gespeichert und du kannst dein Essen damit vorbestellen.«

Ich zog die Karte aus meiner Hosentausche und drehte sie zwischen den Fingern. Auf der Rückseite stand meine Zimmernummer. Es war die 021. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Henry auf seiner Führung erzählt, dass sich die Zimmer im ersten und zweiten Stock befanden. Also nichts wie los!

Auf dem Weg nach oben nahm ich zwei Stufen auf einmal und gleich in der ersten Etage wurde ich fündig. Der Flucht- und Rettungsplan an der Wand verriet mir, dass mein Zimmer auf der rechten Seite lag. Die Glastür zum Korridor war nicht verschlossen, offenbar brauchte man die Karte wirklich erst abends.

Der angrenzende Flur war hell und modern, die Zeitmaschine hatte mich wieder im einundzwanzigsten Jahrhundert ausgespuckt. An den Wänden hingen Bilder und Plakate. Girls only, stand auf einem Poster an einer der Türen. An einer anderen: Dieses Zimmer war eigentlich aufgeräumt. Aber dann wussten wir nicht, was wir anziehen sollten. Auch an dem Zimmer mit der Nummer 021 entdeckte ich einen Zettel.

Erst anklopfen, dann reinkommen, las ich darauf. (Und ja, das gilt auch für euch, Henry und Daniel!)

Komisch, hatte die frühere Bewohnerin meines Zimmers vergessen, die Notiz abzumachen? Ich prüfte die Nummer auf meiner Karte. Nein, sie stimmte. 021 war eindeutig mein Zimmer. Vorsichtig legte ich eine Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Die Tür schwang auf. Der Raum dahinter war größer, als ich es von einem Einzelzimmer erwartet hatte, mit hohen Fenstern und dunklem Eichenboden. Das Türkisblau der Vorhänge erinnerte mich an die Strände Floridas, an denen ich mit meinen Freunden Molly und Nate so manches Wochenende verbracht hatte. Doch die Erinnerung daran konnte nicht verhindern, dass sich bei näherem Betrachten der Einrichtung alles in mir zusammenzog. Der Zettel mit dem Hinweis, dass man anklopfen sollte, hing nicht bloß dort, weil sich die letzte Bewohnerin nicht die Mühe gemacht hatte, ihn bei ihrem Auszug aus dem Zimmer abzunehmen. Er hing dort, weil sie immer noch hier wohnte!

Es gab nicht nur ein Bett, sondern zwei. Außerdem zwei Kleiderschränke, zwei Schreibtische und zwei Regale! Über einem der Betten hingen gerahmte Bilder, Bücher stapelten sich auf dem Boden. Ein kleiner Wäscheberg häufte sich auf der Lehne des einen Schreibtischstuhls und in oberster Reihe des Regals standen mit buntem Papier beklebte 3-D-Buchstaben.

E.M.I.L.Y.

Ich schluckte. Das musste ein Irrtum sein, ganz bestimmt. Man hatte mir die falsche Karte gegeben. Bei meiner Anmeldung hatte ich extra dazugeschrieben, dass ich allein wohnen wollte. Und das war zwingend notwendig, weil …

Ich stockte, als ich meine Koffer neben einem der weißen Schränke entdeckte. Sie waren der Größe nach geordnet, das konnte nur Peters Werk sein. Er musste sie hochgebracht haben, während ich mit Henry unterwegs gewesen war. Aber das bedeutete … dass er gewusst hatte, dass ich kein Einzelzimmer bekam. Mir wurde heiß. Kalt. Wieder heiß. Hatte Peter etwa arrangiert, dass ich mir das Zimmer mit jemandem teilte? Ohne mich zu fragen? Er wollte, dass ich Freunde fand und mich wieder öffnete, schön und gut. Aber hatte er auch nur ein einziges Mal über die Konsequenzen nachgedacht, die mich erwarteten, wenn ich hier drin eine Panikattacke bekam? Klar, die Therapie hatte geholfen – ich konnte wieder in einem Auto mitfahren, ohne Herzrasen zu bekommen, und auch meine Aussetzer kamen viel seltener als früher. Aber wenn es passierte, war es immer noch genauso schlimm. Peter wusste das! Und wenn Emily mitbekam, dass etwas mit mir nicht stimmte, würde es so enden wie an meiner Schule in Berlin. Bei dem Gedanken an das Getuschel, die Blicke und das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, wurde mir schlagartig übel.

Ich drehte mich einmal um die eigene Achse und das flaue Gefühl im Magen wuchs noch weiter. In diesem Zimmer hatte ich überhaupt keinen Rückzugsort. Emilys Bett stand an der gegenüberliegenden Wand und dazwischen gab es rein gar nichts, was die Sicht versperrte.

Klar, im Ernstfall konnte ich mich im Bad einschließen, aber dann würde meine Mitbewohnerin mich immer noch hören können und garantiert jemanden von den Lehrern alarmieren. Wie ferngesteuert öffnete ich meine Handtasche und tastete mit den Fingern nach dem Tablettenblister, der wie immer sicher verwahrt in einem Seitenfach steckte.

Es wird nichts passieren, sagte ich mir. Niemand wird es mitbekommen.

Da ging hinter mir die Tür auf und ich zuckte zusammen und ließ die kleine Plastikverpackung blitzartig los. Wenn Peter jetzt hergekommen war, weil er eine Entschuldigung für mein Benehmen erwartete, konnte er …

»Hi, du musst Katrina sein.« Nein, das war nicht Peter. Ganz eindeutig nicht. Vor mir stand ein rothaariges Mädchen. Die wilden Locken fielen ihr über die Schultern und reichten fast bis zur Taille. Merida, schoss es mir in den Kopf und ich konnte gerade noch verhindern, sie so anzusprechen.

»Ich bin Emily Lorenzen«, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie zögerlich. Lorenzen? So wie Ines Lorenzen? War Emily etwa mit der Schulleiterin verwandt?

»Mir ist klar, was du jetzt denkst«, sagte Emily da und ich sah sie verwundert an. Tatsächlich?

Sie nickte bekräftigend. »Lorenzen ist nicht gerade ein häufiger Nachname und bevor du fragst, kläre ich dich lieber gleich auf: Ja, die Schulleiterin ist meine Mutter. Aber keine Sorge: Ich bin trotzdem absolut cool.« Ein Grinsen erschien auf ihrem Gesicht. »Genau genommen ist das hier sogar das coolste Zimmer auf Silver Willow und bevor Imani, meine letzte Mitbewohnerin, vor den Sommerferien zurück nach Frankreich gezogen ist, hatten wir jede Menge Spaß.« Emily zuckte mit den Schultern und versuchte, nicht allzu traurig auszusehen, doch ich sah ihr an, dass sie ihre Freundin immer noch vermisste.

»Na ja, jetzt bist du ja da, Katy.« Sie strahlte mich an.

»Katrina.« Katy hatten mich nur meine Freunde aus Florida und ein paar Leute von der Ranch genannt.

»Alles klar! Ich freue mich total, dass endlich wieder Leben in dieses Zimmer kommt. War das langweilig, ganz allein! Ab und an habe ich schon bei Lucía und Sophie geschlafen, weil ich ja sonst abends niemanden mehr zum Reden hatte. Aber mit dir wird das bestimmt super.«

Ich lächelte, sagte aber nichts. Für einen Moment überlegte ich, ob Peter es wohl absichtlich so eingefädelt hatte, dass ich mir ein Zimmer mit der Tochter der Direktorin teilte. Aber nein, das ging selbst für ihn zu weit. Dennoch … ich musste dringend einen Weg finden, wie ich aus dieser Nummer wieder herauskam, ohne mich bei Emily komplett unbeliebt zu machen. Sobald Peter weg war, hatte ich vorgehabt, den Fehler mit dem Zimmer zu korrigieren und um ein eigenes zu bitten. Allerdings wollte ich nicht, dass Emily dachte, es wäre wegen ihr.

»Wegen meiner Ma brauchst du dir übrigens keine Sorgen zu machen. Sie kommt immer etwas streng rüber, ich weiß. Aber eigentlich ist sie das gar nicht. Hier, schau mal.« Emily ging zu ihrem Bett und nahm eine der gerahmten Fotografien von der Wand. Als ich mich zögerlich neben sie stellte, hielt sie mir das Bild unter die Nase. Darauf waren unverkennbar ihre Mutter und sie zu sehen … und die Schulleiterin – ich musste zweimal hinsehen – trug eine Lederjacke und hatte ihre Augen dunkel geschminkt. Das Foto war leicht schief aufgenommen worden, ein Selfie, und im Hintergrund konnte man eine Bühne erkennen.

»Das war auf einem Rockfestival. Da haben wir ein Wochenende lang gecampt«, erklärte Emily stolz und ich konnte nicht anders, als ungläubig den Kopf zu schütteln.

Das Bild der schick gekleideten Frau, die ich erst vorhin kennengelernt hatte, wollte sich für mich so gar nicht mit einem Zelt, Toilettenboxen und lauter Musik zusammenbringen lassen. Dafür hatte sie viel zu elegant gewirkt. Und dennoch – mit den goldenen Kreolen in den Ohren und dem bunten Holipulver im Gesicht sahen Emily und die Direktorin aus wie ein ganz normales, ausgelassenes Mutter-Tochter-Gespann. Sie wirkten so glücklich. Wie Mom und ich. Sogleich wurde es eng um mein Herz und ich gab Emily die Aufnahme zurück.

»Warum wohnst du eigentlich nicht bei deiner Mutter, sondern in einem der Internatszimmer?«, fragte ich, während Emily das Bild zurück an die Wand hängte.

»Liegt das nicht auf der Hand? Es ist schlimm genug, wenn man jemandem erzählen muss, dass man die Tochter der Schulleitung ist. Da wird man doch gleich in eine Schublade gesteckt. Ich will einfach ganz normal sein wie alle anderen hier auch. Und für Ma ist das okay. Wir unternehmen dafür viel zusammen: Wanderritte, Slacklining, Mermaiding … worauf wir halt so Lust haben. Dieses Jahr wollen wir beim Extremhindernislauf mitmachen. Das wird genial!«

Moment, wollte sie damit sagen, dass die Direktorin vorhatte, sich mit ihrer Tochter an Tauen entlangzuhangeln, Wände hochzuklettern und durch Schlammlöcher zu waten? Das wurde ja immer schräger.

Emily grinste, als wüsste sie genau, was sich in meinem Kopf abspielte.

»Schon klar, wenn du sie in der Schule triffst, würdest du nie denken, dass sie so etwas macht. Das weiß sie ziemlich gut zu verbergen. Wegen der Autorität und so.« Sie verdrehte die Augen, grinste aber weiterhin. Ich konnte nur ungläubig den Kopf schütteln und ließ meinen Blick auch noch über die anderen Bilder an der Wand gleiten. Doch es waren keine mehr von ihrer Mutter darunter. Dafür ein paar mit Freundinnen, einem kess dreinschauenden Fuchspony und … mit Henry. Sie waren also ein Paar, hatte ich es doch gewusst.

Noch ein Grund, schnell wieder auszuziehen. Bevor ich den beiden von nun an regelmäßig beim Knutschen oder bei sonstigen Sachen zusehen musste, würde ich freiwillig in den Keller auswandern. Zu den Riesenspinnen!

»Ist er … dein Freund?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen, weil ich die Antwort ja längst kannte. Emily wirkte jedoch irritiert.

»Wer?«

Na, Mister Wirtschaftswoche, wäre mir beinahe herausgerutscht, aber ich konnte mich noch rechtzeitig beherrschen. »Henry«, sagte ich stattdessen.

»Oh nein. Wir sind nur gute Freunde. Er ist wie ein Bruder für mich.« Sie schmunzelte. »Wieso? Bist du an ihm interessiert?«

Ich hob abwehrend die Hände. »Garantiert nicht. Er hat quasi den Boden vor meinem Vater vollgesabbert, nur weil er irgendeinen seiner Artikel gelesen hat. Wahrscheinlich wird er sich nach der Begegnung nie wieder die Hände waschen.«

Ups! Ich biss mir auf die Zunge. Erst denken, dann reden! Irgendwie musste ich das wieder hinbiegen. Doch während ich noch überlegte, was ich sagen konnte, fing Emily an zu kichern.

»Ja, er hat sich ziemlich darauf gefreut, ihn kennenzulernen, weil er gehofft hat, ihn nach seiner Meinung zu … ähm … so Aktienkram fragen zu können.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe ja nur Bahnhof, was das betrifft. Aber Henry kennt sich da total gut aus. Wie mit vielen anderen Dingen auch. Geschichte, Mathe, Sport, Pferde … einfach alles. Deshalb kann er manchmal etwas einschüchternd wirken.«

Einschüchternd hätte ich das jetzt nicht genannt. Eher oberstreberpeinlich. Doch diesen Gedanken behielt ich dann lieber für mich.

»Apropos Pferde, sag mal …« Emily hörte auf zu lachen und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Was immer sie mich fragen wollte, es schien ihr unangenehm zu sein. »Hast du dich eigentlich schon für eines der Pferde entschieden? Meine Ma hat mir erzählt, dass dein Paps dir eins von unseren Schulpferden kaufen möchte.« Sie versuchte, es unwichtig klingen zu lassen, aber mir entging nicht, wie sie dabei nervös auf ihrer Unterlippe kaute. Ich überlegte, wie ich ihr den Sachverhalt erklären konnte, ohne dass sie mich komplett merkwürdig fand. Doch als ich nach zehn Sekunden noch nicht geantwortet hatte, sprudelte es nur so aus Emily heraus.

»Also, wenn ich du wäre, würde ich mich für Cassiopeia entscheiden. Sie ist wirklich toll und ihre Betreuerin hat vor ein paar Monaten die Schule gewechselt. Morning Star ist auch supereinfach zu reiten, immer motiviert und leicht an den Hilfen. Ma hat sie in der letzten Zeit selbst trainiert, bis sie ihren Unfall hatte. Wenn du dich für sie entscheidest, bereust du es bestimmt nicht.« In ihrem Blick lag etwas Flehentliches und es dauerte weitere drei Sekunden, bis bei mir der Groschen fiel, und ich begriff, was sie mir eigentlich sagen wollte.

»Du hast Angst, dass ich einer deiner Freundinnen ihr Pferd wegnehme, richtig?«

Emily senkte den Kopf, das war mir Antwort genug, und sofort breitete sich ein unangenehmes Druckgefühl in meinem Bauch aus.

Frau Lorenzen hatte vorhin am Reitplatz erst betont, dass die meisten Pferde die Schüler bis zum Abschluss begleiten und häufig sogar noch darüber hinaus.

»Es ist nur … wegen Westy«, druckste Emily herum. Seufzend ließ sie sich auf ihr Bett fallen und presste eines der vielen bunten Kissen an sich, die darauf verteilt lagen. »Um ehrlich zu sein … machen wir uns alle etwas Sorgen, dass du dich für ihn entscheiden könntest, weil Aylin ihn ausgebildet hat, seit wir ihn vor drei Jahren bekommen haben. Sie hat ihn wirklich sehr lieb und geht sogar neben dem Unterricht noch arbeiten, damit sie ihn nach ihrem Abschluss kaufen kann.« Ganz langsam hob sie den Blick. »Tut mir leid. Das ist vermutlich keine besonders tolle Begrüßung von mir und ich wünschte …«

»Schon okay«, unterbrach ich sie. »Ich werde mich nicht für Westy entscheiden. Versprochen. Und ich werde auch niemandem sonst das Pferd wegnehmen.«

Ein erleichtertes Lächeln huschte über ihre Lippen.

»Warum soll Westy denn überhaupt verkauft werden, wenn Aylin doch so sehr an ihm hängt?«

Emily schnaubte. »Die Geschäftsführung braucht Geld, um den mediengestützten Unterricht weiter ausbauen zu können. Meine Mutter hat zwar ziemlich viel Einfluss, was die Entscheidungen hier angeht, aber der Stiftungsrat hat sich gegen sie gestellt und gefordert, mindestens eins der Pferde dafür zu verkaufen. Vielleicht sogar noch mehr, je nachdem, wie viel Geld sie bringen. Da ist Ma machtlos. Und Blume redet wohl seit Tagen nur noch von dem großartigen Geschäft, das er mit deinem Paps machen will. Vermutlich könntest du dir jedes Schulpferd aussuchen und Blume würde es dir verkaufen. Ganz egal, welches du möchtest. Dass wir lieber die Pferde behalten wollen, als noch mehr dämliche Tablets anzuschaffen, ist dabei leider vollkommen egal.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Nur, dass ich mich augenblicklich mies fühlte. »Das tut mir wirklich leid.«

»Nein, mir tut es leid. Wenn es für Aylin nicht so wichtig wäre, hätte ich ja auch gar nichts gesagt. Das musst du mir glauben. Es ist nur … Blume ist es halt komplett egal, ob er ein tolles Team auseinanderreißt. Für ihn zählt das Geld und ein Pferd kann seiner Meinung nach jederzeit ersetzt werden.«

Klang nach Peter. Offenbar glaubte der auch, dass man einfach ein neues Pferd kaufen und damit alles Vergangene ungeschehen machen konnte. Als wäre es ein Auto oder einer seiner blöden Aktienfonds.

»Und wer genau ist Blume?«

»Der Geschäftsführer. Hermann Blume. Er hat hier das Sagen, wenn es um die Finanzen geht. Du wirst ihn noch kennenlernen.«

Hoffentlich nicht allzu schnell. Ich wollte Emily sagen, dass ich mich für die Pferde des Internats nicht im Geringsten interessierte. Doch kaum, dass ich den Mund öffnete, flog die Zimmertür auf. So schwungvoll, dass sie gegen meinen Schrank krachte.

Emily fluchte und sprang auf. »Daniel, kannst du nicht lesen? An-klop-fen«, stöhnte sie. »Ich meine, was hättest du denn gemacht, wenn wir uns gerade umgezogen hätten?«

Es war der blonde Typ vom Fußballplatz, der nun breit grinste. »Dann …«, sagte er und schien kurz zu überlegen, »… hätte ich mir die Augen zugehalten … Vielleicht. Also, kann ich reinkommen?«

Emily schnaubte, nickte aber. Mit übertriebener Geste hüpfte Daniel über die Schwelle und landete mit beiden Füßen gleichzeitig.

»Eigentlich bin ich nur hier, um Florida zu sagen, dass ihr Typ unten verlangt wird. Scheint wichtig zu sein. Deine Mutter hat gesagt, ich soll nicht trödeln und sie holen. Mehr weiß ich nicht.«

Florida? Hatte er mir etwa in den wenigen Minuten, die wir uns kannten, schon einen Spitznamen verpasst? Und was wollte die Direktorin von mir? Wenn sie Daniel geschickt hatte, um mich zu suchen, konnte das eigentlich nur eines bedeuten: Peter wollte endlich abreisen. Und was das betraf, würde ich ihn nicht behindern.

»Wir sehen uns später«, sagte ich zu Emily und warf ihr noch einmal einen Blick zu, der ihr versichern sollte, dass sie sich wegen der Pferde keine Sorgen machen brauchte. Dann lief ich auf den Flur und weiter zur Treppe, die in das Foyer führte.

Daniel kam mir nach. »Da muss irgendetwas echt Krasses vorgehen«, sagte er und hielt mir die Tür auf. »Die Direx sieht aus, als hätte sie den entscheidenden Elfer verschossen.«

Seine Worte ließen mich auf den Stufen vor dem Eingang langsamer werden. Warum das denn? Ich hatte angenommen, nur Peters dämlicher Hunderttausend-Euro-Karre hinterherwinken zu müssen, aber was er da sagte, verunsicherte mich. »Wie meinst du das?«

Daniel verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und nickte in Richtung der Reitanlage. »Tja, ich habe keinen blassen Schimmer. Frau Lorenzen hat mich extra abkommandiert, um dich zu holen. Und irgendwie war sie komisch dabei. Eigentlich ist die Direx ja nie schlecht drauf, außer sie erwischt einen Schüler beim Rauchen oder nach 22 Uhr noch draußen. Aber eben sah sie aus, als ob sie am liebsten jemandem den Hals umdrehen würde. Echt unheimlich.«

»Und sie sind … beim Stall?«

Daniel nickte und mir wurde flau im Magen. Ohne noch etwas zu sagen, ließ ich ihn stehen und rannte los.

Ich erreichte den Stall laut atmend und mit wild klopfendem Herzen. Peter stand in der Boxengasse zusammen mit Frau Lorenzen und einem Mann im silbergrauen Anzug. Sie redeten lautstark, so wie er es für gewöhnlich mit seinen Geschäftspartnern tat. Das übliche Alphatiergehabe im Wirtschaftsdschungel. Normalerweise fand ich das mehr als lächerlich, doch jetzt gerade machte es mir Angst.

Bitte, dachte ich. Bitte, hab nicht das getan, was ich befürchte.

In Zeitlupe näherte ich mich der Gruppe und als Peter mich entdeckte, kam er mir entgegen und legte mir einen Arm um die Schultern. »Herr Blume, darf ich Ihnen meine Tochter Katrina vorstellen?«

Der Mann streckte mir die Hand entgegen und ich schüttelte sie mechanisch. Er war ungefähr in Peters Alter, etwas älter vielleicht, mit millimeterkurzem Haar, einer rahmenlosen Brille und einer penibel gebundenen Krawatte. Unter anderen Umständen hätte ihn sein freundliches Lächeln wohl sogar sympathisch gemacht. Doch jetzt, da ich mich innerlich auf das Schlimmste vorbereitete, löste sein Händedruck eine unangenehme Gänsehaut aus.

Er hat es nicht getan, redete ich mir ein. So weit würde er nicht gehen.

Rasch sah ich zu Frau Lorenzen. Daniel hatte recht, sie wirkte längst nicht mehr so locker und warmherzig wie vorhin. Zwar lächelte auch sie, aber ihre Züge waren hart, beinahe schon verkrampft.

Ich atmete tief durch. Peter hatte nicht einfach über meinen Kopf hinweg entschieden, ganz sicher. Außerdem hatte ich so deutlich gesagt, dass ich kein anderes Pferd als Daisy haben wollte. Mehrmals, immer und immer wieder. Mein Blick glitt zu Peter und ich betete, dass ich mich irrte.

Er würde es nicht …

»Du bist also die talentierte, junge Springreiterin.« Herr Blume zwinkerte mir zu und strahlte mich an. »Ich gratuliere dir, Katrina. Sinclair ist das beste Pferd, das wir an der Schule haben.«

… noch schlimmer machen.

Peter lächelte und mir wurde schlagartig kalt.

»Willst du ihn sehen, Pumpkin? Er wird dir gefallen. Und warte ab, bis Herr Blume dir erzählt, was er schon alles gewonnen hat.«

Der Geschäftsführer nickte begeistert. »Sinclair ist ein Pferd für den ganz großen Sport.«

Ich beachtete ihn nicht, sondern hielt am Blickkontakt mit Peter fest.

Schau mich an.

Für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich sehen, wie seine Maske fiel. Die Mundwinkel sanken herab und er versteifte die Schultern. Doch gleich darauf gewann die gewohnte Fassade wieder die Kontrolle. Er legte mir den Arm auf den Rücken und schob mich vorwärts.

»Das Pferd ist sehr brav und wohl ausgesprochen sicher. Es wird dich überzeugen.«

»Natürlich wird er das«, bestätigte Herr Blume euphorisch, »Sinclair ist der Traum eines jeden jungen Mädchens.«

Wir folgten dem Geschäftsführer bis zu einer geräumigen Paddockbox, in der ein großer Schimmel stand. Der Wallach war so riesig, dass ich bestimmt nicht über seinen Rücken schauen konnte, wenn ich neben ihm stand.

Und er war schneeweiß. Genau wie Daisy.

Ich spürte, wie meine Knie anfingen zu zittern.

»Das ist er«, verkündigte Peter das Offensichtliche. Er zog mich an seine Seite und posierte neben dem Pferd wie für ein Presseshooting. »Wir drei sehen doch aus wie ein Gewinnerteam. Oder, was meinen Sie, Herr Blume?«

Der Geschäftsführer nickte. »Auf jeden Fall!«

Frau Lorenzen sagte nichts. Genau wie ich hielt sie die Lippen fest aufeinandergepresst und ich fragte mich, ob sie auch am liebsten schreien wollte.

Peter drehte sich zu Sinclair und klopfte dem armen Pferd heftig den Hals. »Braver Junge. Du bist ein gutes Pferd. Na, du warst auch sehr teuer.«

Nur Peter und Herr Blume lachten, dafür aber besonders laut.

Ich hingegen wiederholte innerlich, was er gerade gesagt hatte. Nicht du bist ja auch sehr teuer, sondern du warst. Hatte er ihn etwa schon gekauft?

»Und, Kleines? Gefällt er dir? Sieh nur, er ist ganz weiß. Sieht genauso aus wie …«

»Er sieht nicht aus wie Daisy!« Die Worte kamen lauter aus meinem Mund als beabsichtigt, aber nun konnte ich mich nicht mehr beherrschen. »Du verstehst es einfach nicht, oder? Du könntest mir jedes Pferd auf der Welt kaufen. Es ist vollkommen egal, wie erfolgreich es ist, und die Farbe interessiert mich erst recht nicht. Es. Ist. Nicht. Daisy!«

Für einen Augenblick war alles still und Peter sah aus, als hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt.

»Ich versuche doch nur …«

»Du hast gesagt, dass wir noch einmal über Daisy sprechen, wenn alles wieder gut läuft. Du hast es versprochen!« Der Druck auf meiner Brust wurde immer stärker.

»Katrina«, setzte Peter unbeholfen an. »Ich dachte, wenn wir es einfach mal mit diesem Pferd probieren …«

Ich wusste nicht, was schlimmer war. Dass er mich nach all den Monaten noch immer nicht kannte oder dass er tatsächlich annahm, mir erst meine beste Freundin wegnehmen zu können, um sie dann eiskalt durch ein anderes Pferd zu ersetzen. Dass er annahm, mich damit glücklich zu machen.

»Ich kann nicht glauben, dass du mir das antust«, zischte ich und wich von ihm zurück. Mir war klar, was Herr Blume und Frau Lorenzen nun über mich dachten, aber in diesem Moment kümmerte es mich nicht. Innerlich zählte ich die Sekunden. Drei, vier … fünf. Dann kamen die ersten Tränen, ob ich es wollte oder nicht. Peter wusste doch genau, dass meine Gefühle seit Moms Tod blank lagen und seit er Daisy weggegeben hatte nur noch mehr. Wie konnte er mich da in so eine Situation bringen?

Doch er war eben nur auf dem Papier mein Vater, in Wahrheit war er mir fremd und das würde wohl auch immer so bleiben. Ich überlegte, ob ich noch etwas sagen sollte. Aber meine Kehle fühlte sich eng an, unfähig, einen Laut herauszubringen. Und so drehte ich mich wortlos um und lief davon, bevor mich jemand aufhalten konnte.

Kapitel 3

Vierzehn verpasste Anrufe von Peter. Ich schnaubte und warf mein Handy in hohem Bogen in den See. Es war ein leises Platschen zu hören, dann sank es unter die Wasseroberfläche. Dieser Teilnehmer ist für Sie vorübergehend nicht erreichbar, dachte ich und wollte lachen. Aber da ärgerte ich mich schon über mich selbst. Was sollte der Mist? Wie alt war ich? Acht? Und überhaupt … jetzt konnte Peter mich zwar nicht länger erreichen, aber ich hatte auch keine Möglichkeit mehr, meine Freunde aus Florida zu kontaktieren. Und so viel Geld, wie Peter besaß, kümmerte ihn ein kaputtes Handy natürlich nicht. Er würde einfach ein neues kaufen und meinen Racheakt überspielen.

Ich warf einen Blick auf die Wasseroberfläche, die inzwischen wieder ganz ruhig war. Verdammt, ich hasste es, wenn meine Emotionen mich einfach so überrollten und ich Dinge tat oder sagte, die ich später bereute. Früher war mir so etwas nie passiert, aber seit dem Unfall … Ich konnte nicht sagen, warum, aber es kam mir so vor, als würden die Gefühle sich manchmal gegen mich wenden. Es war nicht so, dass ich es wollte – so aufbrausend zu sein. Ich konnte nur nichts dagegen tun.

»Das braucht Zeit«, hatte mein Therapeut, Doktor van Heyden, mir erklärt. »Zeit und Geduld. Gib dir den Raum, dein Trauma in deiner eigenen Geschwindigkeit zu verarbeiten, Katrina.«

Leichter gesagt als getan.

Ich setzte meinen Weg am Ufer entlang fort und ging nicht auf den befestigten Weg zurück, der offenbar einmal rings um den See führte. Auf dem schmalen Trampelpfad musste man zwar aufpassen, nicht über aus dem Boden ragende Wurzeln zu treten. Aber wenigstens war ich die Einzige, die hier unterwegs war.