Das
Atelier schwamm in einem starken Rosendufte, und wenn der leichte
Sommerwind die Bäume im Garten wiegte, so floß durch die offene Tür
der schwere Geruch des Flieders herein oder der zartere Duft des
Rotdorns.
Aus der Ecke seines Diwans mit
persischen Satteltaschen, auf dem Lord Henry Wotton lag und wie
gewöhnlich unzählige Zigaretten rauchte, konnte er gerade noch den
Schimmer der honigsüßen und honigfarbigen Blüten eines
Goldregenstrauches wahrnehmen, dessen zitternde Zweige nur seufzend
die Last einer so flammenden Schönheit zu tragen schienen, und dann
und wann huschten die phantastischen Schatten vorbeifliegender
Vögel über die langen bastseidenen Vorhänge, die vor das große
Fenster gezogen waren. Das gab einen Augenblick lang eine Art
japanischer Stimmung und ließ den Lord an die bleichen,
nephritgelben Maler der Stadt Tokio denken, die mit Hilfe einer
Kunst, die notwendigerweise erstarrt genannt werden muß, das Gefühl
von Schnelligkeit und Bewegung hervorzubringen suchen. Das tiefe
Gesumme der Bienen, die ihren zweifelnden Flug durch das hohe,
ungemähte Gras nahmen oder mit eintöniger Zähigkeit um die
bestaubten Goldtrichter des wuchernden Geißblattes kreisten, ließ
die Stille noch drückender scheinen. Das dumpfe Brausen Londons
murrte dazu wie die Baßtöne einer fernen Orgel.
In der Mitte des Gemaches stand
auf einer hoch aufgestellten Staffelei das lebensgroße Bildnis
eines außerordentlich schönen Jünglings, und ihm gegenüber, ein
paar Schritte entfernt, saß sein Schöpfer, der Maler Basil
Hallward, dessen plötzliches Verschwinden vor einigen Jahren bei
der Menge so viel Aufsehen gemacht und zu so vielen seltsamen
Vermutungen Anlaß gegeben hatte.
Während der Maler die anmutige
und liebenswürdige Gestalt betrachtete, die seine Kunst so
prachtvoll wiedergespiegelt hatte, huschte ein freudiges Lächeln
über sein Gesicht und schien dort verweilen zu wollen. Plötzlich
aber fuhr er auf, schloß die Augen und preßte die Lider mit den
Fingern zu, als fürchte er, aus einem absonderlichen Traume zu
erwachen, und als suche er ihn im Gehirn einzuschließen.
»Es ist dein bestes Werk, Basil,
das beste, was du jemals gemacht hast«, sagte Lord Henry
schläfrig-müde. »Du mußt es nächstes Jahr unbedingt ins Grosvenor
schicken. Die Akademie ist zu groß und zu gewöhnlich. Jedesmal,
wenn ich hinging, waren entweder so viele Leute da, daß ich die
Bilder nicht sehen konnte, und das war schlimm, oder so viel
Bilder, daß ich die Leute nicht sehen konnte, und das war noch
schlimmer. Das Grosvenor ist der einzig richtige Platz.«
»Ich denke überhaupt nicht daran,
es auszustellen«, antwortete der Maler und warf den Kopf in jener
merkwürdigen Art zurück, über die schon oft seine Freunde in Oxford
gelacht hatten. »Nein, ich will es nirgends ausstellen.«
Lord Henry hob die Augenbrauen
und sah den anderen erstaunt durch die dünnen blauen Raucharabesken
an, die in so abenteuerlichen Wirbeln von der starken
opiumgetränkten Zigarette aufstiegen. »Nirgends ausstellen? Ja
warum, mein Lieber? Hast du einen Grund dafür? Was ihr Maler doch
für Käuze seid! Ihr tut alles in der Welt, um euch einen Namen zu
machen. Habt ihr ihn endlich, so wollt ihr ihn scheinbar wieder
loswerden. Das ist albern von dir, denn es gibt nur ein leidiges
Ding auf Erden, das peinlicher ist als in aller Leute Munde zu
sein, und das ist: nicht in aller Leute Munde zu sein. Ein Porträt
wie das da höbe dich weit über alle jungen Leute in England empor
und würde die Alten vor Neid platzen lassen, soweit alte Leute
überhaupt noch einer Empfindung fähig sind.«
»Ich weiß, du wirst mich
auslachen,« entgegnete er, »aber ich kann es wahrhaftig nicht
ausstellen. Es steckt da zuviel von mir selbst drin.«
Lord Henry streckte sich auf dem
Diwan aus und lachte.
»Ja, ich habe das gewußt; es
bleibt aber doch wahr, ganz sicher.«
»Zuviel von dir soll darin sein?
Auf mein Wort, Basil, ich hätte nie geahnt, daß du so eitel bist;
ich kann wirklich nicht die blasseste Ähnlichkeit entdecken
zwischen dir mit deinem groben, eckigen Gesicht und deinem
kohlschwarzen Haar und diesem jungen Adonis, der so aussieht, als
sei er aus Elfenbein und Rosenblättern erschaffen. Nein, mein
lieber Basil, es ist ein Narziß, und du – natürlich hast du ein
geistvolles Gesicht und so weiter. Aber Schönheit, wirkliche
Schönheit hört da auf, wo der geistvolle Ausdruck anfängt. Geist
ist an sich eine Art Übermaß und zerstört das Ebenmaß jedes
Gesichts. Im Moment, wo man sich ans Denken begibt, wird man ganz
Nase oder ganz Stirn oder sonst etwas Greuliches. Sieh dir doch mal
alle die Männer an, die in gelehrten Berufen etwas geleistet haben.
Sind sie nicht alle ausgesprochen häßlich? Natürlich die Männer der
Kirche ausgenommen. Aber in der Kirche denken sie eben nicht. Ein
Bischof sagt mit achtzig Jahren noch unveränderlich dasselbe, was
ihm als achtzehnjährigem Bengel beigebracht wurde, und
infolgedessen sieht er immer entzückend aus. Dein geheimnisvoller
junger Freund, dessen Namen du mir nie verraten hast, dessen Bild
mich aber tatsächlich bezaubert, denkt niemals. Davon bin ich
felsenfest überzeugt. Es ist irgendein hirnloses schönes Geschöpf,
das wir im Winter immer bei uns haben sollten, wenn es keine Blumen
zum Anschauen gibt, und im Sommer, wenn wir etwas zur Abkühlung
unseres Geistes gebrauchen. Schmeichle dir also nicht, Basil: du
siehst ihm ganz und gar nicht ähnlich.«
»Du verstehst mich gar nicht,
Henry«, antwortete der Künstler. »Natürlich sehe ich ihm nicht
ähnlich. Das weiß ich selbst. In Wirklichkeit wäre ich sogar
traurig, sähe ich ihm ähnlich. Du brauchst nicht mit den Achseln zu
zucken. Ich sage dir die Wahrheit. Jede körperliche und geistige
Besonderheit umschwebt eine gewisse Tragik; so eine Tragik etwa,
wie sich das Schicksal der Könige auf ihren Irrwegen in der
Weltgeschichte an die Füße zu heften scheint. Es ist besser, nicht
anders zu sein als die Nebenmenschen. Die Häßlichen und die Dummen
haben das beste Leben der Welt. Sie können ruhig dasitzen und das
Spiel sorglos begaffen. Sie wissen zwar nichts von Siegen, aber
dafür bleibt ihnen auch die Bekanntschaft mit den Niederlagen
erspart. Sie leben dahin, wie wir es alle sollten: ungestört,
gleichgültig und ohne Mißbehagen. Sie bringen anderen kein Unheil
und empfangen es auch nicht von fremder Hand. Dein Stand und dein
Reichtum, Harry, mein Geist, soviel ich davon habe, meine Kunst,
soviel sie wert ist, Dorian Gray für sein schönes Aussehen – wir
müssen alle für die Geschenke der Götter leiden, schrecklich
leiden.«
»Dorian Gray? Heißt er so?«
fragte Lord Henry und ging durch das Atelier auf Basil Hallward
zu.
»Ja, so heißt er. Ich wollte
dir's eigentlich nicht sagen.«
»Aber warum nicht?«
»Oh, ich kann's nicht so
erklären. Wenn ich einen Menschen sehr, sehr lieb habe, verrate ich
an niemand seinen Namen. Das käme mir so vor, als lieferte ich
damit einen Teil von seinem Selbst aus. In mir hat sich allmählich
eine förmliche Liebe zu Geheimnissen entwickelt. Das scheint noch
die einzige Art zu sein, das Leben unserer Zeit mysteriös und
wunderbar zu machen. Die gewöhnlichste Begebenheit wird reich an
Schönheit, wenn man sie verbirgt. Ich sage auch nie, wohin ich
reise, wenn ich mal die Stadt verlasse. Wenn ich's täte, wäre meine
ganze Freude daran hin. Das mag eine alberne Gewohnheit sein, aber
sie bringt doch irgendwie ein bißchen Romantik ins Leben. Du denkst
jetzt gewiß, ich bin furchtbar närrisch?«
»Nicht im geringsten,« antwortete
Lord Henry, »nicht im geringsten, mein lieber Basil. Du scheinst zu
vergessen, daß ich verheiratet bin, und daß der Hauptreiz der Ehe
darin liegt, daß sie beiden Teilen ein Leben der Täuschung zur
Notwendigkeit macht. Ich weiß nie, wo meine Frau ist, und meine
Frau weiß nie, was ich tue und treibe. Wenn wir beisammen sind –
wir sind gelegentlich beisammen, wenn wir zu einem Diner eingeladen
sind oder zum Herzog aufs Land fahren – so erzählen wir uns die
verrücktesten Geschichten mit dem ernsthaftesten Gesicht. Meine
Frau versteht das vorzüglich, ohne Frage besser als ich. Sie
verwickelt sich bei den Tatsachen nie in Widersprüche, und bei mir
kommt es beständig vor. Wenn sie mich aber ertappt, macht sie mir
nie eine Szene. Ich wünschte manchmal, sie täte es. Aber sie lacht
mich nur aus.«
»Ich kann die Art nicht leiden,
wie du über deine Ehe sprichst«, sagte Basil Hallward und ging
langsam auf die Tür zu, die in den Garten führte. »Ich glaube, du
bist in Wirklichkeit ein ganz guter Ehemann und schämst dich nur
immer über diese Tugend. Du bist überhaupt ein sonderbarer Kauz: du
sagst nie was Moralisches und tust nie was Schlechtes. Dein
Zynismus ist nichts als Pose.«
»Natürlichkeit ist immer eine
Pose, und zwar die ärgerlichste Pose, die ich kenne«, rief Lord
Henry lachend aus, und die beiden jungen Männer gingen zusammen in
den Garten und ließen sich auf einer langen Bambusbank nieder, die
im Schatten eines hohen Lorbeerbusches stand. Das Sonnenlicht
flirrte tanzend über die glatten Blätter. Im Grase zitterten weiße
Gänseblümchen.
Nach einer Weile zog Lord Henry
seine Uhr: »Ich fürchte, ich muß gleich fort, Basil,« brummte er,
»aber bevor ich gehe, mußt du mir noch unbedingt die Frage
beantworten, die ich vorhin an dich gerichtet habe.«
»Was war das?« sagte der Maler,
die Augen fest zu Boden gerichtet.
»Na, du weißt doch.«
»Sicher nicht, Harry.«
»Gut, dann will ich's dir
nochmals sagen. Du sollst mir erklären, warum du Dorian Grays
Porträt nicht ausstellen willst. Ich bestehe darauf, den wirklichen
Grund zu wissen.«
»Ich habe dir den wirklichen
Grund schon gesagt.«
»Nein, das hast du nicht getan.
Du hast nur gesagt, weil zuviel von dir selbst in dem Bilde stecke.
Das ist aber kindisch.«
»Harry,« sagte Basil Hallward und
sah dem anderen gerade ins Gesicht, »jedes Porträt, das mit Gefühl
gemalt ist, ist ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells. Das
Modell ist nur der Anlaß, die Gelegenheit. Nicht dies wird vom
Maler enthüllt; nein, der Maler offenbart auf der farbigen Leinwand
eher sich selbst. Ich will also dies Bild darum nicht ausstellen,
weil ich fürchte, ich habe das Geheimnis meiner eigenen Seele darin
aufgedeckt.«
Lord Henry lachte. »Und worin
bestünde das?« fragte er.
»Ich will es sagen«, antwortete
Hallward; aber in sein Gesicht trat ein Ausdruck von
Ratlosigkeit.
»Ich bin äußerst gespannt,
Basil«, fuhr sein Gefährte mit einem Blick nach ihm fort.
»Oh, es ist wirklich nicht viel
zu berichten, Harry,« entgegnete der Maler, »und du verstehst es
wohl kaum, wie ich fürchte. Vielleicht auch glaubst du mir nicht
einmal.«
Lord Henry lächelte und bückte
sich dann, um ein rosa angehauchtes Gänseblümchen aus dem Grase zu
pflücken, das er betrachtete. »Ich werde dich ganz gewiß
verstehen,« erwiderte er, die Blicke aufmerksam auf die kleine,
goldene, weißgefiederte Blütenscheibe gerichtet, »und was das
Glauben angeht, so kann ich alles glauben, vorausgesetzt, daß es
unwahrscheinlich genug ist.«
Der Wind schüttelte ein paar
Blüten von den Bäumen, und die schweren, vielgesternten
Traubendolden der Fliederbüsche bewegten sich in der schwülen Luft.
Eine Grille begann an der Gartenmauer zu zirpen, und wie ein blauer
Faden huschte eine lange, dünne Wasserjungfer auf ihren braunen
Gazeflügeln vorbei. Lord Henry glaubte Basil Hallwards Herz pochen
zu hören und war neugierig, was wohl kommen möchte.
»Die Geschichte ist einfach die«,
sagte der Maler nach einer Weile. »Vor zwei Monaten ging ich mal zu
einem der Massenempfänge bei Lady Brandon. Du weißt, wir armen
Künstler müssen uns von Zeit zu Zeit in der Gesellschaft zeigen, um
das Publikum daran zu erinnern, daß wir keine Wilden sind. Du
sagtest mir einmal: in Frack und weißer Binde kann selbst ein
Börsenmensch in den Verdacht von Bildung kommen. Nun also, ich war
etwa zehn Minuten da und redete mit korpulenten, aufgeputzten,
vornehmen Witwen und platten Akademikern, da merkte ich plötzlich,
daß mich jemand anblickte. Ich drehte mich halb um und sah zum
ersten Male Dorian Gray. Ich spürte, wie ich blaß wurde, als sich
unsere Blicke begegneten. Ein seltsames Angstgefühl überkam mich.
Ich wußte, ich stand einem Menschen Aug-in-Auge gegenüber, dessen
bloße Erscheinung so bezaubernd auf mich wirkte, daß sie, wenn ich
sie gewähren ließe, meine ganze Natur, meine ganze Seele, ja selbst
meine Kunst an sich reißen müßte. Ich bedurfte nie in meinem Leben
irgendwelcher Einwirkung von außen her. Du weißt ja selbst, Harry,
wie unabhängig ich von Haus aus bin. Ich bin immer mein eigener
Herr gewesen; war es wenigstens so lange, bis ich Dorian Gray traf.
Dann – aber ich weiß nicht, wie ich dir das begreiflich machen
soll. Irgend etwas schien mir im voraus zu sagen, daß ich an einem
schrecklichen Wendepunkt in meinem Leben stand. Ich hatte die
eigentümliche Empfindung, das Schicksal halte für mich die
ausgesuchtesten Freuden und die ausgesuchtesten Schmerzen in
Bereitschaft. Ich bekam Furcht, und ich wandte mich zum Gehen. Das
Gewissen trieb mich nicht dazu: es war eine Art Feigheit. Ich bilde
mir nichts darauf ein, daß ich diese Flucht versuchte.«
»In Wirklichkeit sind Gewissen
und Feigheit ein und dasselbe. Gewissen lautet nur die eingetragene
Firma. Weiter gar nichts.«
»Ich glaube das nicht, Harry, und
ich glaube, du wohl auch nicht. Einerlei aber, aus welchem Grunde
es geschah – es mag auch Stolz gewesen sein, denn ich war schon
immer sehr stolz – jedenfalls eilte ich der Türe zu. Natürlich
prallte ich dabei mit Lady Brandon zusammen. ›Sie wollen doch nicht
etwa schon davonlaufen, Herr Hallward?‹ kreischte sie auf. Du
kennst ja ihre schrille Stimme.«
»Ja, sie ist ein Pfau in allem,
bis auf die Schönheit«, sagte Lord Henry und zerrupfte das
Gänseblümchen zwischen seinen langen nervösen Fingern.
»Ich konnte sie nicht loswerden.
Sie zerrte mich zu den königlichen Hoheiten hin, zu den Leuten mit
Orden und Sternen und zu den ältlichen Damen mit riesenhaften
Diademen und Papageiennasen. Sie nannte mich dabei ihren besten
Freund. Ich hatte sie nur ein einziges Mal vorher gesehen, aber sie
setzte es sich in den Kopf, aus mir den Löwen des Tages zu machen.
Ich glaube, damals hatte gerade ein Bild von mir großen Erfolg
gehabt, wenigstens hatten die Zeitungen allerhand Geschwätz darüber
gebracht, und das ist ja im neunzehnten Jahrhundert das Eichungsmaß
der Unsterblichkeit. Plötzlich stand ich dem jungen Manne
gegenüber, dessen Äußeres mich vorhin so merkwürdig erschüttert
hatte. Wir standen ganz nahe beieinander und berührten uns beinah.
Unsere Blicke trafen sich wiederum. Es war leichtsinnig von mir,
aber ich bat Lady Brandon, mich ihm vorzustellen. Vielleicht war es
aber doch alles in allem nicht so leichtsinnig. Es war einfach
nicht zu umgehen. Wir hätten auch ohne Vorstellung miteinander
gesprochen. Ich bin dessen gewiß. Dorian sagte es mir nachher. Auch
er fühlte, daß unsere Bekanntschaft Schicksalsfügung war.«
»Und wie hat Lady Brandon den
wunderbaren Jüngling beschrieben?« fragte sein Gefährte. »Ich weiß,
es ist ihre Manier, von jedem ihrer Gäste eine kleine Skizze zu
geben. Ich erinnere mich, wie sie mich mal einem schrecklichen,
alten Herrn mit puterrotem Gesicht vorstellte, dessen Brust mit
Orden und Bändern beklext war, und mir in einem tragischen
Flüsterton, der für jedermann im Zimmer hörbar war, die
erstaunlichsten Einzelheiten über ihn ins Ohr zischelte. Ich mußte
einfach davonlaufen. Ich entdecke die Leute gerne von mir selbst
aus. Aber Lady Brandon behandelt ihre Gäste genau so, wie ein
Auktionator seine Waren. Sie erklärt sie einem entweder so lange,
bis nichts mehr davon übrigbleibt, oder sie sagt alles, gerade mit
Ausnahme dessen, was man wissen will.«
»Die arme Lady Brandon! Du bist
hart gegen sie«, sagte Hallward zerstreut.
»Mein guter Junge, sie wollte
einen Salon gründen und hat es nur bis zu einem Restaurant
gebracht. Wie soll ich sie da bewundern? Aber sage nun endlich, was
sie über Herrn Dorian Gray erzählt hat?«
»Oh, so irgend was wie
›Entzückender junger Mensch – seine arme Mutter und ich ganz
unzertrennlich – vergaß ganz was er treibt – fürchte fast – gar
nichts – ach ja, spielt Klavier – oder war es die Geige, lieber
Herr Gray?‹ Wir mußten beide lachen und wurden sofort
Freunde.«
»Lachen ist wohl lange nicht der
schlechteste Anfang für eine Freundschaft, und gewiß ihr schönstes
Ende«, sagte der junge Lord und pflückte sich noch ein
Gänseblümchen.
Hallward schüttelte den Kopf. »Du
hast ja keine Ahnung, was Freundschaft ist, Harry,« murmelte er,
»und ebensowenig, was Feindschaft ist. Du hast alle Welt gern; mit
anderen Worten: dir sind alle gleichgültig.«
»Wie grausam ungerecht von dir!«
rief Lord Henry, stieß seinen Hut in den Nacken und sah zu den
Lämmerwolken empor, die gleich verwirrten Knäueln glänzendweißer
Seide über das türkisfarbene Gewölbe des Himmels dahinschifften.
»Ja, grausam ungerecht von dir. Ich unterscheide die Leute sehr
scharf. Ich wählte meine Freunde nach ihrem guten Aussehen, meine
Bekannten nach ihrem guten Charakter und meine Feinde nach ihrem
guten Verstande. Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein in der
Wahl seiner Feinde. Ich habe keinen einzigen, der ein Narr ist. Es
sind sämtlich Leute von einer gewissen geistigen Höhe, und daher
schätzen sie mich auch alle. Bin ich sehr eitel? Ich glaube, es ist
ein bißchen eitel.«
»Ich glaube auch, Harry. Aber
nach deiner Einteilung zählte ich nur unter deine
Bekanntschaften.«
»Mein lieber, alter Basil, du
bist weit, weit mehr als ein Bekannter.«
»Und weit weniger als ein Freund!
Wohl so eine Art Bruder?«
»Pah, Bruder! Bleibe mir mit
Brüdern vom Halse. Mein ältester will nicht sterben, und meine
jüngeren tun scheinbar nichts anderes.«
»Harry!« rief Basil mit
gerunzelter Stirne.
»Mein lieber Junge, ich meine es
nicht so ernst. Aber ich kann mir nicht helfen, ich verabscheue
meine Verwandten. Ich vermute, das schreibt sich daher, daß kein
Mensch bei einem anderen seine eigenen Fehler vertragen kann. Ich
verstehe durchaus die Wut der englischen Demokraten auf die
sogenannten Laster der oberen Stände. Die Massen fühlen, daß
Trunkenheit, Dummheit und Unsittlichkeit zu ihren Vorrechten
gehören sollten, und daß jeder von uns, der sich darin bloßstellt,
gewissermaßen auf ihrem Gebiete wildert. Als damals der
Scheidungsprozeß des armen Southwark spielte, war ihre Entrüstung
wirklich prachtvoll. Und trotzdem lebt meiner Überzeugung nach
nicht der zehnte Teil des Proletariats der Sitte gemäß.«
»Ich stimme keinem einzigen
deiner Worte bei, und, was mehr ist, Harry, du selbst glaubst ja
auch nicht im mindesten daran.«
Lord Henry strich seinen braunen
Spitzbart und stieß mit dem zierlichen Spazierstock aus Ebenholz
gegen die Kappe seines eleganten Lackstiefels. »Wie englisch du
bist, Basil! Du machst heute zum zweitenmal diesen Einwurf. Wenn
man einem richtigen Engländer eine Idee mitteilt – an sich schon
immer eine Unüberlegtheit –, so fällt es ihm nicht im Traum ein, zu
erwägen, ob die Idee richtig oder falsch ist. Das einzige, was ihm
von Belang scheint, ist das, ob der Sprecher selbst daran glaubt.
Aber der Wert einer Idee hat nicht das geringste mit der
Aufrichtigkeit dessen zu schaffen, der sie ausspricht. Aller
Wahrscheinlichkeit nach wird die Idee um so geistreicher sein, je
unaufrichtiger der Mann ist, weil sie in diesem Fall weder die
Färbung seiner Bedürfnisse noch seiner Wünsche noch seiner
Vorurteile annehmen wird. Indes habe ich nicht die Absicht,
politische, soziale oder metaphysische Diskussionen mit dir zu
führen. Mir sind Menschen lieber als Grundsätze und grundsatzlose
Menschen überhaupt das Liebste auf Erden. Erzähle mir mehr von
Dorian Gray. Wie oft siehst du ihn?«
»Jeden Tag. Ich wäre unglücklich,
wenn ich ihn mal einen Tag nicht sähe. Er ist für mich einfach ein
Bedürfnis.«
»Wie merkwürdig! Ich glaubte
immer, du kümmertest dich um nichts anderes als um deine
Kunst.«
»Er ist für mich jetzt meine
ganze Kunst«, sagte der Maler ernsthaft. »Manchmal glaube ich,
Harry, daß es nur zwei wichtige Epochen in der Weltgeschichte gibt.
Die erste ist das Auftreten einer neuen Kunsttechnik und die zweite
die Erscheinung einer neuen Persönlichkeit in der Kunst. Was die
Erfindung der Ölmalerei für die Venezianer war, das war das Gesicht
des Antinous für die spätgriechische Bildhauerkunst, und das wird
eines Tages für mich das Gesicht Dorian Grays sein. Worauf es dabei
ankommt, ist nicht, daß ich ihn male, zeichne, skizziere. Natürlich
hab' ich das alles getan. Aber er ist weit mehr für mich als ein
Modell oder ein Mensch, der mir sitzt. Ich will gewiß nicht
behaupten, daß ich unzufrieden mit dem bin, was ich nach ihm
gemacht habe, oder daß seine Schönheit derart ist, daß sie die
Kunst nicht ausdrücken könne. Es gibt überhaupt nichts, was die
Kunst nicht ausdrücken kann, und ich weiß: was ich gemacht habe,
seitdem ich Dorian Gray kenne, ist gute Arbeit, ja, die gelungenste
Arbeit meines Lebens. Aber auf irgendeine seltsame Weise – ich
glaube kaum, daß du das verstehen wirst – hat mir seine
Persönlichkeit eine vollständig neue Art der Kunst, einen durchaus
neuen Stil offenbart. Ich sehe die Dinge anders, ich denke darüber
anders. Ich kann jetzt das Leben auf eine Art festhalten, die mir
früher nicht gegeben war. ›Ein Traum von Form in unseren Tagen des
Denkens‹: wer war es, der so sagte? Ich hab's vergessen; aber das
bedeutet Dorian Gray für mich. Die bloße sichtbare Gegenwart dieses
Knaben – denn für mich ist er kaum mehr als das, wenn er auch schon
über die Zwanzig – seine bloße sichtbare Gegenwart – ach! ich
glaube nicht, daß du einen Begriff davon hast, was sie für mich
bedeutet! Ohne es selbst zu wissen, enthüllt er mir die Linien
einer neuen Schule, einer Schule, in der enthalten ist die ganze
Leidenschaft der Romantik und die ganze Vollkommenheit des
griechischen Geistes. Die Harmonie von Seele und Leib, wieviel ist
das doch! Wir in unserer Verblendung haben die beiden voneinander
gerissen und haben uns einen Realismus erfunden, der gewöhnlich
ist, und einen Idealismus, der leer ist. Harry! wenn du wissen
könntest, was mir Dorian Gray ist! Erinnerst du dich an die
Landschaft von mir, für die mir Agnew ein so wahnsinniges Geld
angeboten hat und von der ich mich doch nie trennen wollte? Es ist
sicher eins der besten Stücke, die ich je gemacht habe. Und warum?
Weil Dorian Gray neben mir saß, während ich sie malte. Irgendein
ganz feines Fluidum strömte von ihm zu mir, und zum erstenmal in
meinem Leben entdeckte ich in der simpeln Waldlandschaft das
Wunder, nach dem ich immer gesucht und das ich nie gefunden
hatte.«
»Basil, das ist ja eine ganz
außerordentliche Geschichte. Ich muß Dorian Gray
kennenlernen.«
Hallward schnellte von der Bank
auf und ging im Garten hin und her. Nach einer Weile kam er
zurück.
»Harry,« sagte er, »Dorian Gray,
ist für mich nichts als ein künstlerisches Motiv. Vielleicht
fändest du gar nichts in ihm. Ich finde alles in ihm. Er ist in
Wirklichkeit nie mehr in meiner Arbeit lebendig, als wenn kein
Schatten von ihm darin ist. Er ist für mich, wie ich sagte, die
Anregung zu einem Stil. Ich finde ihn in den Schwingungen gewisser
Linien wieder, in der Lieblichkeit und Zartheit gewisser Farben.
Das ist alles.«
»Warum aber willst du dann sein
Bild nicht ausstellen?« fragte Lord Henry.
»Weil ich, ohne es zu wollen,
einen gewissen Ausdruck all dieser ganz merkwürdigen
Künstlervergötterung hineingelegt habe, von der ich natürlich nie
zu ihm sprechen wollte. Er hat von alledem keine Ahnung. Er soll
nie etwas davon ahnen. Aber die Welt könnte es erraten; und ich
will meine Seele ihren seichten, spähenden Augen nicht entblößen.
Mein Herz sollen sie nie unter ihr Mikroskop bekommen. Es ist zu
viel von mir selbst in dem Dinge, Harry – zu viel von mir
selbst.«
»Dichter nehmen's nicht so genau
wie du. Die wissen, wie einträglich es ist, Leidenschaft zu
veröffentlichen. Eingebrochenes Herz bringt es heutzutage zu einer
ganzen Reihe von Auflagen.«
»Ich finde sie darum eben
abscheulich!« rief Hallward aus. »Ein Künstler soll Schönes
schaffen, aber er soll nichts von seinem eigenen Leben
hineintragen. Wir leben in einer Zeit, wo die Menschen aus der
Kunst eine Art Autobiographie zu machen wünschen. Wir haben eben
den klaren Begriff für Schönheit verloren. Eines Tages will ich der
Welt zeigen, was sie ist, und deshalb soll die Welt mein Bild
Dorian Grays niemals sehen.«
»Ich glaube, du hast unrecht,
Basil, aber ich will mit dir nicht streiten. Nur die geistig
Entkernten streiten sich gern. Sag' mir, hat dich Dorian Gray sehr
lieb?«
Der Maler dachte ein paar
Augenblicke nach. »Er hat mich gern«, antwortete er nach einer
Weile; »sicher hat er mich gern. Natürlich schmeichle ich ihm
fürchterlich. Ich finde eine ganz besondere Lust daran, ihm Dinge
zu sagen, die mir später leid tun, wie ich ganz genau weiß. In der
Regel ist er auch reizend zu mir, und wir sitzen dann im Atelier
und schwatzen von tausend Dingen. Dann und wann ist er allerdings
greulich gedankenlos und scheint große Freude darin zu finden, mir
wehe zu tun. Dann, Harry, habe ich das Gefühl, daß ich jemand meine
ganze Seele überantwortet habe, der sie behandelt wie eine Blume
für das Knopfloch, wie ein kleines Ehrenzeichen, mit dem man seine
Eitelkeit befriedigt, wie einen Zierat für einen Sommertag.«
»Sommertage, Basil, pflegen
manchmal lange zu währen«, murmelte Lord Henry. »Vielleicht wirst
du seiner früher müde, als er deiner. Es ist sehr traurig, daran zu
denken, aber es ist ohne Zweifel wahr, daß das Genie die Schönheit
überlebt. Das erklärt auch die Tatsache, daß wir uns soviel Mühe
geben, uns mit Bildung vollzupfropfen. In dem wilden Existenzkampfe
ums Dasein wollen wir alle etwas Dauerhaftes haben, und so füllen
wir unser Gehirn mit Plunder und Tatsachen an, in der dummen
Hoffnung, dadurch unseren Platz zu behaupten. Der durch und durch
unterrichtete Mann – das ist das moderne Ideal. Und das Gehirn
dieses durch und durch unterrichteten Mannes hat etwas
Fürchterliches. Es gleicht einem Kuriositätenladen, in dem es
lauter Ungeheuerlichkeiten voll Staub gibt, und wo jeder Gegenstand
über seinen wahren Wert hinaus ausgezeichnet ist. Immerhin, ich
glaube, du wirst zuerst müde werden. Eines Tages wirst du deinen
jungen Freund anschauen und finden, daß er etwas verzeichnet ist,
oder du wirst an seiner Farbe etwas auszusetzen haben oder irgend
so etwas. Du wirst ihm dann in deinem Herzen bittere Vorwürfe
machen und ganz ernsthaft überzeugt sein, daß er sich recht
schlecht gegen dich benommen hat. Wenn er dich dann das nächstemal
besucht, wirst du völlig kühl und gleichgültig gegen ihn sein. Das
wird sehr schade sein, denn es wird dich selbst verändern. Was du
mir da erzählt hast, ist völlig ein Gedicht, eine Romanze der Kunst
möchte man es nennen, und das Schlimmste beim Erleben von Gedichten
ist nur, daß es einen so ganz unpoetisch zurückläßt.«
»Harry, ich bitte, sprich nicht
so. Solang' ich lebe, wird mich die Persönlichkeit Dorian Grays
beherrschen. Du kannst meine Empfindung nicht nachfühlen. Du
wandelst dich zu oft.«
»Ah, mein lieber Basil, gerade
darum kann ich sie nachempfinden. Die treuen Menschen kennen nur
die triviale Seite der Liebe; die Treulosen allein erfahren die
Tragödien der Liebe.« Und Lord Henry zündete an einem zierlichen
silbernen Büchschen ein Streichholz an und begann eine Zigarette zu
rauchen, mit jener so selbstbewußten, zufriedenen Miene, als hätte
er den Sinn der ganzen Welt in einen Satz zusammengefaßt. Man hörte
ein leises Rauschen von zirpenden Sperlingen in den grünen, wie mit
glänzendem Lack überzogenen Efeublättern, und die blauen
Wolkenschatten jagten wie Schwalben über das Gras. Wie reizend war
es doch in dem Garten und wie entzückend waren die Gefühlsregungen
anderer Leute! – weit entzückender als ihre Gedanken, so schien es
ihm. Des Menschen eigene Seele und die Leidenschaft seiner Freunde
– das sind die fesselnden Dinge des Lebens. Er stellte sich mit
geheimem Vergnügen das langweilige Frühstück vor, das er durch
seinen langen Besuch bei Basil Hallwald versäumt hatte. Wäre er zu
seiner Tante gegangen, hätte er dort sicher Lord Goodbody
getroffen, und das ganze Gespräch hätte sich mit der Armenernährung
und der Notwendigkeit von Musterwohnhäusern beschäftigt. Menschen
jedes Standes hätten die Wichtigkeit gerade jener Tugenden
gepredigt, für die sie in ihrem eigenen Leben gar keine Verwendung
hatten. Der Reiche hätte von dem Werte der Sparsamkeit geredet, und
der Träge mit wahrhafter Beredsamkeit über die Würde der Arbeit. Es
war reizend, all dem entgangen zu sein. Als er an seine Tante
dachte, schien ihm etwas einzufallen. Er wandte sich zu Basil und
sagte: »Mein lieber Junge, ich erinnere mich jetzt.«
»Woran erinnerst du dich,
Harry?«
»Wo ich den Namen Dorian Grays
gehört habe.«
»Wo war das?« fragte Hallward mit
leichtem Stirnrunzeln.
»Schau' doch nicht so böse drein,
Basil. Es war bei meiner Tante, Lady Agatha. Sie erzählte mir, sie
sei einem wunderhübschen jungen Menschen begegnet, der ihr im
East-End helfen wolle, und er heiße Dorian Gray. Ich muß zugeben,
sie hat mir nie etwas darüber gesagt, daß er so hübsch sei. Frauen
haben kein Verständnis für Schönheit, wenigstens gute Frauen nicht.
Sie sagte, daß er sehr ernst sei und eine edle Seele habe. Ich
stellte mir natürlich sofort ein Wesen mit Brille und wallendem
Haar und gräßlich vielen Sommersprossen vor, das auf riesigen Füßen
umherstapfe. Ich wünsche jetzt, ich hätte gewußt, daß er dein
Freund ist.«
»Ich bin sehr froh, daß du es
nicht gewußt hast, Harry.«
»Warum?«
»Ich will nicht, daß du ihn
kennenlernst.«
»Du willst nicht, daß ich ihn
kennenlerne?«
»Nein.«
»Herr Dorian Gray ist im
Atelier«, sagte der Diener, der in den Garten hinaustrat.
»Jetzt mußt du mich vorstellen!«
rief Lord Henry lachend. Der Maler wandte sich zu seinem Diener,
der blinzelnd in der Sonne dastand: »Bitten Sie Herrn Gray, zu
warten, Parker; ich komme in ein paar Minuten.« Der Mann verbeugte
sich und ging ins Haus.
Dann sah der Maler Lord Henry an.
»Dorian Gray ist mein teuerster Freund«, sagte er. »Er hat eine
schlichte und edle Seele. Deine Tante hatte ganz recht mit dem, was
sie über ihn sagte. Verdirb ihn mir nicht. Versuche nicht, Einfluß
auf ihn auszuüben. Dein Einfluß wäre verderblich. Die Welt ist
groß, und es gibt eine Menge köstlicher Menschen auf ihr. Raube mir
nicht den einzigen Menschen, der meiner Kunst ihren ganzen Zauber
verleiht, den sie hat: mein Leben als Künstler hängt von ihm ab!
Denke daran, Harry, ich vertraue dir.« Er sprach sehr langsam, und
die Worte schienen sich ihm gegen seinen Willen zu entringen.
»Was für Unsinn du redest!« sagte
Lord Henry lächelnd, nahm Hallward unter den Arm und führte ihn in
das Haus.