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Mit siebzehn verliebt sich Souad in einen jungen Mann und wird schwanger. Für ihre Dorfgemeinschaft im Westjordanland ein Skandal. Die Ehre der Familie ist unwiderruflich beschmutzt. Das Gesetz kennt nur eine Konsequenz: Souad muss sterben. Ihr Schwager Hussein verbrennt sie bei lebendigem Leib. In den Augen der Dorfgemeinschaft ist dieser Mann ein Held. Und seine Tat ein »Ehrenmord«. Doch mit letzter Kraft kann Souad fliehen. Im Krankenhaus bringt sie ihren Sohn zur Welt, der ihr sofort genommen wird.
Als sie nach 25 Jahren endlich ihr Kind wiederfindet, entschließt Souad sich, Zeugnis abzulegen - um der Weltöffentlichkeit die Augen über dieses grausame, archaische Gesetz gegen die Frauen zu öffnen!
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Seitenzahl: 332
Mit siebzehn verliebt sich Souad in einen jungen Mann und wird schwanger. Für ihre Dorfgemeinschaft im Westjordanland ein Skandal. Die Ehre der Familie ist unwiderruflich beschmutzt. Das Gesetz kennt nur eine Konsequenz: Souad muss sterben. Ihr Schwager Hussein verbrennt sie bei lebendigem Leib. In den Augen der Dorfgemeinschaft ist dieser Mann ein Held. Und seine Tat ein »Ehrenmord«. Doch mit letzter Kraft kann Souad fliehen. Im Krankenhaus bringt sie ihren Sohn zur Welt, der ihr sofort genommen wird.
Als sie nach 25 Jahren endlich ihr Kind wiederfindet, entschließt Souad sich, Zeugnis abzulegen – um der Weltöffentlichkeit die Augen über dieses grausame, archaische Gesetz gegen die Frauen zu öffnen!
Souad wurde Ende der fünfziger Jahre in einem Dorf im Westjordanland geboren. Nach Jahren voller körperlicher und seelischer Qualen lebt sie heute zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern irgendwo in Europa.
Souad
Bei lebendigem Leib
Aus dem Französichen von Anja Lazarowicz
BASTEI ENTERTAINMENT
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2003 by Oh! Éditions, Paris
Titel der französischen Originalausgabe: »Brûlée vive«
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Anja Lazarowicz liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Kiselev Andrey Valerevich
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5273-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Ich bin ein Mädchen, und Mädchen müssen immer schnell gehen und auf den Boden schauen, den Blick auf den Boden heften und sich beeilen. Mädchen dürfen nicht aufsehen oder den Blick schweifen lassen, denn wenn ein Mädchen einem Mann in die Augen schaut, behandelt sie das ganze Dorf als charmuta.
Sieht eine verheiratete Nachbarin, eine alte Frau oder sonst jemand das Mädchen allein auf der Straße, ohne ihre Mutter oder ihre ältere Schwester, ohne Schaf, Heubündel oder einen Korb voller Feigen, gilt sie ebenfalls sofort als charmuta.
Ein Mädchen muss heiraten, damit es den Blick heben, den Dorfladen betreten, sich die Haare entfernen und Schmuck tragen darf.
Wenn ein Mädchen, wie meine Mutter, im Alter von vierzehn Jahren noch nicht verheiratet ist, fängt man im Dorf an, sich über sie lustig zu machen. Aber Mädchen müssen warten, bis sie mit dem Heiraten an der Reihe sind. Erst ist die Älteste dran, dann kommen die jüngeren Schwestern.
Im Haus meines Vaters gibt es zu viele Mädchen. Vier, alle im heiratsfähigen Alter. Außerdem habe ich zwei Halbschwestern von der zweiten Frau unseres Vaters, sie sind aber noch Kinder. Der einzige männliche Nachkomme der Familie, der von allen vergötterte Sohn, unser Bruder Assad, unser ganzer Stolz, wurde als viertes Kind zwischen all diesen Mädchen geboren. Ich bin die Drittälteste.
Mein Vater, Adnan, ist unzufrieden mit meiner Mutter, Leila, die ihm so viele Mädchen geboren hat. Er ist auch unzufrieden mit Aicha, seiner anderen Frau, die ihm nur Mädchen geschenkt hat.
Noura, die Älteste, hat spät geheiratet, als ich bereits etwa fünfzehn war. Kaïnat, das zweitälteste Mädchen, will keiner. Ich habe einmal gehört, dass ein Mann mit meinem Vater über mich gesprochen hat, aber Vater sagte, dass ich warten muss, bis Kaïnat verheiratet ist, ehe ich an meine eigene Heirat denken kann. Aber Kaïnat ist nicht besonders hübsch, oder vielleicht arbeitet sie auch zu langsam ... Ich weiß nicht, warum kein Mann sie will, aber wenn sie eine alte Jungfer wird, macht sie sich zum Gespött des ganzen Dorfs – und mich auch.
Seit ich denken kann, gab es für mich keine Spiele und kein Vergnügen. In meinem Dorf als Mädchen zur Welt zu kommen, ist ein Fluch, und die Ehe ist der einzige Weg in die Freiheit. Man tauscht sein Elternhaus gegen das Haus des Ehemanns ein und kehrt auch nicht heim, wenn man von ihm geschlagen wird. Geht ein verheiratetes Mädchen zurück zu ihrem Vater, ist das eine Schande. Es ist ihr nicht erlaubt, außerhalb ihres Hauses Schutz zu suchen, und ihre Familie hat die Pflicht, sie wieder zurückzubringen.
Meine Schwester ist von ihrem Mann geschlagen worden und hat Schande über unsere Familie gebracht, weil sie nach Hause kam und sich beklagte.
Immerhin hat sie einen Mann, davon kann ich nur träumen.
Seit ich gehört habe, dass ein Mann bei meinem Vater war, um über mich zu sprechen, vergehe ich fast vor Neugier und Ungeduld. Ich weiß, dass er nur wenige Schritte von uns entfernt wohnt. Manchmal kann ich ihn sehen, wenn ich oben auf der Terrasse die Wäsche aufhänge. Er fährt ein Auto, trägt Anzug und hat immer eine Aktentasche dabei, also muss er in der Stadt arbeiten und einen guten Beruf haben. Er ist immer tadellos gekleidet und sieht nicht aus wie ein Arbeiter. Nur zu gern würde ich sein Gesicht aus der Nähe sehen, aber ich habe Angst, dass mich meine Familie dabei ertappt. Also gehe ich schnell vors Haus, um Heu für ein krankes Schaf im Stall zu holen, in der Hoffnung, ihn aus der Nähe zu sehen. Aber er parkt zu weit weg. Inzwischen habe ich herausgefunden, um welche Zeit er zur Arbeit fährt. Um sieben Uhr morgens. Dann tue ich so, als müsste ich auf der Terrasse Wäsche zusammenlegen, eine reife Feige pflücken oder die Teppiche ausschütteln, damit ich wenigstens ganz kurz sehen kann, wie er mit seinem Auto wegfährt. Aber ich muss mich beeilen, damit keinem etwas auffällt.
Ich laufe die Treppe hinauf und durchquere die Zimmer, um auf die Terrasse zu gelangen. Dort angekommen, schüttle ich energisch einen Teppich aus und schaue dabei über die Mauer, wobei mein Kopf ein wenig nach rechts gewandt ist. Wenn mich jemand von weitem beobachten sollte, könnte er nicht erkennen, dass ich auf die Straße hinunterschaue.
Manchmal gelingt es mir, ihn zu beobachten. Ich bin in diesen Mann und dieses Auto verliebt! Allein auf meiner Terrasse lasse ich meiner Fantasie freien Lauf: Ich bin mit ihm verheiratet und schaue wie heute zu, wie sich sein Auto entfernt, bis ich es nicht mehr sehen kann, weiß aber, dass er abends von der Arbeit nach Hause kommt. Ich ziehe ihm die Schuhe aus, knie nieder und wasche ihm die Füße, wie es meine Mutter bei meinem Vater macht. Ich bringe ihm seinen Tee und betrachte ihn dabei, wie er wie ein König vor seiner Haustür thront und seine lange Pfeife raucht. Ich bin eine Frau mit einem Ehemann!
Dann dürfte ich mich auch schminken, zum Einkaufen das Haus verlassen, zu meinem Mann ins Auto steigen und sogar in die Stadt fahren. Für dieses bisschen Freiheit würde ich alles ertragen, nur damit ich, wenn ich dazu Lust habe, einfach allein aus der Tür gehen und beim Bäcker Brot kaufen darf!
Und ich würde nie eine charmuta werden. Ich würde keinen anderen Mann ansehen; wie zuvor würde ich zwar schnell gehen, aber aufrecht und stolz, nicht mehr den Blick auf den Boden heften, und keiner im Dorf würde Schlechtes über mich sagen können, weil ich dann ja verheiratet bin.
Dort oben auf dieser Terrasse hat meine schreckliche Geschichte begonnen. Ich war bereits älter als meine ältere Schwester bei ihrer Hochzeit und hoffte voller Verzweiflung.
Ich muss etwa achtzehn gewesen sein oder etwas älter, ich weiß es nicht.
Mein Gedächtnis ging in Rauch auf, als das Feuer über mich kam.
Ich kam in einem winzigen Dorf zur Welt. Man hat mir gesagt, es liege irgendwo in Jordanien, später hieß es Transjordanien, dann Westjordanland, doch da ich nie zur Schule gegangen bin, weiß ich nichts über die Geschichte meines Landes. Außerdem sagte man mir auch, dass ich dort 1958 oder 1957 geboren wurde ... Ich dürfte also heute ungefähr fünfundvierzig Jahre alt sein. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich nur Arabisch gesprochen und hatte mich nie mehr als wenige Kilometer von meinem Dorf entfernt. Ich wusste, dass es irgendwo weit weg Städte gab, hatte sie aber nicht gesehen. Ob die Erde rund oder flach ist, wusste ich nicht, ich hatte überhaupt keine Vorstellung von der Welt! Ich wusste, dass man die Juden verabscheuen muss, weil sie uns unser Land weggenommen hatten. Mein Vater nannte sie »Schweine«. Man durfte ihnen nicht zu nahe kommen, weder mit ihnen sprechen noch sie berühren, sonst wurde man selbst ein Schwein wie sie. Mindestens zweimal am Tag musste ich mein Gebet verrichten; wie meine Mutter und meine Schwestern sagte ich die Gebete auf, habe aber erst viele Jahre später in Europa den Koran kennen gelernt. Mein einziger Bruder, der König des Hauses, durfte zur Schule gehen, die Mädchen nicht. Bei uns ist es ein Fluch, als Mädchen zur Welt zu kommen. Eine Ehefrau muss unbedingt einen Sohn gebären, mindestens einen, und wenn sie nur Mädchen bekommt, macht sie sich zum Gespött der Leute. Für die Arbeit im Haus, auf den Feldern und im Stall braucht man höchstens zwei oder drei Mädchen. Wenn mehr Töchter zur Welt kommen, ist das ein großes Unglück, und man muss zusehen, wie man sie möglichst schnell los wird. Wie das geht, musste ich sehr früh erfahren. So habe ich etwa siebzehn Jahre gelebt und wusste nur, dass ich weniger galt als ein Tier, weil ich ein Mädchen war.
Das war mein erstes Leben, das Leben einer arabischen Frau im Westjordanland. Es dauerte zwanzig Jahre, und ich bin dort gestorben. Dort gelte ich als tot.
Mein zweites Leben beginnt Ende der siebziger Jahre auf einem internationalen Flughafen in Europa. Ich bin ein Häufchen Elend auf einer Trage und verbreite dermaßen den Geruch nach Tod, dass sich die Passagiere über meine Anwesenheit beschweren. Obwohl hinter einem Vorhang versteckt, war ihnen meine bloße Gegenwart unerträglich. Man hat mir zwar gesagt, dass ich überleben werde, aber ich weiß genau, dass das nicht stimmt, und warte auf den Tod. Ich flehe ihn sogar an, mich zu holen. Der Tod ist immer noch besser als meine Schmerzen und die Erniedrigung. Von meinem Körper ist nichts mehr übrig, warum will man mich dann am Leben halten, wenn ich doch nicht mehr existieren will, weder körperlich noch geistig?
Daran muss ich immer wieder denken. Ich wäre tatsächlich lieber gestorben, als dieses zweite Leben zu riskieren, das mir so großzügig angeboten wurde. Doch dass ich überlebt habe, bedeutet in meinem Fall ein Wunder. Dadurch bin ich jetzt in der Lage, im Namen all jener Zeugnis abzulegen, die dieses Glück nicht hatten und die auch heute noch aus einem einzigen Grund sterben müssen: Weil sie Frauen sind.
Ich habe Französisch gelernt, indem ich den Menschen zuhörte und mich zwang, die Worte zu wiederholen, die man mir mit Hilfe der Zeichensprache erklärte: »Schlecht? Gut? Essen? Trinken? Schlafen? Gehen?« Ich antwortete darauf mit Zeichen: »ja« oder »nein«.
Erst viel später lernte ich lesen, indem ich geduldig und Tag für Tag Wörter aus Zeitungen entzifferte. Zunächst gelang mir das nur mit kleinen Texten oder kurzen Sätzen aus wenigen Wörtern, Todesanzeigen zum Beispiel, deren Klang ich nachsprach. Manchmal kam ich mir vor wie ein Tier, dem man beibringen wollte, sich wie ein menschliches Wesen zu verständigen. Dabei drehte sich in meinem Kopf auf Arabisch alles um die Fragen, wo ich eigentlich war, in welchem Land, und warum ich nicht in meinem Dorf gestorben war. Ich schämte mich dafür, noch am Leben zu sein, was niemand wusste. Und ich hatte Angst vor diesem Leben, was keiner verstand.
Ich muss all das sagen, bevor ich versuche, die einzelnen Bruchstücke meiner Erinnerung zusammenzufügen. Denn ich will, dass meine Worte zu einem Buch werden.
Mein Gedächtnis besteht aus lauter Lücken. Der erste Teil meines Lebens setzt sich aus Bildern, fremden und gewalttätigen Szenen zusammen – wie ein Film. Manchmal traue ich ihnen selbst nicht, noch dazu weil ich große Mühe habe, sie zu ordnen. Ist es denn wirklich möglich, dass man den Namen einer seiner Schwestern vergisst? Wie alt der eigene Bruder war, als er geheiratet hat? Während ich anderes nicht vergessen habe: die Ziegen, die Schafe und die Kühe, den Backofen für das Brot, den Waschtrog im Garten, die Ernte von Blumenkohl und Tomaten, Zucchini und Feigen, den Stall und die Küche, die Getreidesäcke und die Schlangen. Die Terrasse, von der aus ich meinen Geliebten abpasste. Das Weizenfeld, auf dem ich mich »versündigt« habe.
An meine ersten Lebensjahre kann ich mich nur schlecht erinnern. Manchmal fällt mir eine Farbe oder ein Gegenstand ins Auge, und plötzlich tauchen in meiner Erinnerung Bilder oder Personen, Schreie oder Gesichter auf, die ineinander verschwimmen. Stellt man mir Fragen, entsteht in meinem Kopf oft eine völlige Leere. Verzweifelt suche ich dann nach der Antwort, kann sie aber nicht finden. Oder ein anderes Bild erscheint auf einmal, und ich verstehe den Zusammenhang nicht. Doch diese Bilder haben sich in mein Gedächtnis gegraben, und ich werde sie nie vergessen. Man kann seinen eigenen Tod nicht vergessen.
Ich heiße Souad und bin ein Kind aus dem Westjordanland. Ich hüte mit meiner Schwester Schafe und Ziegen, weil mein Vater eine Herde besitzt, und ich muss härter arbeiten als ein Esel.
Mit acht oder neun Jahren musste ich anfangen zu arbeiten, mit zehn hatte ich meine erste Regelblutung. Bei uns heißt es, dass ein Mädchen dann »reif« ist. Ich schämte mich für dieses Blut, das man verbergen musste, sogar vor den Blicken der eigenen Mutter. Ich musste heimlich meinen saroual waschen, bis er wieder weiß war, und ihn schnell in der Sonne trocknen, damit kein Mann und kein Nachbar etwas bemerken konnte. Ich besaß nur zwei saroual. Ich kann mich noch an das Papier erinnern, das man an diesen schlechten Tagen benützte, an denen man wie eine Aussätzige behandelt wurde. Diesen Beweis meiner Unreinheit vergrub ich immer schleunigst und heimlich im Müll. Gegen das Bauchweh kochte meine Mutter einen Tee aus Salbeiblättern, den sie mir zu trinken gab. Dann wickelte sie meinen Kopf fest in ein Tuch, und am nächsten Morgen hatte ich keine Schmerzen mehr. Das ist die einzige Medizin, an die ich mich erinnern kann. Ich verwende sie heute noch, weil sie sehr wirksam ist.
Früh am Morgen gehe ich in den Stall, pfeife durch die Finger, damit die Schafe zu mir kommen, und mache mich mit meiner Schwester Kaïnat, die etwa ein Jahr älter ist als ich, auf den Weg. Mädchen dürfen das Haus nicht allein oder in Begleitung einer sehr viel jüngeren Schwester verlassen. Die Ältere dient zum Schutz der Jüngeren. Meine Schwester Kaïnat ist nett, rundlich, ein bisschen dick, während ich klein und mager bin. Wir haben uns immer gut verstanden.
Zu zweit gingen wir mit den Schafen und Ziegen auf die Weide, die etwa eine Viertelstunde vom Dorf entfernt lag. Wir gingen schnell und ohne aufzusehen, bis wir das letzte Haus hinter uns gelassen hatten. Erst wenn wir auf die Weide kamen, fühlten wir uns frei genug für ein paar alberne Wortwechsel und lachten sogar gelegentlich ein bisschen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir lange Gespräche geführt hätten. Alles drehte sich um den Käse, den wir zu essen dabei hatten, den Genuss einer Wassermelone, das Hüten der Schafe und besonders der Ziegen, die imstande waren, sämtliche Blätter eines Feigenbaumes innerhalb weniger Minuten aufzufressen. Wenn sich die Schafe zum Schlafen im Kreis versammelten, legten wir uns ebenfalls zum Schlafen in den Schatten – wobei wir in Kauf nahmen, dass sich vielleicht eines unserer Tiere aufs Nachbarfeld verirrte und wir abends für die Folgen bezahlen mussten. Wenn das Tier dann einen Gemüsegarten geplündert hatte oder wir einige Minuten zu spät in den Stall zurückkamen, gab es eine Tracht Prügel mit dem Gürtel.
Ich finde, unser Dorf ist sehr schön grün. Es gibt bei uns viele Feigenbäume, Weinstöcke, Obst-, Zitronen- und große Olivenbäume. Meinem Vater gehört die Hälfte des gesamten Ackerlands von unserem Dorf ... Er ist nicht besonders reich, aber wohlhabend. Sein Haus ist groß, aus Steinen gebaut, und steht hinter einer Mauer mit einem schweren, grauen Eisentor. Dieses Tor ist Symbol unserer Gefangenschaft. Sobald wir den Hof betreten haben, schließt es sich hinter uns und lässt uns nicht wieder hinaus. Man kann also durch dieses Tor eintreten, wenn man von draußen kommt, aber es führt kein Weg zurück. Gibt es einen Schlüssel oder irgendeinen Mechanismus? Ich weiß nur noch, dass mein Vater und meine Mutter durch dieses Tor nach draußen gingen, wir jedoch nicht. Mein Bruder allerdings schon, er ist frei. Er ist frei wie der Wind: Er geht ins Kino, geht durch dieses Tor ein und aus, macht, was er will. Ich habe diese verfluchte Eisentür oft angestarrt und mir gesagt: »Nie darf ich dort hinaus, niemals ...«
Das Dorf kenne ich nicht sehr gut, weil man dort nicht herumlaufen darf. Wenn ich die Augen schließe und mich sehr konzentriere, erinnere ich mich an verschiedene Einzelheiten, die ich einmal gesehen habe. Da ist mein Elternhaus und etwas weiter weg, auf der gleichen Straßenseite, das Haus der reichen Leute, wie ich es nenne. Und gegenüber das Haus meines Geliebten. Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, ich kann es von unserer Terrasse aus sehen. Von hier erkenne ich auch noch ein paar andere, verstreut liegende Häuser, aber ich weiß nicht, wie viele es sind, bestimmt nur wenige. Alle sind von Mäuerchen oder eisernen Zäunen umgeben, und jedes hat so einen Gemüsegarten wie wir. Ich habe nie das ganze Dorf gesehen. Ich verlasse das Haus nur, um mit meinen Eltern zum Markt zu fahren oder mit meiner Schwester rauszugehen, um die Schafe zu hüten – das ist alles.
Bis ich siebzehn oder achtzehn war, habe ich nichts anderes gesehen. Nicht ein einziges Mal habe ich den Dorfladen betreten, der nicht weit von unserem Haus entfernt war. Aber wenn ich mit meinem Vater auf unserem kleinen Eselskarren zum Markt fuhr, kamen wir dort vorbei, und jedes Mal stand der Kaufmann in seiner Tür und rauchte eine Zigarette. Zwei kleine Treppen führen in den Laden: Über die rechte gehen die Leute, die Zigaretten, Zeitungen und Getränke kaufen wollen, also ausschließlich Männer; über die linke gelangt man in den Teil des Ladens, in dem es Obst und Gemüse gibt.
Auf dieser Straßenseite gibt es noch ein anderes Haus, in dem eine verheiratete Frau mit vier Kindern lebt. Sie darf ihr Haus verlassen. Und sie darf den Laden betreten – ich sehe, wie sie mit ihren durchsichtigen Plastiktüten auf der Treppe zum Gemüseladen steht.
Der Garten um unser Haus war sehr groß. Wir pflanzten dort Zucchini, Kürbisse, Blumenkohl und Tomaten, alle möglichen Gemüsesorten an. Der Garten grenzte an den des Nachbarhauses, und beide waren nur durch eine niedrige Mauer getrennt, über die man leicht hätte klettern können. Aber das machte keiner von uns. Für uns war es normal, eingesperrt zu sein. Keinem Mädchen kam es in den Sinn, diese symbolische Grenze zu überwinden. Wohin hätte man auch gehen sollen? Wenn man als Mädchen ins Dorf, auf die Straße gegangen wäre, wäre man sehr schnell entdeckt worden und hätte damit das Ansehen und die Ehre seiner Familie ruiniert.
In diesem Garten wusch ich auch die Wäsche. In einer Ecke gab es einen Brunnen, und ich musste das Waschwasser in einer Schüssel über einem Holzfeuer erhitzen. Ich holte Reisig aus dem Schuppen und zerbrach es über dem Knie. Es dauerte lange, bis das Wasser heiß war, sehr lange. Aber während ich darauf wartete, erledigte ich andere Arbeiten, ich fegte, schrubbte den Boden und kümmerte mich um den Gemüsegarten. Wenn es so weit war, wusch ich die Wäsche mit der Hand und hängte sie zum Trocknen auf der Terrasse in die Sonne.
Unser Haus war modern und sehr bequem eingerichtet, aber wir hatten im Bad und in der Küche kein warmes Wasser. Das Wasser musste im Freien erhitzt und dann ins Haus gebracht werden. Erst später ließ mein Vater eine Warmwasser-Heizung und eine Badewanne mit Dusche einbauen. Alle Mädchen mussten zum Waschen dasselbe Wasser verwenden, nur mein Bruder hatte ein Recht auf sein eigenes Badewasser – und natürlich mein Vater.
Ich schlief zusammen mit meinen Schwestern auf dem Boden auf einem Schaffell. Wenn es sehr heiß war, schliefen wir auf einer Terrasse, in Reih und Glied unter freiem Himmel. In einer Ecke lagen die Mädchen nebeneinander, auf der anderen Seite die Eltern und mein Bruder.
Der Arbeitstag begann sehr früh. Um vier Uhr morgens, wenn die Sonne aufging, manchmal auch früher, standen mein Vater und meine Mutter auf. Zur Zeit der Getreideernte nahmen wir uns Essen mit und arbeiteten alle zusammen, mein Vater, meine Mutter, meine Schwestern und ich. Zum Ernten der Feigen brach man ebenfalls zeitig auf. Man musste sie einzeln einsammeln, wobei man keine einzige übersehen durfte, und in Kisten packen, die mein Vater dann auf den Markt brachte. Mit dem Esel brauchte man eine gute halbe Stunde, dann gelangte man in eine kleine Stadt, eine sehr kleine Stadt, deren Namen ich vergessen habe, wenn ich ihn überhaupt je kannte ... Die Hälfte des Markts am Eingang der Stadt war für ortsansässige Händler reserviert, die dort ihre eigenen Erzeugnisse feilboten. Für Kleidung musste man mit dem Bus in eine größere Stadt fahren. Aber wir Mädchen gelangten nie dorthin. Meine Mutter fuhr mit meinem Vater in die Stadt. So war das nun einmal: Sie geht mit meinem Vater einkaufen, sie gibt den Mädchen ein Kleid. Ob es einem gefällt oder nicht, man muss es anziehen. Weder meine Schwestern noch ich und nicht einmal meine Mutter hatten da irgendetwas zu sagen. Es gab nur dieses oder keines.
Wir trugen lange Kleider mit kurzen Ärmeln, die meistens grau, manchmal weiß und in seltenen Fällen schwarz waren, aus einer Art Baumwolle, einem ziemlich dicken Stoff, der auf der Haut kratzte. Sie hatten einen hohen, geschlossenen Kragen. Je nach Jahreszeit mussten wir zusätzlich noch ein Hemd oder eine Weste mit langen Ärmeln anziehen. Oft war uns so heiß, dass wir glaubten zu ersticken, aber die Ärmel waren obligatorisch. Ein Stück Arm oder Bein zu zeigen oder, schlimmer noch, etwas Dekolleté, war schamlos. Dafür liefen wir immer barfuß herum, höchstens einige verheiratete Frauen trugen Schuhe, wir nie.
Unter diesem langen, bis zum Hals zugeknöpften Kleid trug ich einen saroual, das ist eine graue oder weiße Pluderhose, und darunter dann noch einen großen Schlüpfer, der einem bis zum Bauch ging. Meine Schwestern waren alle genauso angezogen.
Meine Mutter war meistens schwarz gekleidet. Mein Vater trug einen saroual, ein langes Hemd und auf dem Kopf das rotweiße Palästinensertuch.
Mein Vater! Ich sehe ihn vor mir, wie er auf dem Boden vor seinem Haus sitzt, unter einem Baum, den Stock neben sich. Er ist klein, seine Haut ist sehr hell und hat rote Flecken, er hat einen runden Kopf und böse blaue Augen. Einmal ist er vom Pferd gefallen und hat sich das Bein gebrochen. Wir Mädchen waren sehr zufrieden, weil er nicht mehr so schnell hinter uns herlaufen konnte, um uns mit seinem Gürtel zu schlagen. Wäre er bei dem Unfall gestorben, wären wir noch glücklicher gewesen.
Ich sehe ihn ganz deutlich, diesen Vater. Ihn werde ich nie vergessen können, er haftet wie eine Fotografie in meinem Gedächtnis. Er sitzt vor seinem Haus, als throne ein König vor seinem Palast, mit seinem rotweißen Kopftuch, das den kahlen roten Schädel verbirgt, er trägt seinen Gürtel, und der Stock liegt auf seinem übergeschlagenen Bein. Ich sehe ihn ganz deutlich, da ist er, klein und böse, er nimmt seinen Gürtel und schreit: »Warum sind die Schafe allein zurückgekommen?!«
Er packt mich an den Haaren und zerrt mich über den Boden in die Küche. Er schlägt zu, während ich auf den Knien liege, er zieht an meinen Haaren, als wollte er sie mir ausreißen, und dann schneidet er sie mir mit der großen Schafschere ab. Ich habe keine Haare mehr. Egal ob ich weine, schreie oder flehe, ich bekomme nur noch mehr Fußtritte. Es ist meine Schuld.
Weil es sehr heiß war, waren meine Schwester und ich eingeschlafen, und ich hatte die Schafe laufen lassen. Manchmal schlug er uns so fest mit seinem Stock, dass ich vor lauter Schmerzen überhaupt nicht mehr liegen konnte, weder auf der rechten, noch auf der linken Seite. Mit dem Gürtel oder dem Stock, ich glaube, wir wurden jeden Tag geschlagen. Ein Tag, an dem man nicht geschlagen wurde, war nicht normal.
Vielleicht war das der Tag, an dem er uns beide, meine Schwester Kaïnat und mich, gefesselt hat. Er band uns die Hände hinter den Rücken, die Füße zusammen und ein Tuch vor den Mund, damit wir nicht schreien konnten. So mussten wir die ganze Nacht bleiben, gefesselt an einen Pfosten im großen Stall, zusammen mit dem Vieh, aber schlechter dran als das Vieh.
So war das in diesem Dorf, es galt das Gesetz der Männer. Mit Sicherheit wurden die Mädchen und Frauen in den anderen Häusern auch täglich geschlagen. Manchmal hörte man draußen Schreie, also war es ganz normal, dass man uns schlug, dass einem die Haare abrasiert und wir an einen Pfosten im Stall gefesselt wurden. Es gab ganz einfach kein anderes Leben bei uns.
Mein Vater ist der König, der allmächtige Mann, der besitzt und entscheidet, der uns schlägt und quält. Und er sitzt ruhig vor seinem Haus und raucht seine Pfeife, während er da drin seine Frauen eingesperrt hält, die er schlechter behandelt als seine Tiere. Der Mann nimmt sich eine Frau, weil er Söhne bekommen will, und weil sie ihm wie eine Sklavin dienen muss, genau wie die Töchter, falls sie zu ihrem Unglück welche zur Welt bringt.
Wenn ich meinen Bruder ansah, den die ganze Familie so vergötterte wie ich, habe ich mich oft gefragt: »Was hat er uns voraus? Er kommt aus dem gleichen Bauch wie wir ...« Aber ich konnte keine Antwort finden. Es war einfach so. Wir mussten ihm wie meinem Vater dienen, auf den Knien und mit gesenktem Blick.
Auch das Tablett mit dem Tee, sogar das, mussten wir den Männern der Familie auf den Knien servieren, gesenkten Blicks und schweigend. Wir hatten nicht zu reden. Wir durften nur Antwort geben. Mittags gibt es süßen Reis, Gemüse und Huhn oder Schaffleisch. Und immer Brot. Es ist immer genug zu essen da; was die Mahlzeiten anbelangt, fehlt es der Familie an nichts.
Bei uns wächst viel Obst. Wenn ich Trauben pflücken möchte, brauche ich nur auf die Terrasse zu gehen. Wir haben Orangen, Bananen und vor allem grüne und schwarze Feigen. Ich werde nie vergessen, wie sie schmecken, wenn man sie früh am Morgen pflückt. In der kühlen Nachtluft öffnen sie sich ein wenig, und ihr Saft fließt wie Honig – der vollkommene Genuss.
Die Schafe machen am meisten Arbeit. Ich muss sie aus dem Stall holen, auf die Weide bringen, hüten, wieder zusammentreiben, zurückbringen und ihre Wolle scheren, die mein Vater auf dem Markt verkauft. Dazu nehme ich das Schaf an den Hufen, lege es auf den Boden, halte es fest und schere es mit der großen Schafschere. Meine Hände sind dafür noch zu klein und tun mir bald weh.
Außerdem melke ich die Schafe. Ich hocke mich auf den Boden, klemme ihre Füße zwischen meine Beine und gelange so an ihre Milch, aus der Käse gemacht wird. Manchmal lassen wir sie auch abkühlen und trinken sie so, wie sie ist, fett und nahrhaft.
Im Garten meines Vaters wächst so gut wie alles, was wir zum Essen brauchen. Und wir machen alles selbst. Mein Vater kauft nur Zucker, Salz und Tee.
Morgens koche ich Tee für uns Mädchen und bereite einen Teller mit etwas Olivenöl und Oliven vor. Auf der Glut im Brotofen koche ich in einem Kessel das Teewasser. In der Küche steht in einer Ecke ein heller Stoffsack mit dem getrockneten grünen Tee. Ich greife in den Sack, hole eine Hand voll Tee heraus, gebe ihn in die Teekanne und füge Zucker hinzu. Dann hole ich den Kessel mit dem kochenden Wasser aus dem Garten. Er ist sehr schwer, und ich kann ihn nur schlecht an den beiden Henkeln tragen. Mit gekrümmtem Rücken, um mich nicht zu verbrühen, kehre ich in die Küche zurück und gieße das Wasser in die Teekanne, gieße es ganz langsam über den Tee und den Zucker. Denn der Zucker ist kostbar und teuer. Ich weiß, dass ich geschlagen werde, wenn ich ein paar Krümel auf dem Boden verstreue. Also bin ich sehr vorsichtig. Wenn ich ungeschickt bin und etwas Zucker verschütte, darf ich ihn nicht wegfegen, sondern muss ihn einsammeln und in die Teekanne geben. Dann kommen meine Schwestern zum Frühstück, aber mein Vater, meine Mutter und mein Bruder essen nie gemeinsam mit uns. Wenn ich mich an den Anblick erinnere, wie wir morgens in der Küche auf dem Boden hocken und Tee trinken, sehe ich immer nur meine Schwestern vor mir. Ich überlege, wie alt ich damals gewesen sein muss, aber ich bin mir nicht sicher. Kann es sein, dass Noura, meine älteste Schwester, noch nicht verheiratet war?
Ich bin nicht in der Lage, die Erinnerungen chronologisch zu ordnen, ich glaube, mein Gedächtnis reicht bis ungefähr ein oder zwei Jahre vor Nouras Hochzeit zurück, an die ich mich gut erinnern kann. Also dürfte ich damals etwa fünfzehn gewesen sein.
Nach ihrer Hochzeit sind noch meine Schwester Kaïnat, die ein Jahr älter ist als ich, und eine jüngere Schwester im Haus, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Ich habe mich wirklich bemüht, mich an ihren Vornamen zu erinnern, aber er fällt mir nicht mehr ein. Wenn ich von ihr erzählen will, muss sie einen Namen haben, also nenne ich sie Hanan. Ich hoffe, sie nimmt es mir nicht übel, denn so hieß sie bestimmt nicht. Ich weiß nur noch, dass sie sich um unsere beiden Halbschwestern gekümmert hat, die mein Vater zu uns mitbrachte, nachdem er Aicha, seine zweite Frau, verlassen hatte. Ich habe diese Frau einmal gesehen und sie nicht gehasst. Es war normal, dass mein Vater sie genommen hat. Er wollte immer Söhne, aber das hat mit Aicha auch nicht besser funktioniert, die ihm nur zwei Töchter schenkte: Noch mehr Mädchen! Also ließ er sie fallen und brachte die beiden neuen kleinen Schwestern zu uns nach Hause. Das war vollkommen normal. Alles an diesem Leben war normal, die Schläge mit dem Stock und alles Übrige eingeschlossen. Ich konnte mir kein anderes Leben vorstellen. Eigentlich konnte ich mir überhaupt nichts vorstellen. Soweit ich weiß, hatte ich keine Träume, keine konkreten Ideen. Für uns gab es kein Spielzeug und keine Spiele, nur Gehorsam und Unterwerfung.
Jedenfalls leben diese beiden kleinen Mädchen jetzt bei uns. Hanan bleibt im Haus und kümmert sich um sie, da bin ich mir ganz sicher. Aber auch deren Vornamen habe ich vergessen, leider. Für mich heißen sie immer nur »die kleinen Schwestern«. Zum frühesten Zeitpunkt, an den ich mich noch erinnern kann, sind sie fünf oder sechs Jahre alt und müssen noch nicht arbeiten. Sie befinden sich unter der Obhut von Hanan, die das Haus äußerst selten verlässt, nur wenn es sein muss, also zum Beispiel zur Gemüseernte.
Bei uns werden die Kinder ungefähr im Abstand von einem Jahr geboren. Meine Mutter hat mit vierzehn geheiratet; mein Vater war wesentlich älter als sie. Sie bekam viele Kinder, insgesamt vierzehn. Davon leben noch fünf. Ich habe lange nicht begriffen, was das bedeutet, vierzehn Kinder ... Der Vater meiner Mutter sprach einmal darüber, als ich gerade den Tee servierte. Ich erinnere mich noch genau an den Wortlaut: »Ein Glück, dass du jung geheiratet hast, so konntest du vierzehn Kinder bekommen ... und einen Sohn zur Welt bringen, das ist gut!«
Auch wenn ich nicht zur Schule gehen durfte, konnte ich doch die Schafe zählen. Also konnte ich mir auch an den Fingern abzählen, dass wir nur fünf Kinder waren, die aus dem Bauch meiner Mutter stammten: Noura, Kaïnat, ich, Souad, Assad und Hanan. Wo waren die anderen? Meine Mutter hat nie gesagt, dass sie tot wären, aber so, wie sie sich dazu immer äußerte, verstand sich das von selbst: »Ich habe vierzehn Kinder, sieben davon leben.« Vorausgesetzt, sie hat die beiden Halbschwestern mitgezählt, weil wir sie nie so, sondern immer »Schwestern« genannt haben ... Tatsächlich waren wir zu siebt ... Also fehlten sieben Kinder? Angenommen, sie hat die beiden kleinen Schwestern nicht mitgerechnet, dann fehlten neun.
Eines Tages habe ich allerdings gesehen, warum wir nur sieben waren, oder fünf ...
Ich weiß nicht mehr, wie alt ich damals war, aber ich war noch nicht reif, also muss ich jünger als zehn Jahre gewesen sein. Meine älteste Schwester Noura war bei mir. Ich habe vieles vergessen, aber dies nicht: Voller Entsetzen habe ich es mit angesehen, ohne zu begreifen, dass es ein Verbrechen war.
Ich sehe meine Mutter vor mir. Sie liegt auf einem Schaffell auf dem Boden und kommt nieder. Meine Tante Salima ist bei ihr, sie sitzt auf einem Kissen. Ich höre die Schreie, die Schreie von meiner Mutter und die von dem Baby, und dann nimmt meine Mutter das Schaffell und erstickt das Baby. Sie kniet da, und ich sehe, wie sich das Kind unter der Decke bewegt, und dann ist es vorbei. Ich weiß nicht mehr, was dann passiert, das Baby ist nicht mehr da, das ist alles, und ich bin wie gelähmt vor Angst.
Das Kind, das meine Mutter nach seiner Geburt erstickte, war ein Mädchen. Ich habe ihr ein erstes Mal dabei zugesehen, dann ein zweites Mal. Ob ich ein drittes Mal miterlebt habe, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber ich habe davon gewusst. Ich höre auch noch, wie meine älteste Schwester Noura zu meiner Mutter sagt: »Wenn ich Mädchen bekomme, mache ich es wie du ...«
So also hat sich meine Mutter der fünf oder sechs Mädchen entledigt, die sie zusätzlich zu uns bekommen hat, und zwar offensichtlich nach Hanan, der letzten Überlebenden. Und all das war üblich, normal, bedeutete für keinen ein Problem. Nicht einmal für mich, das glaubte ich zumindest beim ersten Mal, wenn ich auch große Angst hatte.
Diese kleinen Mädchen, die meine Mutter tötete, waren irgendwie ein Teil von mir. Ich begann heimlich zu weinen, jedes Mal, wenn mein Vater ein Schaf oder ein Huhn schlachtete, weil ich um mein Leben fürchtete. Der Tod eines Tieres, der für meine Eltern genauso einfach und gewöhnlich war wie der Tod eines Kindes, löste bei mir die entsetzliche Vorstellung aus, ich könnte genauso problemlos und schnell von der Bildfläche verschwinden wie sie. »Eines Tages bin ich an der Reihe oder meine Schwester«, dachte ich mir. »Ob groß oder klein, macht keinen Unterschied. Weil sie uns das Leben geschenkt haben, haben sie auch das Recht, es uns jederzeit wieder zu nehmen.«
Solange man in unserem Dorf bei seinen Eltern lebt, schwebt man in ständiger Todesangst. Ich fürchtete mich davor, auf eine Leiter zu steigen, wenn mein Vater an ihrem Fuß stand. Ich hatte Angst vor der Axt, mit der das Holz gespalten wurde, Angst, Wasser aus dem Brunnen zu holen. Angst, wenn mein Vater überwachte, wie wir mit den Schafen in den Stall zurückkamen. Angst vor nächtlichem Türenschlagen, weil ich das Gefühl hatte, unter dem Schaffell erstickt zu werden, auf dem ich schlief.
Auf dem Heimweg mit den Tieren von der Weide sprachen Kaïnat und ich manchmal darüber.
»Was ist, wenn alle tot sind, wenn wir nach Hause kommen ...? Oder wenn der Vater die Mutter getötet hat? Dazu braucht es nur einen Schlag mit einem Stein! Was machen wir dann?«
»Also ich bete jedes Mal, wenn ich Wasser aus dem Brunnen hole, weil er sehr tief ist. Ich glaube, dass kein Mensch erfährt, wo ich geblieben bin, wenn man mich dort hineinwirft! Du könntest dort unten sterben, keiner würde dich holen kommen.«
Vor diesem Brunnen hatte ich am meisten Angst. Meine Mutter auch, das habe ich gespürt. Außerdem hatte ich Angst vor den Schluchten, an denen ich mit den Schafen und Ziegen vorbeimusste. Ich sah mich ständig um und bildete mir ein, mein Vater könnte sich dort irgendwo verstecken und würde mich in den Abgrund stoßen. Für ihn wäre das ein Leichtes, und erst mal dort unten angekommen, wäre ich tot. Man könnte sogar ein paar Steine über mich häufen, ich wäre begraben und würde es auch bleiben.
Der mögliche Tod unserer Mutter beschäftigte uns mehr als der einer Schwester. Schwestern gab es mehrere ... Die Mutter wurde oft genauso geschlagen wie wir. Manchmal kam sie uns zu Hilfe, wenn er zu heftig auf uns einschlug, dann verprügelte er sie, warf sie zu Boden und zog sie an den Haaren hinter sich her ... Den möglichen Tod vor Augen zu haben, war für uns Alltag, tagein, tagaus. Ein Nichts konnte ihn verursachen, vollkommen überraschend, einfach, weil es der Vater so beschlossen hatte. So wie sich meine Mutter entschied, ihre kleinen Töchter zu ersticken.
Erst war sie schwanger, dann war sie es nicht mehr, und keiner stellte Fragen. Wir hatten keinen Kontakt zu den anderen Mädchen aus dem Dorf. Nur »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«. Man traf sich nie, außer zu Hochzeiten. Und dann wurde nur über Belangloses geredet, über das Essen, die Braut oder über andere Mädchen, die man hübsch oder hässlich fand ... Oder über eine Frau, die wir darum beneideten, dass sie geschminkt war.
»Schau dir mal die an, sie hat sich die Augenbrauen gezupft ...«
»Sie hat eine hübsche Frisur.«
»Oh, sieh nur, die hat Schuhe an!« Sie war das reichste Mädchen des Dorfs und trug bestickte Babouches.
Wir gingen barfuß aufs Feld, hatten ständig Dornen in den Füßen und mussten uns auf die Erde hocken, um sie herauszuziehen. Meine Mutter besaß keine Schuhe, und meine Schwester Noura hat sogar barfuß geheiratet. Um derart wesentliche Dinge ging es in den wenigen Sätzen, die auf Hochzeiten gewechselt wurden. Ich habe auch nur bei zweien oder dreien mitgefeiert.
Undenkbar, dass sich jemand darüber beklagte, dass er geschlagen wurde, weil das ständig vorkam. Niemand fragte nach dem Verbleib eines Babys, außer wenn die Frau einen Sohn geboren hatte. Wenn dieser Sohn am Leben blieb, war das eine Ehre für sie und ihre Familie. Wenn er starb, weinte man um ihn und verfluchte sie und ihre ganze Familie. Nur die männlichen Nachkommen zählen, die weiblichen nicht.
Ich weiß allerdings nicht, was aus den kleinen Mädchen wurde, nachdem meine Mutter sie erstickt hatte. Hat man sie irgendwo begraben? Hat man sie den Hunden zum Fraß vorgeworfen ...? Meine Mutter trug dann schwarz, mein Vater auch. Jede Geburt eines Mädchens war gleichbedeutend mit einem Todesfall in der Familie. Und immer war die Mutter schuld, wenn sie nur Töchter bekam. Das dachte mein Vater, so wie jeder Mann im Dorf.
Hätten die Männer in unserem Dorf die Wahl zwischen einer Tochter und einer Kuh, würden sie die Kuh nehmen. Mein Vater gab uns immer wieder zu verstehen, dass wir zu nichts nutze waren: »Eine Kuh gibt Milch und bekommt Kälbchen. Und was macht man mit der Milch und den Kälbchen? Man verkauft sie und bringt das Geld nach Hause. Das heißt, eine Kuh ist für die Familie von Nutzen. Aber eine Tochter? Was hat die Familie von ihr? Rein gar nichts. Was bringen einem die Schafe? Ihre Wolle. Wir verkaufen die Wolle und tragen das Geld nach Hause. Das Schaf wird größer, es bekommt Lämmer, gibt mehr Milch, aus der wir Käse machen, den wir verkaufen und das Geld dafür nach Hause bringen. Eine Kuh oder ein Schaf sind viel besser als eine Tochter.«
Uns Mädchen hat er davon überzeugt. Außerdem wurden die Kühe, Schafe und Ziegen viel besser behandelt als wir. Sie wurden nie geschlagen, die Kuh oder das Schaf!