Das Blumentattoo - Sandra Meijer - E-Book

Das Blumentattoo E-Book

Sandra Meijer

4,9

Beschreibung

Eine erfolgreiche Unfallchirurgin und ein Obdachloser - sie leben in sehr unterschiedlichen Welten. Doch sie teilen die Wunden, die die Zeit nicht heilen will. Sie beide wandeln in der Gegenwart und haben sich selbst in der Vergangenheit verloren. Doch als sie aufeinander treffen, spielt es keine Rolle mehr, wer oder was sie zu sein scheinen. Blumen zieren ihren Rücken. Feine Narben werden von den Blüten verdeckt. Doch sie stammen aus längst vergangenen Tagen. Einen weiten Weg ist sie seitdem gegangen. Das Ziel fest im Blick. Doch so sehr sie sich auch bemüht, der Schmerz in ihr ist nur gebändigt, nicht vorüber. Kein Schweigen. Trotzdem Stille. Sein Leben endete an einem Sommertag vor zwanzig Jahren. Nur gestorben ist er nicht. Und die Schuld, die er in sich trägt, beißt jeden Tag neue Wunden in sein Herz. Doch seine Vergangenheit ruht nicht, wie die ihre. Sie ist auf der Jagd nach ihm. Während die einen auf der Suche nach Wahrheit sind, wollen die anderen nur seinen Tod. Wer also findet ihn zuerst und bringt es zu Ende? Wie lange kannst Du vor Deiner Vergangenheit fliehen, bevor Du Dich auf immer verlierst? Und wann wird es Zeit, ihr die Stirn zu bieten?

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Buch

Bei Bauarbeiten in einem Waldstück in der Nähe von Berlin werden acht Kinderleichen neben einem alten Bunker gefunden. Die Todeszeit liegt bereits zwanzig Jahre zurück. Hans Baumann übernimmt die Ermittlungen und schnell wird klar, dass es sich um die Tat von Kinderschändern handelt. Eine DNA-Spur führt zu einem weiteren vermissten Jungen. Ist er eines der Opfer oder gehört er zu den Tätern? Eine deutschlandweite Suche beginnt. Doch auch ein ehemaliger Bordellbesitzer aus Hamburg hat ein großes Interesse daran, ihn zu finden und ihn endgültig zum Schweigen zu bringen.

Derweil findet die Chirurgin Rosalie einen Obdachlosen in ihrem Garten, den sie kurzerhand bei sich aufnimmt. Schnell merkt sie, dass seine Vergangenheit ihn nicht loslässt und auch sie trägt Wunden in sich, die nicht verheilen wollen. Gemeinsam fahren sie ans Meer und gehen den Dingen in sich auf den Grund. Dabei entwickelt sich mehr als reine Freundschaft.

Widmung

Dieses Buch ist für Dich. Am Anfang steht immer eine Idee. Die durch Worte zum Leben erweckt werden. Doch erst dadurch, dass Du ihn liest, wird er zu einem Roman. Ich habe auf meiner Reise schon so unfassbar viele Momente erlebt. Meine Worte waren Inspiration, Entspannung und Freude zugleich. Und ich hoffe, dass Dich dieser Roman ebenso berührt, wie mich. Versinke in den Zeilen. Und jage mit den Augen durch die Seiten. Dann werden meine Worte zu einem Roman.

Du bist der Grund, warum es ihn gibt. Und Du bist der Grund, warum ich immer weiter mache. Vielen Dank.

Autorin

Geboren im Mai 1981 wuchs Sandra Meijer mit zwei Brüdern und zwei Schwestern in Telgte auf. Einem Wallfahrtsort nahe Münster. Nach ihrer Schulbildung absolvierte sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau und arbeitet heute als Teamassistentin in der Baubranche. Bereits in der Grundschule hat sie das Schreiben für sich entdeckt. Angefangen von kleinen Gedichten bis hin zu den ersten Gehversuchen im Romanbereich, mit denen sie ganze Schulhefte füllte. Im März 2016 erfüllte sie sich mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans einen Lebenstraum. Der zweite folgte nur sieben Monate später.

Für Dich

Inhaltsverzeichnis

Teil I

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Teil II

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Teil III

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

Teil IV

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

Teil V

61. Kapitel

62. Kapitel

Teil I

Der Tag, obgleich so lieblich schön,

verbirgt mein Herz vor aller Welt.

Ist für mich ein grau in grau.

Ist meine Stimme nichts, was zählt.

Wenngleich ein Lachen über meine Lippen dringt,

ist es nur ein lauter Schrei in die Leere.

Weit entfernt von dem was ich bin,

hallt es dumpf im leeren Raum.

Ich fühle nichts.

Ich sehe nichts.

Ich höre nichts.

Ich lebe nicht.

Ich bin nur hier.

Verloren in der Zeit, in der ich einst war.

Verloren auf dem Weg.

Und doch immer noch da.

Wo nur finde ich mein Glück?

Wo finde ich mein echtes Lachen?

Wo finde ich mich?

Oder bin ich am Ende nur ein Traum

und mein Weg nichts weiter als ein Hauch,

der vor langer Zeit die Kerze löschte?

Wie das Lachen in mir und mein Leben.

Doch sieht man mich nicht,

nur an mir vorbei.

Verloren in der Leere in mir.

1. KAPITEL

Ein kalter regnerischer Novembermorgen starrte Hans Baumann durch die Autoscheiben entgegen. Sein junger Kollege hatte ihn vor einer halben Stunde von seiner Wohnung abgeholt. Der obligatorische Pappbecher mit Kaffee wärmte seine Handflächen, mit denen er ihn fest umschloss. Die Scheibenwischer surrten mit leisem Knarren über die Windschutzscheibe. Der Regen nahm ab. Oder es lag daran, dass sie an Geschwindigkeit verloren hatten, seit sie auf dem Waldweg eingefahren waren.

„Sie sollten die Waschanlage Ihres Wagens mal nachsehen lassen, Fuchs.“ knurrte er zur Fahrerseite.

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“

Hans warf ihm einen Blick zu. Seit er ihn abgeholt hatte, waren dies die ersten Worte aus seinem Mund. Er sah müde aus. Und eine Sorgenfalte hatte sich tief auf seiner Stirn eingegraben.

„Wollen Sie mir nicht sagen, was wir haben?“

„Sie sollten sich wirklich lieber selbst ein Bild machen.“

Es war eine kurze Nacht für Hans. Viel zu lange hatte er wieder dort gesessen und all die alten Fotoalben durchgesehen. Es ging auf Weihnachten zu. Seine Erinnerungen quälten ihn immer etwas stärker zu dieser Jahreszeit. Er hatte sich den Rest des Jahres besser im Griff. Doch um kurz nach fünf hatte ihn der schrille Klingelton seines Diensthandys geweckt und Kriminaloberrat Michael Krause, sein Vorgesetzter, teilte ihm mit, dass es Arbeit geben würde.

Er war auch ein echter Freund gewesen. Damals, als sie noch gemeinsam in Hamburg gearbeitet hatten. Bevor Michael nach Berlin gewechselt war und eine steile Karriere hingelegt hatte. Doch die Freundschaft zwischen ihnen blieb bestehen.

Hans blieb in Hamburg. Wegen ihr. Sein Herz schmerzte wieder beim Gedanken an sie. Nach der Trennung fiel er in ein tiefes Loch. Er trank zu viel und schlief zu wenig. Versuchte den Schmerz zu betäuben, so gut es ging. Und eines Tages, vor sechs Jahren, tauchte sein alter Freund wieder auf.

Er stand plötzlich vor Hans, als der sich mal wieder an einem dieser vielen Abende in einer Kneipe volllaufen lassen hatte. Ohne ein Wort, schleifte er ihn raus, verfrachtete ihn in seiner Wohnung ins Bett und ließ ihn schlafen.

Am nächsten Morgen sah er ihn nur durchdringend an und sagte bestimmt „Es reicht!“.

Er legte ihm das Infoblatt einer Entzugsklinik und ein Umsetzungsgesuch auf den Tisch, bevor er ohne ein weiteres Wort die Wohnung verließ. Wenige Monate später folgte Hans ihm nach Berlin und ließ Hamburg und Birgit weit hinter sich.

Fuchs lenkte den Wagen auf einen kleinen Parkplatz, auf dem Wagen an Wagen stand und der dem Andrang nicht gewachsen zu sein schien. Verschiedene Fahrzeuge der Polizeieinheiten und die schwarzen Wagen der kriminaltechnischen Untersuchungseinheit, mit großen weißen Buchstaben KTU an der Seite, standen dichtgedrängt im Regen.

„Hier ist ja ganz schön was los.“

Hans drückte den Knopf seines Gurtes, der mit einem leisen Surren wieder in die Verankerung verschwand.

„Ja.“

Die bedrückte Stimme seines Kollegen ließ ihn innehalten.

„Lange Nacht?“ fragte Hans.

Er nickte zaghaft und starrte ins Leere.

„Was halten Sie davon, wenn Sie im Wagen warten. Ich werde den Kommissionsleiter schon finden.“

„Kriminaloberrat Michael Krause“ sagte Fuchs.

„Ja, ich weiß, er hat mich angerufen.“

Hans stieg aus. Wenn der Chef der Kriminalpolizei höchstpersönlich an einem Tatort anwesend war, war das sicher kein gutes Zeichen. Und bei dem Gesichtsausdruck des Kollegen, wappnete sich Hans mit dem letzten Rest seines Kaffees für einen langen und harten Tag.

Er folgte den Geräuschen aus dem Wald und traf bald auf die Absperrung mit Flatterband. Dem Kollegen, der Wache hielt, zeigte er nur kurz seinen Ausweis und er ließ ihn durch. Über eine groß verteilte Fläche waren sehr viele Kollegen emsig am Werk. Mehrere grüne Pavillons waren auf einer Fläche von ein paar hundert Quadratmetern aufgebaut. Etwas erhöht stand eine Art Zelt. Michael stand darunter und besprach sich hektisch mit anderen Kollegen.

Als Hans näher kam, hörte er noch einige Wortfetzen, die für ihn vorerst keinen Sinn ergaben. Das Gespräch erstarb, als er angekommen war.

„Guten Morgen. Was haben wir?“

Er warf einen Blick auf die Fotos und Berichte, die wild verstreut auf einem Tisch lagen.

„Guten Morgen, Hans.“

Er zeigte zu dem Herrn mit dem er sich soeben noch unterhalten hatte. „Du kennst sicher Herrn Professor Doktor Klinge?“

Hans reichte dem Leiter der Forensik die Hand.

„Ja, wir hatten schon ein oder zwei Mal das Vergnügen.“

„Guten Morgen.“ grüßte ihn der Professor.

„Okay, wollen wir?“ fragte Michael und setzte sich augenblicklich in Bewegung.

Zu dritt traten sie unter dem Zelt hervor. Sogleich benetzte sie der feine Regen, der den Weg durch die Bäume fand.

„Also, gestern Abend meldeten Bauarbeiter einen Leichenfund.“ Michael zeigte auf einen stillstehenden Bagger.

„Ein paar Kollegen und Mitarbeiter von der Spurensicherung kamen her, um alles aufzunehmen.“

Ihre Schritte wurden abgefedert von dem dicken Blätterteppich, der sich auf den Boden gelegt hatte. Ein leises Rascheln erhob sich durch jeden ihrer Schritte.

„Sie fanden ein männliches Skelett.“

„Ein Junge.“ schaltete sich jetzt der Professor ein. „Etwa vierzehn Jahre alt. Genaueres erst nach der Obduktion.“

„Die Leiche ist noch hier?“ fragte Hans verdutzt.

„Ja, das ist sie.“ seufzte Krause. „Weil sie noch mehr gefunden haben.“

Sie hielten vor einer Art Grube, vor der der Bagger stand. Die Schaufel hatte sich ins Erdreich geschoben und in dem Sand, den er hätte ausheben sollen, lagen die Überreste des Jungen. Die Kleidung war größtenteils verrottet. Von seinem Körper war nur noch das Skelett übrig. Den Rest hatte sich die Natur bereits geholt. Eine Jeansjacke lag ein Stück abseits, sie fiel

Hans sofort ins Auge.

„Die gehört nicht zur Leiche.“ stellte er fest.

Sie war einige Nummern größer als der Torso des Jungen.

Michael seufzte und kratzte sich am Hinterkopf.

„In der Tat. Das haben die Kollegen auch erkannt und Verstärkung angefordert.“

Der Regen prasselte auf das Dach des Pavillons, den man zum Schutz aufgestellt hatte.

„Und?“

„Sie fanden mehr Leichen.“

„Wie viel mehr?“

Hans hob seinen Blick und sah zu den anderen Pavillons.

„Bisher haben wir sieben weitere Leichen entdeckt.“

Hans schluckte schwer. „Sieben?“

„Ja, aber wir suchen noch.“

Ein Fluch wollte ihm über die Lippen, doch er nahm sich zusammen. Stattdessen räusperte er sich laut.

„Ist das Ihre professionelle Auswertung, Herr Baumann?“ fragte der Professor spöttisch.

Hans verzog das Gesicht zu einem Grinsen auf Grund seines Tonfalls.

„Bisher schon. Was haben die Bagger hier überhaupt zu suchen?“

Michael zeigte auf etwas hinter der Anhöhe, auf dem das Zelt stand.

„Das Stadtgebiet endet etwa einen Kilometer von hier. Man will es erweitern. Die Bagger sollten die ersten Grundzüge schaffen und den Bunker dort abreißen.“

„Einen Bunker?“

Hans sah auf und sah in die Richtung, in die Michael genickt hatte. Grauer Beton hob sich deutlich sichtbar aus einer Erhöhung des Bodens.

„Der stammt noch aus dem zweiten Weltkrieg.“

„Hat sich da drin schon einer umgesehen?“ fragte Hans.

„Nein, bisher noch nicht. Sie sind noch bei der Sicherstellung der Leichen. Hans, wo zum Teufel…“

Hans hatte sich in Bewegung gesetzt. Er zog eine Taschenlampe aus seiner Tasche.

Die schwere Eisentür war offenkundig sehr lange nicht mehr geöffnet worden. Und bei den Witterungsverhältnissen waren die Scharniere verrostet. Doch Hans war sich sicher, dass diese keine Überbleibsel vom zweiten Weltkrieg waren. Er leuchtete

mit der Taschenlampe darauf und untersuchte sie genauer.

„Wie lange, sagen Sie, liegen die Leichen schon hier?“ fragte er laut.

Michael und der Professor waren ihm gefolgt. Der Professor stellte sich neben ihn und beäugte interessiert die Scharniere, die Hans untersucht hatte.

„Genau kann ich das noch nicht sagen, aber an Hand der gefunden Kleidung der Opfer würde ich sagen, fünfzehn bis zwanzig Jahre.“

„Könnte passen.“ murmelte Hans, war sich allerdings alles andere als sicher.

„Die KTU soll sich die Tür ansehen.“ sagte er zum Professor gewandt.

Dann leuchtete er in den Gang. Doch Michael hielt ihn am Ärmel fest. „Was hast Du vor?“

„Ich sehe mir das mal an.“

„Auf keinen Fall gehst Du da rein. Das Ding kann jederzeit einstürzen.“

Hans lächelte. „Das bezweifle ich sehr.“

Er leuchtete zur Decke.

„Das ist massiver Beton. Der wird nicht so schnell klein bei

geben. Die Frage ist eher, ob sie ihn überhaupt abreißen können.“

Michael sah ihn skeptisch an.

„Du kannst ja hier bleiben.“

Und schon trat er in die Dunkelheit.

„Was dagegen, wenn ich mich anschließe?“ fragte der Professor.

Hans schüttelte den Kopf. Michael blieb seufzend alleine zurück. Er drehte sich um und machte sich auf die Suche nach Mitarbeitern der KTU, die sich die Tür ansehen sollten.

Der Schein der Taschenlampe huschte über die grauen Wände.

Ein langer Tunnel führte tief in den Bunker hinein. Als Hans den Lichtstrahl zur Decke lenkte, entdeckte er mehrere Halogenstrahler.

„Die sind sicher nicht aus dem zweiten Weltkrieg.“ sagte der Professor, der dicht hinter ihm blieb.

„Nein. Ich denke auch, dass der Bunker seitdem noch mal in Benutzung war.“

Nach etwa zehn Metern gingen drei Gänge nach rechts ab und zwei große Räume zur linken Seite. Hans entschied sich für den ersten Gang nach rechts. Und der Professor folgte ihm. Der Gang endete bereits nach etwa zehn Metern. Rechts und links waren kleine Zellen. Der Professor sah Hans über die Schulter, als dieser sie ausleuchtete

„Das waren die Unterkünfte im Bunker. Ich habe schon ein paar gesehen, aber ich wusste nicht, dass es noch unentdeckte Bunkeranlagen gibt. Aber normalerweise…“

„Lassen Sie mich raten, sie haben keine Gitter vor den Türen?“

Hans lief ein kalter Schauer über den Rücken als er auf dem Boden einer der Zellen einen verwitterten Teddybären liegen sah.

„Ja, das ist wirklich ungewöhnlich.“ sagte der Professor.

„Ich fürchte nicht. Lassen Sie uns zurückgehen.“

Sie drehten um und kehrten zum Hauptgang zurück. Das wenige Tageslicht, das durch den Eingang auf den Boden fiel, schien endlos weit entfernt. Hans ging in einen der großen Räume. Eine Art Bühne stand mitten im Raum. Kabel und Kabeltrommeln lagen wirr herum.

„Was ist das hier?“ fragte der Professor leise.

„Die Hölle.“ sagte Hans matt. „Wir brauchen hier mehr Licht.

Die Kollegen müssen das ganze Ding hier auf links ziehen. Ich will jede Faser, jede Spur, alles was noch nicht verloren gegangen ist.“

„Kriegen Sie.“

Ohne ein weiteres Wort drehte sich Hans um und ging energischen Schrittes zum Ausgang. Kaum draußen, wandte er sich ein paar Meter ab und sein Magen würgte den Kaffee wieder heraus. Er spuckte ihn in das Laub. Michael kam auf ihn zu. Ein paar Kollegen der KTU waren bereits dabei die Tür zu untersuchen.

„Alles in Ordnung?“ fragte er Hans und leise, sodass sie nicht gehört wurden, fügte er hinzu „Du hast doch wohl nicht getrunken, oder?“

Hans schüttelte den Kopf.

„Herr Gott. Du bist kreidebleich. Was hast Du gefunden?“

„Das muss sich erst noch rausstellen. Aber ich denke, dass hier…“ er zeigte über die Fläche. „… ist der Friedhof vor der eigenen Tür.“

„Wie meinst Du das?“

„Ich bete einfach nur, dass wir nicht noch mehr Leichen finden.“

Krause sah ihn ein paar Minuten schweigend und aufmerksam an. Dann nickte er.

„Du kriegst, was Du brauchst. Ich muss los, der Bürgermeister hätte gerne eine Information. Du übernimmst die Leitung der Sonderkommission und ich erwarte, dass Du mich auf dem Laufenden hältst.“

„Selbstverständlich. Lass mich erst Fakten schaffen, dann kriegst du Deine Antworten.“

„Okay.“ Noch einmal sah Michael ihn an. Bevor er sich ohne ein weiteres Wort abwandte, den Hang hinaufkletterte und verschwand.

„Professor?“ Hans sah sich suchend um. Der Gerichtsmediziner war im Gespräch mit einigen Kollegen, entschuldigte sich jedoch sofort und trat zu Hans.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Wie weit ist Ihr Team mit der Untersuchung der Leichen.“

„Soweit das hier möglich ist, haben wir unsere Arbeiten fast abgeschlossen.“

Wieder sah Hans sich um und winkte einen Kollegen zu sich.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen, Kriminalkommissar Baumann. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich will die gesamte Mannschaft am Einsatzzelt. In zehn Minuten. Sie sollen alles stehen und liegen lassen.“

„Geht in Ordnung. Ich kümmere mich darum.“

Hans war gerade dabei, die Fotos und Unterlagen zu sichten, über die sich Krause und der Professor bei seiner Ankunft gebeugt hatten, als der Kollege, den er losgeschickt hatte, sich räusperte.

„Verzeihen Sie, Herr Kriminalkommissar. Wir sind bereit.“

Hans sah auf. Eine große Gruppe Kollegen hatte sich vor dem Zelt versammelt.

„Okay.“ Er trat vor.

„Guten Morgen.“ sagte er laut, sodass ihn alle hören konnten.

„Ich weiß, Sie alle hatten eine lange Nacht. Aber ich fürchte, unsere Arbeit hier ist noch nicht getan. Ich will zwei frische Staffeln der Spürhundeeinheit hier. Sie sollen das Gebiet weiträumig absuchen. Ich will, dass wir hier nichts übersehen. Die KTU bitte ich, ihre Arbeiten an den bisherigen Fundstellen schnellstmöglich abzuschließen und sich dann dem Bunker zu widmen. Priorität Nummer eins ist vorläufig, die Untersuchung der Leichenfunde abzuschließen. Wenn eine Leiche fertig ist, will ich, dass sie unverzüglich in die Forensik geht. Der Professor und sein Team sollten schnellstmöglich mit den Obduktionen beginnen.“

An den Professor gewandt fügte er hinzu „Ich wäre Ihnen überaus dankbar, wenn wir die Ergebnisse schnellstmöglich erhalten.“

Der Professor nickte. „Selbstverständlich.“

Er wandte sich wieder an die Gruppe.

„Okay. Sauber und schnell. Ich will alles dokumentiert haben, was Ihr finden könnt. Ihr sollt jeden Stein umdrehen, aber versucht das möglichst schnell abzuarbeiten. Ich weiß, Ihr seid müde. Ich weiß, Ihr seid bereits die ganze Nacht auf den Beinen. Wenn möglich, werde ich Euch Unterstützung besorgen.

Schnellstmöglich. Aber wir dürfen hier keine Zeit verlieren.

Also los.“

Es war später Nachmittag als sich Hans endlich losreißen konnte und sich von Fuchs zum Büro fahren ließ. Er hatte so viel Zeit wie möglich am Fundort der Leichen verbringen und einen großen Teil der Untersuchungen im Bunker beaufsichtigen wollen. Doch im Büro warteten die ersten Ergebnisse, die er sich ansehen musste.

Leise plänkelte das Radio vor sich hin, während sie schweigend durch die Straßen von Berlin fuhren. Sein Kopf explodierte fast von den Erkenntnissen, die sie bisher vor Ort gesammelt hatten. Er war erleichtert gewesen, dass keine weiteren Leichen zu finden waren. Sie hatten also acht Opfer. Obwohl Hans die Befürchtung nicht abschütteln konnte, dass es mehr sein könnten.

Fuchs sah konzentriert auf die Straße. Er hatte sich im Laufe des Tages kaum blicken lassen und Hans vermutete, dass er sich im Wagen ein paar Stunden schlafen gelegt hatte. Er sah ausgeruhter aus als am Morgen. Hans konnte es ihm nicht verübeln. Er war einer der ersten am Abend zuvor gewesen und war auch derjenige, der die Entscheidung getroffen hatte, nach weiteren Leichen zu suchen. Diese Ermittlung würde ein Marathon werden, gut, wenn Fuchs mit seinen Kräften hauszuhalten wusste.

Die Melodie des Klingeltons drang aus seiner Jackentasche. Er nestelte sein Telefon heraus. „Baumann“

„Hallo Hans, Michael hier. Gibt es schon Neuigkeiten?“

„Ja, ich bin gerade auf dem Weg zur Wache. Wir haben in zehn Minuten eine erste Einsatzbesprechung, willst Du dabei sein?“

„Nein, das schaffe ich wohl nicht. Informierst Du mich danach?“

„Natürlich. Ich melde mich.“

Damit beendete er das Gespräch.

„Was sagt die Presse eigentlich?“ fragte er an seinen Fahrer gewandt.

Der deutete auf das Radio. „Sie haben heute Morgen eine Meldung rausgegeben, allerdings alles sehr vage. Bei Bauarbeiten wurden Leichen gefunden. Die Polizei ermittelt. Keine genaue

Ortsangabe, keine weiteren Informationen.“

„Sehr gut. Ich will, dass das vorerst so bleibt. Könnten Sie vor der Einsatzbesprechung noch eben zur Pressestelle gehen?“

„Selbstverständlich, wird erledigt.“

In der Wache angekommen, verschanzte sich Hans zunächst in seinem Büro. Sein Telefon zeigte Dutzende Anrufe in Abwesenheit. Er würde sie später beantworten. Er ging zum Fenster und sah in den trüben Himmel hinauf. Zwei Minuten. Nur zwei Minuten den Kopf leeren. Nichts denken.

Einatmen.

Ausatmen.

Die Müdigkeit brannte in seinen Augen. Er nahm einen Schluck aus dem dampfenden Kaffeebecher, den ihm eine Kollegin auf dem Flur in die Hand gedrückt hatte.

Sein Puls fuhr langsam wieder runter, das Adrenalin sank langsam ab. Tage wie dieser waren der Grund gewesen, warum er in seinem Leben keine Kinder hatte haben wollen. Etwas so sehr zu lieben, dass es dich zerstört, wenn Du siehst, was Tiere mit ihnen anstellen können.

Es gab nach wie vor keine tatsächlichen Beweise für den Ablauf der Taten, aber er konnte es sich nur zu gut vorstellen. Und er würde diese Monster von Menschen hinter Gitter bringen. Mit einem lauten Knall zerbarst die Tasse in tausend Teile als er sie mit voller Wucht gegen eine der Wände schmetterte.

Fuchs steckte vorsichtig den Kopf durch die Tür.

„Wir wären soweit.“ sagte er. Mit einem Blick auf die am Boden verstreuten Scherben der Tasse fügte er hinzu „Alles in Ordnung?“

Hans nickte, griff im Gehen nach seinem Handy auf dem Tisch und folgte Fuchs hinaus in den Flur zum Besprechungsraum.

Beim Eintreten hatte er das Gefühl er käme in einen Bienenstock. Aufgeregtes Chaos beherrschte den Raum. Rund dreißig Kollegen liefen durcheinander, brachten Informationen an einer langen Tafel an, die eine gesamte Wandseite in Anspruch nahm. Die Lamellen an den Fenstern waren verschlossen. Hunderte Zettel lagen wild verstreut über dem großen Tisch im Besprechungsraum.

„Okay. Legen wir los.“ sagte Hans laut in die Runde.

Und augenblicklich kehrte Ruhe ein. Alle Anwesenden suchten sich einen Sitzplatz und Fuchs setzte sich ans Kopfende. Er würde die Besprechung leiten. Als Hans ihn darüber vor der Tür informiert hatte, war er rot geworden. Hans hatte schon öfter Fälle mit ihm zusammen bearbeitet, er sah großes Potenzial in ihm. Und Hans war nicht darauf erpicht, sich auf den Ablauf der Besprechung zu fokussieren. Er musste sich darauf konzentrieren, welche Informationen es gab.

„Was haben wir zu den Opfern?“ setzte Fuchs sogleich nach der Begrüßung an.

Eine junge Kollegin erhob sich und ging zur Tafel. Hier waren Fotos der acht Leichen aufgehängt worden.

„Nachdem die Forensik den Zeitpunkt der Tode auf etwa 1991 bis 1995 eingegrenzt hatte, haben wir die Vermisstenanzeigen durchgesehen.“

Sie zeigte auf einen großen Stapel Akten, der an ihrem Platz lag.

„Mit Hilfe der DNA-Abgleiche konnten wir die Identitäten klären. Die Ergebnisse erhielten wir vor dreißig Minuten.“

Sie zückte einen Boardmarker und ging zum ersten Bild.

„Lukas Hinrich“

Sie schrieb den Namen unter das erste Bild und heftete ein Foto über das Bild des Leichnams. Die Aufnahme zeigte einen lächelnden Jungen, der neben einem Hund hockte.

„Vermisst im Alter von zwölf Jahren am 28. Mai 1991. Er kam von einem Spaziergang mit dem Familienhund nicht mehr zurück. Den Hund fand man später tot im Park. Sie hatten ihm die

Kehle aufgeschlitzt.“

Sie zückte wieder den Stift.

„Todesursache war ein Genickbruch. Vermutlich stumpfe Gewalteinwirkung.“

Die Daten schrieb sie unter die beiden Bildern. Sie ging weiter zu Bild zwei.

„Jörg Weiss.“

Erneut schrieb sie den Namen an die Tafel und hängte ein Foto auf. Er saß auf dieser Aufnahme konzentriert an einem Klavier.

„Vermisst im Alter von dreizehn Jahren am 06. Dezember 1991. Er kam von einer Klavierstunde nicht mehr zurück. Man hatte zunächst den Klavierlehrer in Verdacht, konnte ihm aber nichts nachweisen. Todesursache wie bei Lukas Hinrich.“ Sie notierte die Daten.

Bild drei war ‚Felix Hoffmann‘. Sein Foto war eine Aufnahme vom Strand. Er strahlte in die Kamera.

„Vermisst im Alter von zwölf Jahren am 16. Juli 1992. Er war mit einem Freund an einem See verabredet. Kam dort allerdings nie an. Todesursache ebenfalls Genickbruch.“

Sie schrieb die Daten wieder an die Tafel, wandte sich zum Raum und erklärte. „Das ist, mit einer Ausnahme, bei allen weiteren Opfern so.“

Dann drehte sie sich wieder zur Tafel und ging zum vierten Bild. „Martin Lehmann. Vermisst im Alter von vierzehn Jahren am 3. Mai 1992.“

Sein Bild zeigte ihn in Siegerpose mit einem Pokal in der Hand.

„Sein Tennistrainer hatte ihn nach Hause bringen wollen. Doch Martin hatte das lachend abgelehnt, er sei schließlich kein Baby mehr. Er kam nicht zu Hause an.“

Bild Nummer fünf zeigte „Christoph Peters. Vermisst im Alter von zwölf Jahren am 26. Juni 1993.“

Das Foto zeigte ihn, Arm in Arm mit einem anderen Jungen. Deutlich älter als er.

„Auf dem Bild sehen wir auch Jonas Richter. Die beiden Jungen verschwanden gemeinsam an einem Badesee. Sie wurden noch am frühen Abend gesehen, danach verlor sich die Spur.“

„Ist Jonas eines der weiteren Opfer?“ hakte Hans nach.

„Nein. Wir haben ihn nicht gefunden. Christoph Peters ist die Ausnahme, bei ihm konnte bei der Obduktion nicht mehr festgestellt werden, was die Todesursache war.“

Sie wandte sich dem nächsten Bild zu.

„Simon Lange ist Opfer Nummer sechs. Vermisst im Alter von elf Jahren am 13. Oktober 1993. Er verschwand auf dem Heimweg von der Schule.“

Sein Bild zeigte ihn in einem Freizeitpark.

„Seine Eltern steckten gerade mitten in einer Scheidung. Die Mutter verdächtigte den Vater und umgekehrt. Doch es konnte beiden nichts nachgewiesen werden.“

Sie wandte sich dem nächsten Bild zu.

„Einen Monat später verschwand Mark Ritter. Er war ebenfalls elf zu dem Zeitpunkt. Am 04. Juli 1994 gab es Streit zwischen ihm und seiner Mutter. Er rannte wutentbrannt aus dem Haus und wurde nicht mehr gesehen. Man vermutete er wäre einfach ausgerissen.“

Sie heftete ein Bild des Jungen an die Wand.

Die Tür des Besprechungsraumes ging auf und ein Kollege in Hans Alter trat ein. Er nickte Hans kurz zu und setzte sich auf einen der letzten freien Plätze.

„Und der letzte ist Robert Schäfer. Sein Verschwinden ging wochenlang durch die Presse.“

Sie heftete das Bild eines Jungen und seines Vaters an die Tafel.

„Er verschwand am 08. Juni 1995 im Alter von zwölf Jahren.

Sein Vater…“ sie zeigte auf das Foto. „… war zu der Zeit im Wahlkampf für ein Mandat im Bundestag. Es gab diverse Drohungen gegen ihn. Und als sein Sohn nach einem Fußballtraining nicht mehr nach Hause kam, vermutete man zunächst eine Entführung. Doch es gab keine Lösegeldforderung oder etwas dergleichen.“

Sie legte den Stift zurück auf die Halterung an der Tafel und setzte sich wieder. Hans ließ seinen Blick einen Moment über die Angaben zu den Opfern schweifen, während Fuchs einen Zeitplan erläuterte, den man aus den Daten zusammengestellt hatte und ihn ebenfalls an die Tafel hängte.

Der Kollege, der während der Besprechung eingetreten war meldete sich zu Wort.

„Verzeihen Sie die Verspätung, aber ich hatte einen Anruf aus der Forensik und wollte die Ergebnisse schnellstmöglich mit einbringen.“

Er stand auf und trat vor die Tafel. Er zeigte auf das Foto von Christoph Peters und Jonas Richter.

„Wir haben die DNA von Jonas Richter gefunden.“

Er zog zwei Fotos aus einem Stapel Papiere, die er in den Händen hielt. Es zeigte die gefundene Jeansjacke. Und eine Vergrößerung davon. Beides hängte er neben das Bild der beiden Jungs.

„Auf der Jeansjacke wurde getrocknetes Blut sichergestellt. Der DNA-Abgleich zeigt eine Übereinstimmung mit Jonas Richter.“

Er nahm den Stift von der Halterung und schrieb den Namen über das Foto.

„Auf Grund des Fundortes der Jacke nehmen die Forensiker an, dass sie zur Leiche hinzugelegt worden ist. An Hand der Menge des Blutes denkt Professor Dr. Klinge jedoch nicht, dass es sich dabei um eine tödliche Verletzung gehandelt hat. Ebenfalls dafür spricht, dass wir seine Leiche nicht finden konnten. Was bedeutet, wir haben entweder einen weiteren Fundort oder einen Überlebenden.“

Hans ging auf den Kollegen zu und der überreichte ihm die Akte mit der Auswertung.

„Noch etwas ist interessant.“ setzte der Kollege wieder an. „Die Mutter des Jungen war alleinerziehend. Sie hat den Verlust ihres Sohnes nicht verkraftet. Sie nahm sich im Sommer 1994 das Leben.“

Er reichte Hans eine weitere Akte.

„Doch durch den DNA-Abgleich fanden wir seinen biologischen Vater.“

Hans sah auf und zog eine Augenbraue hoch.

„Er ist aktenkundig?“

„Oh ja.“

Mit großen Buchstaben schrieb der Kollege einen Namen an die Tafel. ‚Achim Koch‘. Hans ließ beinahe die Akten fallen. Der Name war ihm lange nicht mehr begegnet. Es war sein letzter Fall mit ihr. Und das Ergebnis war mehr als enttäuschend gewesen. Er räusperte sich und gab den Lebenslauf wieder, soweit er ihn noch im Kopf hatte.

„Achim Koch war ein Kleinkrimineller. Seine Karriere begann in den 1980er Jahren in Berlin. Er begann mit Diebstahl, Betrug und war im damaligen Drogenverkauf involviert. Er wurde ein paar Mal verhaftet, erhielt ein paar kleinere Strafen und wurde wieder auf freien Fuß gesetzt. Anfang der 1990er Jahre wurde es still um ihn. Er scheint jedoch einen Weg gefunden zu haben, Geld zu machen. Denn 1996 tauchte er in Hamburg auf und eröffnete aus dem Stand zwei Bordelle und mehrere Kneipen.

Ich war damals bereits im Dienst in Hamburg und hatte ihn selbst einmal im Verhör. Wir ermittelten gegen ihn wegen Zwangsprostitution, Verschleppung, Drogengeschäften, Körperverletzung und sogar wegen Mordes. Doch er hatte sehr gute Anwälte, die er sich viel kosten ließ. Unsere Zeugen lösten sich buchstäblich in Luft auf oder wurden eingeschüchtert. Und letzten Endes konnten wir ihm nichts nachweisen. Er arbeitete nicht allein. Hatte eine richtige Bande um sich. Drei Männer im engeren Vertrauenskreis, weitere kamen und gingen. Ein paar davon konnten sich nicht so leicht rauswinden und wir haben sie festgesetzt, aber an Achim Koch kamen wir nicht ran. Vor einigen Jahren hat er alles verkauft und sich ‚zur Ruhe gesetzt‘.

Er lebt immer noch in Hamburg und besitzt dort eine große Villa. Man vermutet zwar, dass er immer noch in Straftaten verwickelt ist, kann aber weder nachvollziehen in welche, noch gibt es Beweise dafür.“

Seine Faust ballte sich zusammen. Er wandte sich an den Raum und riss den Blick von dem Namen an der Tafel.

„Okay. Der Name ‚Achim Koch‘ verlässt nicht diesen Raum.

Wir wissen derzeit zu wenig, um ihn mit dem Fall in Verbindung zu bringen.“

Der Kollege, der neben ihm stand, wischte den Namen weg.

„Wir müssen erst mehr wissen, bevor wir Hamburg um Hilfe bitten. Da wir die Identitäten der Opfer geklärt haben, teilen wir uns auf, um den Angehörigen die Nachricht zu überbringen.“

Er nannte die Namen der Opfer und übertrug sie jeweils zwei Kollegen.

Am Ende sagt er: „Christoph Peters übernehmen Kommissar Fuchs und ich. Der Rest von Euch nimmt sich bitte viel Zeit für die Befragung der Angehörigen. Wir müssen wissen, wie die Opfer ausgewählt und ihre Entführungen organisiert wurden.

Jedes Detail kann wichtig sein. Achtet besonders darauf, ob sich irgendwelche neuen Freunde vorgestellt haben. Fragt auch nach diesem Jonas Richter. Vielleicht ist er derjenige, der die Opfer angelockt hat. Nehmt ein Foto von ihm mit. Wenn Ihr Eure Befragungen abgeschlossen habt, könnt Ihr Feierabend für heute machen. Wir werden in den nächsten Wochen noch genug Nachtschichten absolvieren müssen. Wir treffen uns alle hier wieder morgen früh um neun Uhr. Dann gehen wir die neuen Informationen durch.“

Er nickte in die Runde und ein lautes Knarren von Stühlen erhob sich, als die Kollegen aufstanden und nach und nach den Raum verließen. Schließlich waren nur noch Hans und sein Kollege Fuchs im Raum. Hans blickte gedankenverloren auf das Bild von den zwei Jungen an der Wand. Fuchs räusperte sich.

„Wollen wir dann?“ fragte er.

„Ja. Gleich. Ich will vorher noch mal in die Forensik und zu Kriminaloberrat Michael Krause. Wir fahren in einer Stunde.

Lesen Sie sich noch mal in die Akte von Christoph Peters ein.

Wir treffen uns am Wagen.“

Fuchs nahm die Akte und verließ den Raum.

„Achim Koch.“ murmelte Hans. „Sollte ich tatsächlich noch einmal die Gelegenheit bekommen, Dich an den Eiern zu packen?“

2. KAPITEL

Sie fuhren die Auffahrt eines stattlichen Einfamilienhauses hinauf. Hans legte die Akte vom Selbstmord von Agnes Richter, die er während der Fahrt studiert hatte, zurück in seine Tasche.

„Ich übernehme die Befragung.“ sagte er zu Fuchs.

„Selbstverständlich, Herr Kriminalkommissar.“

„Hans.“

Ein Lächeln flog über das Gesicht des Kollegen.

„Markus.“ antwortete der und schaltete den Motor aus.

„Okay.“ Hans atmete tief ein und aus. „Dann mal los.“

Eine Frau in den Fünfzigern öffnete ihnen die Haustür.

„Ja, bitte?“

Ihre Stimme klang schwach. Matt. Ihre Augen sahen stumpf ins Leere, an ihnen vorbei.

„Frau Peters?“

Sie nickte.

„Kriminalpolizei Berlin.“

Hans und Markus zückten ihre Ausweise.

„Können wir uns kurz drinnen unterhalten?“

Sie zögerte einen Moment. Suchend blickte sie in die Gesichter der zwei Fremden vor ihrer Tür. Dann nickte sie zaghaft und schob die Tür weiter auf.

„Kommen Sie herein.“

Das Haus war nur spärlich beleuchtet. Sie führte die beiden in ein Wohnzimmer. Große Bilder von der Frau, einem Mann und dem Jungen, den sie gefunden hatten, hingen an der Wand. Alle waren in schwarzen Rahmen eingelassen. Vor einem der Bilder stand ein Schrank, darauf eine brennende Kerze.

„Ist Ihr Mann zu Hause?“ fragte Hans vorsichtig.

Frau Peters schüttelte den Kopf. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Er verstarb vor einem Jahr an Krebs.“

Sie drehte ihr Gesicht weg und sah auf eines der Bilder. Das würde ein langer Abend werden.

„Kann ich den Herren etwas anbieten?“

Markus schüttelte den Kopf, doch Hans meinte lächelnd „Ein Kaffee wäre sehr nett.“

Er wollte ihr Zeit geben, sich wieder zu sortieren. Sie nickte und ging in die Küche.

Leise klimperte der Löffel in der Porzellantasse. Sie hatte kein Wort mehr gesagt. Wieder und wieder rührte sie ihren Kaffee um. Obwohl sie weder Milch noch Zucker hineingetan hatte.

Sie blickte auf die Bewegung, die ihre Hände machten.

„Haben Sie Angehörige, die vielleicht in der Nähe wohnen?“

fragte Hans vorsichtig.

Sie schüttelte den Kopf. Blickte jedoch von ihren Händen auf und Hans direkt in die Augen.

„Haben Sie ihn gefunden?“ fragte sie.

Der Schmerz der ihm entgegenblickte, nahm Hans den Atem.

Er nickte. Wieder blickte sie auf ihre Hände. Sie legte den Löffel an die Seite und nahm die Tasse.

„Das ist gut.“ sagte sie ruhig.

„Sollen wir Sie einen Moment alleine lassen?“

„Nein.“ sie blickte wieder auf. „Ich will alles wissen. Ich habe auf diesen Tag schon viel zu lange gewartet.“

„Wir haben ihn letzte Nacht auf einem Baugrundstück am Stadtrand von Berlin gefunden.“

„Wie lange ist er bereits tot?“

Die Klarheit ihrer Stimme überraschte Hans.

„Seit zwanzig Jahren etwa, den Zeitpunkt können wir noch nicht genau bestimmen.“

„Wissen Sie, wie er gestorben ist?“

„Noch nicht. Die Untersuchungen laufen noch.“

„War Jonas bei ihm?“

Er horchte auf. „Jonas?“

„Ja. Sein Freund. Er war bei ihm als er verschwand.“

„Nein, war er nicht. Können Sie mir mehr von den Beiden erzählen?“

Sie stand auf und ging zu dem Schrank auf dem die Kerze stand. Sie nahm einen kleineren Bilderrahmen aus einer Schublade und setzte sich wieder zu Markus und Hans an den Tisch.

„Das hier ist Jonas.“

Sie legte den Rahmen auf die Tischdecke und strich über die Abbildung ihres Sohnes. Es war eine Aufnahme von ihm und Jonas Richter. Ähnlich dem Bild, das jetzt an der Tafel in der Wache hing.

Sie blickte ins Leere und sagte: „Ich weiß gar nicht mehr genau, wann Jonas und Christoph Freunde wurden. Aber eines Tages brachte ihn Christoph mit nach Hause und er stand dort im Flur.“

Sie zeigte in Richtung Eingangstür.

„Mit großen Augen und schüchtern.“

Sie lächelte.

„Als mein Sohn von ihm erzählte, dachte ich, es wäre ein Junge in seinem Alter. Als ich hörte, dass er zwei Jahre älter war, hatte ich mir erst Sorgen gemacht. Doch dieser große Junge, der da eines Tages im Flur stand, war alles andere als angsteinflößend. Er wirkte schlaksig und unbeholfen. Als wäre er über Nacht von einem Jungen, wie meinem, zu einem großen Jungen geworden und zwei Jahre gealtert.“

Wie um sich selbst zu bestätigen, nickte sie.

„Er war sehr höflich. Seine Manieren waren überdurchschnittlich. Und ich dachte, vielleicht könnte Christoph noch was von ihm lernen. Er blieb an dem Abend zum Essen. Sprach jedoch nicht viel. Außer man fragte ihn etwas oder wenn er um etwas bitten wollte, wie das Salz.“ Ihr Blick wanderte zum Stuhl neben dem von Hans.

„Er hat immer dort gesessen.“

„Immer?“

„Ja, nach seinem ersten Besuch kam er häufig. Er brachte Christoph nach Hause, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Einen Abend hatte er eine aufgeplatzte Lippe. Ich war darüber sehr erschrocken. Doch Christoph meinte nur, da wären Jungs gewesen, die ihn in der Schule geärgert hätten und Jonas hätte das für ihn geregelt. Ich verabscheue Gewalt. Aber, dass es jemanden gab, der meinen Sohn schützte, war doch irgendwie beruhigend.

Er gab sich wie ein großer Bruder. Und ich machte mir weniger Sorgen um Christoph, wenn die zwei zusammen unterwegs waren.“

„Haben Sie je seine Mutter kennengelernt?“ fragte Hans.

„Ja.“ Sie seufzte.

„Einmal. Nachdem sie verschwunden waren, stand sie eines Tages vor der Tür. Ein merkwürdiges Ding.“

Sie rümpfte die Nase.

„Sie hatte viel geweint, wie ich. Das konnte man ihr deutlich ansehen. Doch sie wirkte auch vollkommen weltfremd. Sie sah mich nicht an. Sprach sehr melodisch. Sie trug ein weißes Kleid. Sie kam mir vor, wie eine Fee aus einem Märchen. Sehr sanft und verletzlich. Das war etwa einen Monat, nachdem die Jungs verschwunden waren. Ich bat sie hinein, aus Angst, was die Nachbarn von ihr halten würden. Sie setzte sich auf den Stuhl, auf dem ihr Sohn normalerweise saß. Und stellte Fragen über Fragen, die ich ihr nicht beantworten konnte. Die ich mir allerdings auch immer wieder stellte.“

Wieder schweifte ihr Blick durch den Raum und verfing sich in einem der Bilder an der Wand.

Nach einem Moment der Stille, nur unterbrochen von dem Klicken des Sekundenzeigers der Wanduhr, fuhr sie fort.

„Jonas hatte nie von ihr gesprochen. Ich nahm an, dass er sich für sie schämte oder dass sie keine gute Mutter war. Doch als sie hier saß, wusste ich, dass sie nichts mehr liebte als ihren Sohn. Ihre Seele war zerbrochen, als er verschwand. Sie blieb einige Stunden und wir saßen schweigend zusammen. Irgendwann stand sie auf und ging. Einige Tage später las ich in der Zeitung, dass eine Frau sich in dieser Nacht hier ganz in der Nähe vor einen Zug geworfen hatte. Ich wusste irgendwie, dass sie es war.“

Wieder seufzte sie tief und Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen.“

Sie schüttelte den Kopf. Und die Tränen rannen ihr über die Wangen.

„Ich hätte sie einfach nicht gehen lassen dürfen.“

Hans langte über den Tisch und griff nach ihrer Hand.

„Sie können nichts dafür.“ sagte er beruhigend.

Hans und Markus blieben noch eine Stunde. Nachdem sich Frau Peters beruhigt hatte, erzählte sie noch einige Details aus dem Leben ihres Sohnes. Doch nichts davon, schien Hans Antworten zu liefern, die ihn zu den Entführern und Mördern führen konnte. Er versprach, sie zu informieren, wenn es Neuigkeiten geben würde und die beiden verabschiedeten sich.

Wieder im Wagen startete Markus den Motor und ließ ihn rückwärts von der Einfahrt rollen.

„Was hältst Du von diesem Jonas?“ fragte Hans.

Er sah aus dem Fenster in die Nacht.

„Wenn ich es auf dieses Gespräch basieren muss, dann ist er für mich nicht Teil der Entführung.“

„Nein.“ Hans schüttelte den Kopf. „Das denke ich auch nicht.“

Wieder kramte er in der Tasche nach der Akte vom Selbstmord.

„Aber irgendwas ist mit diesem Jungen.“

Markus fuhr sich durch die Haare. „Und was ist mit ihm passiert?“

Hans nickte. „Das ist letztlich die einzige Frage, die mir im Augenblick wichtig erscheint.“

3. KAPITEL

<Chucco>

Leise klimpern die Münzen zurück in den Metallbecher, der vor mir auf dem Boden steht.

„Hey Chucco!“ flötet eine Stimme.

„Hey Lissie!“ grüße ich zurück.

Ich zähle zu Ende und hebe den Kopf. Ihre Augen funkeln mir entgegen.

„Hier.“

Sie reicht mir einen dampfenden Papierbecher.

„Kaffee für Dich.“

Sie lehnt sich gegen die Hauswand und lässt sich neben mich auf den Boden sinken. Im Schneidersitz hält sie einen zweiten dampfenden Becher in der Hand. Sie linst in meinen Metallbecher.

„Wow. Fette Ausbeute!“

Ich lache hohl.

„Ja. Naja. Fünfzehn Euro. Es reicht auf jeden Fall für ein Abendessen. Ich war spät dran heute.“

„Ist mir aufgefallen. Bleibst Du noch?“

„Ja.“ Ich sehe zu einer roten Neonanzeige, die die Uhrzeit anzeigt. „Die Geschäfte haben noch eine halbe Stunde auf.“

„Gut.“ Sie kuschelt sich an meine Seite und kramt eine Zeitung aus dem Innenleben ihrer Militärjacke, die zwei Nummern zu groß ist.

„Wie lief Dein Tag?“

„Kaffee.“ Sie hebt den Becher hoch. „Und eine Zeitung.“

Ich lache leise. „Mehr nicht?“

„Keine Lust heute. Außerdem habe ich mit den anderen gequatscht.“

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

„DEN anderen? Oder einem bestimmten anderen?“

Sie knufft mich in die Seite.

„Du bist doof!“

Lissie ist jung. Viel zu jung für die Straße. Doch es gibt viele junge Obdachlose in Köln. Normalerweise sammeln sie sich auf der Domplatte, weswegen ich es vermeide, dort zu sitzen und es Lissie immer wieder dorthin zieht.

Meine Knochen schmerzen vom Regen und der Kälte. Ich hebe den dampfenden Kaffeebecher hoch. Der wohltuende Geruch zieht in meine Nase.

„Wow. Es gibt schon wieder einen tollen neuen Hollywoodfilm!“ Die Seiten der Zeitung rascheln, als sie sie durchblättert.

„Oh. Und hier. Horoskope. Welches Sternzeichen bist Du?“

Ihre funkelnden Augen blitzen mich an.

„Netter Versuch, Kleines.“ Ich schmunzle.

Sie verdreht die Augen. „Dann nicht.“

Lissie und ich trafen uns vor zwei Jahren in München. Sie war von zu Hause weggelaufen. Über die Gründe wollte sie nicht reden. Und ich habe nicht weiter nachgefragt. Das Gefühl, etwas für immer hinter sich zu lassen, kenne ich nur zu gut. Als mich wieder diese Ruhelosigkeit überkam und ich überall ihre Gesichter sah, war es Lissie, die auf die Idee kam, nach Köln zu gehen. Sie fand es ‚cool‘.

Ohne eine weitere Diskussion schleifte sie mich zwei Minuten nach dem Gespräch zum Bahnhof, kaufte zwei Tickets und verfrachtete mich in den Zug.

Lissie bekam, was sie wollte.

Immer.

Es war lange her, dass ich einen Menschen so nah in mein Leben ließ. Doch wie schon gesagt, was Lissie wollte, bekam sie auch. Und Lissie war nicht gern alleine. Sie brauchte das Gefühl, dass da noch jemand bei ihr war. Und ich genoss, dass sie mich dafür ausgewählt hatte. Ich hatte das Gefühl, etwas wiedergutmachen zu können.

„Sieh mal.“ Sie hebt die Zeitung auf und zeigt auf ein Foto.

„Wer ist das?“

„Das war mal ein Kunde.“

Eine leichte Röte steigt in ihre Wangen.

„Der war vor ein paar Wochen da. Ich wusste, der ist nicht ohne. Ein Politiker.“

Ihre Augen fliegen über die Zeilen des Artikels.

„Was ein Wichser. Hier…“ Sie streckt sich und liest vor. „Der Politiker und Familienvater wurde für sein soziales Engagement ausgezeichnet.“

Sie lacht.

„Oh ja, danke, dass Sie mich gefickt und mir schlappe fünfzig Euro dafür hingeblättert haben.“

„Nicht so laut.“ raune ich.

Doch die Passanten gehen desinteressiert weiter.

„Ach. Ist doch egal. Die haben doch keine Ahnung, was ich meine.“

Lissie ist das mit dem Betteln nicht einträglich genug. Deshalb verdient sie sich was ‚nebenbei‘, wie sie es nennt. ‚Schnelles Geld‘ meint sie dann immer. Ich finde es schrecklich, dass sie sich das antut. Aber meine Meinung dazu tut sie immer mit einem Lächeln ab.

„Du musst das so sehen, Chucco.“ sagt sie dann immer. „Wenn ich mir ihre Kohle nicht hole, tut es eine andere.“

Doch ihr Lachen ist nicht echt. Aber wer bin ich, ihr Vorwürfe zu machen?

Mein Blick schweift über die Seite. Bei einem Artikel gefrieren meine Adern. Ich reiße ihr fast die Zeitung aus der Hand.

„Hey!“ tadelt sie mich.

Doch ich bin versunken in den Worten, die unter der Überschrift ‚Massengrab in Berlin gefunden’ stehen. Sie zuckt ihre Schultern, greift nach meinem Metallbecher, steht auf und beginnt Passanten anzusprechen.

Ich lese Zeile um Zeile des Artikels und mein Herz pocht so laut, dass es in meinen Ohren dröhnt. Sie haben ihn gefunden!

Nach all den Jahren, haben sie ihn tatsächlich gefunden. Doch in dem Artikel steht nicht viel. Lediglich, dass die Untersuchungen noch laufen und die Polizei für Hinweise dankbar ist.

Ja, klar. Als ob ich zur Polizei gehen würde. Könnte ich es ihnen noch leichter machen, mich zu finden? Und vor allem wofür? Ist alles lange vorbei. Und ihn rettet das auch nicht mehr. Doch mit jedem gelesenen Wort flammen die alten Bilder wieder in mir hoch. Voller Wut zerknülle ich die Zeitung in meinen Händen und werfe sie weit weg. Sie landet in einer Pfütze.

„Ach Mann, Chucco. Das wollte ich noch lesen.“

Lissie steht vor mir aufgebaut mit den Händen in den Seiten.

„Entschuldige.“ sage ich kleinlaut.

„Ist alles okay? Du bist doch sonst nicht so.“

„Ist nur das Wetter. Und ich glaube, ich kriege wieder eine Erkältung.“ rede ich mich raus.

Sie strahlt mich an. „Ach so, das habe ich fast vergessen. Ich habe super Neuigkeiten.“

Sie legt den Kopf schief und sieht mich erwartungsvoll an.

„Wirklich?“ raune ich gespielt.

„Konny hat uns einen Schlafplatz klar gemacht?“

„Also doch, der bestimmte Eine.“

Ich lache.

Sie sieht mich böse an.

„Mein Gott, ja. Ich hab Konny oben am Dom getroffen. Der war halt auch zufällig da.“

Ich weiß, es ärgert sie, deswegen zwinge ich mich mit dem Lachen aufzuhören.

Junge Liebe!

„Also. Was hat Dein Konny denn nun besorgt?“

„Er ist nicht MEIN Konny. Und wenn Du Dich weiter wie ein Arsch benimmst, pennst Du halt weiter im Obdachlosenheim.“

Ihre Wut lässt ihre Augen bedrohlich funkeln.

„Mann, da kriegt man ja schon vom Einatmen Läuse.“

So übel waren die Unterkünfte nicht. Aber sie hasste es, in großen Schlafräumen zu schlafen. Von Frühling bis Herbst schliefen wir deshalb meist draußen. In einem Park, in einem Wald oder was sich eben ergab. Aber wenn die Temperaturen kälter werden, versuche ich, was Vernünftiges und vor allem Warmes zu finden. Doch meine Ansprüche scheinen sich nicht mit ihren zu decken.

„Also? Was ist das jetzt für eine Unterkunft?“

„Eine Freundin, von einem Bekannten, von dessen Freund…“ Sie zählt an den Fingern die Personen ab.

„… und dann die Tante.“

„Komm zur Sache.“

„Da gibt es so einen Schrebergarten an der Königsstraße. Und da ist eine Hütte. Voll isoliert und so. Und die Besitzerin ist eine alte Dame. Sie meint, wir können da übernachten. Im Winter braucht sie die eh nicht.“

Sie wühlt in ihren Taschen.

„Und wir dürfen auch alles benutzen. Wir sollen nur nichts kaputt machen und hinterher aufräumen.“

Ein silberner Schlüssel taucht auf und sie hält ihn hoch.

„Und hier ist der Schlüssel.“

„Du machst Witze.“

„Nein.“

Energisch schüttelt sie den Kopf, sodass ihre roten Haare umher wirbeln. Doch sie sieht dabei auf den Boden. Ein deutliches Zeichen, dass sie nicht alles erzählt hat. Seufzend sage ich mit meiner besten Großer-Bruder-Stimme ihren Namen. Dabei ziehe ich den Vokal am Ende extra in die Länge.

„Ja. Okay.“

Sie sieht mich wieder an.

„Ich war bei ihr heute Nachmittag. Und sie hat wohl irgendwie das Gefühl ein junges Mädchen von der Straße zu holen. Weißt schon, jeden Tag eine gute Tat. Hat sogar Suppe gemacht.“ „Lissie. Was hat sie dazu gemeint, dass Du nicht alleine dort einziehen wirst?“

Und an ihrem Blick sehe ich, dass ich voll ins Schwarze getroffen habe.

„Naja. So ganz habe ich das nicht gesagt.“

„Dann nein. Ich meine, Du kannst da schlafen, aber ich habe keine Lust auf Ärger.“

„Ach man, Chucco. Die Alte merkt das doch gar nicht.“

Tadelnd blicke ich zu ihr auf.

„Die ‚Alte‘ vertraut Dir ihre Gartenlaube an. Du solltest den Leuten wirklich mehr Respekt entgegenbringen.“

„Jetzt reg Dich ab.“ erwidert sie trotzig. „Dann fragen wir sie halt.“

Ein tiefes Lachen dringt über meine Lippen.

„Hast Du mich schon mal angesehen?“

Wie zum Beweis zeige ich an mir herunter. Meine Klamotten trage ich schon seit vielen Jahren. In meinem Gesicht wächst ein dichter Bart und meine wirren Haare hängen mir bis in die Stirn.

„Und?“ fragt Lissie als würde sie nicht verstehen, was an mir auszusetzen wäre.

„Du meinst im Ernst, dass die alte Dame einem Straßenköter wie mir erlaubt, ihre Behausung zu bewohnen? Die wird die Bullen rufen, sobald sie mich sieht.“

„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“

Sie baut sich vor mir auf und hält mir ihre Hand hin.

„Na los. Komm schon, alter Sack.“

Ihre Lippen verformen sich zu einem schelmischen Grinsen. Da ich weiß, dass es keinen Sinn hat, mit ihr zu diskutieren, ergebe ich mich meinem Schicksal. Ich packe die wenigen Habseligkeiten zusammen, die ich um mich herum verteilt hatte und packe sie in den alten Rucksack.

Um ihre eigenen Worte zu bestätigen, sagt sie: „Du brauchst mal wieder etwas Ruhe. Und wenn es klappt, brauchen wir uns für den Winter keine Sorgen mehr machen.“

Als ich aufstehe und den Rucksack über die Schulter werfe, drückt sie mir meinen Becher in die Hand.

„Hier, du darfst nachher das Essen bezahlen.“

Und so folge ich ihr, wieder einmal, während wir uns im Dunkeln auf den Weg zu einer alten Dame machen, die – wie ich befürchte – heute Abend den Schock ihres Lebens bekommt.

Die Zeitung liegt ungeachtet in der Pfütze. Durch das Wasser sind die Buchstaben verlaufen und nicht mehr zu lesen.

4. KAPITEL

Es war bereits nach Mitternacht als Hans den Rechner runterfuhr. Er war nach seiner Rückkehr noch die neuesten Meldungen durchgegangen. Seine Augen brannten vor Müdigkeit. Gerade als er die Jacke vom Haken an der Wand nahm, klopfte es.

„Herein.“

Markus öffnete die Tür.

„Du bist noch hier?“ fragte Hans verwundert.