Darwin'sche Unschärferelation - John d'Aubert - E-Book

Darwin'sche Unschärferelation E-Book

John d'Aubert

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Beschreibung

"Du bist in Ordnung, Frank, obwohl du so'n Studierter bist." Auf dem Weg zu seiner Studentenbude fällt Frank immer wieder dieser Satz seines Kollegen ein. Und Frank Zappas alter Song über Bobby Brown kommt ihm in den Sinn. Es ist zwar nur ein Volontariat auf dem Weg zum Master, aber er fragt sich, was denn in seinem Leben überhaupt noch schiefgehen kann. Das Leben sagt: Alles! Aber das Leben mischt auch für ihn jeden Tag die Karten neu.

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Inhaltsverzeichnis

Phase 1

Phase 2

Phase 3

Phase 4

Phase 5

Phase 6

Phase 7

Phase 8

Übergangsphase

Nächste Etappe

Phase 1

Dienstag, erster August. Endlich erreiche ich mit dem Fahrrad das kleine Industriegebiet am Stadtrand. Da ist es wohl, die Industriestraße 3, Weinhaupt GmbH. Ein älteres, großes Gebäude, eine lang gestreckte Halle daneben. Alles inmitten großer Bäume und Rasenflächen. Auf dem fast leeren Parkplatz stehen ein paar Kleinwagen. Direkt neben der Treppe zum Eingang ist ein schöner, alter Opel Diplomat geparkt. Das ist wohl der Chef. Auf der anderen Seite der Treppe schließe ich mein Fahrrad am Geländer fest. Der Eingangsbereich ist eine große Halle mit Sitzecken, Blumenkübeln und einem Tresen, hinter dem eine Dame lächelt.

"Guten Morgen. Ich bin Frank Junkers, Sie haben eine Praktikantenstelle für mich?"

"Guten Morgen, Herr Junkers. Ja, das stimmt. Ich wurde schon informiert. Und Sie sind pünktlich, das wird dem Chef gefallen. Nehmen Sie doch einen Moment Platz. Ich melde Sie an."

Der Ledersessel ist schön bequem. Das tut gut nach der Strampelei auf dem Fahrrad. Aus dem Rucksack krame ich schnell meine Unterlagen heraus.

"So, Herr Weinhaupt lässt bitten. Ich bin übrigens Linda Stein."

"Vielen Dank, Frau Stein. Hoffentlich klappt alles."

"Natürlich, Herr Weinhaupt ist cool, wie man heute so sagt."

Frau Stein geht wieder hinter ihren Tresen, da klingelt schon ein Telefon. Ich folge dem Gang, dort hinten war Frau Stein verschwunden, und jetzt steht eine Tür weiter hinten noch offen. Dann sehe ich in einen ziemlich großen Raum hinein, klopfe an der offenen Tür.

"Kommen Sie herein, junger Mann!"

Erst nach einem Schritt auf dem polierten Parkett, öffnet sich der Raum in seiner vollen Größe. Eine Wand mit Aktenschränken, an der anderen Seite eine Kommode und darüber ein großformatiges Ölbild. Vor der Glasfront steht schräg ein riesiger Schreibtisch auf einem Perserteppich mitten im Raum. Rechts davor eine Sitzecke mit Ledersesseln, ebenfalls auf einem sehr schönen Teppich.

"Guten Morgen, Herr Weinhaupt. Ich bin der Praktikant."

Herr Weinhaupt schaut auf die Uhr.

"Sie sind pünktlich, gefällt mir! Sechs Minuten vor acht."

"Ich habe noch nicht ganz fertig studiert", und hoffe, dieser kleine Witz wird richtig verstanden. "Etwas früher ist mir lieber, als Stress zu riskieren."

"Sehr vernünftig, Herr Junkers! Ich bin zwar Ingenieur, aber das akademische Viertel geht mir gegen den Strich. Nehmen Sie doch bitte da drüben Platz. Na ja, zum Thema: Aus ihren Unterlagen geht hervor, dass Sie BWL mit einem erheblichen Anteil an Datenverarbeitung studieren. Das dürfte einen großen Teil dessen abdecken, was in der Zukunft in der Industrie verlangt wird."

"Ja, das denke ich auch. Ohne Buchhaltung läuft kein Geschäft und ohne Computer unterdessen wohl auch keines mehr."

"Und Sie sind jetzt auf dem Weg zum Master, haben also schon einen Abschluss vorzuweisen, nicht wahr?"

"Stimmt" sage ich und mache es mir gemütlich. Diese Sessel sind sehr angenehm. Alles sehr stilvoll hier beim Herrn Weinhaupt. "Der Master ist halt der beste Hochschulabschluss. Wenn man die Gelegenheit hat, sollte man das schon durchziehen, denke ich."

Herr Weinhaupt öffnet die Kommode, in der augenblicklich die eingebaute Beleuchtung eine gut sortierte Bar erscheinen lässt.

"Mögen Sie Cognac? Oder lieber einen Martini?"

Ach, du meine Güte, was soll ich darauf antworten? Also um acht Uhr morgens schon einen Schnaps? Das ist doch wohl nicht sein Ernst.

"Also für mich nicht, besten Dank."

Herr Weinhaupt grinst. Holt ein Glas heraus, stellt es allerdings ungefüllt ab und kommt dann zu mir in die Sitzecke.

"Gut, Herr Junkers."

"Also, wenn es am Schluss etwas zu feiern gibt, bin ich dabei, aber zuerst kommt die Arbeit, finde ich."

Ehrlich gesagt ist das wirklich meine Überzeugung, ziemlich Old School, aber nur Partymachen wird die Menschheit kaum weiterbringen.

Herr Weinhaupt hat es sich ebenfalls bequem gemacht, schaut mich an.

"Wie sieht es bei Ihnen mit handwerklichen Fähigkeiten aus? Bekommen Sie einen Nagel gerade in die Wand oder mögen Sie lieber die Arbeit am Schreibtisch?"

"Also, wenn ich Zeit genug habe", überlege ich, "den Vorsprung von Fachleuten zumindest so weit aufzuholen, dass ich mir weiterhelfen kann, ja, dann habe ich bis jetzt fast alles zurechtbekommen, was ich angefangen habe."

"Sie sind also Autodidakt, Herr Junkers."

"Na ja, der Begriff trifft nicht wirklich zu. Und so ganz alleine auf etwas Geniales oder Neues zu kommen, ist schon ganz eine andere Liga. Ich weiß mir zu helfen, sagen wir mal so."

"Nennen Sie doch ein Beispiel."

"Also, in der Freizeit mache ich Musik. Das ist nichts Dolles, und als vor längerer Zeit meine alte E-Gitarre Probleme machte, musste ich feststellen, dass auch diese simple Elektrotechnik so ihre Tücken hat. Seitdem habe ich ein paar Gitarren zusammengebaut. Auch um diese Technik besser zu verstehen. Und die Kopfdichtung von meinem alten Fiesta, die habe ich selber gewechselt. Das Auto läuft heute noch."

"Respekt, das ist nicht trivial. Dann sind Sie bei uns genau richtig. Das freut mich. Ich denke, ich werde Sie auch in der Produktion eine Zeit mitlaufen lassen. Und Herr Kuhn zeigt Ihnen dann unsere nicht ganz aktuelle EDV. In diesen sechs Wochen können Sie sich sicher ein fundiertes Bild über ein mittelständisches Unternehmen machen. Für Anregungen bin ich immer offen. Wenn Sie nicht gerade alles auf den Kopf stellen möchten."

"Das hört sich gut an, Herr Weinhaupt. Schön, dass ich hier gelandet bin. Vielen Dank!"

"Gut. Frau Stein gibt Ihnen noch ein paar Unterlagen, stellt Ihnen die Kollegen vor und so weiter. Ende der Woche komme ich noch einmal auf Sie zu und dann schildern Sie mir Ihren Eindruck von unserer Firma."

"Ja gerne, vielen Dank noch mal."

Herr Weinhaupt ist bereits auf dem Weg zur Tür. Wir geben uns die Hände und schon bin ich wieder draußen.

Als Frau Stein mich sieht, sammelt sie gerade Papiere zusammen und erwartet mich mit einem Lächeln.

"Na, Martini oder Cognac?"

"Nee, nee, ach so, das war ein Test, sehe ich das richtig?"

"Natürlich, Herr Junkers! Wir können hier nur vernünftige Leute gebrauchen. Gefeiert wird aber auch. In zwei Wochen ist das alljährliche Herbstfest. Da sind Sie bestimmt noch bei uns."

"Doch, sicher, aufgeben ist nicht so meins."

Nach einigen Unterschriften bei Frau Stein und einen Tag später erscheine ich im Blaumann mit Firmenlogo beim Werksleiter. Ich werde einem Monteur zugewiesen, der Segmente von größeren Maschinen zusammenbaut. Es kommen am Schluss seltsame Ungetüme heraus, die in der Betonverarbeitung eingesetzt werden. Dabei kann ich lernen, dass es Muttern mit M56-Gewinde gibt. Hier ist alles etwas größer als beim Uhrmacher. Ich bin beeindruckt.

Freitagmittag. Mein Kollege Vladimir tippt auf seine Uhr.

"Erst mal was essen, aber du gehst zum Chef. Will dich sprechen. Sag nichts Falsches, verstanden?"

"Vladi, kennst mich doch. Aber das läuft alles gut mit uns, findest du nicht?"

"Du bist in Ordnung, Frank, obwohl du so’n Studierter bist. Ich mach frei nachmittags, hab noch Überstunden. Wahrscheinlich schickt er dich auch nach Hause. Bis Montag, mein Freund!"

Wir schlagen zünftig ein, verabschieden uns.

Also, ab zum Chef. Frau Stein begrüßt mich mit ihrem netten Lächeln. Hier ist wirklich die Insel der Glückseligen.

"Einen Moment bitte noch, Herr Junkers. Wir haben Besuch von Herrn Wiggerts. Er liefert uns das Entsorgungsmaterial. Diese blauen Tonnen überall. Es kann aber nicht mehr lange gehen."

Angesichts meiner Arbeiterverkleidung traue ich mich nicht, den schönen Ledersessel zu benutzen, und genieße die Aussicht durch die hohen Fenster. Der Ausblick erinnert eher an einen Park als an eine Industrieanlage. Gut, der LKW, der gerade vorbeirumpelt, lässt die Scheiben erzittern. Ich verbessere auf Industrieidyll.

Stimmen nähern sich. Herr Weinhaupt und ein junger, sehr gut gekleideter Mann kommen mir plaudernd entgegen.

"Markus, das ist Herr Junkers. Der volontiert gerade bei uns, auf seinem Weg zum Master in Wirtschaftsinformatik."

Zum Glück hatte ich mir die Hände gründlich gewaschen.

"Hallo, solche Leute werden immer gebraucht. Gute Entscheidung!"

Herr Wiggerts sucht nach seinem Autoschlüssel. Der wird wohl zu dem Mercedes-Schlitten gehören, der draußen vor der Tür steht.

"Ja, dann kommen Sie mal mit. Bin gespannt, was Sie mir berichten."

Im Chefbüro angekommen, zeigt Herr Weinhaupt auf den edlen Sessel.

"Ich bin heute in Arbeitskluft, ich bleibe einfach stehen."

"Nein, nein, Herr Junkers, das geht in Ordnung. Diese Sessel haben so einiges erlebt. Setzen Sie sich bitte."

Mit ein wenig Unbehagen lasse ich mich vorsichtig nieder.

"Sie haben da ein ziemlich tolles Geschäft aufgebaut", fange ich an. "Und ich habe noch nie so große Maschinen gesehen. Wirklich beeindruckend."

"Das freut mich, Herr Junkers! Danke für die Blumen. Ja, wissen Sie, mein Vater hatte einen Baustoffhandel und merkte bald, dass der Handel mit den benötigten Maschinen auch lukrativ ist. Es bedurfte dann allerdings noch einiger Phasensprünge. Heute sind wir gut mit anderen Fertigungsbetrieben vernetzt und können sogar ganz individuelle Kundenwünsche verwirklichen. Also gefällt es Ihnen bei uns. Habe ich das richtig verstanden?"

"Doch, das ist beeindruckend, wenn man sieht, wie so ein Maschinen-Ungeheuer entsteht. Total stark!"

"Vladimir sagte, dass Sie sich für einen angehenden Akademiker ziemlich gut anstellen und immer mitdenken. Der ist schon mal sehr zufrieden mit Ihnen."

"Das höre ich gerne! Vladi ist auch ein klasse Typ. Macht Spaß, mit ihm zu arbeiten."

"Ja, Herr Junkers, leider habe ich eine Verabredung zum Geschäftsessen mit Herrn Wiggerts. Wenn am kommenden Freitag kein anderer Termin im Wege steht, lade ich Sie gerne zum Mittagessen ein. Das ist dann etwas ungezwungener. Ansonsten beginnt jetzt für Sie das Wochenende. Vladimir baut Überstunden ab. Es wäre zu kompliziert und eigentlich Zeitverschwendung, Sie ein paar Stunden irgendwo zuschauen zu lassen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende!"

Heute merke ich, wie tief man in diesen Sesseln versinkt. Nach dem ungewohnten Krafttraining mit Drehmomentschlüsseln für Nüsse von 60 mm Schlüsselweite ist nun doch die Luft raus.

"Ja dann, vielen Dank, Herr Weinhaupt, und ein schönes Wochenende."

Tatsächlich fahre ich eine Woche später in einem Opel Diplomat mit meinem Chef beim Italiener vor. Alle kennen ihn und haben sofort Zeit zu plaudern. Ein reservierter Tisch, etwas abseits und eigentlich für sechs Personen, wird uns zugewiesen.

"Frau Stein ist perfekt, sie organisiert alles. Sie arbeitet schon über 25 Jahre bei uns. Mit ein paar Unterbrechungen. Ehe und Kinder. Leider unterdessen geschieden, aber immerhin sind die Kinder schon aus dem Gröbsten raus."

Dann suche ich mir Nudeln Aglio e olio aus, der Chef nimmt Carpaccio und empfiehlt mir die Weißweinschorle.

Es wird ein lockeres Gespräch wie mit einem väterlichen Freund. In der nächsten Woche darf ich die heiligen Hallen der EDV-Abteilung betreten. Da bin ich sehr gespannt. Bis jetzt weiß ich nur, dass dort eine AS/400 von IBM steht, auf der IMS-Datenbanken laufen. Nicht so wirklich modern.

Am folgenden Montag beginnt der nächste Abschnitt. Frau Stein bringt mich in die EDV-Abteilung. Den Blaumann, den ich frisch gewaschen unter Arm halte, darf ich behalten, falls ich wieder an einem Auto rumschrauben muss. Ganz in Zivil lande ich bei Herrn Kuhn und seinem Fast-Großrechner von IBM. Angesicht der Leistungsdaten, die er mit Stolz präsentiert, verstehe ich nicht, warum dieses System einen derartigen Heiligenschein aufgesetzt bekommt. Auch ohne dass ich auch nur einen abfälligen Kommentar abgebe, ist Herr Kuhn irgendwie eingeschnappt. An der Uni haben wir schon Migrationsprojekte simuliert, bei denen es um die Umstellung von älterer Hardware auf neue Systeme ging. Ich hatte Konvertierungsprogramme geschrieben, um Daten an die neue Umgebung anzupassen. Herr Kuhn zeigt mir Schränke mit armdicken Heftern. Darin endloses Listenpapier mit Cobol- und PL1-Code seiner Programme. Und zwar meterweise. Die Unterlagen von unserem Projekt sind sauber abgeheftet bei mir im WG-Zimmer. Das schaue ich mir nachher noch mal genau an. Bin mir allerdings unsicher, ob ich davon was erzählen sollte.

"Sie sind doch heute Abend dabei, Herr Junkers?"

Gedankenversunken war ich am Ende der Woche vom Chefbüro zur Eingangshalle getrottet und hätte fast Frau Stein ignoriert.

"Ach so, ja natürlich, das Herbstfest. Ich freue mich schon!"

"Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie hatten doch hoffentlich keine Meinungsverschiedenheit mit Herrn Weinhaupt?"

"Nein, eigentlich nicht. Ich hatte nur ein Konzept ausgearbeitet, wie man die EDV auf einen neueren Stand bringen könnte. Die Notwendigkeit sieht er zwar auch, aber er hat natürlich Bedenken bezüglich der Risiken und auch der Investitionen. Na ja, mal schauen. Meine Ideen sind größtenteils schon getestet worden, aber dabei ging es nicht um existenzielle Fragen. Egal, nachher wird erst mal gefeiert."

"Herr Weinhaupt hat mir schon davon erzählt. Seit Sie ihm Ihre Ausarbeitung überreicht haben, schläft er schlecht."

"Vielleicht hätte ich besser die Klappe gehalten?"

"Nein, unser Chef liebt Herausforderungen, aber er muss sich erst selbst ein genaues Bild machen. Bis nachher."

Ich winke nur. Kann es sein, dass ich damit einen Schlusssprung ins Fettnäpfchen hingelegt habe. Der Herr Kuhn vermisst bei mir die Begeisterung. Dann habe ich ihm zu allem Übel auch noch gezeigt, dass ein fünffacher Gruppenwechsel in SQL nur ungefähr eine halbe Seite Programm-Code benötigt. Seitdem ist es ganz vorbei. Wahrscheinlich hat meine Idee auch schon längst die Runde gemacht. Egal, wenn der Laden mit dem alten Zeug läuft, ist doch alles in Ordnung.

Phase 2

Geduscht und in eine Wolke Lagerfeld gehüllt, radele ich dem Herbstfest der Firma Weinhaupt entgegen. Vor der Tür einige Lieferwagen. Gediegen gekleidete Leute schwirren überall herum, ein Koch ist dabei. Und ein dunkel gekleideter Mann vom Format eines Wikingers steht in der sonst offenen Eingangstür, schaut mich finster an.

"Sie haben doch sicher eine Einladung oder einen Firmenausweis?"

Vor diesem Hünen mit der rauen Stimme fühle ich mich wie ein Erstklässler.

"Ja, klar!", sage ich schnell. Der Ausweis ist allerdings gut versteckt im Portemonnaie. Um tagsüber durch die gesicherten Türen der Firma zu kommen, braucht man nur mit dem Geldbeutel in der Hosentasche an den Lesegeräten vorbeizurutschen, ohne die Karte herauszunehmen. Also gut, da ist das Plastikding, mit Bild und zehn X anstatt der Personalnummer.

"Das ist in Ordnung. Kommen Sie bitte rein. Da drüben gibt es eine Erkennungsschlaufe um das Handgelenk, damit können Sie sich frei bewegen."

"Danke", murmele ich und staune. Da hinten ist Frau Stein, sie ist ein Lichtblick.

"Rechte oder linke Hand?", fragt sie mich, als ich ihren Kontrollpunkt erreiche.

"Links bitte. Meine Güte, hier ist ja richtig was los."

"Ich habe Sie gewarnt, feiern können wir auch!"

Geschickt legt sie einen roten Gewebestreifen um mein Handgelenk, zieht dann zu, bis der locker sitzt. Mit einer Zange wird das Bändchen vernietet.

"Ganz oben ist die Feier, viel Spaß!"

Ich hatte schon von dem Sitzungssaal gehört. Ganz oben, fast die ganze Etage, sogar mit einer Dachterrasse. Das muss riesig sein, denke ich so bei mir. Unsere Studentenwohnung in der Südstadt ist schon nicht klein, aber die würde man, in diese Weiten geworfen, kaum noch wiederfinden. Am Ende der Treppen blicke ich in die obere Etage mit dem geheimnisvollen Saal auf der rechten Seite. Durch eine breite Doppeltür sehe ich die Bühne mit einem Klavier. Außerdem sind dort viele Instrumente aufgebaut, eine Batterie Saxofone, Verstärker stehen bereit, Gitarren, ein Schlagzeug.

Das sieht mir nach einer veritablen Party aus. Da bin ich aber mal gespannt.

"Hey, Frank, im Blaumann gefällst du mir besser!"

"Hi, Vladi! Gut, dich zu sehen! Ich hätte nicht gedacht, dass hier noch so ein riesiger Ballsaal versteckt ist. Und Bands spielen auch noch. Wahnsinn!"

"Ich spiel auch nachher mit meine Leut. Bist du nicht auch Gitarrist?

Hast du doch mal gesagt, in der Pause."

"Ja, stimmt, aber vielleicht bin ich besser im Gitarrenzusammenbauen als im Gitarrespielen. Was habt ihr denn für Songs auf der Liste?"

Vladimir zieht einen Zettel aus der Hosentasche.

"Hier. Zehn Songs und zwei Zugabe."

Ich schau mir den Zettel an. Alles Stücke, die man aus dem Radio kennt. Es geht los mit Sweet home Alabama, Hot Stuff von Donna Summer. Under pressure hatte Queen mal vorgelegt und One von U2. Oh, Santana, Black Magic Woman.

"Wow, coole Songs! Respekt."

"Spielst du was davon?"

"Na ja, One hatte ich schon mal gesungen, allerdings habe ich den Text etwas abgemildert. Meine Version ist positiver, hat weniger Beziehungsdrama. Aber das Solo von Carlos konnte ich bei einer Hochzeitsfeier schon einmal ganz gut abliefern. Habt ihr noch mehr Sachen drauf, habt ihr irgendwo Auftritte?"

"Franky, das wird gut! Ja, wir haben so vierzig Songs, die wir machen können im Moment. Und so zwanzig Lieblinge. Ich muss wieder zu meine Leut, wir trinken noch einen, nachher!"

"Alles klar, das machen wir!"

Alle Achtung, wirklich eine coole Firma! Hätte ich nicht gedacht. Der Saal ist noch angenehm leer. Einige Leute kenne ich vom Sehen, die meisten allerdings gar nicht. Eine Gruppe junger Damen kommt rein. Alle im kleinen Schwarzen und auf hohen Schuhen. Ist das auch eine Band? Die gehen auf die Bühne zu den Saxofonen. Wow, fünf Damen, die Sax spielen, klasse! Ich überlege gerade, dass ich nach dem Master einfach eine ähnliche Firma wie diese suchen sollte. Die verdienen genug, um gut zu bezahlen, alles familiär, überschaubar und gute Partys. Das ist wertvoller als ein hochgestochener Job in einem großen Laden.

Draußen fahren Leute mit Rollwagen herum. Der Koch ist auch dabei. Das Catering bringt sich in Position. Und langsam, aber sicher füllt sich der Saal. Auch dieser Raum hat riesige Fensterfronten. Man sieht die Stadt. Auf dem Festplatz wird gerade ein Riesenrad montiert. Inzwischen ist es fast halb neun. Ab acht war Einlass. Mehrere junge Damen kommen mit Tabletts voller Sektgläser. Und Frau Stein taucht auch auf. Jetzt wird es wohl spannend. Ich orientiere mich weiter nach vorne. Da gibt es Sekt und die Saxofonistinnen. Es ist sogar ein Baritonsax dabei. Eines der größeren aus der Saxofonfamilie. Klingt eher wie ein Nebelhorn und wiegt ordentlich. Wie die fünf Instrumente stehen da die Musikerinnen der Größe nach wie die Orgelpfeifen. Alle haben die Haare offen. Die große sieht klasse aus. Nicht so auffällig geschminkt wie die anderen. Irgendwie sportlich und selbstbewusst. Vermutlich keine Mitarbeiterin. Die wäre mir auch im verstecktesten Winkel noch aufgefallen. Eine der netten Sektdamen gibt mir ein Glas und wünscht mir viel Spaß. Dann tritt allmählich Ruhe ein, Gespräche werden beendet. Frau Stein steigt die paar Stufen zur Bühne hinauf. Vladimir hatte an einem Verstärker Einstellungen gemacht, zeigt auf eines der Mikrofone. Die Damen in Schwarz formieren sich mit ihren Instrumenten. Komischerweise nimmt die kleinste das Baritonsaxofon, und meine Lieblingsmusikerin hat eines, das von der Größe etwas kleiner als ein Tenor ist. Es wird eingezählt, dann beginnt das Bariton. Der Reihe nach steigen die anderen ein. Es wird ein Stück in Richtung klassische Salonmusik wie in den 20er-Jahren.

Noch ein paar Takte Steigerung, dann das Outro. Frau Stein tritt an das Mikrofon.

"Ich freue mich so, Sie alle wieder einmal in lockerer Runde und ohne den Ernst unseres Arbeitsalltags begrüßen zu können. Wie immer ist auch heute für jeden etwas dabei. Wir haben die Sax Sisters gerade schon gehört, die Band Chill and Chili steht schon bereit und natürlich ist auch wieder für das leibliche Wohl gesorgt. Und jetzt möchte ich Herrn Weinhaupt auf die Bühne bitten."

Unser Chef hatte schnell ein Glas Sekt in zwei Zügen geleert. Nach einem Moment der Sammlung geht er souverän und aufrecht auf die Bühne, verharrt einen Moment, in dem man im Saal eine Stecknadel hätte fallen hören.

"Liebe Mitarbeiter, wie jedes Jahr hatte ich einen Zettel vorbereitet mit den Stichpunkten, die ich unbedingt ansprechen wollte, weil sie für mich Momente von großer Bedeutung widerspiegelten. Und auch jetzt bin ich wieder der Meinung, dass jeder Tag wichtig war und jeder von uns hat die eine oder andere Erinnerung. Zum Beispiel wenn eine große Anlage, die wir hergestellt haben, vom Hof gefahren wurde oder wenn uns Mitarbeiter, die auf Montage waren, von ihren Erlebnissen auf der anderen Seite des Erdballs erzählt haben. Sicher gab es auch Momente, in denen euch der Chef auf die Nerven ging. Ich musste Samstagsarbeit anordnen, um wichtige Aufträge zu bewältigen. Und dann mussten wir im vergangenen Jahr auch erleben, was Kurzarbeit bedeutet. Das alles liegt hinter uns und hat uns, so wie ich es empfinde, letztendlich enger zusammengeschweißt. Im Augenblick sind die Aussichten wieder sehr gut. Der Markt bietet Möglichkeiten, uns zu behaupten. Wir sind ein perfektes Team, und mit diesem Rückenwind sind wir in der Lage, unsere Zukunft zu gestalten. Vielen Dank für eure Unterstützung. Ich hoffe, dass ich heute ganz vielen persönlich meinen Dank aussprechen kann. Auf jeden Fall haben wir gute Gründe, heute zu feiern. Und das machen wir jetzt. Fühlt euch eingeladen, alles ungezwungen zu genießen. Und wer später nicht mehr mit dem Auto nach Hause fahren möchte, kann sich wie immer von unserem nahestehenden Taxiunternehmen auf Firmenrechnung bringen lassen. Wir brauchen alle unsere Führerscheine, also macht bitte davon Gebrauch. Und jetzt geht es weiter mit den Sax Sisters