Darkdeep – Insel der Schrecken - Ally Condie - E-Book

Darkdeep – Insel der Schrecken E-Book

Ally Condie

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Beschreibung

Was würdest du tun, ... ... wenn etwas Uraltes erwacht ist? ... wenn es deine Wünsche und Träume kennt? ... wenn es die dunkelsten, schrecklichsten Dinge zum Leben erwecken könnte, die du dir je vorgestellt hast? ... wenn nur du dieses Etwas aufhalten kannst? Die Freunde Nico, Opal, Tyler und Emma entdecken in einem alten, verlassenen Hausboot ein riesiges Wasserbassin. Wer in das dunkle Wasser gerät, wird draußen im See wieder ausgespuckt – aber nicht allein. Jedes Mal, wenn einer der Freunde die Reise durch das Wasser antritt, manifestieren sich Gestalten aus ihrer Phantasie. Doch was wie ein verrückter Traum beginnt, entwickelt sich zu einer furchtbaren Gefahr. Denn plötzlich marschieren Orks, Stormtrooper und eine böse Elfe auf das Städtchen der Freunde zu. Sie wollen nur eines: Zerstörung! Und nur die vier Freunde können sie aufhalten ...

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Seitenzahl: 304

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Ally Condie | Brendan Reichs

Darkdeep

Insel der Schrecken (Band 1)

Übersetzt von Leo H. Strohm

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung1. Teil Timbers1. Nico2. Opal3. Nico4. Opal5. Nico6. Opal7. Nico8. Opal2. Teil Phantome9. Nico10. Opal11. Nico12. Opal13. Nico14. Opal15. Nico16. Opal3. Teil Der Tunnel17. Nico18. Opal19. Nico20. Opal21. Nico22. Opal23. Nico24. Opal4. Teil Das Finstertief25. Nico26. Opal27. Nico28. Opal29. Nico30. Opal31. Nico32. Opal

Für Jodi, voller Dankbarkeit und Bewunderung,

und außerdem mit ein klein wenig Furcht

1. TeilTimbers

1.Nico

Der Boden kam in rasendem Tempo näher und prallte Nico ins Gesicht.

Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst, während er einen steilen Hang hinunterpurzelte. Die Drohne verfehlte ihn nur um Haaresbreite, streifte die Spitzen einiger Grashalme und schoss dann über eine von düsteren Nebelschwaden umhüllte Klippe hinweg.

Fast hätte mich mein eigener Quadrokopter erschlagen. O Gott!

Er hörte schwere Schritte und sah Tyler Watson an der Kante des Abhangs stehen. Tyler hatte die Augen weit aufgerissen und die Sonnenbrille in seine altmodische Frisur geschoben. Einen Augenblick später tauchte Emma Fairington mit der Fernsteuerung in der Hand neben ihm auf.

»O Mann, ’tschuldigung!« Tyler fasste sich an den Kopf. »Ich glaub, da hat sich was verklemmt oder so.«

»So ein Quatsch!«, fauchte Emma ihn an. »Du hast einfach die Richtung verwechselt. Zum Steigen hättest du den Regler nach unten drücken müssen, du Genie.«

»Das ist doch total unlogisch!«, erwiderte Tyler aufgebracht.

Eine Sekunde später kam die Drohne wieder aus dem Nebel hervorgesaust und zog einen hohen Bogen über der dicht bewölkten Pazifikküste im Nordwesten der Vereinigten Staaten. Nico stöhnte erleichtert und wischte sich die kastanienbraunen Haare aus der Stirn. »Gut gemacht, Emma. Ich schulde dir ein Eis – du hast freie Auswahl.«

Emma nickte zustimmend. »Schokolade mit Marshmallows und Nüssen, ist doch klar.«

»Siehst du? Alles gut.« Auch Tyler seufzte und reckte den Daumen in die Höhe. »Also, das Wichtigste ist doch, dass Nicos Drohne heil geblieben ist. Wen interessiert schon, ob irgendjemand jemand anderen fast umgebracht hätte und womit?«

»Na klar.« Nico verdrehte die Augen.

»Das hätte praktisch jedem passieren können.« Tyler war klein und dünn, hatte dunkle Haut und ein ansteckendes Lächeln. Er blickte zu Nico hinab, der nur eine Körperlänge von einem ausgesprochen tiefen Abgrund entfernt auf der nebelverhangenen Klippe lag. Jetzt, wo er wusste, dass seinem Freund nichts zugestoßen war, konnte Tyler sich das Lachen kaum verkneifen. »Ist … ist alles okay, Nico? Hat ganz schön weh getan, oder?«

Nico war froh, dass er heil geblieben war. Er tat zwar gerne so, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, aber einen Abhang hinunterzustürzen, nur um nicht von einer wildgewordenen Drohne erschlagen zu werden … da konn te man schon mal ein bisschen unruhig werden. Vor allem, wenn sein Dad flussaufwärts in seinem Forstbüro saß und sein Bruder weit weg auf dem College war. Mit zwölf galt man in der Familie Holland als selbständig, aber ein Krankenhausaufenthalt war dabei nicht vorgesehen.

»Alles super!« Nico spuckte ein paar Grashalme aus. »Vielleicht könntest du beim nächsten Mal versuchen, mich nicht mit meiner eigenen Erfindung umzubringen.«

»Mit deiner Erfindung?« Tyler schnaubte vernehmlich, während er Nico beim Aufstehen half. »Ohne uns hättest du das Ding doch nicht mal aus der Schachtel gekriegt.« Er fing an zu lachen, und Nico konnte gar nicht anders, als mitzulachen. So war es immer mit Tyler.

»Außerdem war es auch meine Schuld«, gestand Emma, als die Jungen sich auf den Weg zu ihr nach oben machten. »Ich habe Ty die Richtung angesagt. Wir wollten die Szene aus Rogue One nachspielen, wo die X-Wings den Strand attackieren.« Ihre blauen Augen blitzten, während sie mit den Händen die Raumgleiter im Sturzflug imitierte. Emma redete ständig über Filme, sowohl über ihre Lieblings-Science-Fiction-Filme als auch über die, die sie eines Tages selbst drehen wollte. Und solange Nico nicht gerade das Ziel einer feindlichen Attacke war, fand er das sehr unterhaltsam.

»Wir haben wahnsinnige Bilder gemacht«, sagte Tyler. »Alter, dein Gesicht, als du um dein Leben gerannt bist? Unbezahlbar.«

»Stimmt!« Emma fuchtelte mit ihrem Handy durch die Luft. »Willst du mal sehen, wie du den Hügel runtergekugelt bist? In Zeitlupe?«

»Lieber nicht.« Nico blinzelte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Im Moment sehe ich drei Handys gleichzeitig.«

Emma wurde sofort ernst, aber Nico stieß sie mit der Schulter an, zum Zeichen, dass er nur Spaß gemacht hatte. Sie spähte in die Nebelwand, die sich hinter ihnen auftürmte, und fröstelte. »Sehen wir mal nach der Drohne. Vielleicht sollten wir sie lieber woanders fliegen lassen.«

Tyler nickte hastig. »Ganz egal wo, Hauptsache nicht mehr hier, wo die Albträume gemacht werden.«

Nico wusste genau, was er meinte. Niemand wagte sich freiwillig in die Nähe der Stummen Bucht. Sie liefen zurück und untersuchten den Quadrokopter.

Sie waren aus einem ganz bestimmten Grund bis hierher auf diese abgelegene, acht Kilometer nordöstlich von Timbers gelegene Wiese geradelt, sogar noch über das alte Fort bei Razor Point hinaus. Denn sie war der flachste Teil dieses Küstenabschnitts des Bundesstaats Washington. Außerdem wehte der Wind hier nicht so stark wie sonst überall, und das umliegende Land war unbewohnt, so dass sie ganz ungestört waren.

Nico warf noch einen Blick zurück in den Nebel. Jedes Kind in Timbers war mit Horrorgeschichten über die Stumme Bucht aufgewachsen, einem kleinen, von hohen Klippen umringten und ewigem Nebel umhüllten Meeresarm. Wegen der hohen, zerklüfteten Felswände und der ständig wechselnden Strömungen war die Bucht für Boote unzugänglich. Es wäre viel zu gefährlich gewesen. Und dann waren da auch noch die Gerüchte über die Bestie.

Sie sorgten dafür, dass die Leute sich ganz bewusst von hier fernhielten. Sollten die Touristen ruhig spöttisch kichern, wenn sie die Geschichten über das legendäre Seeungeheuer vom Skagit Sound, der Meerenge vor Timbers, zu hören bekamen, die Einheimischen jedenfalls kicherten nicht. Sie hatten schon zu viele Boote verloren.

Aber Nico hatte unbedingt möglichst gute Bedingungen haben wollen, um seine neue Drohne auszuprobieren. Er hatte vier Wochen gebraucht, um sie zu bauen, und sechshundert Dollar dafür ausgegeben. Sein gesamtes Geld. Er zuckte zusammen, als Emma ihm eine Hand auf die Schulter legte. Sie merkte es gar nicht, während sie mit verkniffener Miene in die Nebelschwaden starrte. »Ich glaube, ich werde mich nie an diesen Ort hier gewöhnen«, sagte sie leise.

Zu ihrer Rechten war der Himmel über dem Skagit Sound bewölkt, so wie meistens. Tief unten schlugen die Wellen sanft gegen das Steilufer. Aber geradeaus, direkt vor ihr, da machte die Stumme Bucht ihrem Namen alle Ehre – von Klippenrand zu Klippenrand spannte sich ein dichtes Nebeldach, als sei der ganze Meeresarm ein völlig selbständiges Ökosystem.

Emma zitterte. »Was glaubt ihr? Ob es da unten wirklich eine Bestie gibt?«

»Sei bloß still«, krächzte Tyler, und seine ansteckende Fröhlichkeit löste sich schlagartig in Luft auf. »Wenn ich mir überlege, wie blöd wir waren, dass wir so dicht da rangegangen sind … als wollten wir uns freiwillig zum Abendessen servieren.«

Nico schnaubte verächtlich. »Ach, komm schon, Alter. Es gibt keine Seeungeheuer.«

»Sagen die Leute, die von Seeungeheuern gefressen werden.« Tyler schob seine Sonnenbrille auf die Nase. »Ihr wisst doch, was mit dem Merry Trawler war, oder etwa nicht? Meine Schwester hat erzählt, dass das Boot in den Hafen getrieben ist, und zwar mit dreißig Zentimeter breiten Bissspuren.«

Tylers Dad war der Hafenmeister von Timbers, seine Mutter die Vorsitzende des Fördervereins zur Erhaltung des Leuchtturms, und seine große Schwester Gabrielle arbeitete im Sommer regelmäßig auf den Charterbooten der Hochseefischer. Alles in allem wussten die Watsons mehr über den Skagit Sound als jede andere Familie in Timbers, aber Tyler verabscheute das Meer.

»Deine Schwester weiß genau, dass du ihr jedes Wort glaubst«, sagte Nico. Er wollte Tyler eigentlich nur ein bisschen ärgern … ohne es zu wollen, warf er aber trotzdem einen verstohlenen Blick auf die Nebelwand. Man kann wirklich überhaupt nichts erkennen. »Lassen wir die Drohne noch mal starten«, sagte er und schüttelte den kühlen Schauder ab. »Ich möchte mal die Reichweite testen und ein paar Rückwärtsloopings ausprobieren.«

»Du weißt doch nicht mal, was das heißt«, gab Tyler zurück, und dann lachten sie beide laut los.

Eine kleine Eule flatterte über die Klippenkante, landete krächzend auf dem Boden und fixierte die Drohne mit starrem Blick. Als der Vogel die Federn aufplusterte, klatschte Emma in die Hände. »Oh, Wahnsinn. Ist das eins von diesen Käuzchen, wegen denen es so viel Streit gibt?«

Nicos Grinsen erlosch. Er trat gegen einen Kieselstein. »Keine Ahnung. Kann sein.«

Emma verzog das Gesicht. »Tut mir leid, Nico. Ich hab nicht dran gedacht.«

Vor einem Jahr hatte Nicos Vater Anzeige gegen den größten Arbeitgeber des Städtchens erstattet, weil die Holzarbeiten der Nantes Timber Company aus seiner Sicht die Nistplätze einer vom Aussterben bedrohten Eulengattung, des sogenannten Fleckenkäuzchens, gefährdeten. Das Gericht hatte ihm recht gegeben und Tausende Hektar Land unter Naturschutz gestellt. Der Besitzer der Firma, Sylvain Nantes, hatte daraufhin mehrere Dutzend Arbeiter entlassen.

Das ganze Städtchen war von den Entlassungen betroffen. Nico und sein Vater waren seitdem pausenlos feindseligen Blicken ausgesetzt. Warren Holland war immun gegen die negative Stimmung, weil er unerschütterlich von seinen Grundsätzen als Nationalparkwächter überzeugt war. Nico hingegen spürte jeden einzelnen Blick wie einen Nadelstich.

»Also, ich finde, die sind wunderschön«, sagte Emma, als das Käuzchen wieder wegflog. »Ich finde, dass wir sie auf jeden Fall schützen müssen.« Nico nickte, sagte aber nichts.

»Kommt, wir probieren die Drohne aus. Mal sehen, ob sie wirklich nichts abgekriegt hat«, sagte Tyler, um das Thema zu wechseln. Als sie gerade den Unterbau mit den Kufen untersuchten, wurde die Stille von einem neuen Geräusch durchbrochen, einem tiefen Brummen, das Nico bis in die Eingeweide spüren konnte. Er glaubte, das Geräusch zu kennen, und das verhieß nichts Gutes. Nur einen Augenblick später erschienen über der Hügelkuppe zwei verschwommene Schatten.

Quads. Verchromt und blitzblank poliert. Nico sank das Herz bis in die Schuhsohlen.

Es gab nur wenige Kinder in Timbers, die ein eigenes Quad hatten.

Der größere der beiden Fahrer richtete sich auf und zeigte in Nicos Richtung. Dann röhrten die Motoren auf, und die geländegängigen Allradfahrzeuge kamen direkt auf Nico und seine Freunde zugerast. Sie umkreisten die drei, und die Fahrer lachten und gestikulierten, während sie ihre Quads zum Stillstand brachten. Der größere Fahrer nahm seinen Helm ab und brachte einen verschwitzten, zerzausten schwarzen Haarschopf zum Vorschein. Er sah Nico aus dunklen Augen an.

Logan Nantes. Nico fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht.

»Nun sieh mal einer an!«, rief Logan. »Die Spinner haben ein Modelflugzeug.«

Carson Brandt sprang vom Sattel des zweiten Quads, lachte laut und nahm ebenfalls seinen wie ein Totenschädel lackierten Helm ab. Sommersprossen kräuselten sich auf seiner sonnenverbrannten Nase. Parker Masterson, der hinter ihm gesessen hatte, stieg als Letzter ab und verzog den Mund zu einem hämischen Grinsen.

»Das ist doch kein Flugzeug.« Tyler nahm seine Sonnenbrille ab. »Das ist ein Quadrokopter, ein Phantom 3. Eine Drohne, Mann! Die haben wir selbstgebaut.«

»Und wenn schon«, gab Carson missmutig zurück. Tyler ließ den Kopf sinken.

Nico schluckte und musterte die Neuankömmlinge der Reihe nach auf der Suche nach einem freundlichen Gesicht. Er konnte keines entdecken.

Obwohl, vielleicht gab es bei Opal Walsh einen Anlass zur Hoffnung. Sie stieg von Logans Soziussitz und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr langer schwarzer Zopf fiel ihr über die eine Schulter. Sie machte ein Gesicht, als würde sie gezwungen, sich eine Vorstellung anzuschauen, die sie gar nicht sehen wollte.

Ihre Blicke begegneten sich, und Nico entdeckte in Opals Augen einen Hauch von … Unbehagen? Mitgefühl? Verlegenheit? Doch er verschwand genauso schnell, wie er gekommen war. Sie wandte sich ab und machte Nico klar, dass er von ihr keine Hilfe zu erwarten hatte.

Im Kindergarten habe ich immer meinen Nachtisch mit dir geteilt, du dumme Nuss. Doch Nico hatte keine Zeit mehr, seine einstige Spielkameradin länger anzustarren. Logan hatte sich direkt vor ihm aufgebaut.

»He, Mr Rettet-die-Welt«, eröffnete Logan. Carson und Parker lachten laut. Opal bohrte mit der Spitze ihres Turn schuhs in der Erde. Was wollte sie bloß bei diesen Vollpfosten? Aber die Frage konnte er sich später in Ruhe stellen. Jetzt musste er sich auf die unmittelbar vor ihm stehende Gefahr konzentrieren.

Spiel nicht den Helden. Duck dich lieber weg, wie eine typische Niete eben.

»Hallo, Logan«, sagte Nico so beiläufig wie nur möglich. Es klang sehr gekünstelt. »Was geht ab? Coole Kiste hast du da.«

»Na klar«, gab Logan in schneidendem Tonfall zurück. »Ein Trailbreaker Extreme. Was Besseres gibt’s nicht.«

Nico nickte und tat beeindruckt. Um ganz ehrlich zu sein, das war er auch. Logans Dad war der Besitzer der Holzfabrik und außerdem der reichste Mann der Stadt. Früher war er noch reicher gewesen, aber Nicos Vater hatte dafür gesorgt, dass seine Einnahmen zurückgegangen waren, und das war eine unangenehme Wahrheit, die er bestimmt gleich auf sehr unangenehme Weise zu spüren bekommen würde, da war Nico sich sicher.

»Haltet ihr vielleicht nach seltenen Vögeln Ausschau?« Logan lächelte finster. »Damit ihr noch mehr schutzbedürftige Arten auf die Liste setzen könnt?«

Nico hielt die Luft an. Es hört einfach nie auf.

»Hör zu, Logan«, fing Nico an. »Ich habe nicht …«

»Ist das deine Drohne?« Logan unterbrach ihn und zeigte auf den Quadrokopter.

Das war, fand Nico, eine ziemlich bescheuerte Frage, aber er beantwortete sie trotzdem. »Ja.«

Logan bückte sich und nahm das Fluggerät ein bisschen gründlicher in den Blick. »Ziemlich cool. Kann ich mal eine Runde damit drehen?«

O nein. O nein o nein o nein.

Emma fing einen Blick von Nico auf und schüttelte den Kopf. Tyler verzog den Mund, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Aber Nico hatte keine andere Wahl.

»Klar. Okay. Bloß … du weißt schon …«

Logan erhob sich langsam und hielt Nicos Blick stand. »Bloß … was, Nicolas?«

Nico schluckte. »Sei einfach vorsichtig. An die Steuerung muss man sich erst gewöhnen.«

Logan ließ seine perfekten weißen Zähne sehen. »Keine Sorge. Damit komme ich schon klar.«

Er streifte seine Motorradhandschuhe ab und streckte die Hand aus. Zögerlich reichte Nico ihm die Fernsteuerung. Gebannt sahen sie zu, wie Logan den Quadrokopter senkrecht nach oben steigen ließ. Ein ehrliches Lächeln legte sich auf seine Miene, während er die Drohne in einem großen Kreis um die ganze Wiese steuerte, bis sie schließlich wieder über ihren Köpfen schwebte. »Echt cool, Nico, echt.«

Nico stieß einen unterdrückten Seufzer aus. Vielleicht wollte Logan ja tatsächlich nur die Drohne fliegen.

»Aber eins würde mich interessieren.« Logan rollte mit den Schultern. »Sind Drohnen genauso schnell wie Käuzchen?«

Noch bevor Nico antworten konnte, drückte Logan den Steuerungshebel bis zum Anschlag nach vorne. Die Drohne sauste los, direkt auf den Nebelschleier über der Stummen Bucht zu.

»Halt!« Nico wollte nach der Fernsteuerung greifen, doch Logan stieß ihn zurück, und Carson hielt ihn an beiden Armen fest. Parker fixierte Emma und Tyler mit wütenden Blicken. Hilflos musste Nico mitansehen, wie seine Drohne in den Nebelschwaden verschwand.

»Wer weiß, Holland?« Logan ließ die Fernsteuerung fallen und beförderte sie mit einem Fußtritt außer Reichweite. »Vielleicht ist die Stumme Bucht ja ein Schutzgebiet für Elektroschrott.«

Während Logan zu seinem Quad stolzierte, stürzte Nico sich hastig auf die Fernsteuerung. Er schnappte sie sich und versuchte verzweifelt, seine Drohne aus dem Nebel zu lenken.

Lautes Gelächter ertönte, als die anderen ihre Quads bestiegen, die Motoren anließen und davonfuhren. Verzweifelt zog und zerrte Nico an den Steuerhebeln, ohne dass die Drohne sich sehen ließ.

Emma schniefte. Tyler legte Nico die Hand auf die Schulter. »Tut mir echt leid, Mann«, sagte er leise. »Wahrscheinlich ist sie außer Reichweite geraten und abgestürzt. Diese Typen sind die größten Idioten auf der ganzen Welt.«

Nico schüttelte den Kopf. Wut und Fassungslosigkeit ballten sich in seiner Brust wie geschmolzenes Kaugummi. »Nein. Das ist ein Phantom! Wenn die Verbindung abreißt, bleibt sie in der Luft stehen und wartet ab. Und sobald es wieder Funkkontakt gibt, kommt sie zurück.« Doch auch nachdem er die Hebel seiner Fernsteuerung wiederholt in alle Richtungen geschoben hatte, tat sich nichts.

Emma wischte sich über die Augen. »Wieso waren die überhaupt hier? Ich war mir so sicher, dass wir hier draußen ungestört bleiben würden.«

»Die fahren mit diesen beknackten Dingern überallhin«, murmelte Tyler. »Logan macht doch gerne einen auf obercool.«

Nico wollte sich mit der Niederlage immer noch nicht abfinden. Er richtete sich auf und stapfte auf den nebelverhangenen Klippenrand zu. »Das Problem ist die Entfernung. Ich muss nur näher rangehen. Dann bekomme ich wieder ein Signal, und alles ist in Ordnung.«

»Alter!« Tyler hob in einer Geste der Hoffnungslosigkeit die Hand. »Da unten liegt die Stumme Bucht. Wir können nicht mal das Wasser sehen. Das Ding ist weg, Mann. Keine Chance.«

»Ich muss ja gar nicht bis nach unten gehen. Bloß so weit, dass ich wieder eine Verbindung zu der Drohne bekomme.«

Nico begann, an der Kante hin und her zu gehen. Vor ihm fielen die Klippen senkrecht ab. Nirgendwo gab es eine Stelle, an der man hätte tiefer steigen können, bis Nico etwa zwanzig Meter entfernt eine steil geneigte Felsnase entdeckte, die direkt in den Nebel hineinreichte. »Da! Darauf kann ich entlangkriechen, bis ich tief genug bin, um eine Verbindung zu bekommen.«

Tyler schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Nico, nein! Du kannst doch nicht mal sehen, wo die hinführt.«

»Er hat recht!« Emmas Stimme zitterte. »Das ist viel zu gefährlich, Nico. Mach das nicht!«

Doch Nico war bereits dabei, sich behutsam auf den Felsvorsprung zu schieben. »Alles gut, Leute. Ehrlich. Ich passe auf. Ich bin ja nicht wahnsinnig.«

»Dann hör auf, dich wie ein Wahnsinniger zu benehmen!« Tyler stampfte tatsächlich mit dem Fuß auf. »Du hast keine Ahnung, wie weit der Felsen reicht, und außerdem kannst du die Drohne bei dem Nebel sowieso nicht fliegen. Komm wieder zurück, bevor du abstürzt!«

Nico beachtete Tyler jedoch nicht und steckte die Fernsteuerung in die Tasche seines Kapuzenpullovers. Er hatte sein ganzes Geld für diesen Quadrokopter ausgegeben. Er würde nicht zulassen, dass Logan Nantes ihm den einfach wegnahm. Niemals.

»Tyler, alles in Ordnung. Ich habe sicheren Boden unter den Füßen. Wenn ich immer nur einen Fuß v…«

Kieselsteine knirschten, gefolgt vom leisen Scharren einer Gummisohle auf rutschigem Stein.

Nico taumelte, verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen. Mit angehaltenem Atem und weit aufgerissenen Augen starrte er seine Freunde an. Dann stürzte er in die Tiefe und verschwand im Nebel.

Er hatte nicht einmal Zeit, zu schreien.

2.Opal

Das ist nicht richtig.

Während sie wegfuhren, hatte Opal ununterbrochen vor Augen, was Nico für ein Gesicht gemacht hatte, als die Drohne im Nebel verschwunden war. Als Kinder waren sie gute Freunde gewesen. Es hatte ihm schon immer Spaß gemacht, zu basteln und irgendwelche Sachen zu bauen. Wie lange hatte er wohl für dieses Fluggerät gebraucht? Wie viel hatte es ihn wohl gekostet?

»Halt an«, sagte Opal.

Logan drehte sich kurz zu ihr um. »Was?«, brüllte er.

»Anhalten, hab ich gesagt!«

Logan kniff die Augen zusammen, bremste aber trotzdem und brachte das Quad zum Stehen. Opal streifte den Helm, den er ihr geliehen hatte, vom Kopf. Logan nahm seinen ebenfalls ab und fuhr sich mit schmutzigen Fingern durch die Haare. »Stimmt was nicht?«

Opal stieg ab, während das andere Quad im Leerlauf neben ihnen ausrollte. »Was ist denn los?«, rief Parker.

»Ich gehe zurück.« Opal hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.

»Wohin zurück denn?« Als Opal nicht reagierte, gab Logan seinem Quad die Sporen, fuhr einen weiten Bogen und versperrte ihr den Weg.

»Das weißt du genau.« Opal stemmte die Hände in die Hüften. »Das hättest du nicht machen sollen.«

Sie sah, wie sein Blick hart wurde. Das kam oft vor, wenn jemand in seiner Nähe über Nico sprach. Logan konnte wirklich nett sein, ja, gelegentlich fand Opal ihn sogar richtig süß. Aber jetzt gerade nicht.

»Ich helfe ihnen beim Suchen«, sagte sie.

Carson, der auf dem Sozius des zweiten Quads saß, prustete. »Das Ding ist weg, Mann. Das finden die nie wieder.«

»Wahrscheinlich war es ziemlich teuer.« Opal sah Logan direkt ins Gesicht. Ob er mitkommen würde? Er mochte sie schließlich, oder etwa nicht? Erst vor kurzem war sie zusammen mit ihren Eltern aus ihrem alten Haus ausgezogen, und jetzt wohnten sie auch in der Overlook Row, bei ihm um die Ecke. Seither nutzte er jede Gelegenheit, um sie in seiner Nähe zu haben.

Aber jetzt schüttelte Logan verärgert den Kopf. »Er hat meinen Dad ungefähr eine Million mal mehr gekostet als diese blöde Drohne.«

»Das war sein Vater«, erwiderte Opal, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war. »Nico hat überhaupt nichts damit zu tun.«

»Trotzdem.« Logan setzte den Helm wieder auf. »Los, komm jetzt, das ist doch Schwachsinn.«

Opal warf Logan ihren Helm zu, so dass er ihn gerade noch fangen konnte, und streifte das andere Quad mit einem kurzen Blick. Carson klappte spöttisch grinsend sein Visier herunter. Parker zuckte nur mit den Schultern.

Kein Wunder. Opal war neu in der Clique, und nach allem, was gerade passiert war, gehörte sie vielleicht schon gar nicht mehr dazu.

»Na schön.« Logans Stimme klang enttäuscht und verbittert. »Das heißt wohl, dass du zu Fuß zurück in die Stadt gehen willst, oder?«

»Das heißt es wohl.« Opal stapfte an ihm vorbei. Die langen Grashalme strichen über ihre Beine. Sie spürte genau, dass das die richtige Entscheidung war, und dieses Gefühl hielt an, bis die Quads davongerollt waren. Es hielt so lange an, bis sie den Hügel erklommen hatte und die schreiende Emma sah, während Tyler sich die Haare raufte.

Irgendetwas stimmte da nicht.

Sie legte die letzten hundert Meter im Laufschritt zurück und blieb erst kurz vor der Klippe stehen. »Was ist denn los?«

»Nico ist abgestürzt!«, brüllte Tyler und spähte über die Kante. Er fragte nicht einmal, was sie hier wollte.

Eine Eiseskälte ergriff von Opal Besitz. »In die Schlucht?«

Tyler nickte. Sein Mund bewegte sich, aber kein Laut drang nach draußen.

»Habt ihr schon die 911 angerufen?« Opal riss ihr verschrammtes Handy aus der Tasche. »Oder sonst jemanden?«

»Kein Netz«, stieß Emma mühsam hervor. Blankes Entsetzen sprach aus ihrem Blick. »Erst am Razor Point wieder.«

Sie hatte recht – keine Balken. Die nackte Panik ergriff von Opal Besitz. Noch nie war jemand in die Stumme Bucht gestürzt. Zumindest hatte sie von so einem Vorfall noch nie gehört, und sie lebte seit ihrer Geburt in Timbers. »Wir müssen runterklettern«, sagte sie. »Sofort.«

»Es gibt doch gar keinen Weg!«, stöhnte Tyler und wischte sich über die rotgeränderten Augen, während er ununterbrochen in den Nebel starrte. »Deswegen ist Nico ja abgestürzt. Er wollte seine Drohne zurückholen.«

»Dann bahnen wir uns eben einen Weg«, gab Opal wütend zurück. »Oder wollt ihr’s etwa gar nicht erst versuchen?«

Tyler zuckte zusammen, aber Opals Wut schien Emma aus ihrer Erstarrung zu reißen. »Eine Rettungsmission«, flüsterte sie. »Genau. Wir müssen uns beeilen.«

Opal nahm alle Kraft zusammen, um nicht durchzudrehen, und führte Emma am Rand der Klippen entlang. Tyler folgte ihnen.

»Vorsichtig. Die Steine sind ganz schön glitschig.« Opal suchte die steil abfallende Kante ab. »Aber es muss doch irgendwo einen Weg nach unten geben. Einen Wildpfad oder so. Vielleicht gehen ja die Tiere da runter, um zu trinken.«

»Was sollen die denn trinken?«, erwiderte Tyler mit gesenktem Kopf. »Das Salzwasser vielleicht?«

»Halt einfach die Augen offen!«, fauchte Opal ihn an.

Sie suchten alles gründlich ab, bogen Büsche und elastische Zweige beiseite, schimpften laut, wenn der Boden unter ihren Füßen nachgab. Es war unheimlich, so dicht bei der Stummen Bucht. Als würde ein kalter Atemhauch ihren Nacken entlangkriechen.

Sie versuchte, nicht daran zu denken, was jede verstreichende Sekunde für Nico bedeutete.

Er kann doch schwimmen, oder? Natürlich kann er schwimmen.

Aber die Stumme Bucht besaß keinen Strand. Er kam dort nicht wieder weg. Und was mochte wohl am Grund auf ihn lauern?

Was, wenn er gar nicht ins Wasser gefallen ist? Oder wenn es nicht tief genug war?

»Da!« Emma zeigte auf eine Stelle hinter einer einsamen, hochaufragenden Tanne. Dort führte ein kaum sichtbarer Trampelpfad an der Klippenwand entlang nach unten.

Halleluja.

»Ich gehe vor«, sagte Opal. »Kommt jemand mit?«

Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern betrat mit behutsamen Schritten den Pfad, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Kurz darauf hörte sie, dass ihr zwei Paar Füße folgten. Sie drehte sich nicht um. Sie konnte nicht. Der Trampelpfad führte steil bergab, aber mehr als die nächsten zehn Meter waren nicht zu erkennen. Alles andere lag im dichten Dunst.

»Nico?«, rief Opal. Der Nebel schien ihre Stimme einfach zu verschlucken. Irgendetwas streifte an den Zweigen eines Baumes entlang, der sich in die Klippenwand krallte. Opals Puls raste. Und wenn das Nico war?

Wieder spürte sie eine leise Bewegung, kaum erkennbar inmitten der Nebelschwaden. Ein paar Blätter wehten beiseite, und dann starrte ein Käuzchen auf sie herab, das sich durch die Anwesenheit von Menschen anscheinend gestört fühlte. »Mit euch hat das alles angefangen«, zischte Opal. »Mit euch und damit, dass ihr vom Aussterben bedroht seid.« Das Käuzchen wandte sich ab.

»Opal?«, rief Emma von oben. »Alles in Ordnung?«

»Ja.« Sie konnte Emma zwar hören, aber der Nebel umwaberte sie unerbittlich. Als jemand weiter oben einen Schritt machte, kullerten kleine Steinchen an ihren Füßen vorbei ins Tal. »Der Abstieg ist das Schwierigste«, versicherte sie den beiden anderen und versuchte, so selbstbewusst wie nur möglich zu klingen. »Der Rückweg wird viel einfacher.« Dann rutschte sie selber aus und zog eine tiefe Furche in die feuchte Erde und die abgefallenen Tannennadeln.

Schlagartig ließ ihr Optimismus nach. Falls Nico sich verletzt hatte, wie sollten sie ihn dann bloß den Berg hinaufschleppen?

Erst mal müssen wir ihn finden.

Das würde ihr Dad jedenfalls sagen. Er blieb in schwierigen Situationen immer ruhig und gefasst, auch in letzter Zeit, obwohl er auf seiner Postroute immer mehr Räumungsbescheide und Mahnungen austragen musste. Opal drehte sich seitwärts und schob sich zentimeterweise vorwärts. Der Nebel wurde immer dichter. Und dann, mit einem Mal, hatte sie den unteren Rand der dichten Decke erreicht.

»Ich kann den Grund sehen!«, rief sie laut und starrte auf die flache, spiegelartige Oberfläche der Stummen Bucht, die knapp zwanzig Meter unter ihr lag. Der dunkle Ozean wirkte noch geheimnisvoller als der Nebel. »Wir sind schon fast da.«

»Was ist mit Nico? Kannst du den auch sehen?«, rief Tyler von oben herab.

»Noch nicht.« Opal seufzte erleichtert. Wenigstens musste sie nicht den Anblick von Nico Hollands zerschmettertem Leichnam auf einem der zerklüfteten Felsen ertragen. Sie eilte die letzten Meter des Pfades entlang bis zu einem Felsvorsprung, der sich ungefähr zwei Meter über dem Wasser befand. Tyler und Emma kamen hinter ihr hergestürmt.

Der Felsvorsprung war knapp sechs Meter breit und drei Meter tief. In der Klippenwand direkt dahinter hatte sich eine Höhle gebildet. Opal trat ein und entdeckte oben an der Decke einen Riss. Von dort bahnte sich ein kleines Rinnsal seinen Weg bis auf den Höhlenboden, wo es sich in einer flachen, sandigen Pfütze sammelte. Deswegen kommt das Wild hierher. Und deswegen ist der Pfad hier zu Ende.

»Nico muss im Wasser gelandet sein«, sagte Tyler und trat als Erster wieder aus der Höhle ins Freie. »Das ist zumindest eine gute Nachricht.«

»Aber wo steckt er denn dann?« Emma blickte sich beinahe panisch um. »Überall nur senkrechte Felswände. Er kann unmöglich irgendwo hochgeklettert sein.«

Opal erwiderte so ruhig wie nur möglich: »Dann schwimmt er bestimmt noch im Wasser rum.«

»NICO!«, brüllte Emma und legte die Hände wie einen Trichter an den Mund. »Nico, wo bist du!?«

»Pssst«, zischte Tyler und fuchtelte wie wild mit den Armen. »Vergiss nicht, dass wir immer noch in der Stummen Bucht sind. Echt jetzt! Überleg doch mal, was das bedeutet!«

Opal starrte ihn an. »Du kannst doch nicht ernsthaft die Bestie meinen.«

»Lach mich ruhig aus«, gab Tyler empört zurück. »So lange, bis sie uns von diesem Felsvorsprung runterholt.«

Emmas Ruf verhallte ohne jede Reaktion. Sie lief zurück in die Höhle. »Vielleicht ist er ja irgendwo da drin.«

Opal ließ den Blick über die Bucht schweifen. Allein bei dem Gedanken, das trübe Wasser auch nur zu berühren, bekam sie eine Gänsehaut. Wie musste Nico sich wohl gefühlt haben, als er von ganz oben dort hineingestürzt war? Gab es auch nur die geringste Chance, dass er unversehrt geblieben war?

»He, Leute!« Emmas Stimme wurde von einem lang anhaltenden Echo begleitet. »Die Höhle ist ganz schön groß!«

»Ist Nico da drin?« Ruckartig drehte Opal sich um, doch dann sah sie trotz der Düsternis, wie Emma die Schultern sinken ließ.

»Nein.« Emma klang geknickt. »Bloß irgendwelches Schrottzeug.«

»Schrott?« Schnell kam Opal an ihre Seite. Zuerst konnte sie in der Dunkelheit gar nichts erkennen, doch es dauerte nicht lange, bis sich ein Schatten herausschälte. Sie trat darauf zu, um ihn genauer in den Blick zu nehmen. »Ein Ruderboot!«

Dicht gewebte Spinnennetze überzogen das ziemlich her untergekommene Boot, aber es schien noch intakt zu sein. »Da, seht mal. Da sind auch Ruder!« Opal packte mit beiden Händen eine Seitenwand und begann, das Boot nach draußen zu zerren. »Damit können wir Nico suchen.«

»Wieso liegt hier überhaupt ein Boot?«, wollte Tyler wissen. »In einer einsamen Höhle in einer gottverlassenen Gegend?«

»Weiß ich auch nicht, aber das können wir gut gebrauchen. Wir schieben es einfach ins Wasser und springen hinterher.« Opal verlor allmählich die Geduld. Wie lange würde Nico noch durchhalten?

Emma nickte und griff nach dem zweiten Ruder.

»Ins Wasser springen«, sagte Tyler zögerlich. »In das Wasser, wo die Bestie lebt.« Er legte die Handballen auf seine Augen. »Leute, wir haben doch nicht mal Schwimmwesten. Und man soll niemals ohne Schwimmweste ein Boot besteigen.«

Opal schlug mit der flachen Hand gegen die Bootswand und blitzte ihn wütend an. »Nico hat auch keine Schwimmweste, Tyler. Er hat nicht mal ein Boot!«

»Und das hat er dir und deinen Freunden zu verdanken!«, giftete Tyler mit vor Sorge und Angst verzerrter Miene zurück. Er drückte sich mit dem Rücken an die Klippen und suchte verzweifelt nach einem Ausweg.

Opal zuckte zusammen. Er hatte ja recht. Was Logan getan hatte, war entsetzlich, genau wie die ganze Situation, in der sie sich jetzt befanden. Die einzige Aussicht auf Rettung war dieses Boot. »Okay. Ich fahre allein.«

»Ich komme mit.« Emma holte tief Luft. »Genau das würde Nico schließlich auch für mich tun.«

Opal versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Beeilung.«

Gemeinsam stießen sie das Ruderboot über den Felsvorsprung. Mit einem lauten Klatsch landete es im Wasser.

»Also dann.« Opal atmete langsam aus und schüttelte dabei ihre Arme und Beine. »Das ist keine große Sache. Gar keine große Sache.«

Sie klemmte sich ein Ruder unter den Arm und sprang über die Kante.

***

Schweinekalt, keine Luft mehr.

Opals Körper krampfte sich unter dem Schock des eisigen Wassers zusammen. Sie ging unter wie ein Stein und spürte, wie das Wasser der Bucht über sie hinwegschwappte. Wie es sie verschluckte.

Dann hörte sie ganz in der Nähe ein Platschen. Emma?

Und noch eines. Tyler?

Oder war das etwas anderes?

Opal tauchte auf. Das Boot schaukelte aufrecht vor ihr auf dem Wasser und schien, trotz der abblätternden Farbe, noch seetauglich zu sein. Etwas unbeholfen, weil sie das Ruder hinter sich herziehen musste, schwamm Opal darauf zu. Das Wasser war so kalt, dass ihr die Stimme versagte.

Sie hievte sich an Bord, vorsichtig, damit das Boot nicht umkippte. Einen Augenblick später legte sich eine zierliche Hand auf die gegenüberliegende Bordwand. Opal half Emma, ins Boot zu klettern.

»W…wo ist denn dein Ruder?« Opals Zähne klapperten, während Emma sich auf dem Boden des Ruderboots zu einer Kugel zusammenrollte. Ihre blonden Haare waren klatschnass.

»Ich hab’s!«, rief Tyler, der irgendwo beim Heck sein musste. »Holt mich raus! Bitte, bitte, holt mich raus! Ich glaube, da ist noch was im Wasser!«

Jetzt war die Spitze des zweiten Ruders zu sehen. Opal balancierte in dem wackligen Boot nach hinten und griff danach. Dann zogen sie gemeinsam Tyler aus dem Wasser, der sich an sie klammerte und mit strampelnden Beinen ins Boot plumpste.

»Wir haben es geschafft«, keuchte Opal. Sie steckte ihr Ruder in die ausgeleierte Halterung und tauchte die Spitze in das spiegelglatte Wasser. »Los geht’s!«

Emma rieb sich den Nacken. »Ja, schon, aber wohin?«

Opal zuckte mit den Schultern. Sie wollte endlich etwas tun, anstatt immer nur nachzudenken. »Am Ufer entlang. Immer im Kreis. Hin und her. Ich weiß es auch nicht, aber wir müssen Nico finden!«

»Einer der besten Pläne aller Zeiten«, murmelte Tyler leise, aber dann steckte er auch das zweite Ruder in die Halterung.

Emma legte sich in den Bug, um Ausschau zu halten, und dann glitt das Boot langsam und anmutig vorwärts. Es dauerte eine Minute, bis Opal und Tyler einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten, dann trieben sie das Boot mit gleichmäßigen Schlägen übers Wasser.

»Nico!«, rief Emma. »Nico, wo bist du?«

Bei jedem Schrei zuckte Tyler zusammen, ohne jedoch die Bestie noch einmal zu erwähnen. »Sollen wir uns dicht am Ufer halten oder lieber kreuz und quer über die Bucht fahren?«, wollte er wissen.

»Ich weiß es auch nicht«, gestand Opal. Aus der Nähe wirkte das Wasser trübe und schmutzig. Außerdem gab es seltsame gurgelnde Laute von sich, und auch die Wellen waren ziemlich unberechenbar. Aus dem Augenwinkel nahm sie zuckende Schatten wahr. Überall schwirrten Nebelfetzen umher.

Tyler meinte mit zusammengebissenen Zähnen: »Wenn wir sowieso schon Richtung Mitte fahren, dann können wir auch dabei bleiben. Vielleicht kann Nico uns dann besser hören.«

Opal hob den Blick, stutzte und hätte vor Erstaunen beinahe das Ruder losgelassen. Im selben Augenblick kreischte Emma auf und zeigte auf einen dunklen Umriss, der sich allmählich aus der bleiernen Düsternis hervorschälte.

Eine Insel erhob sich aus dem Nebel, gesäumt von unheimlichen Wäldern.

Noch nie zuvor hatte Opal von einer Insel in der Stummen Bucht gehört.

Nico. Bestimmt hatte er sich dorthin gerettet.

Tyler schluckte und erhob sich ein kleines Stück, um bes ser sehen zu können. »Sieht … sieht das nicht genauso aus, als würde da ein riesiges Seeungeheuer wohnen?«

Emma biss sich auf die Unterlippe. »Ich finde, es sieht eher so aus, als würde da King Kong wohnen.«

Ein eiskalter Schauer lief Opal den Rücken hinunter. Ihr Herz raste, und dann spürte sie, wie ihr Inneres zu vibrieren begann. Es war wie das Echo eines seltsamen Klangs. Diese Insel erschien ihr … wild. Unbekannt. Ungezähmt. All ihre Instinkte schlugen gleichzeitig Alarm.

»Wenn ich im Wasser gelandet wäre und nicht wüsste, was tun, dann wäre ich dahin geschwommen«, sagte sie zu den anderen.

»Fester Boden.« Tyler konnte den Blick nicht davon losreißen. »Ja, genau. Das würde er auch machen.«

»Worauf warten wir dann?« Opal tauchte ihr Ruder in das schiefergraue Meerwasser. Tyler machte es ihr nach, und dann glitt das Boot wie auf lautlosen Schwingen vorwärts.

3.Nico

Nico spuckte einen Mundvoll Sand aus.

Dann plumpste er auf den Rücken, völlig ausgepumpt und vom eiskalten Meerwasser durchtränkt. Anschließend drehte er sich auf den Bauch und übergab sich. Als er ausgewürgt hatte, stemmte er sich mit den Armen auf und kniff die Augen zusammen. Er musste eine Panikattacke unterdrücken, grub seine Finger in den Sand und stellte fest, dass er festen Boden unter den Füßen hatte und dass er nicht ertrinken würde.

Er hatte es bis zur Insel geschafft, aber es war wahnsinnig knapp gewesen.

Wie dämlich! Dämlich dämlich dämlich.

Er war in die Stumme Bucht gefallen! Von der Spitze der Klippen!

Nico hatte kaum genügend Zeit gehabt, um sich darüber klarzuwerden, dass er sterben würde, bevor der Nebel ihn verschluckt und anschließend in das düstere, eiskalte Wasser geschleudert hatte. Der Aufprall hatte ihn bewusstlos gemacht. Es war ein absolutes Wunder, dass er überhaupt wieder aufgetaucht war.

Aber dann hatte ihn das nackte Entsetzen gepackt. Um ihn herum nur senkrechte Felswände. Unter ihm unbekannte Tiefen. Nico war schnell zu der Überzeugung gelangt, dass er den Absturz zwar überlebt hatte, aber nur so lange, wie er hilflos im Kreis schwimmen konnte. Dann würde er jämmerlich ertrinken. Es war reines Glück gewesen, dass er einen im Wasser schwimmenden Baumstamm erwischt hatte. Allein und einsam hatte er in dieser Meeresbucht getrieben und beinahe schon aufgegeben. Doch plötzlich war die Insel vor ihm aufgetaucht, hatte sich aus den Nebelschwaden geschält wie ein mitternächtlicher Schleier.