Danke Mama, für nichts ... - Roland Roßmanek - E-Book

Danke Mama, für nichts ... E-Book

Roland Roßmanek

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Beschreibung

Es wird kritisch betrachten, ob die gute, alte Zeit wirklich so gut war. Haben Eltern wirklich Schuld an der Entwicklung ihrer Kinder? Irrwege kann man erst erkennen, wenn es zu spät ist. Auf diesen Wegen hat man viele Begleiter. In meinem Fall hatte die Medizin einen erheblichen Anteil. Das Leben ist lebenswert. Manchmal halt etwas weniger.

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Gewidmet allen Menschen und besonders meiner Frau Marion und meinem Sohn Markus. Mit allen Menschen sind Weggefährten gemeint, die mich manchmal nicht verstanden haben, oder verstehen konnten. Vielleicht hilft dieses Buch etwas.

Roland Roßmanek

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 - Geburt

Kapitel 2 – Das Baby

Kapitel 3 – Schulanfang

Kapitel 4 – Die neue Wohnung

Kapitel 5 – Neu in der Stadt

Kapitel 6 – Der Automechaniker

Kapitel 7 – Polizei

Kapitel 8 – Viele falsche Wege

Kapitel 9 – Chaosjahre

Kapitel 10 – Viele Chaosjahre

Kapitel 11 – Wirre Zeiten

Kapitel 12 – Überflüssige Zeiten

Kapitel 13 – Marion

Kapitel 14 – Rente und Ärzte

Kapitel 15 – Sterben oder Leben

Kapitel 16 – Fazit

Kapitel 1 - Geburt

Alles Leben beginnt mit der Geburt. Wir wissen, dass es nicht stimmt, denn dazu gehören Eltern, die vorher etwas Spaß miteinander hatten. Das war bei mir nicht anders. Nun ist es aber so, dass zwischen dem Spaß haben und der Geburt meist neun Monate Zeit vergehen. Wir wissen, dass in neun Monaten viel passieren kann, und warum sollte es bei meinen Eltern anders gewesen sein.

Meine Mutter war, wie man heute sagen würde, ein flottes Gerät. Sie kommt aus einer Gastronomiefamilie und arbeitete als Servicekraft in einem Lokal neben einem großen Metallwerk. Da hatte sie große Chancen auch bei ihrem Chef, weil sie halt wirklich eine sehr hübsche junge Frau war. Aber wie das Leben so spielt und wo die Liebe hinfällt, lernte sie meinen späteren Vater kennen. Der arbeitete in diesem Metallwerk und war auch recht hübsch anzusehen, und so kam es wie es kommen musste - es kam der Spaß. Wie an meiner Existenz zu sehen ist, blieb der Spaß nicht ohne Folgen.

Wer nun denkt, dass meine Eltern vor Freude gejubelt haben, irrt gewaltig. Mein Vater als Fabrikarbeiter verdiente nicht viel, meine Mutter als Bedienung ebenso wenig, und da ist nun auf einmal was Kleines unterwegs. Hinzu kommt, dass mein Vater noch Alimente bezahlen musste für ein Vergnügen aus seiner Zeit in Bayern. Es waren immerhin 105 deutsche Mark jeden Monat, und das tat richtig weh. Irgendwie passte ich nicht in das Konzept der Lebensplanung dieser zwei Menschen. Die Wohnsituation war nicht optimal. Meine Mutter wohnte in einem möblierten Zimmer im Forsthaus dieser kleinen Stadt, oder sagen wir lieber Dorf. Ein paar hundert Meter weiter wohnte mein Vater in einem Ledigenheim. Solche Wohnheime hatten früher viele Fabriken, um ihren Arbeitern aus vielen Ländern und Gegenden eine Wohnung für wenig Geld geben zu können. Mein Vater arbeitete in einer Gießerei, wo es sehr staubig und schmutzig und deshalb an der Tagesordnung war, diesen Staub mit Bier zu lösen. Man sollte es nicht beschönigen, aber mein Erzeuger war eigentlich fast jeden Tag betrunken. Das waren keine guten Voraussetzungen für eine Schwangerschaft, und meine Mutter hatte es nicht einfach gehabt, mich überhaupt zu schützen. Es war früher nicht üblich, dass man einfach Schwangerschaften unterbrechen konnte, in dem man zu einer Beratungsstelle ging und anschließend die Krankenkasse alles weitere geregelt hat. Viel einfacher ist es einer Schwangeren so lange in den Bauch zu treten, bis das Kind von allein kommt. Doch das Vorhaben meines Vaters hat zum Glück nicht funktioniert. Ob dadurch allerdings Schäden aufgetreten sind, die bei mir erst später zum Vorschein kamen, kann man natürlich heute nicht mehr feststellen, aber vorstellbar wäre es.

Man könnte jetzt die Auffassung vertreten, dass es an der Zeit lag, dass solche Familien Kinder bekommen konnten, wo es besser gewesen wäre, wenn es nicht passiert wäre. Aber es hat nichts mit der Zeit zu tun, denn auch heute noch werden Kinder geboren von Eltern, wo es trotz eines Apparates von Jugendamt und was es nicht noch alles gibt, Kinder in ein Elternhaus geboren werden, wohin sie einfach nicht gehören. Das Versagen diese Institutionen ist zwar ein trauriges Kapitel auch in unserer Zeit, aber nicht Gegenstand dieses Buches. Hier soll es eigentlich um meine Geschichte gehen.

Dann kam ich also auf die Welt. Man sagte ich hätte mir sehr viel Zeit gelassen und meine Mutter sehr gequält. Was vorher irgendwann mal viel Spaß gemacht hat, hatte jetzt wohl seine Auswirkungen.

Es war wohl alles an mir dran - zwei Arme und zwei Beine, oben darauf war der Kopf. Es ist klar, dass ich mich an solche Sachen nicht erinnern kann und hier nur berichte, was meine Mutter mir so erzählte. Mein Vater konnte zu dieser Sache nicht sehr viel beitragen, da er andere Prioritäten hatte. Was bitte auch zu bedenken ist, dass in dieser Zeit nicht das Jugendamt oder das Sozialamt ein junges Paar mit Geld überschüttet hat und Erstlingsausstattung und sonst Irgendetwas bezahlt hat, sondern das war Aufgabe der Eltern. Unterstützung gab es von Freunden und Bekannten in Form von Babywäsche und Windeln, die damals natürlich noch gewaschen wurden. Da war ich also und konnte nicht mehr zurück. Es bedarf nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass es für meine Mutter ein Kampf war, uns satt zu bekommen.

Andere Familien mussten auch mit dem Verdienst des Vaters auskommen, denn arbeitende Mütter gab es zu dieser Zeit nicht. Allerdings waren die anderen Familien im Vorteil, wenn der Verdiener nicht fast den ganzen Lohn versoffen hat. Familie und Alkohol sind nicht vereinbar.

Kapitel 2 – Das Baby

Wenig Geld und der ständige Durst meines Vaters sorgten für eine permanente Geldknappheit. Das Problem war, dass Ultimo, also wenn es Geld gegeben hat, das damals noch in einer Lohntüte in bar ausbezahlt wurde, diese Lohntüte meistens nicht den Weg bis nach Hause geschafft hat. Das war aber ein Problem, das nicht nur meine Mutter betraf, denn viele Frauen holten ihre Männer am Werkstor ab, wenn es Geld gegeben hatte. Ich entsinne mich, als kleines Kind zusammen mit meiner Mutter am Werkstor meinen Vater abgeholt zu haben und dann gemeinschaftlich in das Lokal unmittelbar in der Nähe der Arbeitsstätte zu gehen. Für mich war es das Erlebnis, denn ich bekam meistens eine Bluna und durfte mir für zehn Pfennig aus einem Automaten kandierte Erdnüsse kaufen. Es dürfte heute wenig Kinder geben, die man mit einem Glas Limo und ein paar Erdnüssen so glücklich machen kann. Es waren halt andere Zeiten. Wer jetzt denkt, dass meine Eltern und ich friedlich nach Hause gegangen wären, irrt leider. Mein Vater wurde nach jedem Bier und jedem Schnaps immer aggressiver, und meine Mutter war nicht dafür bekannt eine Duckmäuserin zu sein, und so gab es natürlich fast jedes Mal einen Streit. Wir sind dann allein nach Hause gelaufen, oder nennen wir es besser geflüchtet. Dass mein Erzeuger fast den ganzen Lohn auf den Kopf gehauen hat, muss wohl nicht extra erwähnt werden. Ich habe in dieser Zeit einen Bruder bekommen. Es war das uneheliche Kind meiner Mutter, das sie noch in der DDR geparkt hatte. Er war schon 13 Jahre alt und konnte natürlich mit mir nicht viel anfangen. Dass er nicht sehr begeistert war, ein kleines Brüderchen zu bekommen ist verständlich. Er hatte andere Probleme, bedingt durch seinen Sprachfehler, weshalb er öfter gehänselt wurde.

Meine Mutter hatte meinen Bruder mit 16 Jahren bekommen als Ergebnis einer Beziehung mit einem russischen Soldaten. Das sage ich völlig wertungsfrei, weil es ganz einfach in dieser Nachkriegszeit oder eigentlich noch Kriegszeit üblich war, obwohl es für russische Offiziere streng verboten war. Die beiden haben sich dann in den Nachkriegswirren aus den Augen verloren, und meine Mutter ist, um zu überleben, in den Westen gekommen. Mein Bruder blieb in dieser Zeit bei meiner Oma und wurde von ihr dann über Berlin hier ins schöne Hessenland gebracht. Diese Aktion kostete meine Oma ein paar Jahre Gefängnis in Bautzen, weil sie verraten und schon erwartet wurde, als sie wieder nach Hause kam.

Mir ging es in dieser Zeit gut, was mein Bruder nicht von sich behaupten konnte. Wenn mein Vater betrunken nach Hause kam, ließ er meinen Bruder deutlich spüren, dass er nicht sein leibliches Kind ist. Er wurde ihm gegenüber gewalttätig und hänselte ihn mit seinem Sprachfehler. Er versuchte ihm dann die Brille vom Kopf zu schlagen und wurde überhaupt sehr gewalttätig. Zusätzlich titulierte er meinen Bruder als Russenbalg und beschimpfte anschließend meine Mutter. Um eine Eskalation zu vermeiden, flüchteten wir öfter quer durchs Dorf und erhielten Hilfe beim Bürgermeister oder anderen freundlichen Menschen, die die Situation kannten. Wenn wir uns dann wieder in die Wohnung trauten, lag mein Vater meistens im Bett, und meine Mutter wartete, bis er am nächsten Morgen aufwachte. Meine Mutter lief dann zur Hochform auf und meckerte und schrie mit meinem Vater in einer Lautstärke, die dafür sorgte, dass die Nachbarn auch etwas davon hatten. Wenn mein Vater nüchtern war, erkannte man ihn nicht wieder. Er saß da wie ein Häufchen Elend und sagte keinen Ton und traute sich nicht, meiner Mutter zu widersprechen. Nun hatte meine Mutter wohl daran Gefallen gefunden, dass er da wehrlos saß, und so zog sich diese Schreierei manchmal stundenlang hin. Dies war der Zeitpunkt, wo ich vor meiner Mutter mehr Angst hatte als vor meinem Vater. Auch viel später noch sah ich erhobene Stimmen und Brüllen als Aggression und Angriff an und reagierte dagegen ebenfalls mit Gewalt. Jemand der vor mir stand und mir in die Schnauze hauen wollte, interessierte mich meist wenig. Brüllte mich mein Gegenüber allerdings an, läuteten sofort die Alarmglocken.

Nun kommt eine Zeit, worüber ich auch versucht habe, mich mit meinen Eltern zu unterhalten. Die waren aber der Meinung, dass ich viel zu klein war und überhaupt nicht wissen konnte, was da passiert ist. Es ist aber so, dass auch kleine Kinder Erinnerungen an gewisse Dinge haben können und diese Dinge auch niemals vergessen werden. Ich nehme an, dass es den Beiden manchmal peinlich war und sie deshalb einfach sagten das sei so nicht wahr, oder das kann gar nicht sein, oder das hast du nicht verstanden. Das ist aber ein großer Irrtum.

Ich habe schon mitbekommen, dass in dieser Familie etwas nicht stimmte. Und Ich habe begriffen, dass auch andere Leute aus unserem Umfeld und dem Dorf mitbekommen haben, dass mein Vater meistens seinen Lohn versoffen hat. Wenn die Hüttenklause, dieses besagte Lokal am Werk, erzählen könnte. Nun war es aber so, dass mein Vater in diesem Lokal als Mann anerkannt wurde. Wir müssen uns nichts vormachen, solange man in einer Kneipe Geld hat und Runden ausgeben kann, ist man der große Mann. Diesem Irrtum sollte ich später selbst erliegen.

Meine Mutter musste also ständig kämpfen, um uns zu kleiden und satt zu bekommen. So ging sie an einem Monatsersten direkt in dieses Lokal, um von meinem Vater noch Geld zu retten. Er warf ihr 50 Pfennig vor die Füße und meinte, sie solle mir Bananen kaufen und sich obendrein verdrücken. Das weitere Prozedere ist bekannt. Er kam betrunken heim, titulierte und quälte wieder meinen Halbbruder, und wir flüchteten vor den Attacken. Der nächste Morgen dann wieder wie gewohnt, mit schreien und brüllen und einem schweigend nüchtern werdenden Vater.

Wer solche Zustände nicht kennt, wird niemals verstehen, welches Leid eine Familie aushalten muss, wenn der Vater das Geld vertrinkt. Natürlich gibt es auch Familien, in denen die Mutter oder beide Elternteile in dieser Richtung aktiv sind.

Manchmal versprach mein Vater aber auch, pünktlich am Zahltag nach Hause zu kommen. Warum meine Mutter das immer wieder glaubte, oder war es nur Hoffnung, verstehe ich bis heute nicht. Es kam öfter vor, dass mir meine Mutter die letzten 20 Pfennig gab und mich in ein Lebensmittelgeschäft unweit unserer Wohnung schickte. Sie konnte vom Balkon aus mich beobachten, damit mir nichts passiert. Mein Auftrag war es, Brausepulver zu kaufen, um uns ein erfrischendes Getränk zu gönnen. Die Verkäuferin und die Ladeninhaberin baten mich, in die hintere Ecke des Geschäfts ist zu kommen, wo meine Mutter vom Balkon aus keinen Einblick hatte. Sie gab mir ein Stück Fleischwurst, das ich sofort Essen sollte. Es war ein riesiges Stück Fleischwurst. Ich sollte auch meiner Mutter davon nichts erzählen. Unsere Zustände daheim waren also bekannt.

Mein Vater kam irgendwann heim und wie man es sich denken kann, Geld fast komplett weg. Wie es dann weiter gegangen ist, kennen wir ja. Meine Mutter fiel leider jedes Mal auf die Beteuerungen meines Vaters herein. Um wenigstens die Ernährung halbwegs sicherzustellen, begann meine Mutter einen Garten anzulegen. Ich glaube, es war ein Grundstück der Kirche gewesen und kostenlos. Hier pflanzte sie besonders Stangenbohnen an, die es als Eintopf oft zum Mittagessen gab. Der Vorrat an Bohnen war schier unerschöpflich, denn man konnte die Früchte auch einkochen und somit haltbar machen. Es wurde gegessen, was auf den Tisch kommt - das war so üblich bei uns, und so kam es, dass ich diese Bohnen nicht mehr sehen konnte. Heute würde man sagen, dass man halt nichts isst, denn irgendwann kriegt man schon Hunger. Von solchen erzieherischen Gedanken hat meine Mutter nichts gehalten. Ich bekam dieses Essen oft genug reingeprügelt, und irgendwie erinnert mich das an polnische Mastgänse, die zwangsweise mit dem Trichter im Hals das Zeugs reingedrückt bekommen. Heulen und weinen und brüllen brachte keinen Erfolg, und Vater und Bruder schauten dem Treiben meiner Mutter seelenruhig zu. Mein Vater hatte in nüchternem Zustand nichts zu sagen, und meinem Bruder war es mit Sicherheit recht, wenn ich meine Tracht Prügel bekam. Das Ergebnis ist, dass ich bis heute keinen Bohneneintopf sehen kann, ohne an diese grausigen Dinge denken zu müssen. Ich habe heute noch einen Ekel davor.

Meine Oma aus Bayern kam einmal für einige Wochen zu Besuch. Es war eigentlich kein Besuch, sondern da meine Mutter wegen einer Krebserkrankung ins Krankenhaus kam, sollte meine Oma den Haushalt führen. Sie war eine liebe, alte Frau mit Buckel von der vielen Feldarbeit früher noch in Ostpreußen und immer ein Lächeln auf den Lippen. Eine ruhige und nette Oma. Selbstverständlich brachte sie auch einige Konserven mit. Sie hatte nur ein paar Mark Rente, nicht zu vergleichen mit einem heutigen Sozialhilfesatz, denn mit diesem wäre sie die Königin gewesen. Sie hat aber immer hunderte von Einmachgläsern gelagert, wo vom Schweinebraten, Gurken, Hähnchen, Obst oder Gemüse, alles in Gläsern eingemacht war, was man sich vorstellen kann. Ich fragte sie einmal, warum sie denn so viele Sachen dort eingekocht hat, und sie antwortete mit einem Lächeln, dass sie nie wieder Hunger haben möchte. Diese Frau hat den großen Treck von Ostpreußen im Winter, mit den Russen im Rücken, mitgemacht und dabei zwei kleine Kinder im Leiterwagen und ein paar Habseligkeiten hinter sich hergezogen. Mein Vater ist im Heimatort unweit der russischen Grenze geblieben und wurde mit 16 Jahren noch zur Waffen-SS eingezogen. Das machte man damals gern, dass man Kindern eine Pistole in die Hand drückte und sagte, so verteidigt mal, wenn die Panzer kommen. Da gibt es einen bekannten Film, den wir in der Schule bestimmt zwanzigmal anschauen mussten.

Mein Vater änderte sich auch in dieser Zeit nicht, was seine Trinkgewohnheiten anging. Das hatte zur Folge, dass kein Geld da war und meine Oma den Mangel irgendwie verwalten musste. Sie war es aber gewohnt aus Luft und Nichts einen gedeckten Tisch zu zaubern. Bei einem Einkauf in einem kleinen Lebensmittelladen im Dorf dürfte ich mir sogar einen Kamm kaufen. Stolz wie ein Spanier - ich war im Besitz von einem Kamm. Kinder in diesem Alter heute meckern, wenn nicht das richtige Spielzeug in der Juniortüte enthalten ist. Wie gesagt, es waren andere Zeiten. Wenn ich höre, dass früher alles besser war, steigt mein Puls. Es war Einiges besser, aber vieles eben nicht.

Ich glaube, meine Oma war froh, als sie wieder heimfahren konnte. Die gute Frau hatte nun gesehen, wie es finanziell bei uns stand. Es dauerte nicht lang und sie schickte uns ein Paket. Wenn man damals ein Paket zugestellt bekam, musste man 50 Pfennig an den Postboten bezahlen. Er mit dem Paket, und wir wussten was darin enthalten ist. Wir haben es direkt vor Augen gesehen, dass Gläser mit Fleisch und Gemüse und Obst usw. enthalten waren. Wir hätten es gebrauchen können, aber das Problem war, meine Mutter hatte keine 50 Pfennig (für unsere jungen Leser – das sind 25 Cent) um das Paket annehmen zu können. Ob mein Vater nun am nächsten Tag von seinem Lohn etwas mit heimbringen würde, war ungewiss, und das Paket wurde zurückgeschickt an meine Oma. Meine Mutter und ich haben geweint, denn der Inhalt wäre dringend nötig gewesen. Meine Mutter hatte noch 10 Pfennig und dafür habe ich 2 Päckchen Brausepulver geholt und wir tranken dann jeder eine Limonade als Ausgleich für das entgangene Paket.

Mutter Adelheid hatte wieder das Regiment übernommen und irgendwie wiederholte sich alles in unregelmäßigen Abständen. Man könnte von einer gewissen Routine sprechen.

Im Nachbarhaus wohnten Freunde meiner Eltern, eine italienische Familie mit mehreren Kindern. Hatte Vater Kurt Spätschicht, sind meine Mutter und ich öfter auf Einladung ins Nachbarhaus gegangen. Ich saß dann mit den Kindern am großen Tisch in der Küche und aß eine Nudelsuppe mit Tomaten, die es dort eigentlich jeden Tag gab. Der Gastgeber hatte seine Freude daran, meine Mutter mit Likör abzufüllen. Es verging kein Nachmittag, wo meine Mutter nüchtern die Heimreise antrat. Ich war da ungefähr vier Jahre alt und fand Gefallen daran, die Reste aus den Schnapsgläsern zu trinken. So konnte es durchaus passieren, dass Mutter und Sohn ernsthafte Probleme hatten, die Treppe vor der Wohnung zu erklimmen. Hauptsache der Alte hat nichts gemerkt.

Da mein Vater stark schnarchte, schlief meine Mutter auf dem Sofa und im großen Ehebett mein Vater und ich. Da es wohl viele Kinder gibt, die in dieser Hinsicht andere und schlechte Erfahrungen gemacht haben, möchte ich sagen, dass sich mein Vater mir gegenüber immer korrekt verhalten hat und mich niemals angefasst hat. Aber es war sehr lehrreich für mich, denn ich lernte sämtliche Lieder aus der Nazizeit und Gedichte, die damals jedes deutsche Kind auswendig lernen musste, und insgesamt schadete es meiner Bildung und meinem Intellekt nicht. Manchmal kam er auch heim, legte sich ins Bett und ein paar Minuten später wurde der Kotzeimer neben dem Bett benutzt. Dann gab es halt keine Geschichten und keine Lieder, sondern nur den Versuch zu schlafen.

Wenn Vater Kurt auf Sauftour war, bekam er oft das Rennen, wie meine Mutter das immer nannte. Einmal landete er in Wiesbaden, in einem nicht unbedingt vornehmen Viertel und wurde kräftig ausgenommen. Er wurde auch angezeigt, weil er was mit einer 12-Jährigen versucht haben soll. Er landete also im Knast. Mutter Adelheid ermittelte auf eigene Faust, und es kam eine milde Strafe dabei raus. Das dunkle Viertel hielt zusammen und ein paar Nutten verwickelten sich in Widersprüche. Es gab trotzdem Knast, wo wir meinen Vater einmal besuchten. Ich hätte eigentlich nicht mitkommen dürfen, aber meine Mutter regelte alle Dinge – auch die unmöglichen. Interessant war die Hinfahrt. Wir hatten einen DKW Meisterklasse. Ein großartiges Auto, und der Nachbar und Freund meines Vaters fuhr uns damit nach Wiesbaden. Mit an Bord seine behinderte Tochter in meinem Alter. Vorn versuchte er unter den Rock meiner Mutter zu gelangen. Sie verwies auf die Kinder hinten, und unser Fahrer gab es dann auf. Ich glaube, da gab es andere Gelegenheiten. Die Lust war eh vergangen, denn seine Tochter hatte sich eingemacht, und im Auto stank es gewaltig. Im Wald mit Blättern den Hintern sauber gemacht und weiter ging die Fahrt. Gestunken hat es die ganze Zeit trotzdem.

Manchmal fuhr meine Mutter aber auch mit dem Zug von Kettenbach nach Bad Schwalbach oder Wiesbaden. Mein Wortschatz bestand nur aus wenigen Wörtern und so verwunderte es das gesamte Zugabteil, als mich meine Mutter um Ruhe bat, ich mit Arschloch antwortete. Um diese Zeit waren fast nur Arbeiter im Schienenbus, und denen gefiel das sehr gut. Je mehr das diesen Leuten gefiel und sie mich weiterhin aufforderten, es noch mal zu sagen, umso mehr geriet ich in Hochform. Tja was sollte meine Mutter anderes machen, als mich zum Mittelpunkt dieser Runde zu erklären und einfach machen lassen. Wir fuhren öfter diese Strecke, und auch die Arbeiter fuhren diese Strecke jeden Tag und so kam es öfter zu einem Zusammentreffen. Es langte ein Stichwort, und ich war wieder gefordert. Es stellte sich die Frage, ob ich überhaupt wusste, was ich denn da sage, oder aber wo ich dieses Wort gelernt hätte. Das waren so die Momente, wo selbst meine Mutter schamrot wurde.

Man hatte in dieser Zeit als Kind etwas robuster zu sein. Denke ich an einen Unfall mit meinem Dreirad, wo ich einen Schotterabhang runter gestürzt bin, bekomme ich heute noch Schmerzen. Als ehemaliger Rettungssanitäter bin ich nicht zimperlich. Nach diesem Unfall hätte ich in ein Krankenhaus zur Versorgung aller Blutungen und Abklärung der Gehirnerschütterung usw. gehört. Heute ja, aber damals taten es viele Mullbinden und Pflaster und die Aufforderung, nicht so rumzuheulen.

Bei einer anderen Gelegenheit bin ich mit dem Roller in einer Motorcross-Bahn gefahren. Adelheit und Kurt gaben sich einer erotischen Stimmung etwas abseits im Gras hin. Mir ist ein kleines Missgeschick passiert, und ich stürzte. Problem war, dass der Lenker in meinem Bauch steckte. Nicht oberflächlich – nein, richtig drinnen. Gebrüllt wie am Spieß, und die Beiden kamen angerannt. Lenker rausziehen und langsam nach Hause gehen. Pflaster drauf und Ruhe war. Ich habe es überlebt. Wir waren halt etwas härter drauf, oder hatten es einfach zu sein.

Die Erinnerungen an diese Zeit sind zwar da, aber manchmal mit Zeitsprüngen. Jetzt fällt mir ein, dass mein Vater über Weihnachten im Knast saß und meine Mutter und ich von den italienischen Nachbarn zu Heiligabend eingeladen wurden. Wir fuhren nach Burg Hohenstein, wo im Tal ein Wohnheim für italienische Arbeiter war. Heute ist es ein sehr gut besuchtes Speiselokal.

Es gab auch Geschenke, und es wurde gesungen, und für das leibliche Wohl war gesorgt. Ich bekam einen warmen Pullover geschenkt und zusätzlich ein Steckspiel. Ministeck hieß es wohl, und ich habe bis in die Pubertät damit Bilder gemacht. Finanziert wurden die Feier und Geschenke durch die Arbeiter, die sozial schwachen Leuten helfen wollten. Ich könnte heute noch weinen, denn wir wurden dort mit einer Herzlichkeit aufgenommen, wie man sie im Leben nicht oft erlebt.

Ein eigenes Kapitel verdienen Liesel und Franz. Ohne die wären wir wohl verhungert. Immer wieder bekam Adelheid ein paar Mark. Diese gegenseitige Hilfe hatte Tradition bei diesen zwei Freundinnen und ging in beide Richtungen. Jetzt war unsere Richtung dran.

Ein Bild für die Götter war immer, wenn ich mit der Tochter von Liesel und Franz eine Portion Pommes holen durfte. Christa ist knapp 2 Jahre junger als ich. Sie musste mich an der Hand nehmen – weil ich ja das Kind vom Dorf war und die Stadt gefährlich ist – und so zogen wir zum Büdchen auf dem Gräselberg. Fünfzig Pfennig waren für uns Reichtum und wurden gleich verfuttert. Keine Lutscher oder Kaugummi, sondern Pommes mit Mayo oder Ketchup. Christa war bildhübsch und ein richtiges Stadtkind. Ich war mehr der schüchterne, oder schon fast verschüchterte Leisetreter. Wer fast die komplette Mayo oder Ketchup bekommen hatte, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Eigentlich war ich ihr Beschützer – aber es war wohl eher so, dass Christa die Oberhand hatte. Auf alle Fälle war sie mir der liebste Mensch, und uns verbindet heute noch etwas, was in dieser Zeit seinen Anfang nahm. Meine kleine Schwester, die ich leider nie hatte. Nur einen großen Bruder, der mich nicht leiden konnte.

Christas Eltern hätte ich mir auch für mich gewünscht. Da ist auch kräftig getrunken worden, doch auf einem anderen Level und mit Niveau. Kein lautes Wort, oder Streit etwa.

Unvergessen die Einsätze von Franz, wenn er meinte in der winzigen Küche einen VW-Motor überholen zu müssen und die Teile in der halben Wohnung lagen. Ich höre es noch heute, wenn Liesel sagte: “Mei Nerve, mei Nerve“. Im Gegenzug war die Wohnung in der Adventszeit voll mit Backblechen. Mir ist nicht bekannt, wer diese Tonnen an Plätzchen gegessen haben könnte. Als sich Liesel eine Strickmaschine kaufte, wurde gestrickt, als müsste sie ganz Wiesbaden versorgen. Die Pullover sahen sehr schön aus und nicht wie diese Exponate meiner Mutter. War schon eine prima Familie und wenn mal wieder ein Umtrunk anlag, habe ich auch dort schlafen dürfen. Dabei habe ich dann auch mitbekommen, wie mein Vater wieder völlig entgleiste. Manchmal ist er auch abgerückt und wurde dann gesucht. Weiter wie „Sachsi“ oder „Schlegelkrug“, ist er nie gekommen. Ein Stimmungskiller vor dem Herrn. Mein Vater hatte auch keine Ahnung und konnte bei Gesprächen nichts Produktives beitragen. Das brauchte er auch nicht, weil meine Mutter das Wort ergriffen hat. Wenn ich sage ergriffen, dann meine ich es auch so. Losgelassen hat sie es nie. Je mehr Bier intus, umso lauter wurde meine Mutter.

Wenn mein Vater wieder einmal auf der Rolle war, passierten die kuriosesten Dinge. Einmal kam er nicht nach Hause und hatte in der Kneipe schon damit getönt, dass er nach Bayern zu seiner Mutter fahren wolle. Meine Mutter organisierte einen Nachbarn mit Auto und eine Stunde später waren wir auf dem Weg nach Bayern. Das war zu dieser Zeit eine größere Aktion, weil es keine durchgängige Autobahnverbindung zum Beispiel von Frankfurt nach München gab. Also ging es los mit einem Stück Autobahn und danach mit einem langen Stück Landstraße. Wir fuhren schon auf dem letzten Stück, was dann wieder eine Autobahn war, und ob man es glaubt oder nicht, auf der anderen Seite der Autobahn sahen wir meinen Vater. Zu dieser Zeit waren noch nicht so viele Fahrzeuge auf der Autobahn, und es gab die Möglichkeit, einfach zu wenden. Einfach über den Mittelstreifen drüber und in der anderen Richtung weitergefahren. Ich hätte gern gewusst, was mein Vater gedacht hatte, als wir ihn langsam überholten und meine Mutter ihm mit der Faust drohte anzuhalten. Wir stiegen um in das Auto meines Vaters und fuhren Richtung Heimat. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass die Schreierei seitens meiner Mutter auf der Heimfahrt gigantisch war. Sie hat gebrüllt wie am Spieß, ohne auf irgendeine Gegenwehr meines Vaters zu stoßen. Ich habe angefangen zu weinen, weil ich Angst bekommen habe. Ich erwähnte schon, dass ich Krach nicht ausstehen kann und ich davon Angst bekomme, was mich dann später aggressiv machte. Das Gebrüll hörte erst langsam auf, als meine Mutter entdeckte, dass mein Vater Gläser mit eingelegten Gurken mitgebracht hatte. Manchmal kann es doch so einfach sein, Friede herzustellen.

Natürlich sind nicht alle Erinnerungen aus dieser Zeit negativ, sondern es gab auch einige Highlights. Meine Eltern hatten in Wiesbaden bei einer windigen Bank, um es vorsichtig auszudrücken, einen Kredit aufgenommen. Da meine Mutter immer auf den guten Ruf der Familie bedacht war und nicht jeder mitbekommen sollte, dass es diesen Kredit gab, fuhren wir jedes Monatsende nach Wiesbaden, um die Rate in diesem Institut zu bezahlen. Mein Bruder war bei diesen Fahrten nie dabei. Ich freute mich immer wie ein Schneekönig auf diese Ausflüge, denn es bedeutete, dass wir bei Hertie unten in die Lebensmittelabteilung gingen. Dort gab es die Restaurant- Abteilung und mitten in der Lebensmittelabteilung einen Stand mit riesigen Bockwürsten, die dort schön heiß mit Senf und Brötchen verkauft wurden. Die waren wohl sehr günstig und somit im Budget meiner Eltern vertretbar. Ich bekam die Auflage, nichts davon meinem Bruder zu erzählen, damit er nicht neidisch wird. Gleiches galt, wenn wir nach Limburg auf den Markt gefahren sind und ich an dem Imbisswagen dort eine Bratwurst bekam. Um ehrlich zu sein, verschwieg ich es gern, denn mir war es wichtig diese Leckereien zu bekommen.

Einmal hatte mir mein Vater vor einer Abfahrt die Finger in der Autotür eingeklemmt. Heute wäre man ins Krankenhaus damit gefahren, denn diese alten Autos waren nicht dafür bekannt gut gepolstert zu sein, sondern da kam Metall auf Metall. Ich schrieb hier schon, dass man als Kind dieser Zeit ein harter Hund sein musste, um zu überleben, doch diese Aktion tat so höllisch weh, und ich schrie so laut und lange, wie selten. Ich wurde erst wieder beruhigt, als meine Mutter versprach, dass ich auch eine Bratwurst bekomme. Das verwirrte mich doch sehr und ich vergaß kurz die Schmerzen. Die Verwirrung entstand, weil Wiesbaden mit Bockwurst verbunden war und Bratwurst eigentlich in Limburg. Da wir aber nach Wiesbaden fahren wollten, verwirrte es mich halt, und ich hörte auf zu schreien, zumal meine Mutter auf die Hand gepustet hatte, und ich bekam zusätzlich einen Verband um die Hand und Finger.

Wir waren bei C & A, um Wintersachen einzukaufen, und gegenüber vom Eingang dieses Bekleidungshauses, war der Imbiss 9. Eigentlich wollten meine Eltern die versprochene Bratwurst umgehen, aber Kinder haben ein Gedächtnis wie ein Elefant. Junge Menschen heute werden es vielleicht nicht verstehen, aber so eine Bratwurst war in dieser Zeit etwas Besonderes für mich. Ich habe meine Bratwurst bekommen und sogar noch Pommes dabei.

Dieser Imbiss 9 entwickelte sich in Wiesbaden zum Kult, kein Einkauf ohne Besuch und Wurst. Auch mein Sohn kam in den Genuss dieser Lokalität. Spezialität war Currywurst, die wie in Berlin original ohne Haut zubereitet wurde. Die Mode der Currywurst kam erst Jahre später hier in Deutschland an, wo es diese Dinger an jeder Ecke gab. Mein Sohn aß hier gern, aber mittlerweile hatten wir andere Prioritäten gesetzt, und so war in der Fußgängerzone ein Brezelstand. Die frischen Brezen waren ein Genuss, und ohne ein solches Exemplar haben wir die Fußgängerzone niemals verlassen.

Kapitel 3 – Schulanfang

Ein Leben besteht hier aus vielen Wegen und Bahnen und Kreuzungen und auch Abbiegungen. Die Chancen an einer Kreuzung falsch abzubiegen sind sehr hoch. Man ärgert sich auch nicht so sehr darüber, wenn man diese falschen Wege selbstbestimmt geht. Zu einem Problem wird es, wenn man diese Weichen falsch gestellt bekommt. Dieser Umstand sollte sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen. Aber fangen wir mal langsam damit an, was ich darunter verstehe.

Ich war zwar nicht unbedingt das kräftigste Kind, aber dafür im Kopf ziemlich helle. Das veranlasste meine Mutter, mich mit 5 Jahren auf Schultauglichkeit testen zu lassen. Wenn ich hier bemerke, dass meine Mutter etwas in die Wege geleitet hat oder etwas bestimmt hat, dann war es auch meine Mutter. Vater Kurt hatte nichts zu sagen, und wenn er seine Ruhe hatte, konnte man machen, was man wollte.

Ich habe diesen Test bestanden, und ehe ich mich versah, wurde ich mit einer großen Schultüte eingeschult. Ein heller Kopf zu sein ist eine göttliche Gabe, kann aber zu einer teuflischen Strafe werden. Dieser Umstand der frühen Einschulung hatte die Folge, dass ich immer der Jüngste war. Es ist kein Geheimnis, dass Kinder immer den schwächsten als Opfer aussuchen. Der Nachhauseweg war immer die schlimmste Aktion des Tages, weil mich dort ein dickes Bauernkind immer verhauen wollte. Der Grund hierfür blieb im Verborgenen. Einen Kopf größer und bestimmt doppelt so schwer, hatte er ein einfaches Spiel, und ich musste mir fast täglich einen anderen Heimweg aussuchen. Das Problem wurde von meiner Mutter gelöst, die bei einem Besuch der Eltern meines Gegners in ihrer ihr eigenen Art und Weise klarmachte, dass das dicke Bauernkind das sein zu lassen hat. Der Lehrer wurde auch informiert. Am nächsten Tag hatten wir Sportunterricht, und der Lehrer ließ einen Boxring im Schulhof aufbauen. Erster und einziger Kampf wahr das dicke Bauernkind gegen mich. Der Lehrer erklärte die Boxregeln und dass wir uns danach richten sollten. Ausgestattet mit einem Mundschutz und dicken Boxhandschuhen standen wir uns gegenüber.

Zur Verwunderung alle Zuschauer trat in mir etwas auf und hat mich mein ganzes Leben begleitet. Ich bin ein Gemütsmensch der lieber nachgibt, doch wenn ich explodiere, dann richtig. Bevor das dicke Kind überhaupt wusste, was los ist, hatte es den ersten Schwinger schon in der Schnauze. Ich sehe noch dieses verdutzte Gesicht, und fast tat er mir leid, aber da hatte er schon den nächsten Schwinger im Gesicht. Aller Zorn kam heraus, und der Lehrer fand das gut. Ich habe den so vermöbelt, dass er winselnd um Aufgabe bat, und ich sollte bitte aufhören. Der Lehrer beendete dann den Kampf, und ich hatte von diesem Zeitpunkt an meine Ruhe.

Ich hatte aber ein anderes Problem, denn ich litt öfter an Magenschmerzen. Es war im ersten Schuljahr, und ich saß mal wieder mit ganz starken Magenschmerzen da und fing ganz leise an zu weinen. Der Lehrer schickte nach meiner Mutter, die mich sofort abholte und mit mir zum Allgemeinmediziner im Unterdorf ging. Es war ein sehr alter Arzt, der mich untersuchte und mir sagte, ich solle öfter richtig pupsen. Dann geht die böse Luft raus, die für meine Schmerzen verantwortlich ist. Also pupsen für die Gesundheit. Wenn doch alles so einfach wäre, doch mit diesem Arztbesuch fing ein langer Leidensweg an.

Ich konnte nur pupsen, wenn es was zum Pupsen gab. Die Schmerzen waren weiterhin mein Begleiter. Man gewöhnt sich an solche Dinge.

Es zogen Monate ins Land, und die Schmerzen ließen nicht nach. Also beschloss meine Mutter, mit mir nochmals zu diesem Allgemeinmediziner zu gehen. Nun ergab sich, dass der alte Mann in Urlaub war und in dieser Zeit die Praxis von seinem Sohn geführt wurde, der ebenfalls Allgemeinmediziner war. Der untersuchte mich sehr gründlich und stellte fest, dass ich nur einen Hoden habe. Nach der Geburt gehen bei Jungs die beiden Hoden aus der Bauchhöhle runter in den vorgegebenen Behälter, den Hodensack. Zu diese Zeit gab es nicht diese Untersuchungen und Vorsorgeuntersuchungen für Babys, und so ist das ganz einfach durchgerutscht. Nun sollte ich jede Woche eine Spritze bekommen, und das fehlende Objekt sollte sich dann dort einfinden, wo es hingehört.

In dieser Zeit lernte ich die Unterschiede von arm und reich kennen. Jede Woche gab der Lehrer Sparmarken aus. Die Nassauische Sparkasse im Ort organisierte das Schulsparen. Ich konnte alle paar Wochen mal 50 Pfennig oder sogar 1 Mark in das Heft einkleben. Am Weltspartag gab es Sachpreise von der Sparkasse. Wer an diesem Tag die höchste Sparmarke erwarb, bekam das wertvollste Geschenk. Oh mein Gott, da kamen Kinder von Bauern und Geschäften mit 10 Mark und sogar 50 Mark an. Das war für mich so utopisch, und ich merkte plötzlich, wo ich stand. Ich hatte nach langer Zeit 32 Mark auf diesem Sparbuch. Das haben meine Eltern dann aufgelöst und für sich verbraucht, bzw. für den Unterhalt vom Auto. Ich habe also nie den Umgang mit Geld gelernt. Dazu später mehr.

Aber es gibt auch andere Gelegenheiten, wo man merkt, dass man arm ist. In dieser Zeit ist man nicht einfach in ein Geschäft und hat sich eine Packung Eier gekauft. Eier waren ein wertvolles und kostbares Produkt und dafür fuhr der Bauer durch das Dorf, und man kaufte die dort am Auto. Manchmal gab es sogar Hauslieferung, wenn man mindestens 10 Stück kaufte. Bei einem solchen Geschäft kam Kurt mit dem Bauern ins Gespräch. Sein Sohn würde gern das Eigelb essen und den Rest den Schweinen geben. Da könnte es schon passieren, dass der Bub 10 Eier verbraucht. Unvorstellbar, wenn man dieses Hühnerprodukt als Luxus betrachtet.

Ich bemerkte schon, dass auch die Pausenbrote dieser Kinder anders aussahen. Lassen wir das Thema, denn meine Brote heute sehen so aus, als wollte ich diese Armut von damals ausgleichen.

Was mir in dieser Zeit auch aufgefallen ist, war, dass wir nie Besuch bekommen haben, außer von Liesel und Franz, oder Waldi und Hella. Es wurde dann immer sehr feucht und sehr laut. Ich selbst bekam keinen Besuch und durfte auch keine anderen Kinder mitbringen. Somit gab es auch keine Geburtstagsfeiern. Einmal gab es eine Ausnahme, und die Kinder und deren Mutter von unten waren zum Kaffee eingeladen. Mein Vater musste Kuchen holen und war deutlich verärgert, weil er so viel Geld ausgeben musste. Verständlich, denn der Betrag ging von seinem Saufkonto ab. Mit den Kindern konnte ich nichts anfangen, weil die komisch waren. Das lag wohl an dem Vater der Kinder. Völlig durchgeknallt und auf dem Schild vor seiner Wohnungstür die Warnung, dass Unbefugte erschossen werden. Zutritt nur für den Bürgermeister, Frau Roßmanek von oben und Adolf Hitler. Ich fand diesen Mann aber lustig, weil er einmal mit dem Auto des Morgens heimkam und eine bestimmt fünf m breite Straßenabsperrung am Kühler klebte. Selbst die Polizei schüttelte den Kopf, wie er so überhaupt durch das Dorf fahren konnte. Außerdem schoss er manchmal mit einem scharfen Gewehr von seiner Terrasse in die Botanik. Uns konnte nicht viel passieren, denn wir hatten den Balkon direkt darüber. Die Nachbarn im Seitenhaus hatten es da nicht so einfach und mussten flüchten. Die Familie ist auch bald weggezogen und der verwirrte Mann hat sich erhängt, wie wir später erfahren haben. Aber kommen wir wieder zu meinen Kreuzungen und Abbiegungen, denn es bahnte sich in den nächsten Monaten die nächste Kreuzung an, an der ich falsch abgebogen bin.

Es ging darum, dass ich nach dem vierten Schuljahr von meinen Leistungen her auf eine höhere Schule sollte. Trotz der zwei Kurzschuljahre hatte ich den Stoff intus und wurde für das Gymnasium empfohlen. Mindestens aber Realschule, was meiner Mutter aber absolut nicht schmeckte. Adelheid tauchte in der Schule auf, und ich war Zeuge des Gespräches zwischen dem Lehrer und meiner Mutter. Sie weigerte sich vehement, mich auf eine höhere Schule zu schicken. Der Lehrer drohte ihr mit dem Jugendamt, welches er einschalten wollte, falls sie nicht zur Vernunft kommt. Das erschreckte meine Mutter nicht, und sie musste sich etwas einfallen lassen. Wer meine Mutter auch nur ansatzweise kennt, wundert sich nicht, was nun folgte. Wir sind einfach umgezogen und sind von Hessen nach Rheinland-Pfalz umgesiedelt. Somit war das mit dem Jugendamt vom Tisch und ich weiter in der Volksschule. Die Noten waren super, und mir war es langweilig, weil ich unterfordert war. Meine Eltern haben mir niemals bei den Hausaufgaben helfen müssen.

Als Begründung für meinen Volksschulzwang wurde mir erklärt, dass in der Familie alle Arbeiter waren, und dafür langt Volksschule. Das war schlicht und einfach gelogen, denn der Grund war viel komplizierter. Meine Mutter hatte Angst, dass eine höhere Schule sich über die Eltern informiert und dann die Gefängnisstrafe von Kurt ans Tageslicht kommt. Das war für meine Mutter Grund genug, mir meinen weiteren Lebensweg zu verbauen und mir Bildung und beruflichen Erfolg versaut hat. In meinen Augen ist das ein Verbrechen.

Mein Bruder fing eine Lehre in Bad Schwalbach als Elektriker an. Da muss wohl ein Kollege sein Stottern nachgemacht haben, und nach einer Woche und einem Besuch meiner Mutter, bei dem Lehrherren, war Ende von Elektriker. Nicht weiter schlimm, weil das besser in das Konzept meiner Mutter passte und ein Arbeiter mehr geboren war. Ab in die Fabrik und Arbeiter werden, so wie meine Mutter sich das Glück für ihre Kinder vorgestellt hatte.

Unsere Mutter hatte eigene Vorstellungen, wie wir uns zu verhalten hatten und wie wir uns in der Öffentlichkeit darzustellen hatten. Das war jetzt die höfliche Umschreibung der Tatsache, dass wir unmöglich aussahen. Obwohl meine Mutter gelernte Schneiderin war, waren unsere Sachen völlig unmodern und passten irgendwie nicht optimal. Mein Bruder war ein junger Mann und hätte bestimmt etwas Stilberatung vertragen. Die anderen Jungs haben es vorgemacht, und warum mein Bruder eine Brille trug, die einen riesigen Rand hatte, schwarz wie die Nacht war und ihn wirklich nicht sehr vorteilhaft hat aussehen lassen, habe ich nie verstanden. Das änderte sich erst Jahrzehnte später, als mein Bruder langsam anfing sich selbst einzukleiden und einen eigenen Geschmack zu entwickeln. Auch ich rannte nicht sehr vorteilhaft gekleidet durch die Gegend. Wir Kinder hatten den Einheitsschnitt was die Haare anging, wobei man nach einem Friseurbesuch aussah, wie ein frisch geschorenes Schaf. Es rannten aber nicht alle im Dorf wie ein Trottel herum, sondern der eine oder andere ließ sich die Haare wachsen. Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass die Mädels auf diese Typen standen. Heute rennt zwar fast jeder wieder mit kahl geschorenem Kopf herum, nur sieht es heute nicht so blöd aus wie damals. Aber das mit den Thema Haare lassen wir einfach mal links liegen.

Sagte ich schon, dass ich schüchtern war? Klemmte man mir nicht gerade die Finger in eine Autotür ein, war ich insgesamt ein sehr leises Kind. Später hatten meine Eltern einen Pudel, den sie auch bei Restaurantbesuchen mitnahmen und er sich leise unter dem Tisch platzierte. Wenn sie dann gingen, waren andere Gäste erstaunt, weil sie nicht gemerkt hatten, dass da ein Hund war. Ich war wie der Pudel. Ich konnte mich sehr lange mit mir selbst beschäftigen, und man merkte nicht, dass ich anwesend war. Pflegeleicht wäre der richtige Ausdruck, um mich zu beschreiben

Kapitel 4 – Die neue Wohnung

Der Umzug in ein Dorf mit 900 Einwohner lief reibungslos. Zwei Lebensmittelläden, fünf Kneipen und ebenso viele Tankstellen sowie eine Molkerei und eine Schnapsbrennerei. Das interessierte mich aber weniger. Die Schule fand ich interessant. 4. bis 6. Klasse in einem Raum mit einem Lehrer. Das war genial, und ich war meinem Lehrstoff immer weit voraus. Im nächsten Raum von Klasse 7 bis 9 das gleiche Spiel.

Nicht dass man jetzt denken sollte, auf dieser Dorfschule würde nichts gelernt werden. Weit gefehlt, denn hier waren noch Lehrer am Werk. Unvergessen ist der Unterricht in Physik, wo es geblitzt und gezischt und gedonnert hat. Das war lebendiger Unterricht, und ich freute mich schon auf die nächste Unterrichtsstunde. Wenn die drei Klassen zusammen Musikunterricht hatten, spielte der Lehrer auf dem Harmonium, und es wurde gegrölt, was die Kehle hergab. Ob nun Kanon oder Seemannslieder, es hat richtig Spaß gemacht.

Aber auch das Treiben auf dem Schulhof sollte nicht unerwähnt bleiben. Ob nun beim Völkerball, oder anderer Aktivität, war eigentlich immer etwas los. Der zwei Jahre ältere Sohn unseres Vermieters drehte einsam seine Runden als Langläufer um den Schulhof herum. Er war sehr sportlich und zog natürlich die Blicke der Mädels auf sich. Ich schloss mich ihm einfach an und lief mit. Ich hatte grade meine etwas pummelige Phase, was bei mir öfter mal wechselt zwischen breit und hoch und sah wohl nicht unbedingt sehr sportlich. aus. Nach einer halben Stunde war die Pause vorüber, und der Lehrer hätte einen Schüler oder eine Schülerin anweisen können, die Pausenklingel zu betätigen. Dazu hatte er aber keine Lust, denn er wollte einfach schauen, wie unser Lauf ausgeht und wann ich endlich schlapp machen würde. Es war allerdings so, dass ich zwar nicht über viel Kraft verfügte, diesen Mangel aber durch Ausdauer wieder ausgleichen konnte. Nach über einer Stunde beendete der Lehrer das Treiben und ließ zum Unterricht klingeln. Somit war ich in der Runde der sportlichen Jungs aufgenommen, was in so einem kleinen Dorf sehr wichtig ist. Im Winter brachte jeder seinen Schlitten mit in die Schule und nutzte einen kleinen Hügel seitlich des Schulhofs, um Schlitten zu fahren. Wie im Sommer, sah der Lehrer dem Treiben interessiert zu und solange wir uns vertragen haben und es nicht zu Streitigkeiten kam, war es einerlei, ob die Pause 30 Minuten oder zwei Stunden dauerte.

Fast vor unserer Wohnung lag der Bolzplatz. Hier wurde nach den Hausaufgaben Fußball gespielt. Der Umstand, dass dieser Platz durch meine Mutter eingesehen werden konnte, verhalf mir zu vielen Stunden an der frischen Luft.

Wollte ich mit meinem Freund Kurt etwas weiter weg, musste ich am Fenster meiner Mutter rufen und sie genehmigte mir dann eine Stunde. Verboten waren die Hauptstraße, der Steinbruch und einige andere Dinge. Ich durfte mich also mit dem Fahrrad oder auch zu Fuß im Ortskern aufhalten. Wenn meine Mutter wüsste, was man in einer Stunde anstellen kann und wie weit man mit dem Fahrrad in einer Stunde kommt - sie würde sich im Grab umdrehen. Dass man in zwei Stunden, die sie manchmal ausnahmsweise genehmigte, in die nächste Stadt radeln konnte, übertraf ihre Vorstellungskraft.

Ich entwickelte mich zu einem sehr begehrten Torwart bei meinen Fußballkumpels und spielte sogar im Fußballverein bei der Jugend mit. In diesem Fußballverein war ich ohne Wissen meine Mutter, denn sie hatte es verboten, weil bei Auswärtsspielen es ihr zu gefährlich war, dass gewisse Leute die Kinder transportiert haben. Ich sagte schon, wenn meine Mutter wüsste, was man in zwei Stunden alles anstellen kann. Wenn dann noch die Vermieterin die schmutzige Fußballwäsche mit der ihres Sohnes zusammen gewaschen hat, war die Tarnung perfekt.

Aber mir fehlte ja noch ein Ei, und die Sache mit den Spritzen wurde nach längerer Verzögerung wieder aufgenommen. Das lief ganz einfach, denn meine Mutter hatte Nierensteine. Das tut sehr weh und der Arzt kam dann immer und spritzte Morphium. Nach einiger Zeit freute sich meine Mutter schon auf diese Nierensteine, weil dann wieder eine Spritze fällig war. Sie war also abhängig von Morphium. So kam ich also alle zwei Wochen zu meiner Spritze, und im Alter von elf Jahren war ich untenrum komplett. Erledigt war das allerdings noch nicht und sollte mich mein ganzes Leben begleiten. Wie sehr es allerdings mein Leben verändern sollte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Wenn man es genau nimmt, waren diese Auswirkungen allerdings schon zu sehen und zu spüren, denn irgendetwas stimmte mit mir und an mir nicht.

Doch auch bei meiner Mutter stimmte etwas nicht. Sie hatte Alkohol eigentlich immer nur in Gesellschaft getrunken, doch sollte sich das ändern. Bedingt durch ihre Nierensteine wurde ihr empfohlen zur Spülung und einfachem Abgang dieser Steine durch die Harnröhre, Bier zu trinken. Bier spült im Gegensatz zu Wasser deutlich besser. Aber natürlich hat Bier noch den Effekt, dass man Spaß im Kopf bekommt. Meine Aufgabe war es dieses edle Getränk unauffällig zu besorgen und auch das Leergut unauffällig wieder an den Mann zu bringen, ohne dass mein Vater das bemerkte. Zur Erklärung sei gesagt, dass Kurt und mein Bruder Schichtarbeiter waren und jeden Tag von Holzhausen mit einem Werksomnibus nach Wiesbaden gefahren und auch wieder heimgebracht wurden. Auch an Wochenenden wurde gearbeitet, und wenn man Glück hatte auch an Feiertagen. Glück deshalb, weil Feiertage mit einem hohen steuerfreien Aufschlag bezahlt wurden.

Nicht weit von unserer Wohnung war ein privater Getränkeverkauf. Viele junge Leser werden das nicht mehr kennen. Man klingelte an der Haustür, und dann kamen die Mutter oder die Kinder und holten aus dem Keller das gewünschte Getränk. Aber gehen wir einen kleinen Schritt zurück, denn diese Aktion kam erst in unserer dritten Wohnung. Wir haben es tatsächlich geschafft, in diesem kleinen Dorf zwei Mal umzuziehen.

Die erste Wohnung war recht klein gehalten, und mein Bruder hatte ein eigenes Zimmer außerhalb der Wohnung mit einem separaten Eingang. Direkt neben unserem Haus war ein Zweifamilienhaus, und die Eigentümer betrieben einen Getränkegroßhandel. Leider hatten diese Leute keinen Plan vom Geschäft, und wenn man bedenkt, dass die an einem Kasten Bier nur ein paar Pfennig verdient haben, weil es eben ein Großhandel war, konnte man sich ausrechnen wieviel da an Gewinn hängen blieb. Besonders wenn man wegen einem Kasten Wasser und einem Kasten Limo 20 km mit dem Lieferwagen durch die Gegend gefahren ist. Die Söhne waren beide Dachdecker und sehr freundlich. Nur wenn sie Karnickel geschlachtet haben, habe ich mich verdrückt, denn die armen Tiere hatte ich vorher noch gestreichelt. Aber mit der Zeit musste ich auf dem Land lernen, dass Tiere nicht nur zur Belustigung der Kinder da sind. Die Mutter und Chefin der Familie lag meist wie eine Diva auf dem Sofa und ließ sich von den Kindern bedienen. Sie ließ sich vom Metzger von Zeit zu Zeit ein paar 100 g Aufschnitt holen und aß dann genüsslich Scheibe für Scheibe. Die Kinder kamen dann mit ein paar dicken Scheiben Brot rein, und die Mutter gab eventuell ein oder zwei Scheiben ab, wenn sie gnädig war.

Die Tochter Brigitte mochte ich sehr, und sie war mein absolutes Vorbild, was Fußball anging. Sie war zwei oder drei Jahre älter und spielte oft mit den Jungs und sogar im Verein. Wie das funktioniert hat und ob da der Spielerausweis gefälscht wurde, weiß ich nicht. Sie war mehr von der robusten Sorte und als Verteidiger hätte ich mich nicht unbedingt gegen sie stellen wollen. Ihr Zimmer habe ich auch sehr bewundert, denn sie hatte Starschnitte aus der BRAVO an der Wand. Das war etwas, was ich niemals durfte, denn meine Mutter hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen.

Der Nachbar hat nicht nur sehr wenig an diesen Getränken verdient, sondern in Gaststätten auch noch eine Zeche gemacht. Diese Zeche war meistens deutlich höher als sein Verdienst an der Lieferung. So zogen denn Kurt und Hubert los, die Bahnhofsgaststätte zu erobern. Nach einigen Stunden kam Hubert, der Nachbar, allein zurück und berichtete, dass Kurt keine Lust habe heimzukommen und lieber noch weiter trank, und so schrillten die Alarmglocken und wir verließen das Haus, um bei den Nachbarn in Deckung zu gehen. Mein Bruder blieb in seinem Zimmer und machte die Rollläden herunter und schloss sich ein und fühle sich sicher. Wiederum einige Stunden später kam mein Vater und hatte es wie immer auf meinen Bruder abgesehen. Brigitte und ich hatten einen Logenplatz aus dem Nachbarhaus heraus und beobachteten das Geschehen durch die Jalousien hindurch. Und da bekam man etwas geboten, was in diesem Dorf nicht alltäglich war. Mein Vater wollte zu meinem Bruder rein und ihn vermöbeln. Er rüttelte am Rollladen und brüllte laut, das Russenbalg soll rauskommen und andere unschöne Dinge. Heute hätte man die Polizei gerufen, und er wäre eine Nacht in die Ausnüchterungszelle gekommen und am nächsten Tag mit einem Verweis entlassen worden. Damals war das anders, denn Polizei gab es nicht, oder zumindest nicht am Ort. Nachdem nun das ganze Dorf mitbekommen hatte, was mein Vater für ein Typ war, wurde er irgendwann müde und legte sich schlafen. Ich hatte solch eine Angst vor meinem Vater, denn so gewalttätig und aggressiv hatte ich ihn noch nie gesehen. Diese Aggressivität trat nur auf, wenn er Schnaps getrunken hatte. Von Bier wurde er zwar betrunken, aber nie so derartig aggressiv. Über den nächsten Morgen muss ich nicht berichten, denn dann lernte das Dorf meine Mutter kennen. Aber das Procedere ist ja bekannt.

Die Wohnung war viel zu klein für uns, wobei sie obendrein noch viel zu teuer war für damalige Verhältnisse. Das ganze Dorf hat über unseren Vermieter geschimpft und als Wucherer bezeichnet. Wir zogen ans andere Ende des Dorfes in die Bäderstraße, direkt gegenüber vom Bürgermeister. Es war ein altes Fachwerkhaus mit ungenutzten Stallungen und einer riesigen Scheune, wo sogar noch viele Strohballen gelagert waren. Hinter dem Haus war ein riesiges Grundstück, wo man Zelte aufbauen konnte, wo wir Kinder uns Verstecke bauen und wo man klettern und erkunden konnte. Ein Traum für jedes Kind. Die Vermieter wohnten im Erdgeschoss und über eine alte Holztreppe gelangte man in den ersten Stock. Rechts ab zur Küche und Kinderzimmer, links war das Wohnzimmer und Schlafzimmer. Gerade aus gelangte man in die Toilette und Bad. Das Bad wurde auch von unseren Vermietern genutzt, ebenso die Toilette. Meine Mutter schmeckte das zwar nicht, aber die Wohnung war sehr groß. Das Leben spielte sich in der Küche ab oder im angrenzenden Kinderzimmer. Der linke Flügel wurde im Winter nur selten geheizt, und so war es immer mit Zähneklappern verbunden, wenn man ins Bett gehen musste. Die Eisblumen am Fenster zeugten von der Temperatur, die im Innenraum herrschte. Aber wir waren ja harte Hunde, und wenn das Zittern aufhörte, wurde es wohlig warm unter den riesigen Deckbetten.

Eines Abends begann mein Vater dieses Gespräch über Bienchen und Blümchen. Er meinte, ich hätte ja schon in der Neuen Revue gesehen, dass Mädels anders aussehen, und man sollte unbedingt aufpassen, dass es keine Kinder gibt. Somit war ich offiziell aufgeklärt und wusste Bescheid. Um ehrlich zu sein, wusste ich nichts, und es interessierte mich auch nicht. Zur Sexualität hatte ich ein gestörtes Verhältnis, oder besser gesagt, die ganze Familie hatte ein gestörtes Verhältnis. Ich glaube meine Eltern haben mich als Baby das letzte Mal nackt gesehen und ich meine Eltern nie. Samstag war Badetag, und die Vermieterin bestieg mit ihrer kleinen Tochter und dem elfjährigen Neffen zusammen die Badewanne. Es dürfte klar sein, dass derartige Freizügigkeiten nicht in das Schema meiner Mutter passten und sie sich furchtbar darüber aufregte. Das kleine Mädchen lief den gesamten Sommer nackt auf dem Grundstück hinter dem Haus herum und ich wusste manchmal nicht, wo ich hinschauen sollte. Mit meinen zehn Jahren war ich einfach überfordert, weil ich hierauf nicht von meinen Eltern vorbereitet wurde.

Ich hätte hier auch noch die Chance gehabt, nach dem fünften Schuljahr, in eine Realschule in Nastätten zu wechseln. Das Angebot wurde von meiner Mutter abgeschlagen, und der Lehrer hakte nicht nach, weil ich noch ziemlich frisch in der Schule war und somit war das Thema erledigt. Der Grund der Ablehnung war immer noch der alte gewesen, und er ist heute noch so lächerlich wie damals.

Es war eine sehr schöne Zeit, weil wir Kinder wirklich Raum hatten, um uns zu entfalten. Ob wir mit Pfeil und Bogen auf Katzenjagd gingen, oder einem kleinen Pony die Haare geschnitten haben, hatten wir immer etwas zu tun. Die Geschichte mit dem Pony gab noch richtig Ärger, weil es ein Turnierpferd war und es Jahre gedauert hat, bis es hierfür die richtigen Haare und Haarlänge hatte. Auch der Bau eines Baumhauses, wofür wir uns Material von einem Geräteunterstand organisiert hatten, fand nicht die Zustimmung des Bauern. Wir hätten nie gedacht, dass man uns dabei erwischen könnte, weil es etwa zwei Kilometer entfernt am Waldrand war. Auf die Idee, dass man uns mit einem Fernglas hätte beobachten können, kamen wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Solche Aktion hätte auch körperliche Folgen haben können. In diesem Fall wurden wir zum Ernteeinsatz verdonnert und mussten bei der Heuernte helfen. Das war aber für uns keine Strafe, da man zwar auf dem Feld körperlich arbeiten musste, aber in gewissen Abständen auch den Traktor fahren durfte, auf den das Heu geladen wurde. Als kleiner Bub Traktor fahren ist das höchste, was es gibt. Auf dem Land war es einfach so, und man lernte Dinge, die man auch später im Leben gebrauchen konnte. Einige Sachen waren eher nicht hilfreich und so war die Kenntnis darüber, dass Kühe immer einer Leitkuh folgen, nicht sehr nützlich. War ein Bauer unterwegs, schnappten wir die Leitkuh von der Weide und führten sie in einen anderen Stall. Die anderen Milcherzeuger liefen gemütlich hinterher, und als der Bauer an seiner Kuhweide vorbeikam staunte er nicht schlecht. Ein anderer Bauer staunte umso mehr, als er mit seiner Herde am Abend in den Stall wollte, und dieser schon voll war. Das war mit Ernteeinsatz nicht abzugelten, sondern dafür gab es den Hintern voll.

Gern erinnere ich mich an unseren kleinen grünen Laubfrosch, der in seinem Glas uns die Wetterprognosen gab. Irgendwann im Winter stellte meine Mutter fest, dass das arme Tier tot war. Auf die Idee, dass der einfach nur Winterschlaf gehalten hat, kam die gute Frau nicht und warf ihn aus dem Fenster - ab in die Natur.

Das Ding mit der gemeinsamen Toilette und Bad schmeckte meiner Mutter immer weniger. Auch hatten diese Leute einen unverkrampften und freudigen Lebensstil, mit dem meine Mutter nichts anfangen konnte. Dabei waren das sehr gesellige Leute, und es ist auch mal das eine oder andere Fläschchen Bier getrunken worden.

In dieser Zeit gab es Wohnungen wie Sand am Meer. Insbesondere gab es viele Häuser, die verkauft wurden, weil sich die Bauherren übernommen hatten. Man sprach von sogenannten Bankhäusern. Oft hatten Banken diese Häuser übernommen und vermieteten diese einzelnen Wohnungen. Das war ein lukratives Geschäft für diese Banken, denn der alte Schuldner musste noch viele Jahre zahlen und die Mieteinnahmen bekam die Bank. In einem solchen Bankhaus landeten wir. Es war nur 100 Meter von unserer ersten Wohnung entfernt, wo es diesen Getränkegroßhandel leider nicht mehr gab. Die Familie ist aus dem Haus ausgezogen, und wie sollte es anders sein, es wurde zu einem Bankhaus. Dieses Haus stand für 75.000 DM zum Verkauf. Es hatte allerdings kaum Grundstück dabei und direkt hinter dem Haus war ein steiler Abgrund und insgesamt war noch viel daran zu machen, weshalb es für meine Eltern nicht infrage kam. Wer bis jetzt aufmerksam gelesen hat, wird sich wundern. Erst war die Rede von 0,20 DM für Brausepulver und jetzt wird in Erwägung gezogen eventuell ein Haus zu kaufen? Die Lösung ist ganz einfach, denn mit dem Ortswechsel fand auch ein Arbeitsplatzwechsel von Kurt und meinem Bruder statt. Sie arbeiteten in Wiesbaden im großen Werk Kalle und verdienten richtig gut Geld als Schichtarbeiter. Richtig gut Geld bedeutet, dass es ein Vielfaches von dem war, was vorher in der Eisengießerei in Kettenbach verdient wurde. Obendrein war es nicht so schwere körperliche Arbeit wie es mein Vater sein ganzes Leben gewohnt war. Es war für ihn wie ein Erholungsheim. Also Geld war momentan nicht das Problem, und die Kneipe am Monatsende gab es zwar, aber mittlerweile wurde der Lohn auf das Bankkonto überwiesen. Der Alkoholkonsum verteilte sich nun etwas und musste auch nicht unbedingt immer zusammen passieren, sondern auch unbemerkt allein.

Wir zogen also nun in ein Bankhaus mit einem schönen Grundstück, wo meine Mutter einen schönen Blick in alle Richtungen hatte, da es ein Eckgrundstück war, und auf der Rückseite gab´s Blick kilometerweit ins Feld. Das Haus hatte drei Wohnungen, wobei in der 90 Quadratmeter großen Dachwohnung ein junges Ehepaar wohnte und im Erdgeschoss eine Familie mit drei Kindern. Wir wohnten im ersten Stock, und die Wohnung hatte etwa 120 Quadratmeter. Das Haus war ca. fünf Jahre alt und somit alles in Ordnung und hätte bei einem Kauf 120.000 DM gekostet. Bedenkt man, dass Vater und Bruder sehr gut verdient haben und ich, irgendwann in ein paar Jahren, auch beisteuern hätte können, war dieser Preis geradezu lächerlich.

Nun war es so, dass Vater und Bruder in Wiesbaden arbeiteten und mit dem Werksomnibus hin und her chauffiert wurden. Das war sehr bequem und rührt noch aus einer Zeit, als das Werk dringend Arbeiter gebraucht hatte und auf den Ländern die ganzen Bauern angeworben hatte. Gleichzeitig fuhren damals Werber der großen Firmen nach Portugal, nach Spanien, Italien usw. und warben Arbeiter an. Manche erzählten, dass sie in einem Lokal in ihrer Heimat betrunken gemacht wurden und irgendetwas unterschrieben und bevor sie sich versahen, in Frankfurt am Bahnhof waren. Das gäbe es heute nicht mehr, denn erst mal müsste man ein unbezahltes Praktikum machen, dann eine Probearbeitszeit und dann einen Zeitvertrag bekommen usw.

Es kamen erste Gerüchte auf, dass dieser Werksomnibus eingestellt wird. Das wäre nicht schön, bei Wind und Wetter, bei Schnee und Eis zur Arbeit zu kommen. Bedingt durch die Schicht auch noch zu Zeiten, wo der Streuwagen noch in weiter Ferne ist. Das war also der Zeitpunkt, wo das mit dem Hauskauf nicht mehr zur Debatte stand. Schade, denn in dieser Zeit wechselten Häuser für 25.000 DM den Eigentümer. Es handelte sich hierbei um kleine, ältere Häuser, die aber zum Teil komplett saniert waren. Diese Preise wären heute undenkbar, und Grund waren wohl zum Teil auch die niedrigen Grundstückspreise. So kostete in der nächsten Stadt Nastätten ein Quadratmeter erschlossener Baugrund etwa vier Mark. Aber lassen wir das und haken es als verpasste Gelegenheit ab.

Es begann eine Zeit, die ich als dunkles Kapitel meiner Kindheit bezeichnen möchte. Wenn mein Vater frei hatte, konnte es durchaus passieren, dass es abends klingelte und Franz und Liesel vor der Tür standen. Bewaffnet mit einem Kasten Bier und einer Flasche Schnaps traten sie ein, und die Feier konnte beginnen. Christa war oft auch dabei und manchmal auch ihr kleinerer Bruder, und so wurden wir zur Schlafenszeit ins große Ehebett gepackt und gehofft, dass wir nicht stören. Ich sage manchmal scherzhaft, dass Christa das erste Mädchen war, mit dem ich im Bett war. Wir erzählten uns Geschichten, meist auch gruselige Geschichten, um irgendwann erschöpft einzuschlafen.

Das war auch nicht weiter schlimm und kam auch nicht so oft vor. Was aber dann oft vorkam und manchmal mehrfach in der Woche war der Umstand, dass meine Eltern nach Wiesbaden gefahren sind, wo Franz und Liesel einen Garten hatten. In diesem Gartengelände, dem Rosenfeld, hatte ein älterer Mann einen Getränkeverkauf. Der alte Herr Schubert hatte seine Gartenlaube zu einem kleinen Lokal umgestaltet, und es konnten auch im Winter die Leute gemütlich ihr Bier trinken. Dafür sorgte eine Heizung mit Gas. Mein Bruder blieb daheim und bekam davon nichts mit. Ich musste leider immer mit, und wer meine Mutter einmal betrunken erlebt hat, weiß, was