Eine von Zehntausend - Sandra Meijer - E-Book

Eine von Zehntausend E-Book

Sandra Meijer

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Beschreibung

Während eines ersten Dates muss Sandra die Toilette eines Schnellrestaurants aufsuchen. Doch der kurze Aufenthalt wird zur Belastungsprobe. Der Sitz ist tief, der Raum eng und es gibt keine Halterung, die sie nutzen kann um sich hochzuziehen. Sandra ist krank. Sie leidet an einer Muskelerkrankung, der ihre Ärzte bereits vor zwanzig Jahren erfolglos versucht haben auf den Grund zu gehen. Ihre Muskeln arbeiten nicht so wie sie sollen. So fehlt ihr an diesem unpassenden Ort die Kraft, um aufzustehen. Alle Versuche laufen ins Leere, bis sie schließlich im Stande ist, sich aufzurichten. Dabei hat sie das Gefühl, als würde sie die Erde von sich wegdrücken. Sie beschließt, dass es Zeit wird, diese Unklarheit endlich aus dem Weg zu räumen und lässt sich ein weiteres Mal auf den Versuch ein, der Krankheit endlich einen Namen zu geben. Dabei schreibt sie ihre Erlebnisse und Gedanken in Form von emotionalen Tagebucheinträgen nieder. Doch was als medizinische Fragestellung beginnt, wird schnell zum tiefen Einschnitt in ihrem Leben. Dabei begegnet sie nicht nur der Frage, was sich mit einer Diagnose verändert, sondern auch welche Bedeutung das für ihr gesamtes Leben hat. Gesundheit, Liebe, Familie, Partnerschaft, die Zukunft und der Tod. In berührenden und offenen Worten berichtet die Autorin Sandra Meijer von den Dingen, die für sie zum Lebensinhalt werden (müssen). Wenn man seinem Schicksal nicht mehr ausweichen kann, welche Dinge sind dann wirklich wichtig? Und wie kann man aus einem kranken Leben das Beste herausholen?

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Buch

Auf der Reise zu sich selbst und der Suche nach Authentizität, sieht sich die Autorin der größten Herausforderung in ihrem Leben gegenüberstehen: ihrer ungeklärten Muskelerkrankung, die sie bereits seit zwanzig Jahre begleitet. Sie macht sich auf den Weg das Geheimnis endlich zu lüften und findet schließlich eine Diagnose, die ihr Leben und die Sicht auf die Dinge für immer verändern wird. Während dieser Zeit führt sie ein Tagebuch, das den Leser mitnimmt bei dieser Lebensveränderung. Dabei gewährt sie einen tiefen, ehrlichen und ungeschönten Einblick in ihre Seele und beantwortet damit die Frage: Was macht eine solche Diagnose mit einem Menschen?

Widmung

Ich hoffe sehr, dass dieser Roman den Weg zu denjenigen findet, die sich im Dunkeln befinden. Die Angst haben und Schmerz empfinden. Möge er ihnen Hoffnung und Kraft geben weiterzumachen. Und möge er diejenigen, die ihnen die schlechten Botschaften bringen immer wieder daran erinnern, dass sie Menschen vor sich haben und nicht nur Fallakten. Möge er Angehörigen Verständnis und Klarheit bringen. Und möge er denen, die mein Leben auf so wundervolle Weise begleiten für immer eine Erinnerung an mich sein. Worte auf Papier halten sich für die Ewigkeit.

Autorin

Die Autorin wurde Anfang der 80er im Münsterland geboren und ist diesem bis heute treu geblieben. Bereits in jungen Jahren entdeckte sie das Schreiben für sich. Angefangen mit handgeschriebenen Geschichten in Schulheften, über Gedichte und Kurzgeschichten, bis hin zum Roman. Sie ist Assistentin im Baugewerbe. Dort bereits viele Jahre erfolgreich tätig. Unter anderem war sie vier Jahre für ein Projekt in den Niederlanden. Seit 2016 veröffentlicht sie zudem unter dem Pseudonym Sandra Meijer Romane voller Spannung und Emotionen.

Meinen Lieben

Für die, die bei mir sind, an guten und an schlechten Tagen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

In der Falle

Alles in allem

Das Leben der anderen

Schwarz oder Weiß

Noch einmal schlafen

Finstere Nacht und ein Stern am Himmel

Zwischen Wahrheit und Traum

Der erste Frost

Schachmatt

Sie haben eine neue Nachricht

Schatten unter den Wolken

Das Ende des Anfangs

Der richtige Arzt, das falsche Wetter

Über den Wolken meiner Heimat

Im Auge des Sturms

Weiter geht die Reise

Siebenunddreißig

Schmerz

Der beste Sommer

Not here to make friends

Noch einmal Schokolade

Endzeitstimmung

Zwischen Wahnsinn und Alltag

Das Ende eines langen Tages

Eins oder Null

Besuch aus der Vergangenheit

Loslassen lernen

Mr. Internet

Eine ganz normale Woche

Der erste Schnee

Nichts zu gewinnen

Fünf Komma Neun Kilometer

Zeit für ein Abenteuer

Was es ist

Der tiefste Tauchgang

Heiligabend Morgen

Mein Feind – die Zeit

Der Beziehungsstatus

Mit Dir

Weil Dein Leben nach Dir ruft

Auf der anderen Seite

Danksagung

Weitere Werke der Autorin

Vorwort

Normalerweise bin ich kein Freund von Vorworten. Zumeist überspringe ich persönlich diese Teile von Büchern, vor allem, wenn es sich um langatmige Erklärungen handelt, die mit dem eigentlichen Roman nichts zu tun haben. So will ich mich bei diesem Vorwort kurzfassen. Denn einige Dinge müssen zum nachstehenden Text gesagt werden.

Obgleich es sich hierbei um einen Roman handelt, dessen Grundthematik in der Medizin zu finden ist, besitzt er keinen Anspruch darauf, ein medizinisches Fachbuch zu sein. Die Berichterstattung bezieht sich rein auf die emotionale und persönliche Sichtweise meiner Person (ohne jegliche Ausbildung im medizinischen Bereich). Daher wurden Einträge auch im weiteren Verlauf der Aufzeichnungen und mit dem Wissen, dass sich im Laufe der Zeit angesammelt hat, nicht korrigiert oder verändert. Damit sind einige im Buch aufgenommene Tatsachen nicht als Fakten zu missverstehen. Bitte wenden Sie sich bei Fragen oder Unklarheiten immer an eine medizinisch ausgebildete Fachkraft, bzw. nutzen Sie medizinische Fachbücher.

Zu Beginn der Aufzeichnungen war es nicht geplant, diese eines Tages als Roman zu veröffentlichen. Sie sollten mir lediglich dazu dienen, die Erfahrungen und Erlebnisse besser zu verarbeiten. Daher wurde er in Form eines Tagesbuchs erstellt. Dabei steht ein Kapitel für jeweils einen Eintrag. Neben der Überschrift findet sich das Datum des jeweiligen Tages der Aufzeichnung am Anfang eines jeden Kapitels. Auch hier wurden im Nachgang keine Änderungen vorgenommen, die ggf. einen besseren Zusammenhang erzeugt hätten, um die Authentizität der Aufzeichnungen nicht zu gefährden.

Und obgleich sich dieser Roman und die Aufzeichnungen darin auf tatsächlich existierende Personen und Orte beziehen, bzw. auf realen Begebenheiten beruhen, obliegt es mir als Autorin die Wahrheit an der einen oder anderen Stelle etwas ins richtige Licht zu rücken. Personenangaben sind daher lediglich als reine Fiktion zu betrachten. Für alle, die es besser wissen… Danke für alles, was Ihr für mich getan habt.

In der Falle

∼irgendwann im Oktober 2016∼

Mein Herz klopft in meiner Brust. So laut und stark pumpt es das Blut durch meine Adern. So als wollte es sagen, „ich bin noch hier!“. Als wollte es mir beweisen, dass es noch nicht zu Ende ist. Das hier ist nicht das Ende.

„Sieh genau hin!“

Und meine Augen fokussieren die zitternden Hände vor ihnen, als würden sie nicht zu ihnen gehören. Als wären sie nicht ein Teil dieses Systems, dass sich mein Körper nennt. Und die Wut kocht in mir hoch. Wut auf die Kraftlosigkeit, die mich überhaupt erst in diese Situation gebracht hat.

Ich sitze auf der Toilette eines Schnellrestaurants.

Ich musste sie benutzen, sonst wäre ich nicht gegangen.

Als ich sie gesehen hatte, wusste ich schon, dass es Probleme geben würde. Sie ist niedrig. Es gibt keinerlei Möglichkeit sich an der Wand irgendwo abzustützen. Die Tür viel zu nah. Keine Möglichkeit die Hebelwirkung zu nutzen, wenn man zum Aufstehen weit nach vorne ausholt. Und ein weiteres Mal finde ich mich in einer Situation wieder, in der ich meinen Körper verfluche.

Es war erst ein Versuch, probiere ich mich verzweifelt zu beruhigen. Mein Kopf weiß, dass es keinen Grund für diesen Aufruhr in mir gibt. Mein Kopf weiß, dass da draußen Leben ist. Dass es dort Menschen gibt, die mir aufhelfen könnten. Die zur Not auch Hilfe holen könnten. Doch meine Sinne sind an dieser lapidaren Ausflucht nicht interessiert. Hier und jetzt geht es um das nackte Überleben.

Also pumpt mein Herz das Blut durch meine Adern. Schießt Adrenalin durch meine Venen. Ist mein Verstand ausgeschaltet und es herrscht die reine Natur in meinem Körper.

Einatmen.

Ausatmen.

Ich versuche es noch einmal.

Hände auf die Oberschenkel.

Nach vorne beugen.

Die Füße leicht versetzt, aber weit auseinander für einen sicheren Stand.

Einatmen.

Ausatmen.

Und ich hebe mich von der Erde ab.

Oder drücke ich sie von mir weg?

Ich spüre, wie der Widerstand in meinen Muskeln kämpft. Sie wollen, dass ich bezwungen werde. Sie wollen mich am Boden sehen. Sie wollen, dass ich nicht mehr hochkomme. Sie wollen, mich hier unten halten. Doch ich siege. Dieses Mal. Ich überwinde den Punkt, der ins Bodenlose führt und hebe mich selbst krampfhaft hoch, bis ich den Rest des Weges in die Höhe gegen die Wand gestützt beenden kann.

Meine Stirn lege ich gegen die kalten Fliesen.

Es ist geschafft. Ich habe es geschafft. Ich habe gewonnen.

Doch ich jubiliere nicht. Denn das hier ist kein Gewinn. Es ist ein Verlust auf Raten. Jedes Mal ein Stück mehr. Und so beiße ich voller Selbsthass die Zähne zusammen und wische trotzig die Tränen in meinen Augen weg. Hier ist nicht der richtige Ort. Dies ist nicht die richtige Zeit.

Ich bin fünfunddreißig.

Gefangen in einem kranken Körper.

Und das hier, ist ein erstes Date.

Alles in allem

∼Samstag, 07.10.2017∼

Wie erklärt man einem anderen Menschen in kurzen wenigen Sätzen etwas, dass ein Leben lang gebraucht hat um zu wachsen? Etwas, das ganze Bücher füllen könnte? Ich tue mich immer sehr schwer mit der Antwort auf die Frage:

»Was hast Du denn?«

Oder dem Klassiker:

»Wie geht’s Dir so?«

Aus genau drei Gründen.

Zum einen habe ich mich selbst auf dem Weg durch mein Leben an irgendeiner Stelle zur radikalen Ehrlichkeit verpflichtet. Zudem dauert die Antwort auf diese Frage immer ziemlich lang, was die Aufmerksamkeitsspanne meines Gegenübers in der Regel vollkommen überfordert. Und zum Schluss bin ich sehr empathisch. Ich merke sofort, wenn es jemanden eigentlich gar nicht interessiert und die Frage rein aus Höflichkeit gestellt wurde. Wie man das eben so macht. Und bei meinen ausführlichem Bericht dann schon nach den ersten Worten das Ende meiner Antwort herbei sehnt.

Unsere Welt ist so furchtbar schnell und oberflächlich geworden. Menschen mit Handicap gehen hier oft unter. Und doch sind sie die Superhelden, wenn man mal aus meinem Blickwinkel auf die Welt schaut. Und nicht, dass Du mich jetzt falsch verstehst ich spreche gar nicht unbedingt von mir.

Nein.

Es gibt Menschen, die viel mehr Schmerz ertragen haben als ich. Menschen, die es noch besser hinbekommen nicht den Mut zu verlieren oder aufzugeben. Gäbe es eine Auszeichnung für diese Form der Leistung, ich hätte ein paar Anwärter im Auge, die diesen Preis mehr als eindeutig verdient hätten.

Das ist auch der Grund, warum ich sehr lange gezögert habe, diese Zeilen auf Papier zu bringen. Denn eines haben wir kranken Menschen (aus meiner Sicht) alle gemein. Wir alle meinen, anderen ginge es sowieso noch viel schlimmer. Wir sind eben ein Volk voller Demut und Respekt vor anderen, weil wir ihn selbst so dringend brauchen.

Aber ich komme vom eigentlichen Thema ab. Denn schließlich soll das ganze Drama nicht erst im letzten Kapitel gelüftet werden. Ich hoffe sehr, dass es an der Stelle anderes zu berichten geben wird.

Hoffnung.

Ein starker Verbündeter.

Aber dazu später mehr.

Mein Leiden fing Mitte der Neunziger an. Ich war zu der Zeit fünfzehn. Also voll in der Pubertät. Und was soll ich sagen? Ein Freigeist. Ich war am liebsten am Stall bei den Tieren. Half bei der Versorgung und dem Unterhalt aus und kuschelte mit den Vierbeinern. Am liebsten natürlich mit den Pferden. Diese Wesen haben eine besondere Magie in sich. Sie sind so stark und doch so sanft. Sie hatten so viel Geduld mit mir und führten mich auf ihrem Rücken an geheime Orte. Ein Lächeln umspielt meine Lippen während ich diese Zeilen tippe, auf Grund der Erinnerungen, die durch sie durch meinen Kopf fliegen.

Ich hatte verschiedene Pflegepferde, um die ich mich kümmern durfte. Dazu arbeitete ich in den Ferien auf einem Reiterhof, wenn wir in den Niederlanden im Urlaub waren. Pferde waren mein ein und alles. Und ich suchte mir immer irgendeine Möglichkeit ihnen möglichst nahe zu sein. Ich scheute kein Wind, kein Wetter und keine Arbeit. Ich tat was auch immer nötig war.

Belohnt wurden meine Mühen mit stundenlangen Spazierritten allein mit einer Haflinger Stute im verschneiten Wald im Münsterland und auf einem traumhaften Tinker im gestreckten Galopp am Strand von Zeeland, den Wind im Haar, das Donnern der Wellen in meinem Ohr und keine Gedanken mehr im Kopf. Nur noch dieses Gefühl des mächtigen Pferdeleibes, der unter mir die Beine weit auseinander warf, um noch ein wenig schneller zu laufen. Der genauso aufgeregt war, wie das kleine Mädchen, das auf ihm saß.

Es gab also eine Zeit in meinem Leben, da war das alles noch kein Teil von mir. Da träumte ich noch von einem Leben auf dem Rücken irgendwelcher Pferde. Von einem Märchenprinzen, der mich aus der Kleinstadt retten würde, in der ich aufgewachsen war und der mir und unseren Kindern ein wunderschönes Heim am Meer bauen würde.

Das war naiv.

Und es kam anders.

Doch noch heute zehre ich von diesen Träumereien. Von diesem Teil in mir, der damals gelebt hat und den es bis heute in mir gibt. Und der nun für immer zwischen diesen Zeilen verweilen wird.

Eines Tages bemerkte ich eine rote Färbung meiner Pupille und meine Mutter schleifte mich zum Augenarzt. Ich war total angefressen. Jede Minute, die ich woanders verbringen musste, verbrachte ich eben nicht beim Pferd. Wie um Himmels willen konnte sie mir DAS nur antun?

Der Arzt untersuchte mich ausführlich und ich saß zappelig auf dem Behandlungsstuhl. Ich wollte einfach nur weg. Wenn wir schnell hier raus kamen, hätte ich vielleicht noch genügend Zeit gehabt, um doch noch zum Pferd zu fahren. und dann vielleicht noch schnell…

Moment mal.

Was war das?

»Wir müssen das Auge mit Hilfe von Tropfen ein paar Tage ruhigstellen. Aber wir sollten das genauer untersuchen, die Entzündung kommt nicht vom Auge. Es ist irgendwas anderes im Körper, das auf das Auge ausstrahlt. Sie sollten beim Hausarzt vorstellig werden und weitere Untersuchungen durchführen lassen.«

Na toll!

Noch mehr Zeit die flöten ging.

Mal davon abgesehen, dass meine Mutter mich sicher nicht mit einem „ruhig gestellten Auge“ zum Stall fahren lassen würde. Obwohl ich so vermutlich auch die Deutscharbeit verpassen würde. Insofern war es kein absoluter Verlust.

Natürlich nahmen meine Eltern diese Aufforderung vom Augenarzt sehr ernst und machten sofort einen Termin beim Hausarzt und zur Sicherheit auch bei allen anderen Ärzten, die ihnen auf die Schnelle eingefallen waren.

Bei allem was danach folgte und allem was die beiden bis heute meinetwegen und auf Grund meiner Krankheit mitmachen mussten, kann ich nicht einmal erahnen, wie viel Kraft es sie gekostet haben muss.

Mir ist es in meinem Leben wohl nicht vergönnt den eigenen Nachwuchs auf die Welt zu bringen, ihn zu hüten und zu pflegen, bis er groß und stark ist und ihn dann in die Welt zu entlassen. Daher sind die Vorstellungen von dem Gefühl das eigene Kind krank und verzweifelt kämpfen zu sehen, ja sogar mit der Möglichkeit leben zu müssen, dass ich diese Krankheit nicht überleben werde, nicht mal annähernd vorstellen. Aber ich glaube es ist das allerschlimmste was einem passieren kann.

Also egal, was die Leute von mir halten. Ob sie mich respektieren oder nicht. Ob sie verstehen, was es für mich bedeutet. Ob sie sich über mich lustig machen oder hinter meinem Rücken über mich tuscheln.

All das prallt an mir ab.

Nichts ist so schlimm wie das Leiden derer, die mir nahestehen und die stumm ertragen müssen, was keiner ändern kann. Wenn es irgendwann einmal vorbei ist. Dann ist es vorbei. Dann liege ich da unter der Erde. Dann habe ich es eben nicht geschafft. Aber mit Verlaub, ich glaube das juckt mich in dem Moment dann auch nicht mehr so sehr. Aber meine Eltern, meine Familie, meine Liebsten, die bleiben zurück, mit Trauer und Schmerz.

Irgendeines Tages, so sieht es zumindest von meinem Standpunkt aus, werde ich sie vielleicht zurück lassen müssen. Dann werde ich aus diesem Leben scheiden und für immer einschlafen. Doch der Tod macht mir keine Angst.

Es ist der Schmerz, den ich ihnen zufügen werde, der mir das Herz bricht. Den Schmerz, den sie durch mich jetzt schon erleiden müssen. Den Schmerz, den ich ihnen nicht nehmen kann.

Aber ich schweife schon wieder ab.

Verzeiht.

Emotionaler Anfang, oder?

Bin gespannt wie das Ganze hier weiter gehen wird. Aber wen wundert es, bei diesem Thema. Kann man es anders schreiben? Weniger emotional? Etwas, dass für mich so viel bedeutet. Etwas, dass mein ganzes Leben beeinflusst. Meine Seele, meine Gedanken, meine Träume und meine Ziele im Leben.

Doch zurück zu den Fakten.

Es folgten Dutzende Untersuchungen. Vom Hausarzt, zum Facharzt, zum Krankenhaus, zur nächsten Station, zur nächsten Klinik. Wir wurden weitergereicht wie eine schlechte Flasche Wein. Und jedes Mal lief es exakt auf dieselbe Weise ab.

Zunächst ein überhebliches: »Gut, dass Sie jetzt bei uns sind. Wir werden schon herausfinden, was Ihrer Tochter fehlt. Kein Problem. Die anderen Ärzte haben ja gar nicht die Möglichkeiten, die wir haben. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Es folgte meist eine Woche mit wiederkehrenden Untersuchungen und eigentlich auch selten wirklich neuen Ergebnissen. Sodass zum Ende dieser Woche man mit deutlich weniger stolz geschwellter Brust uns mitteilte, dass man jetzt auch nicht so ganz genau wisse, was mit mir eigentlich nicht stimmt, aber gut sei es sicher nicht.

Es gipfelte 2004 mit einem Aufenthalt in einer Klinik, der alles für mich verändern sollte. Ich war dreiundzwanzig und gerade mit der Ausbildung fertig geworden. Beim Abschlussgespräch nahm mich der zuständige Neurologe beiseite. Während er mir einen Vortrag darüber hielt, dass ich in meinem Leben am besten keine weitreichenden Pläne machen solle, starrte ich auf die Auszeichnungen auf seinem Schreibtisch.

»Sie müssen sich das vorstellen wie Bausteine für Kinder. Die Muskeln bestehen aus roten und blauen Steinen. Dabei sind die roten Steine Muskelzellen und die blauen Fettzellen. Ihr Körper ist allerdings farbenblind und baut immer mehr von den blauen Steinen ein, als er sollte. Damit zerstört er die Muskelzellen auf Dauer. Besser Sie bauen kein siebenstöckiges Gebäude und wandern nicht nach Kanada aus. Wir können es nicht nachweisen, aber ich bin mir sicher, dass es eine Muskeldystrophie ist. Vielleicht kennen wir diesen Typen noch nicht, oder wir können ihn noch nicht nachweisen. Aber mit ihren Symptomen, ist es sehr wahrscheinlich, dass es eine solche Krankheit ist. Und sehen Sie es positiv. Diese Krankheiten sind nicht heilbar und können nicht behandelt werden. Also leben Sie Ihr Leben so gut Sie können und so lange es Ihnen möglich ist.«

Er hatte ein warmes Lächeln aufgelegt.

Ich erinnere mich an jedes Wort, dass er mir an diesem Tag gesagt hat. Nicht jedoch an sein Gesicht. Für mich ist er ein gesichtsloser Geist geworden, der den Startschuss gab für eine Entscheidung, die weitreichende Konsequenzen hatte.

Ich betrat diese Klinik nie wieder.

Ich suchte keinen Arzt mehr auf.

Ich sagte mich los von dieser Krankheit.

So gut es eben ging.

Und das war bitter nötig. Denn die jahrelange Prozedur als Versuchskaninchen durch die verschiedenen Abteilungen hatte mich zu einem kranken Menschen werden lassen. Es war Zeit diesem Teil den Rücken zu kehren.

Es ist nicht leicht.

Nein, es ist wirklich nicht leicht.

Aber man kann weiter machen. Nach so einem Tag. Nach so einer Aussage. Nach so einer „Diagnose“. Und die bittere Wahrheit ist, es nutzt nichts!

Du musst.

Ob Du willst oder nicht.

Am nächsten Tag geht die Sonne wieder auf. Und Du musst wieder aufstehen. Du musst irgendwie weiter machen, einfach funktionieren. Es gibt keinen Knopf in Deinem Leben mit dem Du auf Pause drücken kannst und mit dem es möglich wird, einfach alles ein paar Tage sacken zu lassen.

In mir war es der unbedingte Wille, der mich weiter trieb. In meiner Verzweiflung hielt ich mich an der Hoffnung fest, dass die inzwischen eingetretenen ersten Anzeichen einer Schwäche auch andere Ursachen haben könnten.

Dass ich Muskelkrämpfe und Muskelkater hatte, auch schon nach weniger Anstrengung, konnte tausend Gründe haben. Und all das Gerede dieser Ärzte, ließ mich schließlich auch auf alles achten. Vielleicht war es also auch die Psyche, die mir einen Streich spielte.

Wer weiß.

Ich beschloss, dass ich keinesfalls bereits mit dreißig unter der Erde landen wollte oder in einem Rollstuhl. Dreißig war mit Anfang zwanzig wahnsinnig weit weg und total alt. Daher war mein Lebensplan mit diesem Tag geboren, nicht mit dreißig gestorben zu sein.

Aber Mitleid ist an dieser Stelle nicht angezeigt! Eigentlich bin ich es, die Dich bemitleiden muss. Wenn man nämlich wie ich schmerzhaft bewusst gemacht bekommt, dass das Leben endlich ist, also irgendeines Tages zu Ende gehen wird, dann hat man die Chance es in all seiner Pracht und all seinen Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Und ich glaube, dass wir dieses einmalige Geschenk alle bekommen. Manche von uns früher, manche von uns später. Doch wenn es eines Tages soweit sein wird, dass ich mich für immer verabschieden muss, dann werde ich nicht um die verpassten Chancen oder Möglichkeiten weinen. Ich werde nicht wehmütig zurückblicken und in Sätzen denken, die mi „hätte ich mal“ oder „wenn ich nur“ anfangen. Bei allem Negativen, die das Leiden und das Kranksein mit sich bringt, hat es einen positiven Effekt.

Ich liebe aus vollem Herzen und bin dankbar um jedes Lachen. Jeden wertvollen Mensch, der meinen Weg kreuzt. Bin voller Respekt für das Leben und die Liebe. Und all die kleinen und großen Wunder, die in dieser Welt wohnen und sich manchmal zeigen. Vor allem dann, wenn ich es am wenigsten erwarten. Ich kann sie sehen.

Aber jetzt ist heute!

Und wir waren nun lange genug in der Vergangenheit. Was zählt ist schließlich jetzt. Aber es war wichtig, Dich eben auf Stand zu bringen, damit Du verstehen kannst, was genau jetzt eigentlich alles auf Dich zukommt.

Ich habe noch anderthalb Wochen, bis zu dem großen Tag.

Das Date von dem ich im letzten Kapitel erzählt habe.

Letztes Jahr im Oktober.

Vor einem Jahr.

Es hat einen Menschen in mein Leben gebracht, den zu verdienen ich mir bis heute kaum gestatte. Er ist viel größer als jedes Wort, mit dem ich ihn halbgar beschreiben würde. Und er bringt mich und meine Seele auf einen ganz anderen Level.

Er hat so viele alte Wunden in meinem Herzen verheilen und mich viele alte Muster überdenken lassen. Er kann mich sehen und verstehen und ich kann dadurch nichts mehr beschönigen. Ich musste dieser Ehrlichkeit also auch in mir langsam ins Auge sehen. Und seit diesem Date vor einem Jahr reise ich mit ihm durch die Windungen und Winkel meiner verkorksten Seele. Er half mir dabei so viele alte Kisten und Kartons in mir auszupacken und das was überflüssig war für immer loszulassen und wegzuwerfen.

Gerade passend, denn ich hatte meinen zweiten Roman fertig und wollte ihn veröffentlichen. Sodass nun seit dem Ende von Roman zwei der dritte etwas auf sich warten lässt. Immer wieder habe ich angefangen ein paar Zeilen oder sogar Seiten zu schreiben, und doch schien es nicht die richtige Geschichte zu sein, nicht die richtige Idee. Nichts, was mich packte und festhielt bis es endlich auf Papier gebannt war. Vielleicht ist es diese Geschichte, die erst erzählt werden muss, die erst auf Papier gebracht werden muss.

Auch die Gesundheit ist natürlich ein großes Thema für mich und meinen Liebsten. Sodass ich mich also im vergangenen Jahr zähneknirschend auch diesem Karton wieder gewidmet habe. Auch ihn habe ich aus der letzten Ecke hervor gezogen, den Staub abgewischt und die einzelnen Sachen ausgepackt, die darin verstaut waren.

Bis dato hatte ich mir angewöhnt, das alles einfach zu verdrängen. Ein Leben zu führen, so gut es geht, bis es eben nicht mehr geht und solange zu versuchen so wenig wie möglich darüber nachzudenken. Was die Krankheit zu etwas machte, dass über mir schwebte wie ein Damoklesschwert. Und der Tod ein ständiger Begleiter wurde, der mir still in meinem Schatten folgte, wohin ich auch ging.

Jetzt wird es Zeit. Ich habe alles dort liegen. Alle Unterlagen, Arztberichte, Laborergebnisse alles was mir noch blieb aus der alten Zeit. Doch jetzt besitze ich etwas, dass ich früher nicht hatte. Einen PC mit Internetanschluss und eine Suchmaschine. Nicht, dass ich eine dieser Patientinnen bin, die meint alles besser zu wissen. Doch ein weiteres Mal, werde ich mich psychisch nicht in die Ecke drängen lassen von Menschen, die nur die Hälfte der Informationen haben, die sie haben müssten und trotzdem ein Urteil fällen, dass mir nicht mehr verspricht als den Tod.

Mir ist natürlich klar, dass nicht sie es sind, die ihn über mich bringen. Doch wenn es das nächste Mal im Raum steht, dass mein Ende vorbestimmt ist und ich vermutlich elendig an einer Krankheit krepieren werde, die wir nicht bekämpfen können, dann möchte ich, dass es klar und deutlich schwarz auf weiß in diesem Stapel Papiere steht, der auf meinem Schreibtisch liegt. Es wird kein „Verdacht auf“ reichen, um mich zum Schweigen zu bringen, wie es das damals getan hat. Je mehr ich mich damit beschäftige, wie unser Körper eigentlich wirklich funktioniert, umso mehr bin ich davon überzeugt, dass es hier mehr Antworten geben kann als eins oder null. Und ich nehme Dich mit auf diese Reise.

Ich wünschte, es wäre einfach ein Roman. Eine fiktive Geschichte, die Spannung aufbauen soll und dann am Ende alles gut werden lässt. Doch das hier ist real. Ist mein Leben. So wie es ist. Und der Ausgang der Geschichte ist jetzt noch ungewiss. Wir werden uns also beide auf diese Reise begeben, ohne das Ende zu kennen.

Oder hast Du etwa gespickt?

Hast Du schnell zum Ende geblättert?

Was steht dort?

Ich hoffe etwas Gutes, aber verrat es mir nicht!

Ich will mich ja überraschen lassen.

Wieso eigentlich dieser Roman?

Ich beschäftige mich neben meinen beiden bereits veröffentlichten Romanen, die ich bereits veröffentlicht habe, ganz allgemein mit dem Thema Autor sein und dem Marketing für meine Bücher. Und was man dort überall immer wieder hört ist: »Sei authentisch! Lass Deine Leserinnen und Leser sehen, wer Du bist.«

Und wie könnte ich Dich in mein Leben einladen, in meine Seele und in meinen Geist, wenn ich Dir diesen Teil verschweigen würde? Wie könnte ich authentisch sein, wenn einer der größten Teile in meinem Leben einfach ausgegraut werden würde? Warum schäme ich mich überhaupt für diese Schwäche, für die ich nichts kann? Die ich nie bestellte und die ich jederzeit mit denen tauschen würde, die meinen, sich mit mir messen zu müssen und Neid zu empfinden für die wenigen kleinen Dinge, die gut laufen in meinem Leben.

Und wer weiß? Vielleicht wird dies alles am Ende zu etwas Gutem führen. Vielleicht wird es ein Happy End bekommen. Und dann wäre es doch gut, den Weg dorthin zu dokumentieren, oder?

Wenn es diese eine Geschichte gibt, die Du unbedingt erzählen willst, wäre es Deine eigene?

Bei mir kommt sie an dritter Stelle.

Der dritte Roman.

Also ist sie hier.

Meine Geschichte.

Und alles was ich in mir trage.

Für Dich.

Und für mich.

Das Leben der anderen

∼Sonntag, 08.10.2017∼

Ich habe beschlossen, ich werde mir die ersten beiden Kapitel nicht noch einmal durchlesen. Nicht bevor dieses Buch zu Ende geschrieben ist. Es ist sicherlich emotional. Vielleicht auch etwas durcheinander. Aber es ist wie bei der Führerscheinprüfung. Wenn Du am Ende noch mal drüber guckst und eventuell noch was änderst, dann baust Du vielleicht Fehler ein, die beim ersten Mal nicht drin waren. Also, gehen wir weiter in der Geschichte und schauen nicht zurück.

Stell Dir vor, Du hast eine beste Freundin oder einen besten Freund. Einen Menschen, der Dir näher steht als alle anderen auf dieser Welt. Einen Menschen, dem Du einfach alles anvertraust. Einen Menschen, der Dich durch jede Lage Deines Lebens begleitet. Stellst Du es Dir vor? Gut.

Jetzt stell Dir vor, deine beste Freundin eröffnet Dir, dass sie schwanger ist. WOW! Du freust Dich mit ihr. Sie hat es schon lange gewollt. Endlich hat es geklappt. Und Du fieberst mit ihr dem Tag entgegen, da dieses freudige Ereignis endlich stattfindet. Du willst an ihrer Seite sein. Willst sie unterstützen. Wie Du es eben in den letzten Jahren auch getan hast. Wie Du es auf ewig tun willst.

Und dann ist das große Ereignis!

Klar, dass Du Dich erst mal zurückziehst und der jungen Familie erst mal ihre Zeit allein gönnst. Du hast Verständnis, dass sie in den ersten Wochen nicht erreichbar ist. Ein kleines Kind. Das bedeutet wohl auch kurze Nächte. Doch aus Wochen werden schnell Monate. Und aus Monaten plötzlich Jahre.

In den wenigen Momenten, da Du sie erreichst, da scheint sie erleichtert Deine Stimme zu hören, doch sie hat keine Zeit. Die Kinder schreien. Der Mann wartet auf das Essen auf dem Tisch. Sie würde ja gerne reden, aber jetzt gerade ist es schlecht. Sie wird sich melden. Ganz bald.

Und Du siehst, wie sie auf den sozialen Netzwerken von Treffen mit anderen Müttern berichtet. Vom Babyschwimmen. Von ihren Erfahrungen bei der Krabbelgruppe berichtet. Und von ihrem wöchentlichen Frühstück mit ihren Mädels aus der Krabbelgruppe. Und Dir wird klar. Du bist kein Teil mehr dieses Lebens. Vermutlich wirst Du es auch nie wieder sein.

Es gibt wenige Momente, in denen ich mich ausgeschlossen fühle. Ich habe viele Jahre damit verbracht, die Einschränkungen, die sich langsam einschlichen, geheim zu halten. Niemand sollte mich anders sehen oder anders behandeln als vorher.

Ich war viel zu stolz, um selbst mir einzugestehen, dass ich eine Schwäche haben könnte. Das rächt sich gerade in den letzten Jahren ein wenig. Denn nun herrscht die Angst und engt mich ein. Viel zu sehr. Daran muss ich arbeiten.

Aber eines gibt es, da fühle ich mich wie ein Alien. Es ist DER Plan für jede Frau. Sei jung, verrückt und wild. Leb Dein Leben. Finde Deinen Weg. Und wenn es auf die magische dreißig zugeht, dann suche Dir einen Mann. Er muss nicht der Märchenprinz sein, von dem Du immer geträumt hast. Solange er einigermaßen akzeptabel ist, ist es okay. Und dann wird es Zeit. Es wird Zeit für ein Haus und Kinder. Das ist, was die Biologie für Dich vorgesehen hat. Das ist, was seit Jahrhunderten Deine Aufgabe auf dieser Erde ist.

Die Fortpflanzung.

Und dann stehe ich da.

Ich glaube, ich wäre eine tolle Mutter. Ich habe dieses Verhalten einer Glucke. Gott, ich würde meinen Kindern mit meiner Fürsorge so sehr auf die Nerven gehen und sie würden sich vor ihren Freunden für mich schämen, weil ich darauf bestehen würde, dass sie sich von mir umarmen lassen, wenn alles den Bach runter geht. Sie würden sich lautstark mit mir streiten und mir Vorwürfe machen, dass ich die schlechteste Mutter aller Zeiten bin. Und ich würde ihnen alle Liebe schenken, die ich in mir trage.

Ja, naja. Das reale Leben mit Kindern ist wahrscheinlich etwas anders, als meine total romantische Vorstellung davon. Und ich habe den allergrößten Respekt davor, was es wirklich bedeutet, Kinder um sich zu haben, rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche.

Aber das Schicksal will es anders.

Hat es immer schon gewollt.

Als es für mich noch nicht so herzzerreißend endgültig im Raum stand, mit Mitte zwanzig, da wollte ich mein Leben genießen. Ich wollte die wenige Zeit, die mir vielleicht bleiben sollte ausnutzen. Habe es jedoch nicht getan.

Ich suchte mir die falschen Männer aus den falschen Gründen. Wartete darauf, dass sie sich zu den Märchenprinzen entpuppten, die ich immer in ihnen gesehen hatte. Ich wollte gerettet werden, vor diesem Leben und projizierte das auf die Männer, die ich mir angelte. Und ein Kind würde ich erst dann bekommen, wenn alles stimmte. Ich wollte den ganz großen Plan. Mann, Haus, dann Kind und Hund. Und zeitgleich, war ich in meinen Augen nie „reif“ genug für diese Art von Leben.

Es gab immer noch dieses eine Abenteuer zu erleben. Noch diesen einen Plan zu verfolgen. Ich wollte noch eben schnell, mehr aus mir herausholen. Bevor ich mich auf dieses Abenteuer einlassen würde.

Mit dreißig feierte ich, dass ich noch am Leben war und nicht im Rollstuhl saß. Am Tag darauf fiel ich in ein tiefes Loch. Jetzt, wo dieser Lebensplan erfüllt war, war es dann jetzt vorbei? Wenn ich die dreißig geschafft hatte, sollte es das jetzt gewesen sein? Und wollte ich mir wieder ein solches Damoklesschwert über mein Bett hängen? Wollte ich weitere zehn Jahre oder sogar mehr vor dem Tod davon rennen und ihn damit an mich binden?

Ich entschied mich dagegen. Und ich wusste, was das richtige Ziel war, dass es anzupacken galt. Für die nächsten zehn Jahre nahm ich mir vor, dass ich glücklich sein erreichen wollte. Noch habe ich vier Jahre dafür und ich habe schon ein gutes Stück des Weges erklommen.

Du siehst also, das Thema heiraten und Kinder, das war jetzt nicht an erster Stelle auf der Prioritätenliste. Mehr auf Platz achtundvierzig. Und dort schlummerte es viele Jahre. Eigentlich war und bin ich sehr stolz darauf, dass sich diese innere Uhr bislang nicht zu Wort gemeldet hat und ich am Ende keine falsche Entscheidung aus den vermeintlich richtigen Gründen getroffen habe.

Nicht alle Beziehungen, Ehen und Kinder werden in dieser Welt aus den falschen Gründen geboren. Doch meine wären es gewesen. Zu der Zeit.

Und naja. Heute habe ich den Mann meiner Träume an meiner Seite. Zumindest im Augenblick. Nichts ist so vergänglich wie die Zeit. Das ist uns beiden auch immer sehr bewusst. Aber trotzdem. Jetzt würde es vielleicht gehen. Und es wäre spät aber nicht zu spät. Das Gebärwerk in meinem Betrieb hat noch nicht geschlossen. Doch wie soll das nur gehen?

Selbst wenn ich wie durch ein Wunder die Schwangerschaft überstehen würde. Und ich irgendwie die Kraft aufbringen würde, einen dicken Bauch für ein paar Wochen durch die Welt zu schieben. Wenn ich tatsächlich einen Menschen in die Welt bringen würde, und selbst das ist eigentlich schon ausgeschlossen, was dann?

Ich würde daneben sitzen, wenn mein kleines Kind am Boden liegt und mit ihm um die Wette weinen. Weil ich es nicht aufheben kann. Sobald es ein paar Kilos mehr auf die Waage bringen würde, könnte ich es nicht einmal mehr halten. Und sobald es alt genug wäre und in die erste bockige Phase kommen würde, dann bräuchte es nur vor seiner Mama wegrennen.

Und das nur, wenn der Stand heute so bleibt wie er ist. Wenn er sich weiter verschlechtert, würde ich am Ende zusätzlich auch noch ein Kind zurück lassen müssen, mit dem Schmerz seine Mutter viel zu früh verloren zu haben. Und ich glaube, diesen Schmerz könnte ich nicht mit aller Liebe auf dieser Welt aufwiegen.

Also ist diese Familienwelt eine Welt, die ich nicht zu betreten vermag. Und das hat viel weitreichendere Folgen, als man auf den ersten Blick erkennt. Letztes Jahr, als ich mit fünfunddreißig Jahren noch Single war, da hatte ich den Glauben daran verloren, dass sich dies noch einmal ändert. Und noch heute nagt es an meinem Gewissen, das ich das Herz eines Mannes belege, der vielleicht mit einer anderen Frau diese Welt entdecken könnte. Es ist dreist und frech von mir ihn zu belegen. Aber er lässt mir keine Wahl. Wann immer ich mir selbst diesen Vorwurf in seiner Nähe mache, macht er mir ziemlich deutlich, dass alles was er will ich bin. Wenn es keine Kinder in unserem Leben gibt, dann gibt es eben keine.

Habe ich erwähnt, was für ein toller Mensch er ist?

Solange er es so sehen kann, erlaube ich mir diesen Traum von einer ewigen Liebe. Sollte es eines Tages soweit kommen, dass in ihm der Wunsch größer wird, werde ich ihn gehen lassen müssen.

Dauerhaft krank zu sein hat also mehr als eine Seite. Die Folgen siehst Du demjenigen meist nicht an. Und im besten Fall machst Du Dir darüber auch keine Gedanken.

Also ist keine böse Absicht dahinter, wenn meine beste Freundin ihren Fokus auf das legt, was sie derzeit beschäftigt. Wenn sie ihre Zeit mit denen verbringt, die verstehen und nachempfinden können, was sie jetzt gerade beschäftigt. Menschen, die in ihrer neuen Welt leben und nicht mehr in der alten Welt herumdümpeln.

Und es gibt sie noch! Die Hoffnung in mir. Sie ist noch nicht fortgegangen. Zumindest im Augenblick, besteht immer noch die Möglichkeit, dass ein Wunder geschieht. Und am Ende alles gut wird. Vielleicht ist es keine Muskelerkrankung. Vielleicht ist es etwas anderes. Etwas, dass man mit Medikamenten oder einer Lebensumstellung in den Griff bekommen kann.

Ich bin bereit!

Wenn es soweit ist, werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um mein Leben zurückzuerobern.

Aber die Träume, die diesen Hoffnungsschimmer begleiten haben auch keine Kinder vorgesehen. Vielleicht wäre es dafür dann auch zu spät.

Ich träume von einem langen ausgedehnten Spaziergang im Wald. Reiterferien auf Island. Mit Freunden ausgehen und nicht mehr darüber nachzudenken, ob ich überhaupt gehen kann wegen der Treppen- und Toiletten-Situation. Von einem Autotrip nach Spanien, Schottland, Irland und Schweden. Auf dem Boden im Gras liegen und die Wolken anstarren. Einen Freizeitpark besuchen, oder zehn. Am Strand Sandburgen bauen. Einen Baum raufklettern. Einen Bummel durch die Altstadt. Einen Flug nach New York. Unbeschwerte Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre. Und keinen Gedanken mehr daran, ob ich etwas kann oder nicht. Kein verzweifeltes recherchieren, ob an dem Ort wo ich hin möchte Behindertentoiletten sind, Parkplätze in der Nähe, Treppen mit oder ohne Geländer.

Alles das was für Dich vielleicht selbstverständlich ist, ist ein unüberwindbarer Berg für mich. Und doch weißt Du es vielleicht manchmal gar nicht zu schätzen.

Und ich sitze neben Menschen wie Dir.

Normalen Menschen.

Die davon stöhnen, dass sie es schwer haben im Leben, weil Kleinigkeiten sich ihnen in den Weg stellen. Und dann bemitleide ich sie. Weil sie nicht sehen können, welche Freiheiten ihnen geschenkt werden. Was sie alles machen können, ohne dass sie sich auch nur einen winzigen Gedanken darüber machen müssten.

Und auch ich habe Freiheiten, die andere Menschen nicht haben. Noch tragen mich diese zwei Füße durch mein Leben. Meine Psyche zickt manchmal rum, lässt mich jedoch noch lange nicht im Stich. Noch kann ich Auto fahren. Ich kann den Himmel sehen. Und wenn auch mit kleinen Einschränkungen ist es mir möglich das Meiste zu erleben, das andere auch erleben. Und ich bin für jede Kleinigkeit und jeden Freiraum, der mir noch bleibt dankbar. Jeden Augenblick in meinem Leben.

Auch wenn ich die Schwächen in mir verachte, auch wenn ich jeden Stein verfluche, der sich mir in den Weg stellt. Ich kämpfe weiter so gut ich kann. Nicht weil ich irgendeine Art von Held bin, sondern weil ich es denen schuldig bin, die bei mir sind. Und die mit ansehen müssen und doch nichts tun können. Ich lächle wenn ich weinen will. Ich beschwere mich nicht über hohle Phrasen, die sich viel zu oft über mich ergießen. Und ich gehe einen Schritt nach dem anderen. Solange es eben geht.

Und wer weiß. Vielleicht wird es einen Weg geben. Vielleicht kommt jetzt die Wende in meinem Leben. Vielleicht finden wir den einen Stein in meinem Organismus, den es umzudrehen gilt. Und dann werde ich mir das Ticket für dieses verdammte Schiff lösen und nach Island fahren und zwei Wochen auf dem Rücken eines Ponys durch die Lande ziehen.

Alles ist möglich.

Jetzt und hier ist alles möglich.

Ich kann schon nicht mehr zählen, wie oft ich zu hören bekomme, dass es doch wohl sehr frustrierend sein muss keine Diagnose zu haben. Wir Menschen neigen dazu, dass wir den Dingen unbedingt einen Namen geben müssen. Ja, wir sind sogar beruhigt, wenn uns jemand sagt „Sie haben jetzt XY“. Denn dann wissen wir, was es mit uns machen wird. Und auch die (roman-) langen Erklärungen fallen weg. „Ah! XY. Ja, kenn ich. Hab ich schon mal gehört“.

Doch etwas fehlt in dieser Ansicht. Die Hoffnung. Denn wenn ich jetzt eine Diagnose hätte, oder vielleicht bekommen werde in ein paar Wochen oder Monaten, und diese fällt eher in eine Richtung, dann ist es eben auch das Ende. Ein Tod auf Raten. Eingebrannt in den Akten auf meinem Schreibtisch. Wenn es nicht das kleine Wunder ist, auf das ich hoffe und das ich mit allem Karma bestelle, dass ich mir angehäuft habe, dann zeichnen die vielen Fachbücher das Bild, das aus mir werden wird.

Muskelabbau.

Kraftverlust.

Rollstuhl.

Medizinische Beatmung.

Bett.

Schläuche.

Und am Ende der Tod.

Da ist es zumindest im Augenblick schöner, nicht zu wissen welchen Namen der Teufel trägt, der in mir wohnt. Noch kann er beides sein. Eine Phase. Ein Defekt, den ich in den Griff bekommen kann oder mein Todesurteil.

Aber genug für heute. Ich drifte schon wieder ab in eine Welt aus Trauer und Wut, gespickt mit Selbstmitleid. Was soll ich tun?

Ich bin schließlich auch nur ein Mensch.

Es wird Zeit für ein Frühstück. Und dann werde ich mich an die Arbeit für einen anderen Roman machen. Schreiben. Die graue Realität aussperren und mich in die Phantasiewelt fallen lassen, die sich aus meinen Gedanken entspinnt.

Was machst Du mit Deiner Zeit?

Schwarz oder Weiß

∼Sonntag, 15.10.2017∼

Und eine Woche weiter. Dabei wollte ich mich schon bestimmt ein dutzend Mal wieder hinsetzen und ein paar Zeilen schreiben. Sogar schon ein paar Stunden nach dem letzten Eintrag. Zwei Kapitel vom gleichen Tag kamen mir dann allerdings doch ein wenig übertrieben vor. Und irgendwie habe ich es seitdem nicht mehr geschafft.

Aber springen wir noch mal eine Woche zurück. Letzten Sonntag, da gab es nämlich nachmittags in meiner Wohnung noch eine schmucke Darbietung einer sportlichen Höchstleistung. Leider ohne Publikum.

Eigentlich wollte ich nur schnell auf die Toilette gehen. Beim Aufstehen vom Toilettensitz ist jedoch der bescheuerte Duschvorleger ein Stück weggerutscht und mit einer Grazie sank mein Körper langsam und sicher zu Boden. Auch der verzweifelte Versuch mich noch am Waschbecken festzuhalten verfehlte sein Ziel. Sodass ich mich alsdann am Boden wiederfand.

Und ich hasse diese Momente mehr als alles andere.

Es gibt keine bessere Möglichkeit mir so unmissverständlich aufs Auge zu drücken, dass mit mir etwas nicht stimmt. Dass etwas in mir nicht richtig funktioniert.

Bei allen Einschränkungen, die mir mein Leben mit der Schwäche einbringt, ist diese die wohl Gemeinste. Denn ich kann allein vom Boden nicht mehr aufstehen. Es ist als wären meine Knie in bestimmten Bewegungen wie Wackelpudding. Sie rufen einfach keine Kraft mehr ab, wenn ich zu tief in die Hocke gehe oder eben andersherum wieder aufstehen will.

Und das peinliche Gefühl, hilflos am Boden zu sitzen und dann noch davon in einem Buch zu berichten schlägt nicht die Wut und den Schmerz den es hervorruft, dass mein Körper nicht so will, wie ich will. Dass ich gefangen bin, in einem kaputten Körper, der mich an den Boden fesselt.

Ich habe also geflucht wie ein Rohrspatz und bin dann über den Boden gerutscht. Schön das Gewicht auf den Handballen abstützen (geht übrigens besser als auf den Handflächen). Anheben, schieben, absetzen, Hände nach vorne, anheben, schieben, absetzen.

Es sind gute zehn Schritte von der Couch ins Bad.

Am Boden auf allen Vieren dauerte der Weg zurück vom Bad zur Couch etwa zehn Minuten.

Aber damit ist das Spiel dann noch lange nicht vorbei. Denn da beginnt dann der eigentliche Sportevent des Tages. Vom Boden auf die Couch hieven.

Ich nutze dafür immer eine Drehen-Ziehen-und-Wenden Taktik. Aber die wollte mir Sonntag nicht so recht gelingen. Und vor lauter Frust und Wut strömten Tränen über meine Wangen. Je mehr ich mich versuchte hochzuhieven, desto schwerer schien mir das Hochklettern zu fallen. Das sind auch die Momente, da ich mir selbst lange und unfreundliche Vorträge halte. Zwanzig Kilo weniger, liebe Sandra, würden vielleicht auch helfen.

Schließlich und endlich lag ich röchelnd auf der Couch. Ab da ist es dann wieder ein Spaziergang. Naja. Zumindest nicht mehr schwer. Etwas Physik. Speziell die Regeln der Hebelwirkung. Etwas Geduld. Und ich stand wieder. Das ganze Theater hat gute dreißig Minuten gedauert. Eine lange Zeit um sich hilflos zu fühlen.

Schau auf die nächste Uhr in Deinem Umfeld und stell Dir einfach mal vor, die nächste halbe Stunde geht es nur noch darum, aufzustehen. Dreißig Minuten beschäftigt Dich kein anderer Gedanke als der, ob Du es alleine hinbekommst oder ob Du Dir irgendwann einfach die Blöße gibst, in den Hausflur zu robben und es über die Treppe zu versuchen. Oder den letzten möglichen Ausweg zu wählen. Der Anruf bei der Feuerwehr.