Das Blutgericht von Köln - Ingo Gach - E-Book + Hörbuch

Das Blutgericht von Köln E-Book und Hörbuch

Ingo Gach

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Beschreibung

Nominiert für den Literaturpreis Goldener HOMER 2024 – ein brillant recherchierter historischer Krimi, der tief in die Abgründe der Ränkespiele um Macht und Einfluss blickt. Köln, 1193: Der junge Ritter Seyfrid von Viskenich hat nach dem Kreuzzug dem Töten abgeschworen und lässt sich in Italien als Medicus ausbilden. Doch als sein Vater in Köln wegen Mordes hingerichtet wird, kehrt er in seine Heimat zurück und sucht unter falschem Namen nach den wahren Tätern. Nur Rebecca, die ebenso schöne wie kluge Händlerstochter, steht ihm zur Seite. Gemeinsam kämpfen sie gegen Intrigen und Verrat – und geraten selbst in den Fokus der Mörder.

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Seitenzahl: 651

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Zeit:13 Std. 38 min

Sprecher:Sebastian Seidel
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Ingo Gach ist Journalist aus Köln. Er war als Redakteur für den Print und beim Fernsehen tätig, bevor er freier Journalist wurde. Gach hatte immer großes Interesse an Geschichte, besonders an der seiner Heimatstadt. So hat er bereits zwei historische Romane veröffentlicht, die zur Römerzeit in Colonia spielen. Ein weiterer Krimi aus der Eifel folgte. »Das Blutgericht von Köln« ist sein erster Mittelalter-Krimi.

Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, andere nicht. Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Im Anhang befindet sich ein Glossar.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli, unter Verwendung eines Motivs von istockphoto.com/duncan1890

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-077-8

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Für Robin

Die Menschen können dir alles nehmen, nur nicht deinen Stolz. Den kannst du dir nur selbst nehmen.

PROLOG

Er fühlte immer noch die Wut in sich kochen. Was bildete sich dieser Johann von Viskenich überhaupt ein? Dieser verarmte Adlige, der auf seiner zugigen Burg vor den Toren Kölns hauste und sich in der Stadt wichtigmachte!

Gottfried Hackenbroich knallte die Tür seines Hauses in der Holzgasse hinter sich zu und warf den Mantel achtlos auf den Boden der Stube. Es war schon nach Mitternacht, seine Frau und das Gesinde schliefen bereits. Der Salzhändler stolperte fast über seine eigenen Füße, vielleicht hatte er bei Fursach doch einen Becher Wein zu viel getrunken. Den Streit hatte er aber bei vollem Verstand ausgetragen und würde ihn auch nicht so schnell vergessen.

Das sollte ihm von Viskenich noch büßen! Er würde das Schöffengericht anrufen, und dann würde er es ihm schon zeigen. Der Kerl sollte für seine Unverschämtheit bezahlen und im Frankenturm verrotten. Was zählte in Köln schon ein Adelstitel gegen all sein Geld?

Hackenbroichs Kinn schmerzte heftig. Von Viskenichs harter Fausthieb hatte genau gesessen. Doch noch mehr als die Schmerzen ärgerte ihn die Schmach, vor allen Anwesenden ohnmächtig zu Boden gesunken zu sein.

Dabei hatte der Abend so angenehm angefangen. Berthold Fursachs Einladung zum Bankett hatte ihn sogar außerordentlich erfreut. Die Feste des Goldschmuckhändlers galten als überaus opulent, und es war alles da, was in Köln Rang und Namen hatte, einschließlich der beiden Bürgermeister. Dass jedoch dieser von Viskenich ebenfalls auf der Gästeliste stand, hatte Hackenbroich überrascht und zugegebenermaßen nervös gemacht, denn der Ritter war nicht gut auf ihn zu sprechen, hatte aber trotz ihres Zwists zunächst die Regeln der Höflichkeit eingehalten.

Der verlockende Duft von gebratenem Lamm und Schwein war Hackenbroich in die Nase gestiegen, und normalerweise hätte er sich auf die Köstlichkeiten gestürzt, doch diesmal war ihm schlagartig der Appetit vergangen, als Johann von Viskenich ihm einen vernichtenden Blick zugeworfen hatte.

Es war schließlich nur recht und billig, wenn er sein verliehenes Geld früher als ursprünglich vereinbart zurückforderte, redete Hackenbroich sich ein. Was konnte er dafür, dass von Viskenich mit der Bestellung seines Landes nicht genügend erwirtschaftete? Der Ritter sollte für seine Generosität dankbar sein. Die Klausel im Vertrag, dass Hackenbroich berechtigt war, die geliehene Summe von zwei Silbermark vor Ablauf der Frist zurückzufordern, mochte vielleicht im Wortlaut raffiniert getarnt sein, aber von Viskenich hatte unterzeichnet und war nun daran gebunden.

Niemand konnte Hackenbroich nachweisen, dass seine Behauptung, er habe eine große Lieferung kostbaren Salzes durch ein Unwetter auf hoher See verloren und bräuchte nun dringend Geld, eine Lüge war. Er hatte bereits ausgerechnet, was die Ländereien des Johann von Viskenich wert sein mochten.

Von Viskenich hatte sich natürlich über die Forderung empört und zornig erklärt, er werde sich nicht von ihm in den Ruin treiben lassen. Aber was sollte der verarmte Ritter schon dagegen unternehmen? Etwa vor das Schöffengericht ziehen? Dort saßen Mitglieder der Richerzeche, und Hackenbroich konnte sich darauf verlassen, dass seine Mitbrüder ein Urteil zu seinen Gunsten fällen würden. Es war ein ewiges Geben und Nehmen unter ihnen, und die anderen konnten es sich gar nicht erlauben, ihn, den reichsten Salzhändler der Stadt, im Stich zu lassen, schließlich wollten alle weiterhin von ihm beliefert werden. Es kam zwar durchaus zu Konflikten innerhalb der Bruderschaft, aber gegenüber Angriffen von außerhalb unterstützten sie sich stets gegenseitig, um ihre Pfründe zu verteidigen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Brüder der Richerzeche zusammenhielten.

Trotzdem war Hackenbroich auf dem Bankett unbehaglich zumute gewesen, als er mit von Viskenich im selben Raum saß, und das nur drei Stühle entfernt. Das Essen war erwartungsgemäß köstlich, Fursach hatte einen ganzen gebratenen Ochsen und alle erdenklichen Gaumenfreuden auffahren lassen. Dazu hatte ein Minnesänger die Laute gespielt und ein paar selbst verfasste Verse gesungen, die fürchterlich schlecht waren, aber Hackenbroich war dafür unempfänglich gewesen. Unauffällig hatte er immer wieder zu von Viskenich hinübergespäht und vor lauter Unruhe reichlich dem guten Wein zugesprochen, den der Gastgeber voller Stolz als edlen Tropfen von der Mosel angepriesen hatte. Er hatte tatsächlich vorzüglich gemundet, und als zu später Stunde das Gespräch auf Geldgeschäfte gekommen war, waren schon sehr viele Becher geleert worden. Dann hatte sich die Lage plötzlich ins Bedrohliche gewendet. Musste Jacob Hoengen den Ritter von Viskenich denn auch unbedingt auf seine Schulden ansprechen, ärgerte sich Hackenbroich noch jetzt über den Glashändler.

Zunächst hatte Johann von Viskenich sich verschlossen gegeben und die Nachfrage mit einer deftigen Bemerkung brüsk zurückgewiesen. Gut, er selbst hätte daraufhin nicht so böse lachen sollen, musste Hackenbroich sich eingestehen und schrieb sein Verhalten dem Wein zu. Da war von Viskenich zornig geworden und hatte die Stimme erhoben: »Nimm dich in Acht! Wer wortbrüchig ist und dazu noch ein Wucherer, dem sollte das Lachen im Halse stecken bleiben!«

Es war zu einem hitzigen Disput gekommen, bei dem sie sich gegenseitig des Betrugs bezichtigten. Im Saal waren rasch alle Gespräche verstummt, niemand wollte sich das Spektakel entgehen lassen. Nur Fursach versuchte, sein Fest zu retten, und bat die beiden Kontrahenten, sich zu beruhigen. Die aber dachten gar nicht daran und standen sich schließlich nur zwei Schritte voneinander entfernt wütend gegenüber.

Vom Wein beseelt und in der Gewissheit, die Richerzeche hinter sich zu haben, hatte Hackenbroich sich überlegen gefühlt und seinen Gegner verspottet: »Was für ein armseliger Ritter, der noch nicht einmal mehr sein Essen selbst bezahlen kann!«

Von Viskenichs Faust war so schnell hervorgeschossen, dass Hackenbroich dem Schlag nicht mehr ausweichen konnte. Er verspürte einen heftigen Schmerz, dann wurde es dunkel um ihn. Als er wieder zu sich kam, hatte er von Viskenich nirgendwo mehr entdecken können.

Fursachs Gattin hatte ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn gelegt. »Geht es dir wieder besser?«, fragte sie besorgt.

Um ihn standen die anderen Festgäste. Einige blickten ernst, andere eher erheitert. Er hatte sich stöhnend und peinlich berührt erhoben. »Es geht mir bestens!«, hatte er ungehalten gefaucht und das nasse Tuch von sich geschleudert.

Daraufhin hatte sich die Menge zerstreut und wieder der Tafel zugewandt, während Fursach eifrig umhersprang und die Diener antrieb, für mehr Wein zu sorgen. Und der faule Minnesänger solle endlich wieder Musik machen.

»Du bist umgefallen wie ein Sack Mehl«, hatte Heinrich Kleingedank belustigt erzählt.

Hackenbroich konnte darüber gar nicht lachen. »Wo ist der Halunke hin?«

»Wenn du den edlen Ritter von Viskenich meinst, der wurde von Fursach des Hauses verwiesen«, beruhigte ihn Hoengen. »Keine Angst, du kannst unbehelligt weitertrinken.«

Das hatte Hackenbroich dann auch getan, um seine Wut zu ertränken, und war schließlich nach Hause gewankt.

Als er nun von der Stube aus die Treppe hinaufgehen wollte, klopfte es an seiner Haustür, und er fuhr heftig zusammen. Wer begehrte zu so später Stunde noch Einlass? Sein schlafendes Gesinde in der kleinen Kammer hinter dem Haus würde das Klopfen nicht hören. Immer wenn man das faule Pack brauchte, war es nicht da.

Hackenbroich ging zur Tür. »Wer ist da?«, fragte er ungehalten.

Doch statt einer Antwort schlug erneut jemand gegen das Holz. Was für eine Unverschämtheit! Hackenbroichs ohnehin schon denkbar schlechte Laune wurde weiter angestachelt. Egal, wer es war, er würde demjenigen eine geharnischte Abfuhr erteilen.

Mit einem Ruck schob Hackenbroich den Riegel beiseite und riss die Tür auf. »Wer zum Donnerwetter erdreistet sich …?« Er hielt in der Bewegung inne. »Du? Was willst du hier? Reicht es nicht, dass –«

Weiter kam er nicht. Hackenbroich sah eine Klinge aufblitzen und machte einen Satz zurück in die Stube. In einem verzweifelten Abwehrversuch riss er die Arme hoch und wich noch weiter zurück. Doch im selben Moment fühlte er einen glühenden Stich in seiner Brust, der rasend schnell seinen Körper mit Schmerzen überflutete.

Unfähig, auch nur einen Schrei auszustoßen, taumelte der Salzhändler rückwärts, dann sackten ihm die Knie weg. Er stürzte kraftlos zu Boden, seine Hände packten das kalte Eisen, doch seine Kräfte schwanden schnell. Er vermochte nicht mehr, die Klinge aus seinem Leib zu ziehen. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, und sein brechendes Auge erblickte gerade noch die Inschrift auf der Parierstange des Schwerts: »VISKENICH«.

7. OKTOBER 1193

Das Licht der Abendsonne tauchte die Dächer von Salerno in ein warmes Rot. Ein leichter Geruch von Lavendel wehte von den Bergen herab. Seyfrid liebte diesen Moment des Tages, kurz bevor der glühende Ball im Meer versank. Alles erschien friedlich, selbst seine inneren Qualen gerieten für kurze Zeit in Vergessenheit. Über den Hängen schwebte der Hauch des Friedens, wie er ihn seit seiner Kindheit nur selten erlebt hatte.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus seinem Tagtraum. »Bist du in Gedanken schon in deiner Heimat, Seyfrid?«

Um Roger Frugardis Mund spielte ein Lächeln, doch wusste Seyfrid, dass er seinem Lehrer Kummer bereitete, und strich sich verlegen eine Locke aus der Stirn. Unter der Sonne Italiens waren seine einst dunklen Haare deutlich heller geworden, ein Umstand, der die anderen Schüler stets erheiterte. »Verzeih, Meister, ich habe dich nicht kommen hören.«

»Gibt es nichts, was dich hier halten könnte?«, fragte Frugardi, und diesmal konnte er seine Traurigkeit kaum verhehlen. »Du könntest eines Tages meinen Platz einnehmen. Kaum zu glauben, dass du erst vor zwei Jahren an die Tür unserer Medizinschule geklopft und um Aufnahme gebeten hast.«

Beschämt senkte Seyfrid den Kopf. »Ich bin dir unendlich dankbar für alles, was du mir beigebracht hast, und deine Großzügigkeit werde ich dir im Leben nie vergelten können, Meister Roger. Dennoch steht mein Entschluss fest: Ich muss nach Hause. Du kennst den Grund, und ich hoffe sehr, dass du mich verstehst und mir verzeihen kannst.«

Der Magister Medicus trat einen Schritt vor und sah nun seinerseits schweigend über die rot leuchtende Silhouette Salernos. Schließlich wandte er sich dem jungen Mann wieder zu, in den er so viel Hoffnung gelegt hatte.

»Seyfrid, ich verstehe, warum du nach Köln zurückkehren willst. Der Grund ehrt dich, und vielleicht musst du es um deines Seelenfriedens willen tun. Aber wie oft haben wir über die Erkenntnisse der alten Philosophen diskutiert? Sollte die Vernunft nicht über das Gefühl siegen? Wenn ich daran denke, welch hohe Ziele du hier noch erreichen und wie vielen Menschen du helfen könntest!«

Es war Seyfrid wie ein Traum vorgekommen, als er damals an der Scola Medica von Salerno aufgenommen worden war. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass man ihn, den Deutschen aus niederem Adel, ohne Empfehlung und ohne Geld, an der berühmtesten Schule für Medizin akzeptieren würde. Noch dazu war sein Lehrmeister der große Roger Frugardi, der das Buch »Practica chirurgiae« verfasst und damit die Chirurgie in eine neue Sphäre des Wissens gehoben hatte. Seyfrid hatte seitdem jeden Tag aus Dankbarkeit zu Gott gebetet, weil er ihm diese Gnade erwiesen hatte.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum du ausgerechnet mich als deinen hoffnungsvollsten Schüler betrachtest, der einmal in deine Fußstapfen treten soll. Es gibt so viele kluge und fleißige Männer und Frauen aus der ganzen Welt in unserer Schule, wären einige davon nicht viel eher geeignet?«

Wieder huschte dieser kurze Anflug von Amüsiertheit über das Gesicht des Gelehrten, bei dem Seyfrid nie sagen konnte, ob sie ehrliche Belustigung oder beißenden Spott bedeutete.

»Mein Junge, noch nie habe ich jemanden gesehen, der so voller Wissbegierde und bei so hellem Verstand ist. Du hast schon aus dem Morgenland einen Reichtum an Wissen über die Medizin mitgebracht, der sogar mich überrascht hat.« Er zog die buschigen weißen Augenbrauen zusammen. »Es ist das erste Mal, seit ich Magister Medicus der Scola Medica Salernitana geworden bin, dass ich von einem Schüler gelernt habe.« Er hob mahnend den Zeigefinger. »Es sollte doch wohl umgekehrt sein, und genau deshalb glaube ich, dass dein Platz hier ist.«

Die Rufe von den Straßen Salernos weit unterhalb drangen mit einem kurzen Windstoß zu ihnen herauf. Roger Frugardi seufzte und hob in einer verzweifelten Geste die Arme. »Aber es hat wohl keinen Zweck, weiter in dich zu dringen. Ihr Deutschen seid immer so entsetzlich stur.«

In Wahrheit hatte sich Seyfrid die Entscheidung nicht leicht gemacht und nächtelang darüber gegrübelt. Als er vor einem Monat die schreckliche Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten hatte, war er am Boden zerstört gewesen. Natürlich hatte Frugardi sofort bemerkt, dass sein Musterschüler mit sich rang, ob er bleiben oder in seine Heimat zurückkehren sollte, und ihn aufgefordert, weiter in die Zukunft zu denken.

Als Seyfrid nach einer Woche um ein Gespräch nachsuchte und seine innere Zerrissenheit darlegte, hatte der berühmte Arzt ihm ruhig zugehört und seinen Schüler dann eine Weile schweigend gemustert.

»Seyfrid, die Entscheidung, deine Studien hier weiterzuführen und ein großer Medicus zu werden oder nach Köln zurückzukehren und dort zu versuchen, die Ehre deiner Familie wiederherzustellen, liegt allein bei dir«, hatte er schließlich gesagt.

Heute war Seyfrid davon überzeugt, dass der brillante Geist Roger Frugardis schon in dem Augenblick gewusst hatte, welche Wahl er treffen würde. Vielleicht, weil Frugardi ihn besser verstand als der junge Schüler sich selbst.

Roger Frugardi hatte die Aufnahme des jungen Deutschen nicht bereut, denn Seyfrids ganzes Sinnen lag darin, seine Kenntnisse stetig zu erweitern und zu vertiefen. Frugardi sah viel von sich selbst in Seyfrid. Der Kosmos der Medizin erschien dem jungen Mann so gigantisch groß, dass ihm die Vorstellung, jemals alles darüber wissen zu können, einfach absurd vorkam, aber dennoch strebte er danach. Seyfrid war der Erste, der morgens bei den Kranken war, Salben und Tinkturen anrührte, der am aufmerksamsten den Vorträgen der erfahrenen Ärzte lauschte, und der Letzte, der bis in die Nacht über den Schriften hockte und ganz nebenbei in kürzester Zeit Italienisch lernte.

Der Magister Medicus hätte unter normalen Umständen gegenüber Seyfrid niemals zugegeben, dass er ihn für seinen talentiertesten Schüler hielt, aber als der junge Mann ihm eröffnete, dass er in seine Heimatstadt zurückzukehren wolle, hatte es sein Lehrmeister für notwendig befunden, ihm dieses höchste Lob auszusprechen. Tatsächlich hatte Frugardi nie daran gezweifelt, dass Seyfrid von Viskenich einmal zu den berühmtesten Namen der Scola Medica gehören würde. Bis sein Schüler die bittere Nachricht aus dem fernen Köln erhielt.

Dabei war das Studium der Medizin Seyfrids sehnlichster Wunsch gewesen. Der junge Ritter war vor zwei Jahren an einem regnerischen Tag nach seiner langen Reise von Palästina endlich in Salerno angelangt und durch die Straßen geirrt, auf der Suche nach der Scola Medica, von der er so viel gehört hatte. Schon vor über hundert Jahren hatten hier in der Medizin bewanderte Mönche kranke oder verwundete Kreuzfahrer behandelt, die in der Hoffnung auf Heilung aus dem Heiligen Land nach Salerno kamen.

Seyfrid hatte es nur einem Irrtum zu verdanken, dass man ihn überhaupt zum Magister Medicus vorgelassen hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er den Boten eines bayerischen Herzogs erwartet. Der Adlige war schwer erkrankt und hatte einen Vertrauten zur Scola Medica gesandt, um eine Medizin gegen sein Leiden zu kaufen. Da Seyfrid damals noch kein Italienisch sprach, hatte man ihn an der Pforte nicht verstanden und ihn für den Gesandten aus Bayern gehalten.

Erst Roger Frugardi erkannte das Missverständnis, als der junge Mann inständig auf Latein bat, ihn in der Wissenschaft der Medizin auszubilden. Normalerweise hätte er dem anmaßenden Kerl, dessen Namen er noch nie vernommen hatte, gleich die Tür gewiesen: ein mittelloser Ritter, der Arzt werden wollte! Nach Salerno kamen zwar Schüler aus aller Welt, sogar Muslime und Juden wurden an der von Mönchen gegründeten Schule aufgenommen, aber sie stammten fast alle aus reichen Familien. Doch der junge Kölner hatte etwas Besonderes an sich gehabt, das Frugardi zunächst nicht definieren, aber deutlich spüren konnte. Vielleicht war es der klare, forschende Blick aus den braunen Augen, das ruhige, aber dennoch bestimmte Auftreten, wie es für einen Zwanzigjährigen ungewöhnlich war. Eine Aura der Abgeklärtheit umgab Seyfrid, wie jemanden, der schon Schreckliches erlebt und deshalb ein festes Ziel vor Augen hatte. Es schien Frugardi, dass dieser Seyfrid von Viskenich nicht eher wieder gehen würde, bis er sämtliche Geheimnisse der Medizin von ihm persönlich erfahren hätte.

»Hast du ein Studium in deiner Heimat absolviert und willst dich hier weiterbilden?«, hatte er ihn damals gefragt.

Zu seiner Überraschung hatte der Besucher den Kopf geschüttelt und geantwortet, dass er von Abdul Al-Aziz in Tyros unterrichtet worden sei. Doch wollte das Aussehen des jungen Mannes mit den verfilzten langen Haaren und der schmutzigen Kleidung so gar nicht zu seiner Behauptung passen. Der Name des gelehrten Muslims war Frugardi allerdings bekannt und dessen Ruf in der Heilkunde auch bis nach Italien vorgedrungen. Seine Neugier war geweckt, und er beschloss, Seyfrid auf die Probe zu stellen, dem anmaßenden Besucher seine Unwissenheit und seinen Hochmut vor Augen zu führen, um ihn dann hinauszuwerfen.

Im Krankentrakt der Scola Medica hatten einige schwierige Fälle gelegen. Frugardi hatte Seyfrid angewiesen, ihm zu folgen. Vor dem Lager eines Mannes, der schwer atmete und dem der Schweiß auf der Stirn stand, hielten sie an.

»Wohlan, sage mir, welche Krankheit ihn befallen hat!«

Seyfrid trat, ohne zu zögern, an den fiebernden Mann heran, der an Symptomen litt, die auf einige Leiden passten, begutachtete akribisch den ganzen Körper und stellte dem Kranken ein paar präzise Fragen auf Latein, die Frugardi für ihn ins Italienische übersetzte. Dann nannte Seyfrid zur Überraschung Frugardis die richtige Krankheit und beschrieb deren weiteren Verlauf. Die Verwunderung des Gelehrten schlug jedoch in fassungsloses Staunen um, als der junge verdreckte Kerl empfahl, dem Kranken einen Sud aus verschiedenen Kräutern zu geben, deren genaue Zusammensetzung er nannte, und seine Brust mit heißen, in Salbei getränkten Tüchern zu bedecken.

Roger Frugardi hatte den ungewöhnlichen jungen Mann lange angesehen und dann eine Entscheidung getroffen, die sich für ihn und die Scola Medica als Glücksfall erweisen sollte: »Ich werde dich in diese Schule aufnehmen und dich unterrichten. Du wirst die Kosten dafür unter meiner persönlichen Aufsicht abarbeiten. Solltest du dich als faul erweisen oder auch nur ein Mal meinen Anweisungen nicht folgen, wirst du noch am selben Tag die Schule verlassen müssen.«

Seyfrid akzeptierte die Bedingungen und dankte Frugardi aus tiefstem Herzen. Seitdem hatte sein Lehrer nicht einen Grund gehabt, sich über ihn zu beschweren. Bis zu dem heißen Tag Anfang September, als der fahrende Händler Giovanni Luciano in Salerno eintraf.

Der Neapolitaner unterhielt gute Handelsbeziehungen und reiste auch regelmäßig nach Köln, der reichsten Stadt nördlich der Alpen, um dort Wein und Olivenöl aus Italien zu verkaufen. Luciano war ein alter Freund von Frugardi und besuchte ihn häufig, da der Weg von Neapel nach Salerno nicht weit war und hier einige hervorragende Weine wuchsen.

Seyfrid hatte den wohlbeleibten Händler, der viel redete und gern lachte, kurz nach seiner Aufnahme in die Scola Medica kennengelernt. Als er eines Tages vernahm, dass Luciano bald nach Köln aufbrechen wollte, bat er ihn, sich nach dem Befinden seines Vaters Johann von Viskenich zu erkundigen, aber ohne dabei Aufsehen zu erregen. Der Händler wollte ihm den Gefallen gern tun, fragte aber erstaunt nach, warum er nicht direkt zur Burg des Vaters reisen sollte.

Seyfrid hatte lange mit sich gerungen, ob er dem Händler die Bitte antragen sollte, aber die Sehnsucht nach Kunde von seiner Familie war übermächtig gewesen. »Ganz offen gesagt: Ich will nicht, dass mein Vater meinen Aufenthaltsort erfährt. Deshalb bitte ich dich, meinen Namen in Köln überhaupt nicht zu erwähnen.«

Da Luciano wusste, dass Seyfrid das Wohlwollen Frugardis besaß, willigte er in die merkwürdige Bitte ein. Nachdem der Händler Salerno wieder verlassen hatte, rief Frugardi seinen Schüler zu einem Gespräch unter vier Augen.

»Es ist erstaunlich, dass ein Sohn zwar Kunde vom Vater haben möchte, aber selbst unerkannt bleiben will. Für gewöhnlich deutet dies auf einen Zwist hin. Ist dem so?«

»Nein, es ist kein Zwist, sondern die Scham!«, gestand Seyfrid. »Wie du weißt, zog ich mit Kaiser Friedrich Barbarossa ins Heilige Land. Mein Vater war mächtig stolz, dass sein Sohn die heilige Pflicht auf sich nahm, Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. Das vermehrte das Ansehen unserer Familie ungemein. Doch dann beschloss ich wegen«, er stockte kurz und rang nach Worten, »Umständen, die ich nicht näher erklären möchte, dem Kämpfen zu entsagen und mich in den Dienst der Medizin zu stellen. Mein Ziel ist es, die Kunst des Heilens an der Scola Medica Salernitana zu erlernen. Wenn mein Vater erfahren würde, dass ich das Heilige Land vor der Eroberung Jerusalems verlassen habe, wäre er am Boden zerstört. Ganz zu schweigen von dem hässlichen Gerede in Köln, der Sohn Johann von Viskenichs sei vor seiner heiligen Pflicht davongelaufen.«

Roger Frugardi zeigte Verständnis für die Entscheidung Seyfrids, legte ihm aber dennoch nahe, seinem Vater wenigstens eine Nachricht zukommen zu lassen, dass es seinem Sohn gut gehe.

Doch in diesem einen Punkt weigerte sich Seyfrid hartnäckig. »Ich liebe meinen Vater zu sehr, als dass ich ihm diese Schande antun könnte«, antwortete er.

Seyfrid harrte voller Ungeduld viele Wochen auf die Rückkehr Lucianos. Als er endlich wieder in Salerno auftauchte, stellte Seyfrid zu seiner Freude fest, dass der Händler sich bei seinen Erkundigungen sehr geschickt angestellt hatte und zu berichten wusste, dass Johann von Viskenich tatsächlich sehr stolz auf seinen Sohn sei, der Jerusalem im Namen Christi erobern wolle. Doch hätte man so lange nichts mehr von Seyfrid gehört, dass einige annahmen, er sei im Kampf gefallen.

Außerdem hatte Luciano erfahren, dass Johann von Viskenich in Geldschwierigkeiten steckte, denn die Ernte auf den Ländereien war zum wiederholten Mal schlecht ausgefallen. Irgendwie hatte es der gewiefte Händler auch noch geschafft, einen Blick auf Seyfrids Schwester Isolde zu erhaschen. Laut seiner Schilderung war sie zu einer schönen jungen Dame erblüht, mit langen blonden Haaren und einem lieblichen Gesicht. Die Nachricht erfüllte Seyfrid mit Freude und Trauer zugleich. Wie gern würde er seine kleine Schwester wiedersehen!

Als Luciano im Sommer dieses Jahres erneut zu einer Reise nach Deutschland aufgebrochen war, hatte Seyfrid auf weitere gute Neuigkeiten gehofft. Doch der Weinhändler war Anfang September mit schrecklicher Kunde aus Köln zurückgekehrt.

Der rundliche Mann mit den sonst so fröhlichen Augen hatte kummervoll dreingesehen, als er Seyfrid und Roger Frugardi im Kräutergarten der Scola Medica antraf. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte, und fuchtelte hilflos mit den Händen herum. Schließlich fasste er sich ein Herz. »Mein junger Freund, ich habe eine gar schreckliche Nachricht für dich: Dein Vater ist tot.«

Es traf Seyfrid wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Für einen Moment glaubte er, dass seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten. Frugardi, der neben ihm stand, fasste seinen Schüler am Arm und geleitete ihn in den Schatten einer alten Pinie, wo sie sich auf die niedrige Mauer setzten, die den kleinen Kräutergarten umgab.

»Gott sei seiner Seele gnädig!«, sagte der Magister Medicus und bekreuzigte sich.

»Woran ist er gestorben?«, fragte Seyfrid schließlich mit leiser Stimme.

Der Händler leckte sich über die Lippen und wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. »Du musst jetzt sehr stark sein, Seyfrid! Man warf ihm vor, einen reichen Geschäftsmann, bei dem er Schulden hatte, heimtückisch erschlagen zu haben. Er wurde von einem Blutgericht in Köln zum Tode durch den Henker verurteilt. Dein Vater wurde vor zwei Monaten hingerichtet.«

Seyfrid starrte Luciano an, als hätte er den Leibhaftigen vor sich. Er fühlte sich wie gelähmt, als würde ihm jemand die Luft zum Atmen abdrücken. Doch dann sprang er auf. »Nein!«, schrie er mit wutverzerrtem Gesicht. »Mein Vater war ein Mann von Ehre, er hätte so etwas niemals getan! Wer hat diese Lüge verbreitet? Wer ist schuld an seinem Tod?«

Überrascht sah Frugardi seinen Schüler an, den er immer als ruhigen und besonnenen Menschen erlebt hatte, stets hilfsbereit und höflich. Für einen Augenblick befürchtete er, dass sich Seyfrid auf den armen Luciano stürzen würde, der zwei Schritte rückwärts taumelte. Er sah die Wut in Seyfrids Augen glimmen, die Fäuste geballt und den Körper angespannt, wie zum Töten bereit.

Zum ersten Mal wurde dem Gelehrten bewusst, dass in Seyfrids Brust noch eine zweite Seele wohnte, die er immer unterdrückt hatte. Natürlich war Seyfrid von Kindheit an zum Ritter erzogen worden. Dennoch hatte Frugardi es sich bis jetzt nie vorstellen können, dass dieser junge Mann mit dem freundlichen Wesen in Schlachten gekämpft und Menschen getötet hatte. Seyfrid musste dort schreckliche Dinge erlebt haben, über die er nie sprach. Frugardi hob beschwichtigend die Hände. »Das ist eine fürchterliche Nachricht, Seyfrid, aber du musst Ruhe bewahren!«

Seyfrid blickte ihn an, als würde er ihn zum ersten Mal wahrnehmen.

»Verzeih mir bitte, dass ich dir diese schlimme Kunde überbringen musste!«, sagte Luciano ängstlich. »Ich hörte es von einem ehrenhaften Weinhändler in Köln, mit dem ich seit vielen Jahren Geschäfte mache. Er sagte, ein reicher Salzhändler namens Gottfried Hackenbroich habe Johann von Viskenich Geld geliehen, aber dein Vater hätte es wohl nicht zurückzahlen können, deshalb seien sie bei einem Bankett in Streit geraten. In derselben Nacht wurde Hackenbroich in seinem Haus erschlagen. Seine Ehefrau hat ihn am nächsten Morgen in seinem Blut liegend gefunden. Das Schwert deines Vaters steckte in der Leiche.«

Es durchfuhr Seyfrid siedend heiß: das Schwert seines Vaters! Es war eines der legendären Schwerter von Ulfberht, jenes sagenhaften Schmieds, der sich wie kein anderer auf sein Handwerk verstanden hatte. Keine Klinge konnte sich mit Ulfberhts messen. Seyfrids Urgroßvater hatte das Schwert einst für viel Geld erworben, seitdem war es in Familienbesitz und seines Vaters ganzer Stolz gewesen. »Hatte mein Vater die Tat gestanden?«, fragte er.

»Nein, nein!«, beeilte Luciano sich zu antworten. »Vor dem Blutgericht und selbst noch vor dem Henker beteuerte er seine Unschuld.«

»Dann war er es nicht!«, rief Seyfrid. »Mein Vater war ein Ritter, seine Ehre stand für ihn über allem. Er hätte die Tat zugegeben, selbst wenn die Folgen seinen sicheren Tod bedeutet hätten. Auch hätte er niemals sein Schwert zurückgelassen!« Seyfrid wandte sich Frugardi zu, als müsse er ihn überzeugen. »Jemand anderes hat den Mord begangen und es ihm in die Schuhe geschoben. Ich werde den wahren Mörder finden und zur Rechenschaft ziehen!«

»Das war leider noch nicht alles«, meldete sich Luciano vorsichtig zu Wort. »Das Blutgericht hat deine gesamte Familie für geächtet erklärt. Die Ländereien und die Burg gehören euch damit nicht mehr.«

Mit einem Wutschrei schlug Seyfrid auf den Stamm der Pinie ein. Wie wild prügelte er gegen die Rinde.

»Beruhige dich!«, befahl Frugardi mit strenger Stimme. »Wir müssen mit klarem Verstand denken! Habe ich dich die großen Philosophen umsonst lesen lassen?«

Seyfrid ließ von dem Baum ab, seine Kiefermuskeln mahlten, und von seinen Knöcheln tropfte Blut. Doch langsam kam er wieder zu Sinnen. »Verzeih, Meister, du hast recht! Die Wut vernebelt meinen Verstand«, sagte er schließlich keuchend.

Frugardi legte ihm die Hand besänftigend auf die Schulter. »Jetzt ist es Zeit, um deinen Vater zu trauern und nicht an Rache zu denken!«

Luciano nickte hektisch, sichtbar erleichtert, dass Seyfrid sich nicht auf ihn gestürzt hatte. »Ganz genau!«, pflichtete er bei.

»Wir werden zur Vesper ein Gebet für ihn sprechen«, sagte Frugardi.

Seyfrid blickte über die grünen Berghänge, als ob er dort eine Antwort suchte. »Ich muss den wahren Mörder finden. Auch die Richter und Schöffen des Blutgerichts sollen mir Rechenschaft ablegen, warum sie meinen Vater fälschlich beschuldigt und zum Tode verurteilt haben.«

Plötzlich schien Seyfrid etwas einzufallen, und er wirbelte zu Luciano herum, der erneut zurückzuckte. Er fasste den Händler bei den Oberarmen. »Was ist mit meiner Schwester? Hast du gehört, was mit Isolde passiert ist?«

Zu seiner Enttäuschung schüttelte Luciano mit traurigem Blick den Kopf. »Leider nein. Auch nach ihr habe ich mich in Köln erkundigt, aber niemand konnte mir etwas über ihr Schicksal sagen. Manche vermuten, dass sie in die Wälder geflohen sei, andere meinten, dass sie vielleicht in einer anderen Stadt lebe. Keiner hat mehr etwas von ihr gehört, nachdem dein Vater vom Büttel der Stadt in den Turm gesperrt worden war.« Er wagte nicht zu erwähnen, dass einige in Köln den Verdacht hegten, dass das arme Mädchen umgebracht worden sei.

»Ich habe noch etwas gehört«, fuhr er fort. »Dein Vater soll vor Gericht ausgesagt haben, dass vermummte Männer ihn auf dem Weg von Köln zu seiner Burg überfallen haben und über Nacht gefesselt im Wald liegen ließen. Sie hätten auch sein Schwert gestohlen. Erst am nächsten Morgen habe ihm ein vermummter Mann die Handfesseln durchgeschnitten, sei dann aber verschwunden. Das Gericht und die Schöffen schenkten seiner Geschichte keinen Glauben, da niemand sie bezeugen konnte. Hingegen gab es einen Zeugen, der gesehen haben will, wie dein Vater den Mord beging.«

»Einen Zeugen? Wie heißt er?«

Luciano zuckte die Achseln und sagte kleinlaut: »Leider habe ich nicht nach dem Namen gefragt.«

»War dir dieser Hackenbroich bekannt?«, fragte Frugardi seinen Schüler.

»Den Namen habe ich wohl schon vernommen. Er gehörte zur Richerzeche.«

»Was ist das?«

»Eine Bruderschaft der reichsten Bürger Kölns«, erklärte Seyfrid. »Aber ich habe Hackenbroich nie getroffen.«

»Was für Geschäfte hat dein Vater mit ihm gemacht?«

»Ich glaube, er hat dort manchmal Salz gekauft, aber nur selten, weil es so teuer ist.«

»Es handelte sich also nicht um eine alte Fehde?«

»Nein, zumindest nicht, bevor ich ins Heilige Land zog.«

Seyfrid wusste, dass die Schöffen, die dem Gericht beisaßen, um ein Urteil zu finden, sich stets zur Hälfte aus Brüdern der Richerzeche zusammensetzten. Einer der Ihren war getötet worden, und sie hatten jemand von außerhalb dafür verantwortlich gemacht, überlegte er. Sein Vater hatte den Mord nicht begangen, davon war er fest überzeugt. Die Richerzeche hatte einen Unschuldigen dem Henker ausgeliefert.

Die Sonne über Salerno war inzwischen im Meer versunken. Seyfrid richtete sich kerzengerade auf und verkündet: »Ich werde in wenigen Tagen nach Köln aufbrechen. Ich muss Isolde finden! Sie braucht mich jetzt. Aber erst werde ich den wahren Mörder enttarnen, und wenn ich ihn aus den Tiefen der Hölle holen muss!«

Als er den letzten Satz vernahm, bekreuzigte Luciano sich rasch.

12. OKTOBER 1193

Seine Beine kamen Seyfrid bleischwer vor, als er am Morgen auf den Hof trat und an den Mauern der Schule emporblickte. Es war sein sehnlichster Wunsch gewesen, an der Scola Medica Salernitana zu studieren. Er hatte ein guter Arzt werden wollen, um Menschen zu heilen. Doch nun gab er dies alles auf, um mit Rachegedanken im Herzen in seine Heimat zurückzukehren. Ihm kamen die Worte seines Vaters in den Sinn: »Die Menschen können dir alles nehmen, nur nicht deinen Stolz. Den kannst du dir nur selbst nehmen.«

Nein, er hatte keine Wahl. Entschlossen warf Seyfrid die beiden Satteltaschen mit seinen Habseligkeiten über den Rücken des Pferds. Roger Frugardi war so großzügig gewesen, ihm eines der Pferde zu überlassen, die der Schule gehörten. Es hörte auf den Namen Giacomo und war zwar kein sonderlich edles Tier, aber ruhig und ausdauernd. Zum ersten Mal seit zwei Jahren hatte Seyfrid wieder sein Schwert umgegurtet. Etwas, das er nie wieder hatte tun wollen.

Er kämpfte gegen die Tränen, deshalb brauchte er einen Moment, ehe er sich zu Frugardi umdrehen konnte. »Hab Dank, Meister, für alles, was ich von dir lernen durfte!«

»Es schmerzt mich sehr, dich ziehen zu sehen. Trotz deiner jungen Jahre halte ich dich für einen außergewöhnlichen Medicus. Du bist hier jederzeit willkommen.«

Seyfrid stand vor ihm wie ein kleiner verlegener Junge und rang nach Worten. »Ich hoffe, dass ich eines Tages zurückkehren werde.«

Dann umarmten sie sich.

»Wir werden dich immer in Ehren halten. Schicke mir eine Nachricht, wenn du dein Ziel erreicht hast!«, sagte Frugardi mit brüchiger Stimme.

Ohne weitere Worte stieg Seyfrid hastig auf das Pferd und gab ihm die Sporen, bevor jemand die Tränen in seinen Augenwinkeln entdecken konnte.

Frugardi hob die Hand, um zu winken, aber Seyfrid blickte nicht zurück. »Lebe wohl, Seyfrid von Viskenich«, sagte der alte Medicus leise.

Seyfrid hatte sich in den schlaflosen Nächten, seit er die schreckliche Nachricht vernommen hatte, einen Plan zurechtgelegt. Ihm war klar, dass er nicht einfach in Köln auftauchen und Familien der Richerzeche für den Tod seines Vaters verantwortlichen machen konnte. Das wäre so schon gefährlich genug gewesen, aber da das Gericht die gesamte Familie des hingerichteten Ritters von Viskenich für geächtet erklärt hatte, hätte Seyfrid sich auch genauso gut selbst das Schwert in den Leib stoßen können. Jeder freie Mann durfte einen Geächteten töten, ohne dafür bestraft zu werden.

Auf keinen Fall durfte jemand in Köln seine wahre Identität erfahren. Deshalb würde er sich für seinen besten Freund ausgeben und sich als Medicus vorstellen. Ulrich von Schwarzenberg war als Knappe mit ihm zusammen ins Heilige Land gezogen und in der Schlacht bei Arsuf gestorben. Seinen Tod betrauerte Seyfrid bis heute zutiefst, und er hoffte, dass Ulrich ihm im Jenseits seine List verzeihen möge. Andererseits war er überzeugt, dass Ulrich, würde er noch leben, sich köstlich darüber amüsiert hätte.

Seyfrid beabsichtigte, auf seinem Weg nach Köln die Schwarzenburg bei Freiburg zu besuchen. Zwar hatte Ulrichs Vater, Freiherr Conrad, vermutlich schon längst die Kunde vom Tod seines Sohnes erhalten, aber wohl niemand hatte ihm Genaueres über die Umstände erzählen können. Seyfrid konnte das. Ulrich war vor seinen Augen gestorben.

Außerdem würde Seyfrid bei dieser Gelegenheit die Burg sehen und die Familienmitglieder kennenlernen, um später in Köln in der Rolle des Ulrich von Schwarzenberg glaubwürdig sein zu können. Zwar hatte sein Freund und Waffengefährte ihm auf dem langen Zug nach Palästina so oft von seiner Heimat und Familie erzählt, dass Seyfrid durchaus vertraut mit ihnen war, aber sicher war es von Vorteil, sie von Angesicht zu Angesicht zu treffen.

Die erste Etappe führte Seyfrid von Salerno nach Rom. Die Ewige Stadt hatte er bei seiner Ankunft mit dem Schiff im Hafen von Ostia vor zwei Jahren bereits kennengelernt, und dennoch war er erneut überwältigt. Welch herrliche Bauten und wie viel Geschichte schauten auf ihn herab! Er lief durch die Gassen und am Tiber entlang, bestaunte Ruinen und hohe Häuser. Schließlich reihte er sich in den steten Strom der Pilger ein und betrat die riesige Kathedrale Sankt Petrus, den Sitz des Papstes Coelestin III., wo er eine Kerze anzündete und Christus im stillen Gebet um Beistand anflehte.

Drei Tage verbrachte Seyfrid in Rom, um Vorräte für die Reise einzukaufen und sich bei einigen Pilgern aus dem Norden nach den Zuständen der Wege und Alpenpässe zu erkundigen. Wie er zu seiner Freude erfuhr, war das Wetter in den Bergen ungewöhnlich mild und der Schnee bislang ausgeblieben. Seyfrid betete, dass dies so bleiben möge, bis er dort war, sodass es ihm noch möglich sein würde, die Alpen zu überqueren.

Auf dem Weg nach Norden übernachtete Seyfrid in schäbigen Herbergen, aber auch in Klöstern, wo er die frommen Brüder mit Geschichten aus der Scola Medica unterhielt. In Mailand machte er für eine Nacht Station. Der Lombardeifeldzug Kaiser Friedrich Barbarossas vor über dreißig Jahren hatte dort seine Spuren hinterlassen, viele Häuser waren damals niedergebrannt worden und einige noch immer zerstört. Auch wenn Mailand eine wohlhabende Stadt war, würde es seine Zeit dauern, bis sie wieder vollständig hergerichtet sein würde. Nur die heiligste Reliquie, die Gebeine der Heiligen Drei Könige, würde nicht zurückkehren. Sie befand sich nun als Kriegsbeute ausgerechnet in Seyfrids Heimatstadt Köln.

Seyfrid fühlte sich ein wenig unbehaglich, denn die Einwohner waren verständlicherweise auf Deutsche nicht gut zu sprechen. Doch weil er die italienische Sprache gut beherrschte, begegnete man ihm im Gasthaus höflich.

Kurz darauf folgte er dem uralten Römerweg, der von Mailand über den San-Bernardino-Pass und das Rheintal entlang nach Bregenz führen würde. Es war für Seyfrid kaum vorstellbar, wie dieser schmale Fluss, der sich hier durch steile Schluchten und liebliche Auen schlängelte, auf dem Weg nach Köln zu dem ihm bekannten gewaltigen Strom wachsen konnte.

Zwar war der erste Schnee inzwischen gefallen, aber er bedeckte den San-Bernardino-Pass nur bis zu den Fesseln seines Pferdes, sodass Seyfrid einigermaßen gut vorankam. Giacomo stapfte tapfer durch den Schnee, und die Kälte schien ihm nicht viel auszumachen, obwohl er die milden Temperaturen Süditaliens gewohnt war. Sie übernachteten in Splügen am Hinterrhein in einer Herberge, wo sich zu dieser Jahreszeit kein weiterer Gast aufhielt. Der Wirt zeigte sich daher über Seyfrid sehr erfreut, tischte ihm Brot, Käse und Ziegenmilch auf und berichtete, dass der Weg über die Rheinbrücke von Thusis bis Chur noch nicht zugeschneit sei.

Drei Tage später brach Seyfrid von Vaduz in Richtung Bodensee auf. Das trockene Wetter blieb ihm hold, auch wenn es empfindlich kalt war. Er ritt gerade durch einen dichten Wald und hoffte, noch vor Einbruch der Dunkelheit das Kloster Sankt Gallen zu erreichen, als plötzlich vier Wegelagerer aus dem Unterholz brachen und ihn umringten. Ein einsamer Reiter erschien ihnen als leichtes Opfer.

»Dein Geld oder dein Leben!«, schrie der Anführer, ein langer Kerl, dem etliche Zähne fehlten. Alle Angreifer waren dürr, schmutzig und zerlumpt, zwei waren mit Lanzen, die anderen beiden mit Holzprügeln bewaffnet, doch Seyfrid blieb ruhig.

»Ich rate euch im Guten, mich in Frieden ziehen zu lassen! Ich bin ein Ritter aus dem Heiligen Land auf dem Weg nach Hause.«

Angesichts seiner einfachen Kleidung schallte ihm Gelächter entgegen. »Natürlich, und ich bin König Richard«, höhnte der Zahnlose.

»Da habt Ihr Euch aber seit unserer letzten Begegnung sehr zu Eurem Nachteil verändert, Majestät.«

»Es reicht, her mit deinen Sachen!«, knurrte der Mann und kam drohend näher.

»Wie du willst!«, sagte Seyfrid, riss mit einer raschen Bewegung sein Schwert unter dem Mantel hervor und trat gleichzeitig seinem Pferd in die Flanken, sodass es einen Satz vorwärts machte. Er wich der Lanze des Anführers geschickt aus und versetzte ihm einen Streich auf den Oberarm, sodass er brüllend die Waffe fallen ließ. Bei dem nächsten Räuber reichte es, ihm mit einem gewaltigen Hieb die Lanze aus der Hand zu schlagen, um den Rest der Bande zur Flucht zu bewegen. Diese Männer hatten nie zu kämpfen gelernt. Sie waren keine ernsthaften Gegner für einen Ritter.

Seyfrid sprang vom Pferd und hielt dem am Boden liegenden Anführer die Schwertspitze an die Kehle. Der jammerte laut und hielt sich den Arm. Die Wunde blutete zwar stark, aber sie war nicht tief. »Ich hatte dich gewarnt!« Im Grunde tat ihm der Mann leid, wie er sich da wimmernd vor ihm krümmte, ein armer Bauer oder entflohener Leibeigener, den die Not zum Rauben zwang.

»Gnade, Herr! Ich habe vier Kinder und weiß nicht, wie ich sie durch den Winter bekommen soll.«

»Wie wäre es mit ehrlicher Arbeit?«

»Wir bestellen die Äcker des Klosters Sankt Gallen, aber die Ernte war sehr schlecht dieses Jahr. Dennoch verlangte der Abt, dass wir ihm fast die gesamte Ernte überlassen sollen. Wir haben uns geweigert, weil wir sonst zu wenig für unsere Familien gehabt hätten, und wollten ihm nur den üblichen Zehnt geben. Daraufhin hat der Abt Soldaten geschickt und uns alles weggenommen. Jetzt wissen wir nicht, wie wir überleben sollen.«

Seyfrid zweifelte nicht, dass der Bauer die Wahrheit sprach. Das Kloster Sankt Gallen war mächtig, aber der Reichtum kam nicht von ungefähr. Dabei konnte der Mann noch von Glück reden, denn er wäre nicht der Erste gewesen, den man wegen Aufstands am nächsten Baum aufgeknüpft hätte. Da hört auch bei der Klostervogtei Sankt Gallen die christliche Nächstenliebe auf, dachte Seyfrid bitter.

Er steckte sein Schwert ein, holte aus einer Satteltasche ein Tuch und riss einen langen Streifen ab. Er forderte den Mann auf, die Jacke auszuziehen und den Hemdsärmel hochzuschieben. Seyfrid umwickelte die blutende Wunde am Oberarm sorgfältig. Dann griff er in einen Beutel und holte eine Handvoll getrockneter Blüten hervor, die er dem Verletzten in die Tasche stopfte.

»Halte den Arm die nächsten Tage ruhig, damit die Wunde nicht wieder aufreißt! Koch aus den Kamillenblüten einen Sud, tunke ein Tuch hinein und wickel es um den Arm! Das machst du jeden Morgen, und in zwei Wochen wirst du den Arm wieder ganz normal bewegen können.«

»Seid Ihr ein Ritter oder ein Medicus?«, fragte der Mann verblüfft.

»Beides«, antwortete Seyfrid lächelnd, erhob sich und schwang sich auf sein Pferd.

Völlig verdattert saß der Mann auf dem Erdboden und staunte den seltsamen Ritter an. Schließlich fand er seine Sprache wieder: »Ich danke Euch, Herr! Bitte verzeiht mir, dass ich Euch ausrauben wollte! Ich werde für Euer Seelenheil beten!«

Seyfrid nickte ihm kurz zu und gab seinem Pferd die Sporen. Am Horizont türmten sich schwarze Wolken auf. Es war das erste Mal, dass ein Unwetter auf seinem Weg drohte. Er zog seinen Umhang enger um die Schultern.

Entgegen seinem ursprünglichen Plan erreichte er am Abend völlig durchnässt den Bodensee bei Bregenz. Er hatte Sankt Gallen gemieden und das Kloster nur aus der Entfernung gesehen. Nach dem, was er von dem Bauern erfahren hatte, widerstrebte es ihm, die Mönche oder gar den Abt dort zu treffen.

In einer einfachen Gastwirtschaft in Bregenz wärmte er sich am lodernden Kamin auf. Seyfrid schätzte, dass es bis zur Schwarzenburg noch fünf Tagesritte waren.

17. NOVEMBER 1193

Als Seyfrid endlich nördlich von Freiburg die stolze Schwarzenburg sichtete, schnürte es ihm die Kehle zu. Sein Freund Ulrich hatte so oft von diesem Ort erzählt, dass er ihm beinahe vertraut vorkam. Der weite Blick vom Berg über das Rheintal öffnete sich vor ihm, am Horizont waren die Vogesen zu erkennen. Doch Ulrich würde nie wieder hierher zurückkehren. Seine sterblichen Überreste lagen in einem staubigen Grab bei Akkon.

Das Tor zur Burg stand offen, aber die Wachen versperrten ihm den Weg. »Halt! Was ist dein Begehr?«, fragte ein dicklicher Wachsoldat mit Pausbacken. Sein schüsselförmiger Helm sah aus, als wäre er auf dem runden Kopf festgesaugt.

»Mein Name ist Seyfrid von Viskenich. Ich bringe Conrad von Schwarzenberg Kunde von seinem Sohn.«

Der Wache klappte die Kinnlade herunter, dann beeilte er sich, den Weg frei zu machen, und rannte zu den Stallungen, um den Stallmeister anzutreiben, sich um das Pferd des Gastes zu kümmern. Anschließend lief er, so schnell ihn seine stämmigen Beine trugen, in den Palas, um seinem Herrn die Nachricht zu überbringen.

Freiherr Conrad von Schwarzenberg kam wenige Augenblicke später die steile Treppe vom Hauptgebäude zum Burghof hinuntergeeilt. Er schloss im Laufen hastig seinen breiten Gürtel mit der güldenen Schnalle. Seyfrid versuchte, einen möglichst stolzen Eindruck zu erwecken, indem er sich betont aufrecht hielt. So schickte es sich in adligen Kreisen.

Der Burgherr war von stattlicher Figur und trug einen sorgfältig gestutzten Bart, wie er seit Kaiser Friedrich Barbarossa in Mode war. Seine Tunika reichte ihm bis über die Knie und war mit vielen Stickereien aufwendig verziert, um den Reichtum des Trägers zur Schau zu stellen.

Er kam schnurstracks auf Seyfrid zu und umfasste dessen Hand mit seinen kräftigen Pranken. »Ich bin Conrad von Schwarzenberg. Du kanntest meinen Sohn?«, fragte er ohne Umschweife. Er hatte eine tiefe Stimme, die zwischen Freude und Trauer schwankte.

»Ja«, antwortete Seyfrid. »Ich war mit Ulrich im Heiligen Land. Er war mir ein guter Freund und tapferer Gefährte bis in den Tod.«

»Wie ist dein werter Name?«

»Seyfrid von Viskenich.«

Von Schwarzenberg wiederholte murmelnd den Namen, dann schüttelte er den Kopf. »Du musst verzeihen, aber dieser Name ist mir nicht geläufig.«

Seyfrid war insgeheim erleichtert. So hatte von Schwarzenberg auch nichts über das schändliche Schicksal seiner Familie gehört. »Die Ländereien meines Vaters, Ritter Johann von Viskenich, liegen bei Köln.« Er warf kurz einen Blick zu dem imposanten Burgfried. »Im Vergleich zu dieser prächtigen Burg nimmt sich die unsrige aber bescheiden aus.«

Der Freiherr schlug ihm mit der Hand auf die Schulter und machte eine einladende Geste zum Palas. »Da stehen wir hier im Burghof! Komm mit, du bist mein Gast, solange es dir beliebt. Wir werden ein Festmahl geben, und du musst mir alles über meinen Sohn im Heiligen Land erzählen!«

Sie stiegen die steinerne Treppe bis zu dem mächtigen Hauptgebäude hinauf. Seyfrid fand sich in einer eindrucksvoll ausgestatteten Halle wieder, deren Decke gut fünf Meter über ihm von rußgeschwärzten Eichenbalken getragen wurde. Ein großes Feuer loderte im Kamin und erfüllte den Raum mit Wärme. Die Wände waren mit kostbaren Teppichen geschmückt, auf denen Jagdszenen abgebildet waren.

Eine anmutige Dame in einem grünen Kleid mit modisch weiten Ärmeln erhob sich von einem massiven Tisch, der problemlos zwanzig Leuten Platz bot. Sie war dunkelhaarig, hatte hohe Wangenknochen und sanfte braune Augen. Seyfrid war, als blickte er in das Antlitz von Ulrich.

»Meine Frau Magdalena«, stellte Conrad von Schwarzenberg sie vor. »Dies, meine Liebe, ist Seyfrid von Viskenich. Ein Freund und Gefährte Ulrichs.«

Wie es die guten Sitten verlangten, verbeugte sich Seyfrid und stellte dabei ein Bein etwas zurück, als wolle er sich hinknien. »Es ist mir eine Freude, die Mutter von Ulrich kennenzulernen. Du siehst ihm sehr ähnlich.«

Die Unterlippe der Gräfin begann leicht zu zittern, und Seyfrid befürchtete schon, sie würde gleich in Tränen ausbrechen, aber dann holte sie tief Luft. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Es ist nun schon fast zwei Jahre her, dass wir die Nachricht vom Tod unseres geliebten Sohnes erhielten. Seitdem aber blieb jede weitere Kunde aus. Wir kennen noch nicht einmal die genauen Umstände seines Todes. Du wirst sicherlich verstehen, dass dies für uns nur schwer zu ertragen ist.«

»Dann habe ich nun die traurige und ehrenvolle Pflicht, euch alles genau zu berichten.«

»Aber setz dich doch! Möchtest du einen Becher Wein?«, warf der Freiherr ein und rief nach seinem Mundschenk, ohne Seyfrids Antwort abzuwarten.

Nachdem die Becher gefüllt waren, drängte von Schwarzenberg den Gast, zu erzählen. »Wie kamst du ins Heilige Land?«

Seyfrid hatte noch nie über seine Erlebnisse auf dem Kreuzzug berichtet. Nicht einmal Roger Frugardi hatte er erzählen wollen, was er vor seiner Ausbildung in der Heilkunde bei Abdul Al-Aziz im Heiligen Land getan hatte. Es fiel ihm auch jetzt schwer, darüber zu reden, doch er fand, dass die Eltern ein Recht darauf hatten zu erfahren, wie ihr Sohn Ulrich ums Leben gekommen war.

»Ich war Schildknappe bei Graf Martin von Saferau, einem getreuen Diener Friedrich Barbarossas. Als er zum Kreuzzug rief, zögerte mein Herr keinen Augenblick. Der Kaiser sammelte, wie ihr wisst, sein Heer in Regensburg. Dort lernte ich Ulrich kennen, weil sein Herr, Graf Otto von Wulferath, mit Graf Martin bekannt war.«

»Ich schätzte Otto von Wulferath sehr, deshalb schickte ich Ulrich zur Ausbildung zu ihm. Leider ist auch Otto auf dem Schlachtfeld in Palästina geblieben«, sagte Conrad von Schwarzenberg betrübt.

»Ulrich und ich freundeten uns schon in Regensburg an und verbrachten so manchen heiteren Abend zusammen. Im Mai 1189 brach unser Heer auf, um Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. Bereits auf dem Weg dorthin kam es immer wieder zu Schlachten, und ich kämpfte oft an Ulrichs Seite. Wir gingen aus jedem Gefecht siegreich hervor, nichts schien uns aufhalten zu können. Doch das Schicksal ereilte Kaiser Friedrich, bevor wir unser Ziel erreichten. Er ertrank in Kleinasien im Fluss Saleph, als sein Pferd scheute und er in voller Rüstung in die reißenden Fluten stürzte. Der Verlust war entsetzlich für uns, und viele kehrten entmutigt wieder in ihre Heimat zurück. Doch Graf Martin und Graf Otto entschlossen sich, mit Friedrich Barbarossas Sohn, Friedrich von Schwaben, weiterzuziehen, um unser Gelöbnis zu erfüllen, die heiligen Stätten zu befreien. Wir erreichten Tyros, das schon lange von den Kreuzrittern gehalten wurde, und setzten dort in der Kathedrale die Gebeine des Kaisers bei. Dann zogen wir weiter nach Akkon, um es von Sultan Saladin zurückzuerobern. Wir kämpften dort zusammen mit König Richard von England und König Philipp von Frankreich. Friedrich von Schwaben starb während der Belagerung am Sumpffieber, doch wir blieben trotzdem. Das stark befestigte Akkon war nicht leicht zu nehmen, wir rannten unzählige Male gegen die Mauern an, und immer wieder gelangen den Sarazenen Ausfälle. Dabei war mir Ulrich stets ein prächtiger Waffengefährte. Seine Schwerttechnik war vortrefflich.«

An dieser Stelle sah Seyfrid den Stolz in den Augen Conrads aufblitzen. »Ich habe ihn schon als kleines Kind gelehrt, mit dem Schwert umzugehen«, erklärte er.

Seyfrid lächelte verständnisvoll und fuhr fort: »Als Akkon im Juli 1191 endlich kapituliert hatte, kam es nach der Besetzung der Stadt zum Disput unter den Heerführern. Herzog Leopold von Österreich war so vermessen, den gleichen Anteil an der Kriegsbeute zu verlangen wie König Richard und König Philipp, doch die lehnten sein Ansinnen ab. Leopold kehrte zutiefst gekränkt umgehend nach Österreich zurück. König Philipp, der Richard nicht wohlgesonnen war, brach ebenfalls kurz nach der Eroberung unter einem Vorwand in seine Heimat auf. Er leistete Richard vor der Abreise einen Schwur, die gemeinsame Grenze mit dessen Ländereien unangetastet zu lassen.«

»Daran hat er sich nicht gehalten«, warf der Freiherr ein. »Philipp versucht seit einiger Zeit, die Normandie zu erobern.«

»Nun, Graf Martin wollte seinen Schwur einlösen, Jerusalem zu befreien, und so unterstellten wir und etliche andere deutsche Ritter uns in Akkon dem Oberbefehl von König Richard. Doch was dann folgte, hat mich und viele andere zutiefst erschüttert. Die Kapitulationsbedingungen von Akkon sahen vor, dass Sultan Saladin Lösegeld zahlen und christliche Gefangene übergeben sollte. Doch hinter Richards Rücken hatte König Philipps Stellvertreter, Konrad von Montferrat, heimlich eigene Verhandlungen mit Saladin begonnen. Richard erfuhr davon und wollte gegenüber den Franzosen und Saladin Härte demonstrieren. Als bei der ersten Übergabe einige adlige Gefangenen fehlten, betrachtete er Saladins Versprechen als gebrochen. Daraufhin ließ Richard alle muslimischen Einwohner Akkons töten. Über zweitausend Männer, Frauen und Kinder.«

Seyfrid schluckte schwer, und seine Augen schimmerten feucht. »Die Straßen schwammen vor Blut. Die Leichen stapelten sich zu Bergen. Es gab kein Erbarmen. Wir zündeten die Toten an, und der schwarze, stinkende Rauch zog weit über das Land.«

Conrad von Schwarzenberg starrte Seyfrid ungläubig an, seine Frau Magdalena hatte erschreckt die Hand über den Mund gelegt.

»Zwei Tage später brachen wir auf, um Jerusalem zu erobern. Das Heer Saladins folgte uns. Manchmal überfielen sie unseren Heereszug in kleinen Trupps aus dem Hinterhalt, mal griffen wir ihre versteckten Lager an, wenn wir sie fanden. Bei Arsuf erwartete uns schließlich das gesamte Heer Saladins.«

Seyfrids Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an, und er nahm einen kräftigen Schluck Wein.

»Es war der 7. September im Jahre des Herrn 1191. Fünfzigtausend Sarazenen traten gegen unser Heer von nur zwanzigtausend Mann an. Es waren über viertausend Ritter unter uns: Tempelritter, Johanniter, Franzosen, Engländer, Flamen, Ritter aus Antiochia, Tyros und Tripolis und wir, die deutschen Ritter. König Richard war ein geschickter Stratege. Er fiel auf keine List Saladins herein, ließ die Sarazenen immer wieder umsonst gegen einen Wall aus Lanzen anrennen, während unsere Armbrustschützen die Angreifer dezimierten. Erst als die sarazenischen Reiter an einer Stelle unsere Reihen zu durchbrechen drohten, griff die Reiterei der Johanniter geschlossen an und schlug sie vernichtend. Doch Saladin gab noch nicht auf und versuchte, uns in einzelne Scharmützel zu verwickeln. Die Schlacht tobte den ganzen Tag, die Zahl der Toten und Verwundeten stieg ins Unermessliche. Ich habe Menschen gesehen, die nur noch aus blutigen Fleischklumpen bestanden, abgetrennte Arme, Beine und Köpfe lagen über das Schlachtfeld verstreut.«

Seyfrid versagte die Stimme. Er musste sich einen Moment sammeln, bevor er fortfahren konnte.

»Einem jungen Burschen namens Lothar, der auch mit Graf Martin gezogen war, wurde durch einen Schwertstreich der Bauch aufgeschlitzt. Er versuchte verzweifelt, seine Eingeweide mit den Händen festzuhalten. Ich sah so viele, die einen langsamen, qualvollen Tod starben. Ich fühlte tiefe Verzweiflung in mir, denn ich konnte ihnen nicht helfen. Ich hatte damals noch keine Ahnung, wie man Wunden versorgt. Die Schreie der Sterbenden hallen mir in meinen Träumen immer noch in den Ohren.«

Der Freiherr und seine Gattin schwiegen betreten. »Verzeiht mir meine offenen Worte«, sagte Seyfrid, und sein Blick schweifte in unendliche Ferne. Schließlich besann er sich wieder auf seinen Bericht.

»Bei einem unserer Angriffe stürzte Graf Martins Pferd, und er lag bewusstlos am Boden. Als die Feinde auf ihn eindrangen, sprang ich hinzu und versuchte sie abzuwehren, doch ich stand allein gegen sie und blutete schließlich aus mehreren Wunden. Da tauchte ein französischer Ritter auf, Graf Louis de Beauvard, und ich hoffte auf Rettung. Doch es hatte zuvor in Akkon eine Fehde zwischen Graf Martin und ihm gegeben, und zu meinem Schrecken wendete de Beauvard sein Pferd und ließ uns im Stich. Ich glaubte schon, mein Schicksal wäre damit besiegelt, da erschien plötzlich Ulrich und drängte mit gewaltigen Streichen die Sarazenen zurück. Wir beide kämpften Rücken an Rücken, ich wüsste nicht mehr zu sagen, wie lange wir uns unseren Gegnern erwehrten. Doch dann endlich türmten die Feinde, unser Heer hatte den Sieg errungen. Als ich mich umdrehte, sah ich in das lachende Gesicht von Ulrich, der seinen Helm abgenommen hatte. Er rief: ›Wir haben Saladin besiegt!‹ In dem Moment bohrte sich ein Pfeil in seine Stirn, und er fiel.«

Magdalena stieß einen Schrei aus und schlug die Hände vors Gesicht. In die Augen von Conrad traten Tränen.

»Ich stürzte zu ihm, nahm seinen Kopf in meine Hände und wollte nicht glauben, dass er tot war. Ich rief immer wieder seinen Namen, aber es war umsonst. Schließlich half ich dem schwer verletzten Graf Martin auf sein Pferd, legte Ulrich dahinter auf den Rücken des Tiers und brachte sie ins Lager. Dort angekommen, verließen mich meine Kräfte, meine Beine trugen mich nicht mehr.«

Seyfrid erhob sich, zog sein Hemd aus und zeigte seinen nackten Oberkörper. Narben zogen sich über seine Brust, die Schultern und den Rücken. »Seit der Schlacht von Arsuf trage ich diese Male auf meinem Körper.«

Lange herrschte Schweigen, während Seyfrid sich wieder bekleidete.

Schließlich räusperte sich Freiherr Conrad. »Hat Graf Martin überlebt?«, fragte er.

Seyfrid schüttelte betrübt den Kopf. »Ich durchwachte die Nacht an seinem Lager, doch er starb im Morgengrauen. Noch auf seinem Totenbett erklärte er meine Ausbildung als Knappe für beendet. Auf Graf Martins letzte Bitte hin verlieh mir König Richard Löwenherz höchstselbst am nächsten Tag im Heerlager die Schwertleite.«

»König Richard hat dir die Ritterwürde verliehen!«, rief der Freiherr beeindruckt aus. »Das hattest du dir redlich verdient.«

Doch Seyfrid widersprach vehement. »Nein, Ulrich hätte es viel mehr verdient als ich. Es war sein größter Wunsch, die Schwertleite zu erhalten.« In einem Ausdruck der Verzweiflung hob er seine Arme. »Ich habe mich so oft gefragt, warum er gestorben ist und nicht ich. Wie konnte es Gottes Wille sein?«

Magdalena stand auf, trat zu Seyfrid und nahm seine Hand. »So darfst du nicht denken! Gottes Wege sind unergründlich. Ich weiß, dass mein Sohn jetzt bei unserem Schöpfer ist, und das spendet mir Trost.«

Seyfrid nickte stumm, obwohl er ihrer Meinung nicht folgen wollte. Er hatte seinen Glauben an den Kreuzzug und die gerechte Sache längst auf den Schlachtfeldern verloren. Doch er konnte und durfte nicht darüber reden, es wäre zu gefährlich. Nur zu gern sprachen die Kirchenfürsten bei ketzerischen Äußerungen die Exkommunikation aus. So schwieg Seyfrid auch diesmal über seine Gefühle.

»Ich selbst habe das Kreuz für Ulrichs Grab aufgestellt«, fuhr er fort. »Es war leider nur ein einfaches Holzkreuz aus zwei Stöcken, etwas anderes stand mir nicht zur Verfügung. Ich habe darauf seinen Namen und meinen Wunsch eingeritzt: ›Ruhe für immer in Frieden‹. Es war das Letzte, was ich tat, ehe ich selbst vor Schwäche zusammenbrach. Meine Wunden forderten ihren Tribut.«

Jetzt konnte Magdalena ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie zog ein kleines Tuch hervor und betupfte ihre Augen.

Der Freiherr stand auf und hob seinen Becher hoch. »Ich bin dir zu tiefem Dank verpflichtet, Ritter Seyfrid von Viskenich! Nicht nur, dass du meinem Sohn ein guter Freund warst, du hast ihn auch aus dem Schlachtgetümmel geholt, für ein christliches Begräbnis gesorgt und den weiten Weg aus dem Heiligen Land auf dich genommen, um uns die Kunde zu bringen.«

Seyfrid zögerte mit der Antwort. Konnte er dem Freiherrn die ganze Wahrheit sagen? Conrad von Schwarzenberg stand nun in seiner Schuld, und Seyfrid hatte Vertrauen zu ihm gefasst. Er schien ihm vom gleichen Schlag zu sein wie Ulrich: treu und aufrichtig bis in den Tod. »Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt«, sagte Seyfrid also. »So setz dich bitte und lausch mir weiter!«

Der Freiherr ließ sich erwartungsvoll wieder auf den Stuhl sinken und gab dem Mundschenk den Wink, eine weitere Runde Wein zu bringen.

»Meine Wunden entzündeten sich, und es ging mir immer schlechter. Ich wurde ins Spital des Deutschen Ordens nach Akkon gebracht. Doch dort waren einfach zu viele Verletzte, als dass sie sich um alle hätten kümmern können. Da hörte ich von einem berühmten Arzt namens Abdul Al-Aziz und bat in meiner Verzweiflung, zu ihm gebracht zu werden, da er nicht weit entfernt südlich von Tyros lebte. Ich hatte zunächst Sorge, ob er als Muslim einen Christen überhaupt behandeln würde. Ich kam mehr tot als lebendig bei ihm an, doch zu meiner Überraschung interessierte es Abdul Al-Aziz nicht, welchen Glaubens ich war. Er sagte, es sei seine Pflicht, jeden Menschen zu behandeln. Er gab mir in seinem Haus ein Lager, versorgte meine Wunden und senkte das Fieber. Seine Behandlung war erfolgreich, und es ging mir bald besser. Abdul Al-Aziz hatte meine Neugier geweckt, es interessierte mich sehr, wie er die mannigfaltigen Krankheiten behandelte, mit denen die Menschen zu ihm kamen. Er hatte in seinem Haus mysteriöse Kräuter und seltsame Geräte, die ich noch nie gesehen hatte.«

Bei der Erinnerung glitt ein Lächeln über Seyfrids Gesicht.

»Abdul Al-Aziz war erfreut, dass ich mich für seine Heilkunst interessierte, und erklärte mir gerne seine Vorgehensweise. Als ich gerade wieder genesen war, kamen drei französische Fußsoldaten in sein Haus und wollten ihn ausrauben. Sie behaupteten, er hätte seine wertvollen medizinischen Geräte von Christen gestohlen. Es waren dumme, gierige Männer ohne jedes Ehrgefühl. Ich nahm einen Stock und jagte die feigen Diebe davon. Abdul Al-Aziz war mir sehr dankbar und bot an, mich in der Heilkunde zu unterrichten. Graf Martin war tot, es gab keinen Herrn mehr, dem ich verpflichtet war, und so blieb ich bei Abdul Al-Aziz und schloss mich nicht wieder dem Heer der Kreuzritter an, um Jerusalem zu erobern.«

Der Freiherr zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

»Abdul Al-Aziz lehrte mich viele erstaunliche Dinge.«

»Du bist bei einem Ungläubigen in die Lehre gegangen?«, entfuhr es Conrad von Schwarzenberg nun doch.

»Es mag dir merkwürdig erscheinen, aber hättest du Abdul Al-Aziz je kennengelernt, würdest du es verstehen. Er war ein heller Geist, überaus gütig und aufrichtig. Sein ganzes Sinnen galt der Medizin. Er wollte anderen Menschen mit seinen Heilkünsten helfen und ihre Krankheiten und Wunden heilen. Ich kam in das Heilige Land, um die Muslime zu töten, aber der Muslim Abdul Al-Aziz wollte Leben retten. Er hatte, ohne zu zögern, mir, einem Christen und damit erklärtem Feind seines Glaubens, geholfen und mir meine Gesundheit zurückgegeben. Ohne ihn wäre ich mit Sicherheit am Wundbrand gestorben. Die Brüder des Deutschen Ordens und die Johanniter weigerten sich hingegen, Muslime zu behandeln. Nun sag mir, wer dem christlichen Gebot der Nächstenliebe mehr entsprach?« Der letzte Satz war Seyfrid in der Hitze seiner Rede herausgerutscht. Erschreckt hielt er inne.

»Ein Muslim, der sich an die christlichen Gebote hält?«, fragte Conrad verblüfft.

»Nein«, entgegnete Seyfrid. »Auch die Muslime haben eine heilige Schrift. Sie nennen sie Koran, und sie regelt ihr Leben genauso, wie es bei uns die Bibel tut. Die Gastfreundschaft ist ihnen ebenso heilig, wie es bei uns der Brauch ist. Auch Mildtätigkeit ist für sie Pflicht. Überhaupt gibt es erstaunlich viele Übereinstimmungen zwischen ihnen und uns.«

Magdalena hatte ihn die ganze Zeit mit ihren sanften Augen beobachtet. »Du hast den Glauben an deine heilige Aufgabe verloren, Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien«, stellte sie ohne Vorwurf in der Stimme fest.

Seyfrid war wie vom Donner gerührt. Sie sprach sein tiefstes Geheimnis aus. Seine innere Qual, die ihn fast um den Verstand gebracht hätte. Er schwieg lange und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie sollte er es jemandem begreiflich machen, der nie im Heiligen Land gewesen war? Der die Schlachten und das Töten nie erlebt hatte? Der keine Erfahrung mit dem Leben der Menschen dort hatte? Wie sollte er erklären, dass er nicht aus Feigheit, sondern aus Gewissensnot das Heilige Land verlassen hatte, bevor der Kreuzzug offiziell für beendet erklärt worden war?