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»Manches fällt uns einfacher und manches schwerer. Und manchmal beginnt unser eigenes Spiel erst, nachdem uns jemand heftig in den Hintern getreten hat!« Niemand weiss das so gut wie Jonah. Seit jenem schicksalhaften Tag ist nichts mehr, wie es war. Ziellos und verloren irrt er umher. Er fühlt sich wie ein Gefangener in seinem eigenen Käfig. Dann trifft er auf Dylan. Der beliebte Junge an seiner neuen Schule hat seine Freude daran, ihn aus der Reserve zu locken und zum Duell herauszufordern. Ein Spiel, auf das sich Jonah nicht einlassen will und kann. Erst die Tatsache, dass die beiden unfreiwillig zu Projektpartnern gewählt werden, bringt den Ball ins Rollen. Was dann geschieht, folgt nur einer einzigen Spielregel: Es ist nicht immer alles so, wie es scheint ...
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Seitenzahl: 444
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L.B. Tschielly, die in Wirklichkeit Bettina Hauser heißt, wurde 1978 in der Schweiz geboren, wo sie auch heute noch zusammen mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern lebt. Sie arbeitete als Pflegefachfrau, bevor sie sich ganz dem herausfordernden Familienalltag widmete und sich immer mal wieder Schreibinseln schaffte, um ihre Gedanken auf Papier zu bringen. Ihren Wurzeln zufolge lässt sie den rätoromanischen Landesteil ihrer Heimat in ihre Bücher miteinfließen. Dare It - Spiel dein Spiel ist ihr Debütroman, den sie im Selfpublishing und unter Verwendung eines offenen Pseudonyms veröffentlichte.
Für meine Familie
»Familie ist da, wo das Leben beginnt und die Liebe niemals endet.« (Verfasser unbekannt)
Kapitel 1
Vier Monate später …
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Anhang I
Biografie über Jonah Venzin
Anhang II
Biografie über Dylan Curtins
Nachwort und Dank
Quellenverzeichnis
D er Knall hallte durch den Flur. Grelles Licht überflutete ihn. Er drohte darin zu ersticken. Warum? Warum nur? Er wollte weg! Einfach nur weg von hier! Fluchtartig ließ er das Gebäude hinter sich und rannte los, so schnell er konnte.
Es war kurz nach Mittag, Anfang Januar und bitterkalt. Der Winter verwandelte den Ort in einen eisigen Palast. Eiszapfen zierten die Regenrinnen der Dächer und die Auspuffrohre der abgestellten Autos.
Große Schneeräumungsmaschinen bewegten sich unentwegt wie fremdgesteuerte Roboter durch die Straßen und Gassen der Stadt und stießen Unmengen von Schnee vor sich her. Seit mehreren Stunden wirbelten murmelgroße Flocken vom Himmel und ließen die vereiste Landschaft unter einer weißen Decke verschwinden.
Die Umgebung nahm er nur verschwommen wahr. Seine Gedanken kreisten. Der Schmerz traf ihn in seinem Innersten. Seine Beine trugen ihn, obwohl er sich wünschte, sie hätten sich von ihm getrennt und würden diesen Weg allein gehen.
Außer Atem erreichte er einen Park. Seine ausströmende Atemluft vernebelte den Blick auf die Naturgestalten vor ihm und doch nahm er wahr, dass hier die Welt zur Ruhe kam.
Immer weiter führten ihn seine Beine, noch tiefer in die verschneite Anlage hinein. Der Straßenlärm versiegte allmählich. Lediglich das Säuseln des Windes drang in seine Ohren.
Große Bäume trugen dicke Schneemassen auf ihren Ästen. Kleinere Sträucher wehrten sich mit aller Kraft gegen das Gewicht und reckten sich, als ein Windstoß über sie hinwegzog und einige Flocken mit sich trug.
Ziellos stampfte er durch die Schneedecke. Der Weg vor ihm hatte sich verabschiedet. Weiß, so weit das Auge reichte.
Er rückte seinen dunkelblauen Winterschal zurecht, um Hals und Mund vor der wehenden Brise und der eisigen Kälte zu schützen.
Sein Blick fiel auf einen kräftigen Baum unmittelbar vor ihm. Die Größe und die Breite des Stammes überragten seine Gleichgesinnten bei weitem. Erschöpft lehnte er sich dagegen. Seine Augen wurden feucht. Er blinzelte und Tränen liefen ihm über die Wangen.
Dann schloss er die Augen in der Hoffnung, aus dem Albtraum wieder zu erwachen.
Vier Monate später …
V ollkommene Stille. Eine angenehme Wärme legte sich wie ein Mantel um ihn. Er bot ihm Schutz und Geborgenheit. Seine Atmung war tief und langsam.
Wie im Sog lenkte sich seine Aufmerksamkeit auf ein strukturiertes und gummiartiges Material. Allmählich nahm er wahr, dass es sich um einen Basketball handelte, der nun in seinen Händen ruhte.
Doch im nächsten Moment wurde der Ball in die Luft geworfen. Das niederstrahlende Sonnenlicht blendete, sodass er nur mit zugekniffenen Augen Zeuge des Schauspiels werden konnte. Er beobachtete, wie die orange Kugel sanft im Wasser landete. Der Aufprall bildete Wellenbewegungen, die sich wie Ringe vom aufliegenden Gegenstand entfernten.
Entgegen allen physikalischen Gesetzen wurde der Ball Sekunden später nach unten gezogen. Er versuchte, danach zu greifen, doch stattdessen hielt er jetzt einen tellergroßen, zappelnden Fisch fest. Nach Luft schnappend und nach Leibeskräften windend, gelang es dem Tier, sich aus der Umklammerung zu befreien.
Dann fiel der Fisch. Er fiel und fiel … bis er auf den Tasten eines Klaviers zum Stillstand kam.
Nur Sekunden später lösten sich die Tasten jedoch aus der Erstarrung und katapultierten den Fisch erneut in die Höhe. Immer und immer wieder.
Er versuchte, den Fisch aufzufangen, doch stattdessen berührten seine Fingerspitzen etwas anderes.
Kurz darauf folgte ein sanfter Händedruck. Ein Händedruck, der sich unantastbar, aber auch vertraut anfühlte. Mit aller Kraft klammerte er sich daran fest, als wollte er die Berührung für immer einfrieren lassen.
Plötzlich hörte er eine Stimme. Nicht physisch, denn sie klang wie aus weiter Ferne. Er nahm ein Gesicht vor sich wahr, umgeben von einem nebligen Dunst.
Nur langsam löste sich das rauchige Gebilde auf und ließ ihn einen klareren Blick auf seine Umgebung werfen.
»Dad?« Zittrig und leise rutschte dieses Wort über seine Lippen.
Der Mann mit den graumelierten Haaren und den kastanienbraunen Augen lächelte ihm freundlich zu.
Der Junge zuckte zusammen und blickte ungläubig.
»Aber … wie ist das möglich?«
»Du hast mir nicht richtig zugehört!«, antwortete der Mann ruhig.
Die Worte drangen tief zu ihm durch und er fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, seinen Vater womöglich enttäuscht zu haben.
»Und bei was?«, fragte er unsicher nach.
»Ich wünschte mir, dass du weitermachst«, kam es ihm entgegen.
»Ich kann nicht!«
»Versuch es!«, forderte der Mann ihn auf.
»Ich kann es nicht!«
»Doch, du kannst es!«
»Nein!«, wiederholte sich der Junge zum dritten Mal.
Gleichzeitig spürte er, wie sich sein Herzschlag und seine Atmung beschleunigten. Erneut brach eine Welle von Gefühlen über ihn herein und er glaubte, darin zu ertrinken.
»Versprich mir bitte, dass du es versuchen wirst!«, sprach der Mann beruhigend auf ihn ein.
Der Junge stand wie angewurzelt da, unfähig, sich zu bewegen, unfähig, darauf zu antworten. Er spürte, wie sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte und die Hand des Mannes zunehmend aus seiner glitt.
»Wohin gehst du?«, fragte er mit schwacher Stimme.
»Ich werde immer bei dir sein!«
»Geh nicht! Bitte!«
Doch die Mundwinkel des Mannes verzogen sich zu einem Lächeln und kurz darauf verschwand dieser wieder im Schleier der ihn umgebenden Hülle.
»Nein, Dad! Bitte, komm zurück! Dad!«
»Jonah … Jonah, wach auf!«
Zwei dunkle Augen schauten ihn besorgt an. Nassgeschwitzt und mit schnellem Atem brauchte er einen Augenblick, um zu realisieren, wo er wirklich war.
Das gedämpfte Licht der Nachttischlampe warf das Schattenbild einer Gestalt an die Wand. Es war jenes seiner Mutter, die neben seinem Bett stand. Der Schatten wirkte groß, größer als er, obwohl er sie seit knapp einem Jahr körperlich überragte – jedoch nur äußerlich. Ansonsten fühlte er sich klein. Klein und schutzlos.
Die Welt um ihn drehte sich und er schaute ihr von der Mitte aus zu. Nirgends konnte er sich festhalten. Der Boden unter seinen Füßen wurde ihm weggezogen. Er wirbelte in einer Art schwerelosem Zustand umher. Schwerelos, und irgendwie auch gefühllos.
Er hatte keine Energie mehr, sich diesem Zustand bewusst entziehen zu wollen. Und doch hoffte er insgeheim auf eine starke Hand. Jene Hand, die ihn irgendwann greifen, auffangen und von hier fortbringen würde. Aber sie war nicht da.
Obwohl sich seine Mutter mit all ihren Kräften bemühte, konnte oder wollte er ihre ausgestreckte Hand nicht halten. Vielleicht aus Angst. Angst, nicht zu wissen, was dann mit ihm passieren würde.
Doch nun stand sie da und blickte in seine aufgeschreckten Augen. Ihr zarter Körper war stark und es schmerzte ihn zu sehen, was er ihr zusätzlich zumutete.
Ja, sie trug einen schweren Rucksack, und er machte ihr diesen nicht unbedingt leichter. Doch er konnte nicht anders. Er fühlte sich wie ein Gefangener in seinem eigenen Käfig. Unfähig, ausbrechen zu können – oder überhaupt zu wollen.
»Tut mir leid, Mum. Ich habe nur geträumt«, versuchte er sie zu beruhigen.
»Es ist sechs Uhr, Jonah«, fuhr seine Mutter fort, ohne ihn mit irgendwelchen Nachfragen zu bedrängen. Sie wusste aus Erfahrung, dass diese Art der Anteilnahme genau die gegenteilige Reaktion bei ihm auslöste, als die von ihr erhoffte. Also ließ sie es bleiben und widersetzte sich dem inneren Drang, ihn zu umarmen, um den tiefen Schmerz gemeinsam zu teilen und auszuhalten. »Du solltest aufstehen«, wies sie ihn freundlich an.
*
Es war der fünfzehnte Mai, kurz nach halb acht, als seine Mutter ihren blauen Kleinwagen unmittelbar vor einem imposanten Gebäude im Zentrum der Stadt anhalten ließ.
Die Sonne strahlte an diesem Montagmorgen heiß vom wolkenlosen Himmel und rückte das im vorletzten Jahrhundert erbaute Mauerwerk aus Granit und Sandstein, das dem Betrachter zweifellos etwas Ehrfürchtiges verlieh, ins perfekte Licht.
Auf dem davorliegenden, mit Rasen, Kies und gepflasterten Anteilen gestalteten Platzes war Bewegung im Gange. Aus allen Richtungen strömten Jugendliche zielstrebig zum Haupteingang.
Jonah blickte aus dem Autofenster. Aus sicherer Distanz beobachtete er das Treiben. Ein Gewirr von Stimmen füllte die frische Morgenluft und gestikulierende Hände unterstrichen die undeutlich wahrgenommenen Worte.
»Soll ich nicht doch?«, bot ihm seine Mutter vorsichtig an. Auch wenn sie seine Antwort bereits kannte, und die Frage infolgedessen vollkommen überflüssig war, wollte sie ihm damit lediglich ihre Fürsorge ausdrücken.
»Nein«, antwortete er kurz und knapp. Er wollte ganz bestimmt nicht schon an seinem ersten Schultag peinlich auffallen. Schließlich war er kein Kind mehr.
»Wie du meinst. Dann wünsche ich dir von Herzen einen guten Start und … bis heute Abend.«
Behutsam legte sie ihre Hand auf seine Schulter. Sie spürte, wie er unter ihrer Berührung für einen Augenblick erstarrte. Nicht zu wissen, was im Kopf ihres Sohnes vor sich ging, ließ die ganze Situation beinahe unerträglich werden. Und doch hütete sie sich vehement davor, ihn mit liebgemeinten Ratschlägen zu konfrontieren. Zu groß war ihre Angst, dass er sie missverstehen könnte, und das dünne Band, das sie beide noch verband, reißen würde.
Er regte sich, nickte ihr schwach zu und öffnete schweigend die Autotür. Seine Schuhe berührten den von Rasenflächen gezäumten Kiesweg.
Da stand er also, zwar auf sicherem Terrain, aber gefühlt irgendwo in der Luft. Er musste sich selbst einen Ruck verpassen, seinen Körper langsam der Ungewissheit entgegenzubewegen, was ihn hinter diesen Mauern erwarten würde. Ein leichter Wind blies durch seine braunen Haare und neugierige Blicke musterten ihn.
Nachdem er sich in der Eingangshalle durch mehrere Schüler hindurchgeschlängelt hatte, stand er vor einer spaltbreit offen gelassenen Holztür mit der Aufschrift:
»DIREKTORIN M. MAISSEN«
Er klopfte an.
»Herein!«, sprach eine warme Stimme.
»Guten Morgen, Ms Maissen. Mein Name ist Jonah Venzin«, begrüßte er die mit einer weißen Bluse gekleidete Dame. Das gepflegte Aussehen und die schulterlangen grauen Haaren ließen ihr wirkliches Alter nur schwer erraten.
Sie erhob sich augenblicklich, schritt auf ihn zu und reichte ihm zur Begrüßung die Hand.
»Hallo, Jonah! Ich habe dich bereits erwartet. Herzlich willkommen hier am Granvancy! Hattest du eine gute Anreise?«
»Ja, danke.«
»Das freut mich! Bitte, nimm doch Platz.«
Sie wies ihn an, sich auf einen der beiden aus Massivholz gefertigten und mit dunkelgrünem Leder überzogenen Stühle unmittelbar vor ihrem antiken Schreibtisch zu setzen. »
»Hast du die Unterlagen wie Zeugnisse mitgebracht?«
Jonah bejahte ihre Frage und übergab ihr eine Mappe. Sie öffnete diese und nahm sich kurz Zeit, die einzelnen Dokumente zu studieren.
»Perfekt!«, entgegnete sie ihm sichtlich zufrieden nach ihrer ersten Beurteilung. Sie blickte auf und reichte ihm von einem bereitliegenden Stapel ein paar Blätter. »Dann wäre das hier dein Stundenplan, ein Blatt mit den wichtigsten Kontaktdaten deiner Lehrpersonen und die Schulhausregeln. Grundsätzlich haben wir hier genau drei Regeln. Erstens, wir pflegen einen respektvollen Umgang untereinander. Zweitens, du leistest deinen Beitrag und drittens steht meine Tür bei jeglicher Art von Fragen, Problemen oder sonstigen Anliegen immer offen.« Sie hielt kurz inne. »Hast du noch irgendwelche Fragen?«
»Nein.«
»Gut, dann begleite ich dich jetzt zum Geografieunterricht. Mr Vincenz vertretet dort zurzeit eine Arbeitskollegin. Sein eigentliches Fachgebiet ist Geschichte und er wird ab heute deine Klassenlehr- und Ansprechperson sein.«
*
Nach einigen Treppenstufen und Schritten durch die langen, leeren Gänge standen sie vor einer bordeauxfarbenen Schulzimmertür. Ms Maissen klopfte, öffnete diese und trat ein, während Jonah ihr mit angemessenem Abstand folgte. Unzählige Augenpaare hafteten augenblicklich an ihm.
»Guten Morgen zusammen!«, begrüßte die Direktorin die Schüler und den etwas stämmigeren Mann im Raum.
»Guten Morgen, Ms Maissen«, erklang es einstimmig zurück.
»Lennard, darf ich vorstellen … Jonah Venzin … Ihr neuer Schüler.«
Mr Vincenz bedankte sich und nickte seiner Vorgesetzten freundlich zu.
»Und dir wünsche ich einen guten Start.« Sie richtete die Worte mit einem ehrlichen Lächeln an Jonah, bevor sie sich wieder abwandte und ihn sich selbst überließ.
Immerhin jemand, dachte Jonah, der es schon mal auf seine ganz persönliche Nettigkeitsliste geschafft hatte, falls sich der neue Ort nicht als solcher entpuppen sollte. Obwohl, er würde viel dafür geben, nicht hier sein zu müssen, vor allem nicht unter den gegebenen Gründen und Umständen.
Jonah begutachtete seinen zukünftigen Lehrer. Mr Vincenz war etwas kleiner als er. Der gesetzte Mann trug eine dunkelblaue Hose und ein weißes Kurzarmhemd mit blauen Nadelstreifen. Sein noch volles dunkles Haar zog lediglich oberhalb der Schläfen ein paar graue Fäden. Jonah schätzte ihn so um die fünfzig. Er war sich aber bewusst, dass dessen ganzes Erscheinungsbild ihn eventuell jünger wirken ließ.
Aus dem rundlichen Gesicht schauten ihn zwei braune Augen an. Der Blick war warm und herzlich. Kurz darauf wandten sich diese Augen wieder dem Klassenzimmer zu.
»Du kannst dich dort zu Lorena setzen«, wies ihn Mr Vincenz an und zeigte mit einer Handgeste auf einen noch unbesetzten Stuhl in der hintersten Reihe.
Lorena hatte lange schwarze Haare und einen dunklen Hautteint. Die Haare hatte sie zu einem seitlichen Zopf geflochten und die gekonnt aufgetragene Schminke unterstrich ihre nahezu makellosen Gesichtsmerkmale.
Auch ohne Schminke hätte sie bestimmt eine gute Figur gemacht, spekulierte Jonah, als er auf seinen zugewiesenen Platz zuging.
»Aber … muss das sein? «, waren die ersten Worte, die er von seiner neuen Sitznachbarin zu hören bekam und ihm unmissverständlich ankündigten, dass sie wahrscheinlich nie die allerbesten Freunde werden würden.
»Vorerst, ja«, sprach Mr Vincenz ruhig, aber deutlich genug. »Denn wie du ja selbst siehst, ist sonst nichts mehr frei.«
Lorena verdrehte ihre dunklen großen Augen und rutschte mit ihrem Stuhl so weit zur rechten Tischkante, dass Jonah mehr als nur der ihm zugesprochene Bereich zur Verfügung hatte. Verbal wie nonverbal gab sie ihm somit alles zu verstehen, was er im Moment zu verstehen brauchte.
Mr Vincenz setzte seinen Unterricht fort, während sich Jonah mit seinen Gedanken irgendwo auf seiner eigenen Landkarte aufhielt.
*
Die Küche war klein und zweckmäßig eingerichtet. Die Farbe und der Zustand der Küchenmöbel sowie der sich darin untergebrachten elektrischen Geräte ließen erahnen, dass man sich hier in einer Wohnung älteren Jahrganges befand. Jonah saß seiner Mutter an einem kleinen rechteckigen Tisch gegenüber und stocherte in den gekochten Nudeln herum.
»Wie war dein erster Tag?«, eröffnete sie das Gespräch.
»Gut.«
»Und wie sind die Lehrer?«, fragte sie weiter nach. Sie erhoffte sich damit, den Dialog irgendwie zum Laufen zu bringen, denn ihr sechszehnjähriger Sohn zog sich innerhalb der letzten Wochen noch mehr zurück, als er es eh schon tat. Die gesprochenen Worte zwischen ihnen beschränkten sich aktuell nur noch auf deren Notwendigkeit und auf ein Minimum.
Auch wenn sie bereits ahnte, dass sie mit ihrem Vorhaben höchstwahrscheinlich ein weiteres Mal scheitern würde, wollte sie zumindest heute nichts unversucht lassen. So ein Neuanfang nach beinahe zehn guten Schuljahren am selben Ort war nicht unbedingt das, was sie sich für ihn gewünscht hatte. Nein, das war es eindeutig nicht! Wie gerne hätte sie ihm den ganzen Umtrieb erspart. Aber es ging nicht anders.
»Die sind in Ordnung.«
»Jonah, es tut mir wirklich leid, dass du die Schule noch so kurz vor dem Jahresabschluss wechseln musstest. Aber ich musste diese Arbeit und die Wohnung hier annehmen, sonst hätte ich es nicht geschafft, uns über Wasser zu halten.«
»Ich weiß«, entgegnete er ihr mit gesenktem Kopf.
»Du vermisst bestimmt auch Samuel. Vielleicht …«
»Es ist alles in Ordnung! Okay?«, gab er ihr gereizt zu verstehen und legte das Besteck scheppernd zur Seite.
»Tut mir leid, aber ich habe keinen Hunger.«
Er stand auf und Sekunden später fiel eine Tür ins Schloss.
Als Jonah am Mittwoch, an seinem dritten Schultag, zum zweiten Mal das Klassenzimmer von Mr Vincenz betrat, gehörte er zu den Ersten. Der Raum füllte sich nur langsam. Er setzte sich an den gleichen Arbeitsplatz wie schon zwei Tage zuvor und beobachtete die eintretenden Mitschüler.
Lorena umklammerte einen großen, kräftig gebauten Jungen mit dunkelblonden Haaren und einem weißen Shirt. Diesen jungen Mann kannte er nicht. In den vergangenen zwei Tagen war er nicht anwesend gewesen. Kaum hatte dieser jedoch die Türschwelle übertreten, wurde er sogleich von mehreren Klassenkameraden umzingelt.
»Und? Wie war’s?«, hörte Jonah jemanden sagen.
»Toll! Ist echt cool, wenn Trainingseinheiten im Stundenplan integriert sind«, antwortete der umschwärmte Blondhaarige.
»Dann wirst du es also durchziehen?«
Obwohl Jonah nicht ausmachen konnte, wer die Frage gestellt hatte, war es keine Kunst, dem Gespräch auch aus der Distanz beizuwohnen. Der augenblicklich gesunkene Lärmpegel ließ dies nämlich uneingeschränkt zu.
»Na ja, das Granvancy hat schon auch seinen Reiz. Ich bin hier aufgewachsen und all meine Freunde sind hier.«
Dies war zumindest jene Stimme, die er eindeutig dem Umzingelten zuordnen konnte.
»Dann hast du dich also noch nicht entschieden?«
»Nein. Im Moment tendiere ich eher dazu, meinen Abschluss hier zu machen. Zudem gehört unsere Mannschaft derzeit ja zu den Besten des Landes! Es wäre wirklich eine Schande, euch einfach sitzen zu lassen«, beantwortete der Unbekannte die Frage.
»Oh ja, das siehst du vollkommen richtig! Es ist eine Ehre, bei den GRANVANCY TIGERS überhaupt mitspielen zu dürfen … und dazu noch in der Position des Captains. All dies aufzugeben, solltest du dir also wirklich gut überlegen.«
Nach dieser kurzen Unterhaltung steuerte der blondhaarige Junge, den Arm nach wie vor um Lorenas Schultern gelegt, übertrieben lächelnd auf Jonah zu. Unmittelbar vor seinem Pult blieben die beiden stehen.
»Und du musst Jonah sein«, begrüsste ihn Lorenas männliche Begleitung.
Und du allem Anschein nach Lorenas Freund und … Captain irgendeines Teams, dachte Jonah.
Zeitgleich fragte er sich jedoch, ob er es als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte, dass ihn der Fremde direkt beim Namen ansprach. Wahrscheinlich kam eher Letzteres in Frage, mutmaßte Jonah, denn Lorena reagierte vorgestern ja nicht unbedingt begeistert, als er sich als der neue Mitschüler entpuppte.
Jonah nickte verhalten und wollte seinem Gegenüber höflichkeitshalber die Hand reichen, als dieser unverzüglich die nächste Runde einläutete.
»Nur leider ist dies unser Platz. Wärst du also so gut und könntest deinen Allerwertesten bitte woanders hinsetzen?«
Okay … damit waren die Standpunkte definitiv geklärt, fasste Jonah für sich zusammen.
Ein leises Gekicher ging durch die Klasse und Lorena genoss offensichtlich den Auftritt ihres Geliebten.
Als sich Jonah – noch in Gedanken versunken – nicht sofort bewegte, wurde er bereits von neuem ermahnt.
»Oder brauchst du etwa eine Extraeinladung?«, schallte es ihm oben herab entgegen.
Nein, brauch ich nicht! So was hab ich echt nicht nötig.
Ohne zu antworten, packte er seine sieben Sachen zusammen und stand auf. Im selben Augenblick betrat Mr Vincenz den Raum. Das Gemurmel verstummte und Jonah stand wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Klassenzimmer.
Mr Vincenz erfasste augenblicklich die Situation und entschuldigte sich bei seinem Neuzugang.
»Ich wollte gestern eigentlich noch einen zusätzlichen Schreibtisch aufstellen lassen, habe es jedoch vergessen. Mein Fehler … tut mir leid, Jonah. Setz dich doch bitte vorerst hinten an den runden Gesprächstisch.«
Noch während Jonah seine Unterlagen auf dem großen braunen Holztisch ausbreitete, lief Mr Vincenz mit einem Stapel Blätter in der Hand von Schüler zu Schüler und reichte jedem eines.
»So, dann möchte ich mal sehen, wie aufmerksam ihr beim vergangenen Unterricht gewesen seid. Wer schummelt, kriegt eine ungenügende Note und darf nächste Woche der Klasse einen Vortrag über ein von mir gewähltes Thema in Geschichte halten.«
Bei Jonah blieb er stehen.
»Hier!« Er überreichte ihm ebenfalls ein Blatt. »Du kannst es gerne versuchen. Ich werde es aber nicht benoten.«
Daraufhin setzte sich Mr Vincenz an seinen Schreibtisch im vorderen Bereich des Zimmers und beobachtete seine Schützlinge. Hin und wieder gab jemand durch ein verhaltenes Räuspern oder das Rutschen mit seinem Stuhl einen Laut von sich, ansonsten herrschte Ruhe. Nach einer knappen Stunde ertönte die Schulhausklingel und riss Jonah abrupt aus seiner Gedankenwelt.
»Gut, die Zeit ist vorbei«, brachte auch Mr Vincenz sich wieder ein. »Legt das Schreibzeug bitte zur Seite, wendet die Prüfungsblätter und belasst diese mit der Rückseite nach oben auf eurem Arbeitsplatz. Dann wünsche ich allen einen guten restlichen Tag.«
Auch Jonah tat, wie ihm gesagt wurde. Lediglich das vollgekritzelte Beiblatt fand nicht den Weg zu den anderen Blättern. Warum auch, denn letzten Endes schlug er mit seinem Gekritzel ja nur die Zeit tot und dieses hatte für einmal rein gar nichts mit dem Prüfungsinhalt zu tun. Also nahm er das Blatt an sich und entfernte sich diskret von seinem etwas abseits gelegenen Arbeitsplatz.
Doch Mr Vincenz hatte ein geschultes Auge. Ihm entging so schnell nichts. Im linken Augenwinkel beobachtete er seinen neuen Schüler dabei, wie dieser etwas Zusammengeknülltes in den zimmereigenen Abfalleimer warf.
Nachdem sich das Klassenzimmer vollständig geleert hatte, war es Mr Vincenz’ Neugier, die ihm einen Blick in die Lernkontrolle von Jonah aufzwang. Zu seinem Erstaunen war sie vollkommen leer. Kein einziges handgeschriebenes Wort zierte das weiße Blatt.
Verdutzt fiel sein Blick auf den Eimer. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn bei dem Gedanken, diesen unter die Lupe nehmen zu wollen. Dies wäre ohne Zweifel eine ziemlich indiskrete Weise, um jemanden etwas näher kennenlernen zu wollen, überlegte er sich. Wollte er dies wirklich tun? Griff er damit nicht in die Privatsphäre eines anderen ein?
Grundsätzlich gehörte es nicht zu seinem Verhaltensmuster, andere auszuspionieren. Und doch sagte etwas in ihm, dass dies erst der Anfang war. Der Anfang von ein paar noch herausfordernden Wochen bis hin zu den wohlverdienten Sommerferien.
Im Hinblick auf die vorliegenden schriftlichen Fakten von Jonahs Schulakte, die ihn heute Morgen via Schuldirektion erreichte, sollte der Neuzugang eigentlich alles andere als ein Problemfall werden. Und doch sprach sein Bauch im Moment eine ganz andere Sprache. Und aus Erfahrung wusste er, dass dieser ihn noch selten täuschte.
Also folgte er seinem Instinkt und schritt entschlossen auf die sogenannte Entsorgungsstätte zu. Dort angekommen, entwickelte er das weggeworfene und zerknitterte Blatt. Er sah Linien, eingezeichnete Punkte und Striche. Das Bild gab offensichtlich nicht die Handschrift eines berühmten Künstlers wieder, sondern sah eher wie die Zeichnung eines Kleinkindes aus. Was hatte dies zu bedeuten? Noch während Mr Vincenz auf das Blatt starrte, entschied er sich, seinen Neuzugang vorerst einmal schalten und walten zu lassen und ihn dabei aus sicherer Distanz zu beobachten.
*
Die folgenden zwei Wochen verbrachte Jonah unauffällig – wortwörtlich gemeint. Er beteiligte sich weder am Unterricht noch versuchte er Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Auch den Versuchen von einzelnen Mitschülern, ihn in ein oberflächliches Gespräch zu verwickeln, wich er gekonnt aus. Dem schönen Wetter sei Dank, gelang ihm dieses Vorhaben wie gewollt.
Die großen Pausen zwischen den Unterrichtseinheiten und die längere Mittagsruhe verbrachte er jeweils draußen auf dem Schulhausareal. Allein. Eine mannshohe Hecke, etwa fünfzig Meter abseits des Haupteinganges gelegen, wurde zu seinem Lieblingsplatz. Hier konnte er in einem Buch lesen oder seinen Gedanken nachhängen und wurde von niemandem gestört.
Seine Mutter suchte in den vergangenen Wochen immer wieder das Gespräch mit ihm. Dies trieb ihn halbwegs in den Wahnsinn. Er mochte dieses gefühlsbetonte Gerede nicht. Sein Leben war nicht mehr das, was es einmal war. Dies war die nackte Tatsache und daran konnte niemand etwas ändern. Doch auch noch ständig daran erinnert zu werden, war wie ein Messerstich, der andauernd in der frischen Wunde herumstocherte.
Das Schulhausareal war glücklicherweise groß genug, um zumindest hier allfälligen Begegnungen und Konfrontationen gezielt aus dem Weg zu gehen. Er bot jedem den Platz, den er sich wünschte, um sich allein oder in Gruppen zurückziehen zu können.
Von seinem Rückzugsort bei der Hecke konnte er einen Teil des Areals gut überblicken. Einige der Schüler unterhielten sich angeregt und wilde Gesten schienen den Worten noch mehr Ausdruck verleihen zu wollen. Andere starrten unentwegt auf ihr Smartphone, und die Welt um sie konnte sich drehen, wie sie wollte.
Weitaus interessanter zu beobachten waren die Jungs und Mädchen, welche die ersten Annäherungsversuche zu einem Gegenüber wagten, während die Übrigen die freie Zeit damit nutzten, deren Schmetterlinge im Bauch mit verliebten Blicken, Händchen halten und kleinen Streicheleinheiten fliegen zu lassen.
Es gab einige Liebespaare, dokumentierte Jonah für sich, aber auch viele unterschiedliche Gruppierungen, kleinere und größere, gemischte und gleichgeschlechtliche.
Für Jonahs Augen ein Bild, an das er sich erst einmal gewöhnen musste. Kein Wunder, denn schließlich verbrachte er beinahe sein ganzes bisheriges Leben auf dem Land. Dass sich diese städtische von der ländlichen Bevölkerung unterscheiden musste, war ihm schon vor seinem Umzug klar und ein nachvollziehbarer Fakt. Allein schon die Unterschiede im Hinblick auf die räumlichen Verhältnisse, die Masse an Menschen, die hier aufeinanderprallten und die vielfältigen kulturellen Angebote mussten unabdingbar eine andere gesellschaftliche Entwicklung erzeugen. Eine Umgebung, wo jeder einen Raum fand, um seine Individualität bewusst ausleben zu können.
Im gleichen Atemzug konnte es jedoch passieren, dass man in der Fülle an Individuen einfach unterging. Jeder konnte so sein, wie er wollte. Aber nur die Wenigsten interessierte es wirklich, warum jemand so war, wie er vorgab, zu sein. Eine Gegebenheit, die unweigerlich auch dazu führen konnte, dass man sich einsam und nicht zugehörig fühlte.
Nirgends dazuzugehören, brachte aber auch seine Vorteile mit sich, dachte Jonah. So musste er niemandem etwas beweisen oder gar Rechenschaft ablegen; konnte tun und lassen, was er wollte. Auch entband es ihn von der Verpflichtung, sich für andere zu interessieren und im Gegenzug dafür zog er ebenfalls keine Aufmerksamkeit auf sich. Eine Haltung, die von Nutzen sein konnte, wenn man einfach nur in Ruhe gelassen werden wollte – auch wenn dies nicht immer so war.
An seiner früheren Schule gehörte er einer Gruppe von Jugendlichen an, die für die quartalsweise erscheinende Schülerzeitung verantwortlich war. Aufgrund ihrer außerordentlichen schulischen Leistungen durften sie sich für diese Zusatzaufgabe intern bewerben. Er tat es und wurde aufgenommen.
In jenem Fünferteam fühlte er sich wohl, obwohl sie charakterlich sehr unterschiedlich waren. Sie ergänzten sich gegenseitig perfekt, was dazu führte, dass sie sich hin und wieder auch außerhalb der Schule trafen. Seinen besten Freund Samuel lernte er dort kennen. Als Dienstältester leitete dieser damals die Gruppe, als er vor knapp eineinhalb Jahren dazustoßen durfte. Der Gruppenleiter nahm sich seinem jungen Schützling an und schon bald entwickelte sich zwischen den beiden mehr als nur eine reine Zweckgemeinschaft.
Samuel war für ihn wie ein großer Bruder. Als dieser nach Abschluss seiner Schulzeit das Schulhaus verließ, hielten sie weiterhin Kontakt. Es war Samuel, den er damals als Ersten anrief, als sein Vater verstarb.
Ja, er vermisste die Nähe seines Freundes, obwohl er sich nach dem einschneidenden Erlebnis auch von ihm immer mehr distanzierte. Das Bedürfnis nach Nähe erwies sich nach wie vor als die größte Herausforderung. Einerseits sehnte er sich danach, andererseits überfiel ihn regelrecht eine Art Panik, Nähe überhaupt zuzulassen.
Der Schmerz über den Verlust seines Vaters umschlingte ihn wie ein dunkler Schatten. Nichts drang mehr durch, weder von außen noch von innen. Es belastete ihn zusätzlich zu sehen, wie sehr auch seine Mutter darunter litt, dass er sich ihr gegenüber ebenfalls beharrlich verschlossen hielt. Der Macht dieser quälenden Dunkelheit fühlte er sich hilflos ausgeliefert. Sie hüllte ihn ein wie ein unnachgiebiger Schleier und begleitete ihn auf Schritt und Tritt.
Er betrachtete seine nackten Füße und fühlte die angenehme Frische der Gräser des gut gepflegten Rasens. Im selben Moment nahm er eine Gruppe von Jungen wahr, die sich soeben zum Sportplatz hinter dem Schulgebäude begaben.
Einer der Jungen trug einen Basketball. Es war Dylan, der Freund von Lorena, mit dem er schon am dritten Tag seine nette Bekanntschaft machen durfte. Dylan konnte es weiterhin nicht lassen, ihn immer mal wieder wegen irgendwelchen belanglosen Sachen anzustacheln. Öfters bemängelte dieser etwas an seiner Kleidung oder seinem Verhalten, was ihm weiteren Stoff für ein kurzes Intermezzo mit seiner Kollegengruppe bot.
Jonah hielt sich jedoch demonstrativ zurück und ließ all die Bemerkungen ohne Gegenprovokationen an sich abprallen. Er hatte es nicht nötig, sich auf ein solches Niveau herunterziehen zu lassen.
*
Ganz anders kam es jedoch, als er anfangs der dritten Woche in der Kantine des geschichtsträchtigen Gebäudes stand. Bisher konnte er es vermeiden, sich während der Mittagspause in diesen Tumult von Menschen begeben zu müssen. Doch draußen regnete es in Strömen und so war sein Platz bei der Hecke keine gute Alternative.
Hohe Fenster an zwei Raumseiten ließen viel Licht in den großen, eher kühl und zweckmäßig eingerichteten Raum. Schüler setzten sich mit ihren Esstabletts in Gruppen an die Tische. Man hörte das Klappern von Geschirr und Besteck und ein Wirrwarr an Stimmen. Der hohe Lärmpegel dieser Kantine bot einigen Schülern bestimmt eine willkommene Abwechslung zum fokussierten Unterricht in den Klassenzimmern. Doch Jonah zog die Ruhe vor und setzte sich mit seinem mitgebrachten Sandwich draußen auf der überdachten Terrasse an einen der leeren Tische nahe der Gebäudemauer.
Es dauerte nur wenige Minuten, da stand plötzlich Dylan mit seinen Kollegen vor ihm. Lorena war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich führte diese mit ihren Freundinnen gerade eine angeregte Diskussion über die Trockenzeit von Fingernagellack und den aktuellen Schminktrends, mutmaßte Jonah beim Anblick ihres Freundes.
»Und? Verdient dein Vater nicht genügend Kohle, damit du dir hier ein anständiges Kantinenessen leisten kannst?«, warf ihm Dylan unvermittelt an den Kopf.
Auf diese Art der Provokation war Jonah nicht gefasst. Blitzartig stand er auf, packte den Unruhestifter am Shirt und drückte ihn an die Mauer. »Lass ja meinen Vater aus dem Spiel!«, antwortete er ihm.
Kurz darauf erstarrte Jonah in seiner Bewegung, als er bewusst wahrnahm, welche Handlung sein instinktives Ich soeben vollzog.
Mist! Was tu ich hier?
Einer der Freunde plusterte sich auf und wollte Dylan soeben zur Hilfe eilen. Doch sein mutmaßliches Opfer winkte ab.
»Wow!«, entgegnete Dylan stattdessen. »Da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen.«
Ja, das hatte er, ging es Jonah durch den Kopf. Aber dass sich dieser wunde Punkt derartig auszudrücken vermochte, schockierte und befremdete ihn zutiefst.
Mit einer einfachen Drehung befreite sich Dylan aus dem Griff und presste nun Jonahs Körper gegen das kalte Mauerwerk. Der kräfte- und größenmäßig überlegene Dylan blickte ihn durchdringend an.
Das hätte nicht passieren dürfen, tadelte sich Jonah, während er sich nicht wehrend in die Mangel nehmen ließ.
Kurz darauf stand Mr Vincenz am Ort des Geschehens.
»Gibt’s ein Problem?«
»Nein, alles bestens«, antwortete Jonahs Gegenüber souverän und löste vorsichtig den Griff. »Ich habe mich nur verteidigt, als ich von unserem Frischling hier ziemlich überraschend angegriffen wurde.«
Schon klar. Hab verstanden … und du bist wohl das Unschuldslamm in Person oder was …
Und jetzt?
Was sollte er darauf antworten?
Nur eins war sich Jonah sicher. Sich hier auf irgendwelche Diskussionen einzulassen, galt es zwingend zu vermeiden. Er stand total neben sich, was nichts Konstruktives hätte entstehen lassen können.
»Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor«, teilte er Mr Vincenz entschuldigend mit.
Jonah zückte sein Shirt zurecht und entfernte sich schweigend.
Endlich neigte sich der Unterricht an diesem Tag dem Ende zu. Englisch stand als letztes Fach auf dem Programm. Obwohl er die Sprache mochte und die äußerst attraktive Lehrperson bestimmt so einige Herzen im Raum höher fliegen ließ, sah er aktuell keinen Grund, sich damit auseinanderzusetzen. Der einzige Lichtblick war, dass ihn jede einzelne Sekunde einen Schritt näherbrachte, das Gebäude verlassen zu dürfen. Doch am Ende der Unterrichtseinheit war es Ms Janett, die ihm diesen Hoffnungsschimmer erneut raubte.
»Jonah, one moment please«, waren ihre Worte, als er gerade den Fuß über die Türschwelle setzen wollte. Auf ihre Bitte hin blieb er stehen und wandte sich seiner Englischlehrerin zu. »Mr Vincenz would like to speak to you in his classroom«, fügte sie an.
War ja klar, dachte Jonah, dass ihn Mr Vincenz noch sprechen wollte. Er ahnte bereits, dass sein Lehrer den Vorfall nicht einfach so auf sich belassen würde oder konnte.
Als er wenige Minuten später im Klassenzimmer eintraf, wies sein Lehrer ihn freundlich an, am Gesprächstisch Platz zu nehmen.
»Nun, Jonah …«, begann Mr Vincenz ruhig, aber bestimmend und kam sogleich und ohne Umschweife auf den springenden Punkt. »Ich habe das heutige Ereignis auf der Terrasse nicht an die Obrigkeit weitergeleitet. Aber ich möchte hier eines klarstellen. Eine Wiederholung solcher Aktionen wird Konsequenzen nach sich ziehen. Hast du das verstanden?«
Jonah nickte stumm.
»Doch dies nur vorweg, denn mein eigentlicher Beweggrund, dich persönlich sprechen zu wollen, hat nichts damit zu tun.« Sein Lehrer hielt für einen Augenblick inne, dann setzte er seine Rede fort. »Nun … seit deinem Übertritt an unsere Schule beteiligst du dich weder am Unterricht bei mir noch bei meinen Kollegen … noch betrachtest du es als eine Notwendigkeit, ein Prüfungsblatt auszufüllen.«
Jonah wandte seinen Blick ab. Sein Leben nahm nun mal eine abrupte Wendung, wofür er selbst nichts konnte. Alles erschien ihm plötzlich so sinnlos im Vergleich zum Schmerz und Verlust, den er aktuell auszuhalten hatte. War es denn nicht legitim und nachvollziehbar, dass sich dadurch gewisse Prioritäten verlagern konnten?
Hört sich einleuchtend an, stimmte er sich selbst zu.
Gleichzeitig wusste er jedoch, dass es nur ein weiterer Versuch war, sein auch ihn befremdendes Verhalten zu deuten und sich so aus der eigenen Schuld zu ziehen.
»Darf ich fragen, warum?«, fügte sein Lehrer an und holte ihn damit zurück auf den Boden der Tatsachen.
»Wollen Sie mich jetzt rauswerfen?« Jonah stutzte. Waren dies tatsächlich seine Worte? Er erschrak über die Tragweite dieses unüberlegt ausgesprochenen Satzes. Nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen hätte er sich ausmalen können, dass er solche Worte jemals in seinen Mund nehmen würde. War er schon so weit abgesunken?
»Nein. Es wäre vielleicht etwas anderes, wenn ich wüsste, dass du es nicht besser kannst. Aber ich kenne deine Beurteilungen von deiner früheren Schule. Also, was soll das alles? Ich verstehe es nicht …«, entgegnete ihm Mr Vincenz.
»Müssen Sie auch nicht«, antwortete Jonah leise. Wie auch, dachte er, er verstand es ja selbst nicht.
»Doch, das muss ich … zumindest sollte ich es versuchen. Ich bin dein Vertrauenslehrer und lasse es nicht zu, dass du dir damit deine Zukunft vermasselst.«
Jonahs Augen schweiften zum Fenster ab. Zukunft? Was war das? Gab es für ihn überhaupt eine?
Mr Vincenz schluckte leer. Dann sprach er ruhig weiter. »Jonah, ich weiß, dass du deinen Vater vor nicht allzu langer Zeit verloren hast und ich kann gut verstehen, dass du …«
»Nein, können Sie nicht!«, fiel ihm Jonah unvermittelt und energisch ins Wort. Er hatte es satt, sich ständig die gleichen Beileidsäußerungen anhören zu müssen. Niemand wusste wirklich, was in ihm vor ging. Also sollten sie sich alle auch gefälligst da raushalten.
»Ja, du hast recht«, stimmte Mr Vincenz zu. »Aber ich bin selbst Vater von vier inzwischen erwachsenen Kindern … und wenn ich etwas wissen sollte, dann ist es das, dass es bestimmt nicht im Sinne deines Vaters oder deiner Mutter ist, dich hier so rumhängen zu sehen und dir mit diesem Verhalten deine Chancen zu verbauen.«
Jonah neigte seinen Kopf und ließ Mr Vincenz’ Aussage im Raum hängen.
»Wir haben hier einen schulpsychologischen Dienst«, nahm sein Lehrer erneut das Gespräch auf. »Diesen dürftest du gerne in Anspruch nehmen. Manchmal tut es gut, mit jemand Neutralem zu reden.«
»Nein, danke«, antwortete er nüchtern. Er brauchte niemanden zum Reden. Er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. War das denn so schwierig zu verstehen und zu akzeptieren?
»Meine Mutter erwartet mich«, fuhr Jonah nicht ganz wahrheitsgetreu fort.
Obwohl er wusste, dass sie frühestens in einer Stunde von ihrer Arbeit nach Hause zurückkehren würde, benötigte er jetzt dringend ein Alibi. Sein Körper verkrampfte sich nämlich zunehmend und er spürte, wie ihm langsam, aber sicher die Luft wegblieb. Er musste hier schnellstmöglich raus.
*
Er stand in seinem Zimmer und sah aus dem Fenster. Häuser reihten sich aneinander. Verlassene und dicht aneinandergereihte Autos säumten seitlich die Straßenränder. Eine Allee von vier Meter hohen Bäumen zierte die Fahrbahn und trennte diese vom Gehweg, auf dem soeben eine ältere Frau mit zwei kleinen Kindern entlangspazierte.
Seine Mutter fand diese kleine, ruhiggelegene Wohnung dank dem Hinweis einer Kollegin. Zudem erwies sich die unmittelbare Nähe zu ihrer jetzigen Arbeitsstelle als ideal. Eine Bushaltestelle lag ebenfalls nur wenige Gehminuten entfernt und war seine erste Anlaufstelle, wenn er frühmorgens vom Außenquartier ins Zentrum fuhr.
Und doch vermisste er sein altes Zuhause. Seine Eltern und er bewohnten dort einen Hausteil. Es lag mitten im Grünen. Der Blick aus seinem früheren Zimmer zeigte ihm den Vorplatz, auf dem er und sein Vater sich oftmals Basketballduelle lieferten. Obwohl Sport im Allgemeinen nicht zu seinen Lieblingsfreizeitbeschäftigungen gehörte, genoss er das gemeinsame Spiel und die Zeit mit ihm.
Sein Vater arbeitete hart und sein Verdienst reichte aus, um die kleine Familie zu ernähren. Seine Mutter war gelernte Pflegefachfrau. Seit seiner Geburt arbeitete sie jedoch nicht mehr in ihrem Beruf. Sie blieb zuhause und kümmerte sich um Haus und Kind.
Selbst wenn dies rückblickend so einige Vorteile mit sich brachte, schränkte es die kleine Familie in ihrem finanziellen Handlungsspielraum auch ein. Schon früh lernte er, dass nicht immer alles möglich war und man für die Erfüllung von Wünschen auch Geduld aufbringen musste.
Zeitgleich mit seiner Einschulung wurde seine Mutter angefragt, in der ortsansässigen Bibliothek halbtags auszuhelfen. Sie nahm die Chance wahr, was dazu führte, dass er sich nun auch dort viel aufhielt und Bücher nur so verschlang. Er empfand es als ein Geschenk, in die verschiedensten Geschichten eintauchen zu können und diese, mit Hilfe seiner Fantasie, zum Leben zu erwecken.
Sein Blick fiel auf das qualitativ hochwertige E-Piano, das abgedeckt an der rechten Wandseite seines Zimmers stand. Es war ein Geschenk seiner Eltern zu seinem dreizehnten Geburtstag. Um ihm diesen langgehegten Wunsch zu erfüllen, legten sie ihr Erspartes zusammen.
Augenblicklich sah er ein Bild vor sich. Nicht direkt, sondern eine gedankliche Momentaufnahme aus seiner Vergangenheit. Es war der Tag, als sein Vater mit einem gebrauchten Keyboard unter dem Arm nach Hause kam. Er war damals neun Jahre alt und dieses prägende Ereignis hatte sich bis heute wie ein Tattoo tief in seinem Gedächtnis eingebrannt.
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Da seine Mutter vor knapp zehn Minuten nach Hause kam, schien es ihn nicht weiter zu interessieren. Er hörte Schritte. Kurz darauf verstummte der Klingelton.
»Guten Tag, Mr Vincenz«, hörte er seine Mutter sagen, nachdem sie den Anruf entgegengenommen hatte. Obwohl die Tür verschlossen war, konnte er durch die dünnen Wände der Wohnung jedes gesprochene Wort mitanhören. Sein Lehrer konnte es offensichtlich nicht lassen, ging es ihm genervt durch den Kopf. Es ärgerte ihn, dass seine Mutter erneut mit seinen Problemen konfrontiert wurde.
Einmal mehr wünschte er sich, er wäre bereits volljährig und niemandem mehr Rechenschaft schuldig. Aber trotz dieser noch nicht eingetroffenen Tatsache, hatte er nicht auch ein Anrecht auf Privatsphäre?
»Nein, davon hat er mir nichts erzählt«, sprach sie nach einer kurzen Pause weiter. – »Ja, ich weiß. Es ist schwierig. Er lässt niemanden an sich heran.« – »Ja. In Ordnung.« – »Vielen Dank, Mr Vincenz.«
Als seine Mutter einen Augenblick später auf der Türschwelle zu seinem Zimmer stand, lehnte er mit verschränkten Armen nach wie vor am Fensterrahmen und starrte nach draußen.
»Jonah? Mr Vincenz hat soeben angerufen.«
»Ja, und?«, warf er seiner Mutter gereizt entgegen und ohne ihr einen Blick zu würdigen. Seine Aufmerksamkeit beschränkte sich weiterhin auf den scheinbar weitaus interessanteren Zimmerausblick.
»Er bat mich, mit dir zu reden.«
Klar, dachte Jonah, ein bisschen Reden und die Welt sieht gleich wieder besser aus.
»Ach, lasst mich doch alle in Frieden!«, schrie er seiner Mutter aufgebracht entgegen. Doch nur Sekunden später bereute er seinen Ausruf. Seine Mutter konnte nichts dafür. Trotzdem benutzte er die Einzige ihm noch nahestehende Person immer wieder als Prellbock. Dies hatte sie definitiv nicht verdient. Er hasste sich selbst dafür.
Ich muss hier weg!
Kurz darauf drängte er sich zwischen ihr und dem Türrahmen hindurch, riss seine Jacke vom Kleiderbügel und ließ die Wohnungstür hinter sich zuknallen.
Zügig entfernte er sich vom Haus. Einmal mehr zog es ihn zum nahegelegenen Park, seiner Rückzugsoase. Jener Ort hatte etwas Beruhigendes an sich und genau das brauchte er jetzt.
Der Weg dorthin führte ihn über eine alte Holzbrücke. Wie üblich hielt er an und beugte sich über das Brückengeländer. Der Blick in das klare Wasser zeigte ihm einen Jungen, der ihm fremd war. Die Gesichtszüge waren erstarrt und die Augen fixierten freudlos einen Punkt im Nirgendwo. Und genauso fühlte er sich.
Verlassen.
Im Stich gelassen.
Verloren im Nichts …
Einerseits wütend, andererseits aber auch unendlich traurig.
Ein gelber Schmetterling erlöste ihn aus seiner Erstarrung, als dieser unmittelbar vor seinem Gesicht nach ein wenig Aufmerksamkeit verlangte. Kurz darauf begab er sich weiter Richtung Park. Dort angekommen, setzte er sich unter die breite Krone eines Baumes – seines Baumes.
Erinnerungen kamen hoch. Bilder, die ihn und seinen Vater auf einem Ausflug nach Ambrixley zeigten. Sie besuchten damals ein Heimspiel der AMBRIXLEY HUNTERS, bei dem sein Vater in jungen Jahren spielte. Doch vor jenem Basketballspiel wollte sein Vater ihm unbedingt noch etwas zeigen.
So erreichten sie nach einem kurzen Spaziergang eine kleine Anhöhe. Und da stand sie. Kräftig und stolz. Eine alte Linde. Sie thronte über der Stadt und zeigte sich in ihrer ganzen Pracht. Unmittelbar davor stand eine hölzerne Bank. Sie setzten sich für eine Weile hin und genossen beim warmen und orangefarbenen Abendlicht der Sonne den herrlichen Ausblick.
»Hier habe ich deiner Mum den Heiratsantrag gemacht«, erzählte er damals seinem Sohn. In seinem Kopf klangen die Worte und die Stimme seines Vaters auch jetzt noch leise nach, als sässe dieser direkt neben ihm. »Dieser alte Baum könnte bestimmt Bücher schreiben, was sich um ihn herum schon alles abspielte. Und glaube mir«, sprach sein Vater weiter, »dieser Baum kennt mich besser als viele meiner Freunde.«
Ein kräftiger Windstoß ließ die Blätter in der Baumkrone rascheln. Er blickte auf. Unbeabsichtigt holte ihn das Geräusch zurück in die Gegenwart. Der Baum im Park ähnelte jenem in Ambrixley. Groß und kräftig war er. Ein Baum, dessen Stamm und Wurzeln schon jedem Sturm und Unwetter trotzten. Hier fühlte er sich sicher … und geborgen.
Wie damals, als er vollkommen orientierungslos aus dem Krankenhaus rannte. Zu wissen, dass sein Vater niemals mehr nach Hause zurückkehren würde, schockierte ihn zutiefst. Jonah rannte um sein Leben und seine Reise endete in diesem Park. Es war reiner Zufall, dass sich die neue Wohnung in unmittelbarer Nähe befand.
Er kam öfters hierher, da ihn der Duft und die Stille dieses besonderen Ortes fast magisch anzogen. Der Baum gab ihm unwissend genau das, was er brauchte. Er war einfach nur da und erwartete nichts von ihm.
Die Abendsonne blinzelte durch die Blätter hindurch. Die Strahlen blendeten ihn, sodass er die Augen schließen musste. Rötliche Muster und tanzende Punkte wirbelten vor seinem inneren Auge auf, wodurch sich seine angestauten Gefühle langsam wieder beruhigten.
Wie so oft versuchte er sich bildhaft vorzustellen, wie sein Vater, umgeben von diesen leuchtenden Lichteffekten, auf ihn zukam. Und wie immer dauerte es nur wenige Sekunden, bis er dessen leicht verschwommenes Gesicht wahrnehmen konnte. Er genoss den Gedanken, seinem Vater auf diese Weise ganz nah sein zu dürfen.
Als er am Mittwoch, dem einunddreißigsten Mai, zur Doppelstunde im Fach Geschichte das Klassenzimmer betrat, saß Mr Vincenz bereits am Schreibtisch. Diese Erkenntnis kam Jonah sehr gelegen, denn er konnte sich bestens vorstellen, welche Begrüßung er allenfalls hätte über sich ergehen lassen müssen. Dylan und seine Mannschaftskollegen würden den Zwischenfall in der Kantine bestimmt nicht einfach so vorbeiziehen lassen, vermutete Jonah.
»Guten Morgen zusammen«, eröffnete Mr Vincenz seine morgendliche Rede. »Wie ihr alle wisst, neigen wir uns langsam dem Ende des Schuljahres entgegen.«
Ein erfreutes Raunen der Anwesenden machte seine Runde.
»Und so möchte ich euch mitteilen, dass ich mich entschieden habe, zum krönenden Abschluss noch eine Projektarbeit zu lancieren.«
Das begeisterte Flüstern kippte augenblicklich in ein durchdringendes Seufzen über. Doch dies hinderte Mr Vincenz nicht daran, seine Ausführungen wie gewollt fortzusetzen.
»Auch wenn sich die Projektidee inhaltsmäßig und auf den ersten Blick nur im erweiterten Sinne mit meinem eigentlichen Fachunterricht deckt, erachte ich sie dennoch als angebracht. Denn wie bei geschichtsüblichen Auseinandersetzungen mit historischen Ereignissen und ihren prägenden Persönlichkeiten werden auch hier Kompetenzen im Bereich der Wahrnehmung, Reflexion, Verständnis- und Meinungsbildung angesprochen und gefördert.«
Hochgezogene Augenbrauen und irritierte Gesichter folgten den Worten, die der Lehrer von sich gab.
»Für einmal beschäftigen wir uns jedoch nicht mit der uns fernen und fremden Vergangenheit«, fuhr Mr Vincenz fort. »Nein, dieses Mal befindet sich das Übungsfeld direkt in, vor und um uns.«
Hört sich nach etwas an, worauf ich definitiv keine Lust habe, dachte Jonah.
»Aufgrund der Tatsache, dass wir mit dem aktuellen Lernstoff im vorgegebenen Zeitplan stehen, bekam ich grünes Licht. Somit werden die Unterrichtseinheiten zu den Zwischenkriegsjahren vorübergehend auf Eis gelegt und erst im neuen Schuljahr fortgesetzt. Dies bedeutet auch, dass der bereits angekündigte Prüfungstermin mit diesem Entscheid ins Wasser fällt.«
Mr Vincenz unterbrach sich kurz, während die Klasse aus ihrer Versteinerung erwachte. Stühle quietschten und räuspernde Geräusche machten sich bemerkbar.
»Wie bereits erwähnt«, fuhr Mr Vincenz fort, »werden bei diesem Auftrag Kompetenzen auf verschiedenen Ebenen angesprochen. Und außerdem…«, ergänzte er, »wird in Zweierteams gearbeitet.«
Wer bis anhin noch nicht aus seinem morgendlichen Nachholschlaf erwachte, tat es spätestens jetzt. Eine anschwellende Unruhe breitete sich innert Kürze aus.
»Ich bin noch nicht fertig!«, stellte Mr Vincenz klar, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Die Arbeit besteht aus zwei separaten Teilen. Ihr werdet die konkreten Aufgabenstellungen sowie die zu erreichenden Lernziele schriftlich erhalten, sobald wir die Teams festgelegt haben. Vorerst möchte ich jedoch noch kurz etwas zum Inhalt erläutern.
Im ersten Teil gilt es, sein Gegenüber näher kennen zu lernen. Das heißt, ihr werdet zum Autor eures Partners ernannt und erstellt eine literarische Biografie. Und glaubt mir, ich erwarte etwas mehr als nur die Erwähnung grundlegender Daten, wie zum Beispiel das Geburtsdatum, der Geburtsort und eine Auflistung beliebiger Freizeitaktivitäten. Dieser Teil der Arbeit umfasst einen Umfang von mindestens siebentausend Zeichen inklusive Leerzeichen. Dies bedeutet, dass ihr bestimmt auch auf Unbekanntes stoßen werdet. Zudem ist euer Partner der Auftraggeber. Damit soll gesagt werden, er oder sie entscheidet selbst, welche Informationen preisgegeben werden möchten. Zum fertigen Skript muss euer Gegenüber außerdem die Zustimmung erteilen und Gegenzeichnen.
Für den zweiten Teil werdet ihr eine Gemeinsamkeit herausfiltern und präsentieren. Dafür dürft beziehungsweise sollt ihr kreativ sein. Die Präsentation pro Gruppe bewegt sich vom zeitlichen Rahmen her zwischen sechs und acht Minuten.«
Mr Vincenz legte abermals eine Sprechpause ein, da das Getuschel und Gemurmel erneut überhandnahmen. Er bat um Ruhe, bevor er seinen Monolog weiterführte.
»Den ersten Teil werde ich einzeln bewerten. Die Präsentation hingegen wird als Team benotet und zählt doppelt. Also strengt euch an, auch im Hinblick auf euren Projektpartner. Gut, soweit alles klar oder gibt es Fragen?«
Ein Blick in die Runde zeigte Mr Vincenz, dass seine Idee nicht wirklich auf großes Interesse stieß.
»Bestens!«, sprach er und setzte seine Rede unbeeindruckt dessen fort. »Wie ihr die Aufträge lösen wollt, überlasse ich euch. Heute und während den kommenden drei Wochen werde ich euch pro Woche zwei Lektionen zur Verfügung stellen, um daran zu arbeiten. Falls ihr mehr Zeit benötigt, müsst ihr euch selbstständig organisieren. Am Freitagmorgen, nach Ablauf der gesetzten Frist, erwarte ich um acht Uhr die Biografie eures Partners in gedruckter und gebundener Form auf dem Tisch und der zweite Projektteil sollte präsentierbereit sein. Wie bereits erwähnt, ersetzt diese Beurteilung die schon angeordnete Lernkontrolle im Fachgebiet Geschichte, was bedeutet, dass die erbrachte Leistung allenfalls ausschlaggebend für eure Jahrespromotion sein könnte.«
Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille. Eine Stille, die es zugelassen hätte, eine herumschwirrende und nervtötende Fliege in die ewigen Jagdgründe befördern zu können.
»Gut, wenn weiterhin keine Fragen vorhanden sind«, fügte Mr Vincenz an, »werden wir nun die Zweiergruppen bilden, deren Zusammensetzung nach dem Zufallsprinzip stattfinden.« In Folge hielt der Lehrer einen kleinen geflochtenen Weidenkorb hoch. »Ich habe hier zusammengefaltete Zettel mit je zwei gleichen Zahlen vorbereitet«, informierte er die Anwesenden. »Die notierte Zahl zeigt euren Partner sowie die Startnummer in der Präsentationsreihenfolge an.«
Als Mr Vincenz daraufhin mit den Papierschnipseln seine Runde drehte, wusste Jonah nicht, was er von dem Ganzen halten sollte. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, nicht ganz unschuldig an der Entstehung dieser Projektidee gewesen zu sein. Womöglich war es ein cleverer Versuch seines Vertrauenslehrers, ihn zum Arbeiten zu bewegen, durchfuhr es ihn instinktiv.
Jonahs gedankliche Erklärungsversuche wurden jedoch abrupt unterbrochen, als Mr Vincenz direkt vor ihm stand. Ihre Blicke trafen sich. Der kurze Moment beinhaltete mehr Worte, als sein Mund jemals hätte aussprechen können. Er zögerte, doch dann entnahm er wie verlangt ein Stück Papier. Warum er es tat, wusste er nicht.
Er faltete es aus. Gemäß Schüleranzahl würde er demnach mit einem anderen Schüler oder Schülerin das Schlusslicht bilden.
Soll ich dies nun positiv oder negativ werten?
Er starrte auf die Zahl. Gedankenverloren. Nicht wissend, was er damit anfangen sollte.
Der Lärmpegel schwoll allmählich wieder an. Einige seiner Mitkonkurrenten teilten in unüberhörbarer Lautstärke ihre Freude betreffs der Teamzusammensetzung mit. Andere begnügten sich mit einem nüchternen Okay.
»Wer hat die Neun und stellt mit mir alle vorangegangenen Präsentationen in den Schatten?«, hallte eine unverkennbare Stimme durch das Zimmer.
Es war Dylan. Groß und selbstbewusst stand er da. Seine gelockten Haare bewegten sich, als er mit seinen wasserblauen Augen den Raum durchsuchte. Langsam hob Jonah seinen Zettel und blickte in Dylans Richtung. Als dieser ihn endlich wahrnahm, verstummte die Klasse. Unzählige Augenpaare hafteten auf ihnen.
»Echt? Das ist nicht wahr, oder?« Auf Dylans Gesicht spiegelte sich der klare Ausdruck seines Missfallens wider.
Jonah zuckte nur mit seinen Schultern und empfand es ebenfalls mehr als nur ein schlechter Scherz.
Er besuchte erst seit kurzem diese Schule, hatte keine Freunde und machte sich auch nicht die Mühe, irgendwelche zu finden. Er wollte einfach in Ruhe gelassen werden. Die meisten respektierten und akzeptieren das.
Doch Dylan war anders. Er schien ihn als gefundenes Fressen ausgesucht zu haben, um seinen Status an dieser Schule immer wieder klarzustellen. Es war kein Geheimnis, dass der großgewachsene junge Mann zu den beliebtesten Jungen der Schule gehörte, so selbstsicher und gutaussehend, wie er war. Seine männlichen Kollegen aßen ihm buchstäblich aus der Hand, und die Mädchen liefen ihm scharenweise hinterher, wobei Lorena kein Blatt vor den Mund nahm, unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass sich dieser Typ für sie entschieden hatte.
Auch wenn Jonah annahm, dass Dylan, als gewählter Captain der schuleigenen Basketballmannschaft, wohl ein besonderes Maß an Kampf- und vor allem auch Teamgeistbesitzen musste, hatte er seine gerechtfertigte Mühe damit, ihn ebenso zu sehen. Sein Verhalten ihm gegenüber sprach eine ganz andere Sprache. Kampf ja, aber den Rest konnte er sich abschminken. Sonst hätte sich Jonah nicht der Frage gegenübergestellt gesehen, warum Dylan ihn derart auf dem Kicker hatte. Er hatte ihm weder sein Mädchen ausgespannt, noch provozierte er ihn absichtlich. Was war also sein Problem? Wahrscheinlich stand er ihm einfach nur im Weg, dachte Jonah. Warum auch immer …
Schließlich war es erneut Dylan, der sich dem Lehrer zuwandte – und gleichzeitig Jonah aus seinen Grübeleien riss.
»Mr Vincenz«, begann er höflich. »Das geht so nicht. Ich weigere mich, mit unserem hochmotivierten Neuankömmling hier zusammenzuarbeiten. Ich habe wirklich keine Lust, und finde es auch nicht fair, den ganzen Auftrag allein durchziehen zu müssen, während dieser nur rumsitzt und Däumchen dreht. Oder meine Zeit damit zu verschwenden, ihn irgendwie zur Mitarbeit zu animieren.«
Ja, dazu bist du ganz bestimmt nicht der richtige Mann.
Tja, Mr Vincenz’ netter Versuch ging offensichtlich daneben, beurteilte Jonah Dylans direkte und unverblümte Aussage.
»Dylan …«, entgegnete ihm Mr Vincenz ruhig. »Das Los hat entschieden. Nun liegt es an dir und Jonah …« Mr Vincenz unterbrach sich und wandte sich dem Zweitgenannten zu. Doch Jonah wich seinem Blick aus. »Es liegt an euch beiden, was ihr daraus macht«, fügte Mr Vincenz abschließend hinzu.
»Gar nichts werde ich machen!«, antwortete Dylan aufgebracht, marschierte zur Zimmertür und knallte diese hinter sich zu.
Jonah wertete stumm das soeben Gesagte. Wenigstens in diesem Punkt schienen sie einer Meinung zu sein.
Die restlichen Unterrichtsminuten stellte Mr Vincenz den Schülern zur freien Verfügung, damit ihre Projektarbeiten erste Schritte erzielen konnten. Diese Zeit wurde von den einzelnen Teams mehr oder weniger sinnvoll genutzt. Während sich einige mit Stift und Notizblock oder Notebooks bestückt bereits angeregt unterhielten, genossen andere das schöne Wetter oder ließen sich auf der Wiese liegend mit UV-Licht bestrahlen. Alle, außer Dylan und Jonah.
Von Dylan war keine Spur zu sehen und Jonah hatte es sich bei seiner Hecke gemütlich gemacht. Er zog seine Schuhe aus und fühlte den noch feuchten Boden unter den Füßen. In seinen Händen hielt er einen Grashalm, den er zum Zeitvertreib durch seine Finger zog.
*
Die folgenden Schultage gehörten zu Jonahs besten, seit er vor knapp drei Wochen den Fuß über die Türschwelle des Gymnasiums von Granvancy setzte. Der Unterricht verlief zwar wie gewohnt, aber Dylan wich ihm aus. Keine einzige provokative Äußerung gelangte über dessen Lippen. Sein früherer Unruhestifter schien ihn bewusst zu ignorieren, worüber Jonah ehrlich gesagt nicht ganz unglücklich war.