Der Sozialismus und die Seele des Menschen - Oscar Wilde - E-Book + Hörbuch

Der Sozialismus und die Seele des Menschen E-Book und Hörbuch

Oscar Wilde

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Beschreibung

Was braucht es, um als Mensch wirklich frei zu sein? Sozialismus – davon überzeugt war der Schriftsteller Oscar Wilde. In dem erstmals im Jahr 1891 veröffentlichten Essay »Der Sozialismus und die Seele des Menschen« entwarf er die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft. »Es wird natürlich gesagt werden, ein solcher Plan, wie er hier vorgebracht ist, sei ganz unpraktisch und gehe gegen die Natur des Menschen. Das ist völlig wahr. Er ist unpraktisch und er geht gegen die Natur des Menschen. Darum verdient er es, durchgeführt zu werden, und darum schlägt man ihn vor. Denn was ist ein praktischer Plan? Ein praktischer Plan ist entweder ein Plan, der bereits besteht, oder ein Plan, der unter den bestehenden Verhältnissen durchgeführt werden könnte. Aber gerade gegen die bestehenden Verhältnisse wendet man sich; und jeder Plan, der sich in diese Verhältnisse fügen könnte, ist schlecht und töricht. Mit den Verhältnissen wird aufgeräumt werden, und die Natur des Menschen wird sich ändern.«

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Seitenzahl: 71

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Zeit:1 Std. 39 min

Sprecher:Heiner Lamprecht
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Vorbemerkung

»Der Sozialismus und die Seele des Menschen« erschien unter dem Titel »The soul of man under socialism« im Februar 1891 in der Fortnightly Review. Man wird nun, wo dieser verschollene Essay wieder ans Licht kommt, verstehen, warum die englische Gesellschaft diesen genialen Mann, der einst ihr verhätschelter Liebling war, solange seine schönheitshungrige Seele mit ihr zu spielen schien, später so tödlich hasste und so infam ins Elend stieß. Die Rache der Sklaven ist schrecklich, die Bosheit der Herren aber ist unsäglich. Eine Einsicht, die einem oft verwandten Geiste, Friedrich Nietzsche, vielleicht nicht gefehlt hätte, wenn er nicht bloß Deutscher, sondern sogar Engländer gewesen wäre.

Gustav Landauer

Der größte Nutzen, den die Einführung des Sozialismus brächte, liegt ohne Zweifel darin, dass der Sozialismus uns von der schmutzigen Notwendigkeit, für andere zu leben, befreite, die beim jetzigen Stand der Dinge so schwer auf fast allen Menschen lastet. Es entgeht ihr in der Tat fast niemand.

Hie und da ist im Lauf des Jahrhunderts ein großer Forscher wie Darwin, ein großer Dichter wie Keats, ein scharfer kritischer Kopf wie Renan, ein ungemeiner Künstler wie Flaubert imstande gewesen, sich abzusondern, sich vor den lärmenden Ansprüchen der anderen zu retten, »im Schutz der Mauer zu stehen«, wie Plato sich ausdrückt, und so zu seinem eigenen unvergleichlichen Gewinn und zum unvergleichlichen und bleibenden Gewinn der ganzen Welt die Vollendung dessen zu erreichen, was in ihm war. Das sind aber Ausnahmen. Die meisten Menschen ver derben ihr Leben mit einem heillosen übertriebenen Altruismus – sie sind geradezu gezwungen, es zu tun. Sie sehen sich von scheußlicher Armut, scheußlicher Hässlichkeit, scheußlichem Hungerleben umgeben. Es ist unvermeidlich, dass ihr Gefühl durch all das stark erregt wird. Die Gefühle des Menschen bäumen sich schneller auf als sein Verstand, und – wie ich vor einiger Zeit in einem Aufsatz über das Wesen der Kritik gesagt habe – Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken. Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falschgerichtetem Eifer sehr ernsthaft und sehr gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren.

Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht: sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit.

Sie suchen etwa das Problem der Armut dadurch zu lösen, dass sie den Armen am Leben halten, oder – das Bestreben einer sehr vorgeschrittenen Richtung – dadurch, dass sie für seine Unterhaltung sorgen.

Aber das ist keine Lösung: Das Übel wird schlimmer dadurch. Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesellschaft auf einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht. Und die altruistischen Tugenden haben tatsächlich die Erreichung dieses Ziels verhindert. Gerade wie die schlimmsten Sklavenhalter die waren, die ihre Sklaven gut behandelten und so verhinderten, dass die Grässlichkeit der Einrichtung sich denen aufdrängte, die unter ihr litten, und von denen gewahrt wurde, die Zuschauer waren, so sind in den Zuständen unserer Gegenwart die Menschen die verderblichsten, die am meisten Gutes tun wollen; und wir haben es schließlich erlebt, dass Männer, die das Problem wirklich studiert haben und das Leben kennen – gebildete Männer, die im Londoner Eastend leben – auftreten und die Gemeinschaft anflehen, ihre altruistischen Gefühle und ihr Mitleid, ihre Wohltätigkeit und dergleichen einschränken zu wollen. Das tun sie mit der Begründung, dass solches Wohltun herabwürdigt und entsittlicht. Sie haben völlig recht. Mitleid schafft eine große Zahl Sünden.

Auch das muss noch gesagt werden. Es ist unsittlich, das Privateigentum dazu zu benutzen, die schrecklichen Übel zu lindern, die die Institution des Privateigentums erzeugt hat. Es ist unsittlich und nicht loyal.

Im Sozialismus wird natürlich all das geändert sein. Es wird keine Menschen geben, die in stinkenden Höhlen und stinkenden Lumpen leben und kranke Kinder in unmöglicher und widerwärtiger Umgebung aufziehen. Die Sicherheit der Gesellschaft wird nicht wie heute von der Witterung abhängen. Wenn Kälte einsetzt, wird es nicht hunderttausend Arbeitslose geben, die in ekelhaftem Elend die Straßen ablaufen oder ihren Mitmenschen etwas vorweinen, bis sie ein Almosen kriegen, oder sich vor dem Tor eines abscheulichen Asyls für Obdachlose drängen, um ein Stück Brot und ein unsauberes Nachtquartier zu ergattern. Jedes Mitglied der Gesellschaft wird an der allgemeinen Wohlfahrt und dem Gedeihen der Gesellschaft teilhaben, und wenn die Kälte kommt, wird darum in der Tat niemand im Geringsten schlechter gestellt sein.

Andrerseits ist der Sozialismus lediglich darum von Wert, weil er zum Individualismus führt.

Der Sozialismus, Kommunismus, oder wie immer man den Zustand nennen will, gibt dadurch, dass er das Privateigentum in eine öffentlich-rechtliche Institution verwandelt und die Genossenschaft an die Stelle der Konkurrenz setzt, der Gesellschaft ihren eigentlichen Charakter, den eines durchweg gesunden Organismus, zurück und sichert jedem Glied der Gemeinschaft das materielle Wohlergehen. Er gibt in der Tat dem Leben seine rechte Grundlage und seine rechte Umgebung. Aber für die volle Entfaltung des Lebens zum höchsten Grad seiner Vollendung tut noch etwas mehr not. Was nottut, ist der Individualismus.

Wenn der Sozialismus autoritär ist, wenn es in ihm Regierungen gibt, die mit ökonomischer Gewalt bewaffnet sind, wie jetzt mit politischer, wenn wir mit einem Wort den Zustand der industriellen Tyrannis haben werden, dann wird die letzte Stufe des Menschen schlimmer sein als die erste. Jetzt sind infolge des Vorhandenseins von Privateigentum sehr viele Menschen imstande, einen gewissen, recht beschränkten Grad des Individualismus zu erreichen. Entweder stehen sie nicht unter dem Zwang, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, oder sie sind imstande, ein Tätigkeitsfeld zu wählen, das ihnen wahrhaft entspricht und ihnen Freude macht. Das sind die Dichter, die Philosophen, die Forscher, die Geistmenschen – mit einem Wort, die wirklichen Menschen, die Menschen, die sich selbst verwirklicht haben und in denen die ganze Menschheit eine teilweise Verwirklichung findet. Andrerseits gibt es sehr viele Menschen, die nicht im Besitz von Privateigentum und immer in Gefahr sind, in Not und Hunger zu sinken; so sind sie gezwungen, die Arbeit von Lasttieren zu tun, Arbeit zu tun, die ihnen ganz und gar nicht entspricht, zu der sie aber durch die unerbittliche, unvernünftige, entwürdigende Tyrannei der Not gezwungen werden. Das sind die Armen, und bei ihnen gibt es keine Grazie, keine Anmut der Rede, keine Bildung oder Kultur oder Verfeinerung der Genüsse, keine Lebensfreude. Aus ihrer Gesamtkraft zieht die Menschheit viel materiellen Wohlstand. Aber nur dieses materielle Ergebnis ist der Gewinn, und der Arme an sich ist völlig wertlos. Er ist nur das winzigste Atom einer Kraft, die, soweit er in Betracht kommt, ihn vernichtet, der es sogar lieber ist, wenn er vernichtet ist, da er in diesem Fall williger ist.

Natürlich könnte man sagen, der Individualismus, wie er unter den Bedingungen des Privateigentums entsteht, sei nicht immer, nicht einmal in der Regel von edler und erfreulicher Art, und die Armen hätten, wenn ihnen auch Kultur und Grazie abgingen, doch viele Tugenden. Beide Behauptungen wären ganz richtig. Der Besitz von Privateigentum ist sehr oft äußerst entsittlichend, und das ist natürlich eine der Ursachen, warum der Sozialismus diese Einrichtung abschaffen will. Das Eigentum ist wirklich in der Tat eine Last. Vor einigen Jahren reisten etliche im Lande herum und verkündeten, das Eigentum habe Pflichten. Sie sagten es so oft und so zum Überdruss, dass schließlich die Kirche angefangen hat, dasselbe zu sagen. Man hört es jetzt von jeder Kanzel herab. Es ist völlig richtig. Das Eigentum hat nicht nur Pflichten, sondern so viele Pflichten, dass es eine Last ist, viel davon zu besitzen. Fortwährend muss man aufs Geschäft achten, fortwährend werden Ansprüche geltend gemacht, fortwährend wird man behelligt. Wenn das Eigentum nur Annehmlichkeiten brächte, könnten wir es aushalten; aber seine Pflichten machen es unerträglich. Im Interesse der Reichen müssen wir es abschaffen. Die Tugenden der Armen können bereitwillig zugegeben werden und sind sehr zu bedauern. Man sagt uns oft, die Armen seien für die Wohltaten dankbar. Einige von ihnen sind es ohne Frage; aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar