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Das Unheil bricht über ein idyllisches Eifeldorf herein, als die Leiche einer jungen Frau gefunden wird. Zunächst wollen es die Einwohner nicht wahrhaben, aber der Mörder muss unter ihnen sein. Der vor kurzem zugezogene Marcus Junker trägt ebenfalls ein Geheimnis mit sich. Er war einst erfolgreicher Kommissar bei der Mordkommission in Köln, bis er einen folgenschweren Fehler beging. Psychisch angeschlagen quittierte er den Dienst und suchte einen anonymen Neuanfang. Doch nun holen ihn seine Albträume wieder ein. Als einzige Möglichkeit bleibt ihm, den Mord auf eigene Faust aufzuklären. Widerwillig macht er sich ans Werk, doch trifft er auf eine Mauer des Schweigens und des Misstrauens. Das Dorf birgt ein schreckliches Geheimnis.
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Seitenzahl: 397
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Tote schweigen für immer Autor: Ingo Gach Copyright © 2012 by Ingo Gach published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de Coverfoto: © Andrea Brenn ISBN 978-3-8442-4235-5
Völlige Dunkelheit umgab sie. Es war nicht wie das diffuse Dämmerlicht, das außerhalb des Dorfs herrschte, wenn man die letzte Straßenlaterne hinter sich gelassen hatte. Das hier war einfach schwarz. Egal, ob ihre Augen offen oder geschlossen waren, sie konnte überhaupt nichts sehen.
Eine erneute Panikattacke überrollte sie. Wie wahnsinnig zerrte sie an ihren Fesseln und spürte gar nicht mehr, wie der scharfkantige Kabelbinder weiter in ihre Handgelenke schnitt. Sie hatte schon vor Stunden begriffen, dass Befreiungsversuche zwecklos waren, dennoch wollte sie es nicht wahrhaben. Er hatte ihr nicht nur die Hände hinter dem Rücken gefesselt, sondern auch mit einem kurzen Strick an die Füße gebunden, so dass sie in unnatürlicher verkrümmter Haltung im Hohlkreuz lag. Es gab keine Chance, aufzustehen oder sich auch nur wegzurollen.
Das Atmen fiel ihr schwer, das zähe Klebeband auf ihrem Mund ließ sich einfach nicht lösen, so sehr sie es auch versucht hatte. Schreien war ausgeschlossen. Und selbst wenn sie sich die Lunge aus dem Leib gebrüllt hätte, niemand hätte sie hier hören können. Es war ein fürchterlicher Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.
Ihr ganzer Körper schmerzte. Ihre Muskeln wurden immer wieder von Krämpfen geschüttelt und ihre Ellenbogen hatte sie sich auf dem harten Steinboden blutig geschlagen. Die Kälte kroch durch ihren Körper. Sie wollte weinen, hatte aber keine Tränen mehr. Warum, o Gott, warum?
Erneut fiel in ihrer Nähe ein Wassertropfen. Sie hörte das zarte Platschen des Aufpralls. Wo kam er nur her, es hatte doch seit Tagen nicht mehr geregnet? Im gleichen Augenblick schüttelte sie den Gedanken ab. Wie konnte sie nur an so etwas Unwichtiges wie das Wetter denken? Sie verspürte Durst, schrecklichen Durst. Wann habe ich das letzte Mal etwas getrunken? Sie konnte sich nicht erinnern.
Ein Geräusch! Ein leises Rascheln. Kam er wieder? Oder hatte sie es sich nur eingebildet? Sie wusste nicht, ob sie sich seine Wiederkehr herbei wünschen oder fürchten sollte. Was würde er mit ihr machen?
Erneut ein leises Kratzen. War es ein Tier? Hoffentlich waren es keine Ratten. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Ratten nachts hilflose Gefangene annagen würden. Die Vorstellung beschleunigte ihren Herzschlag, und sie lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Doch es herrschte völlige Stille.
Ihre Mutter würde schon längst nach ihr suchen lassen. Ganz bestimmt. Sicher war das gesamte Dorf auf den Beinen, um sie zu retten. Wir konnten uns doch immer aufeinander verlassen.
Wie spät war es? Selbst am Tag konnte sie nur ein schwaches Zwielicht erkennen. Als die Nacht herein gebrochen war, wurde sie müde und konnte dennoch nicht schlafen. Die Angst hielt sie wach.
Der Himmel war an diesem Morgen tiefblau und wolkenlos, als das Grauen ohne Vorwarnung über das Dorf hereinbrach.
Eine Fliege setze sich auf mein Gesicht und weckte mich. Ich verscheuchte das lästige Insekt und wühlte mich schweißgebadet aus dem Bett. Vor meinem offenen Schlafzimmerfenster hing ein verrostetes Thermometer. Es zeigte mit 27 Grad um acht Uhr morgens einen neuen Rekord für diesen Sommer an.
Ich trat an das Fenster und blinzelte nach draußen. Ein Schwall trockenheißer Luft traf meine Haut wie ein Fön. Das Gras in meinem immer noch verwilderten Garten hatte sich gelb verfärbt. Ich nahm mir erneut vor, endlich das Unkraut zu jäten und die Pflanzen rund um mein Haus zu wässern und hoffte, diesmal wirklich daran zu denken.
Ein stabiles Hochdruckgebiet lag seit einer Woche über der Eifel, was selten vorkam. Zuerst hatten sich alle im Dorf darüber gefreut, aber nun jammerten bereits die Ersten über die Hitze und vor allem über die anhaltende Trockenheit. Das Getreide würde bald verdorren, wenn kein Regen käme. Selbst die Halster, die dem kleinen Ort seinen Namen gegeben hatte, führte nur noch die Hälfte des sonst üblichen Wassers.
Das Schreckgespenst der Missernte schwebte drohend über dem Tal. Fast alle hier waren von der Landwirtschaft abhängig. Wenn die Einwohner des Dorfs jedoch gewusst hätten, was in den nächsten Tagen noch auf sie zukommen würde, hätten sie eine Dürre mit Freuden vorgezogen.
Ich schleppte mich zum Kühlschrank, um eine halbe Flasche Wasser leer zu trinken. Es half nichts, ich hatte den Eindruck, als würde mein Körper die Flüssigkeit sofort wieder aus allen Poren herausdrücken. Selbst eine kalte Dusche wollte kaum Linderung bringen. Als ich danach in den Badezimmerspiegel sah, starrte mich ein Gesicht an, das bereits von den ersten Falten durchzogen war und dessen braune Augen leicht gerötet waren. Ich streckte mir die Zunge heraus.
Den Versuch, meine dunklen Haare in so etwas wie eine Frisur zu bringen, gab ich bald auf. Es war mir egal, da ich annahm, dass mich heute ohnehin niemand sehen würde. Ich sollte mich gewaltig täuschen.
Mein Frühstück bestand wie immer aus einer Tasse starken Kaffee, bevor ich mich meiner täglichen Arbeit zuwandte. Ich restaurierte alte Motorräder. Dieser Tätigkeit ging ich nun seit fast einem Jahr nach. Im Dorf dachten alle, dass ich schon immer Mechaniker gewesen sei. Ich ließ sie in dem Glauben. Was ich in meinem früheren Leben gemacht hatte, ging niemanden etwas an. Ich wollte nicht, dass es jemand erfährt.
Zu meiner Arbeitsstätte hatte ich es nicht weit: Es war ein Holzschuppen in meinem Garten, der irgendwann einmal als Garage gedient hatte. Er war geräumig, so dass zwei Wagen bequem nebeneinander hätten stehen können. Doch ich hatte keine Autos in den Schuppen gestellt. Ich öffnete die quietschende Holztür und begab mich an die Reparatur eines vierzig Jahre alten Motorrads der Marke Triumph, das ich vor einigen Tagen in desolatem Zustand günstig gekauft hatte.
An einer Wand hing ein billiger Kalender, der sich als Beilage in einer Motorradzeitschrift befunden hatte. Im Vorbeigehen registrierte ich, dass wir den dreizehnten August hatten. Ein Tag wie jeder andere, dachte ich flüchtig.
Das musste ungefähr der Zeitpunkt gewesen sein, als Helmut Rodder verstört ins Dorf gestolpert kam. Ich erfuhr erst später im ‚Dorfkrug’, dass Rodder mit hochrotem Gesicht an einigen Leuten vorbei gerannt war, das Gewehr über der Schulter, und sein imposanter Bierbauch dabei wie wild tanzte. Die wenigen Dorfbewohner, die er traf, hatten ihm verwirrt nachgesehen, doch der Landwirt schien sie nicht einmal wahrgenommen zu haben. Schwitzend und keuchend hatte Rodder schließlich seine Haustür aufgestoßen.
Sein Anblick hatte ausgereicht, um seine Ehefrau Helga sofort begreifen zu lassen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste, wie sie wenige Stunden darauf aufgeregt in der einzigen Gastwirtschaft des kleinen Orts erzählte. Der Großteil der Dorfbewohner war bei ihrem schluchzend vorgetragenen Bericht anwesend, einschließlich meiner Wenigkeit.
„Vom Sporttreiben hat Helmut ja noch nie etwas gehalten, und dennoch ist er den ganzen Weg aus dem Wald bis zum Hof gerannt“, sagte sie aufgelöst.
Rodders Passion galt der Jagd, und er war bereits in der Morgendämmerung auf die Pirsch gegangen. Sein gepachtetes Revier grenzte unmittelbar an das Dorf, und bis zum Hochsitz waren es von seinem Bauernhof zwanzig Minuten Fußmarsch.
Dass Rodder zunächst mit seiner Frau kein Wort gewechselt hatte, sondern an ihr vorbei in das Wohnzimmer gestürzt war, um sich einen Schnaps zu genehmigen, wunderte mich nicht. Es war auch kaum der Erwähnung wert gewesen, denn jeder im Ort wusste, dass Rodder in einer alten Destille hinter seiner Scheune Wacholderschnaps brannte. Schwarz natürlich, aber das störte niemand, schließlich verkaufte er den Schnaps günstig an das halbe Dorf. Er selbst war jedoch sein größter Abnehmer.
„Helmuts Finger haben beim Einschenken gezittert wie Espenlaub“, erzählte Helga und demonstrierte das Zittern mit ihren eigenen Händen.
Ich saß nur zwei Tische weiter und beobachtete, wie sich ihre Augen langsam wieder mit Tränen füllten. Ihr Taschentuch war bereits völlig zerknüllt und durchnässt, dennoch betupfte sie sich erneut die Augenwinkel.
„Er hatte die Hälfte des Schnapses auf dem Boden verschüttet, und hat deshalb noch ein zweites Glas hinuntergekippt hat. Erst dann war er in der Lage mir zu sagen, was passiert ist.“
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als wage sie es kaum auszusprechen. „Eine Leiche liegt beim Hochsitz, hat Helmut schließlich geflüstert. Es war fürchterlich!“
Helga Rodder wurde für einige Sekunden von ihren Gefühlen übermannt und schluchzte haltlos. Roswitha Schuster, die neben ihre saß, drückte ihr mitfühlend die Hand.
„Ich habe ihn gefragt, wer es sei, aber er hat erst ein drittes Glas gebraucht, ehe er mir sagen konnte, dass es Melanie ist.“
Alle Anwesenden hielten entsetzt den Atem an, obwohl sie es längst wussten. Aber die Schilderung von Helga Rodder machte ihnen erneut klar, dass das Böse Einzug in Halsterbach gehalten hatte.
„Du musst zum Jupp, habe ich ihm natürlich sofort gesagt!“, fügte Helga Rodder im inbrünstigen Ton noch hinzu, als hätte sie damit die einzig richtige Entscheidung getroffen.
Weshalb Rodder zuerst Josef Schuster, den Bürgermeister des Dorfes, benachrichtigte, konnte er einige Stunden später der Polizei nicht plausibel erklären. Ich hingegen wusste es: Man misstraute jedem, der nicht von hier stammte. Wenn es ein Problem gab, hatten die Halsterbacher die Angewohnheit, sich immer erst an „Jupp“ Schuster zu wenden. Auch wenn der Bürgermeister keine sonderlich große Leuchte war, so war er doch ungeheuer Pflicht bewusst. Tatsächlich war er der Einzige, der sich für das Amt, das er neben seinem Beruf als Landwirt ausübte, überhaupt zur Verfügung gestellt hatte. Er nahm es jedoch sehr ernst und gab sich stets Mühe, eine Lösung für ein ihm vorgetragenes Problem zu finden. Allerdings war seine Suche nicht immer von Erfolg gekrönt.
Innerhalb des Dorfs verlief der Informationsfluss wie eh und je hervorragend. Es verblüffte mich regelmäßig, wie schnell sich Vorfälle, aber auch Gerüchte in Halsterbach verbreiteten. Als ob jemand mit einem Megaphon durch den Ort laufen würde.
Helga Rodder hatte ihrem Mann das Telefon aus der Hand genommen, kaum dass er Jupp Schuster über die schreckliche Entdeckung in Kenntnis gesetzt hatte, und sie hatte Renate Kesseling angerufen. Diese führte zusammen mit ihrem Mann Klaus die einzige Bäckerei im Dorf, wo fast jeder Einwohner mindestens einmal am Tag auftauchte. Helga hatte ihrer Freundin Renate mit Entsetzen von der Neuigkeit erzählt. Innerhalb von einer Stunde wusste jeder im Ort, selbst die Bauern und Arbeiter, die auf den Äckern beschäftigt waren, dass Melanie Köhler tot im Wald lag.
Ich war gerade dabei gewesen, die Vergaser der alten Triumph Bonneville auseinander zu nehmen, als jemand gegen das Tor klopfte, und ehe ich antworten konnte, stand auch schon Hannes im Raum.
„Morgen, Marcus, alter Schrauber! Ich muss rüber in den Baumarkt, eine Ladung Holzlatten holen und könnte eine helfende Hand beim Einladen gebrauchen.“
Eigentlich hatte ich noch an diesem Vormittag mit den Vergasern fertig werden wollen, aber bei Hannes fiel es mir schwer abzulehnen. Er war es gewesen, der mir mein Leben in Halsterbach wesentlich erleichtert hatte. Am Anfang war ich gegenüber den Einwohnern noch sehr zurückhaltend gewesen, um es vorsichtig auszudrücken. Als ich vor zwölf Monaten hierher gezogen war, erschienen mir alle Kontakte suspekt, und ich versuchte sie weitestgehend zu vermeiden. Die Erfahrungen, die ich in den beiden Jahren zuvor gemacht hatte, waren einfach zu schmerzhaft gewesen. Doch inzwischen mochte ich Hannes mit seinem dröhnenden Lachen. Der riesige Kerl war ein herzlicher Mensch, dem Freundschaft noch etwas bedeutete. Er hatte mich sozusagen unter seine Fittiche genommen und im Dorf eingeführt.
Ich legte den Schraubenschlüssel auf die Werkbank und versuchte vergeblich, mir die öligen Finger an einem ebenso verschmierten Tuch abzuwischen.
„In Ordnung“, nickte ich, „aber ich möchte mittags wieder hier sein, um die Triumph zusammenzubauen.“
„Wenn der Schrotthaufen seit zehn Jahren nicht mehr gelaufen ist, wird er es auch noch einen halben Tag länger aushalten“, erklärte Hannes bestimmt und schob mich aus dem Schuppen.
Es gab nur eine Durchgangsstraße in Halsterbach. Um zu dem zwanzig Kilometer entfernten Baumarkt zu gelangen, mussten wir zunächst das Dorf durchqueren. Ich saß auf dem Beifahrersitz des alten Mitsubishi Pajeros von Hannes. Er erklärte mir gerade, wie er seinen Dachstuhl weiter ausbauen wollte, als Oliver Barweiler, der Wirt des ‚Dorfkrug’, wild winkend auf uns zu gerannt kam. Hannes musste hart bremsen, um ihn nicht anzufahren. Er ließ das Seitenfenster runtersurren. Keuchend und mit geweiteten Augen stützte sich Barweiler am Dach des Geländewagens ab.
„Was ist los, Olli?“, fragte Hannes grinsend. „Habe ich meinen Deckel gestern Abend nicht bezahlt?“
Barweiler ignorierte die Frage. „Hast du es schon gehört? Die Melanie liegt tot im Wald.“
Wir sahen den immer noch schnaufenden Wirt fassungslos an.
„Sind Sie sicher?“, fragte ich.
„Ja, nein. Also, ich habe sie noch nicht gesehen.“
„Von wem wissen Sie es?“
„Helmut hat sie gefunden, sie liegt direkt neben seinem Hochsitz.“
„Scheiße!“, fluchte Hannes und drückte das Gaspedal durch, so dass der Wirt einen Satz rückwärts machte. Mich schmiss es gegen die Rückenlehne.
„Was hast du vor?“, fragte ich.
„Wir müssen sofort hin, vielleicht lebt sie noch! Helmut genehmigt sich auf seinem Hochsitz gerne mal ein paar Schnäpse, da würde ich mich nicht auf sein Urteilsvermögen verlassen, ob jemand wirklich tot ist.“
Ich brachte keinen Ton heraus. Es war genau das, wovor ich geflohen war. Ich fühlte, wie eine eisige Kälte mein Rückgrat entlang kroch. Doch ich hatte keine Wahl, wir fuhren zum Fundort einer Leiche.
Mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit jagte Hannes den Geländewagen aus dem Dorf hinaus und bog nach hundert Metern in einen schmalen Waldweg ein, der eigentlich für Fahrzeuge gesperrt war. Es schüttelte uns heftig durch, da der Untergrund von Löchern übersät war, aber Hannes ging nicht einen Millimeter von Gas. Ich befürchtete schon, dass die bereits von reichlich Rost gezierte Karosserie einfach auseinander brechen würde.
Viermal bog er ab, ehe sich nach wenigen Minuten eine Lichtung von etwa dreißig Metern Durchmesser vor uns öffnete. Sie war umgeben von dichtem Laubwald und wuchernden Brombeerbüschen. Am Waldrand stand ein verwitterter Hochstand. Wenige Schritte davon entfernt lag eine leblose Gestalt im Gras. Die Halme standen gut zwanzig Zentimeter hoch und es war aus der Distanz nicht zu sagen, ob es sich um einen Mann oder Frau handelte.
Hannes machte eine Vollbremsung. Wir sprangen gleichzeitig aus dem Wagen und rannten zu dem regloser Körper. Melanie lag auf der Seite, so dass nur ihre linke Gesichtshälfte zu sehen war. Ihr glasiges Auge starrte in unendliche Ferne.
Es war nun schon ein Jahr her, dass ich mit meinem betagten VW Bus in Halsterbach angekommen war, einem winzigen Dorf in der Eifel. Eingerahmt von dicht bewaldeten Bergrücken durch deren Tal sich ein kleiner Fluss schlängelte, der dem Zweihundert-Seelen-Ort seinen Namen gegeben hatte. Um das Dorf dehnten sich einige Äcker und Wiesen aus. Selbst für die dünn besiedelte Eifel lag Halsterbach abseits und einsam. Nur eine schmale, kurvige Landstraße, deren Asphaltbelag schon seit Jahrzehnten verfiel, führte in das Dorf hinein und auf der anderen Seite schnell wieder hinaus.
Es gab hier nichts, was dem zufällig Durchreisenden aufgefallen, geschweige denn gehalten hätte. Der Ort bestand aus ein paar Dutzend Häusern und einer Hand voll Bauernhöfen. Die meisten davon waren alt, verwittert und unscheinbar. Ein Dunst nach Vieh und Ställen lag an windstillen Tagen in der Luft. Die Traktoren malten Lehm verschmierte Spuren auf die Straße, und die Kühe hinterließen auf ihrem täglichen Weg zu den Weiden noch mehr Dreck. Es kümmerte niemand, denn es war immer so gewesen.
Die aus dunkelroten Backsteinen erbaute Kirche mit ihrem gedrungenen Glockenturm war das einzige größere Gebäude in Halsterbach. Sie war von einem fantasielosen Architekten vor einem halben Jahrhundert entworfen worden, nachdem die alte Kirche abgebrannt war. Der Neubau hatte möglichst wenig Kosten verursachen sollen, was man ihm auch ansah.
Das Zentrum des Dorfes bildete eine Kreuzung, die die Einwohner ironisch als ihren ‚Marktplatz’ bezeichneten. Dabei war hier noch nie ein Markt abgehalten worden. Lediglich die einzige Wirtschaft mit Namen ‚Zum Dorfkrug’, die direkt an der Kreuzung lag, sorgte dafür, dass dort allabendlich und natürlich nach der Sonntagsmesse die Einwohner zusammenkamen. Eine andere Möglichkeit der Freizeitgestaltung gab es in Halsterbach nicht. Noch nicht einmal ein Fußballplatz existierte, die Dorfjugend kickte notgedrungen auf einer Kuhweide.
Die Einwohner trugen ihre Arbeitskleidung oft auch nach Feierabend, es legte hier niemand Wert auf schickes Aussehen. Abgesehen davon hätten die meisten es sich auch nicht leisten können. Lediglich die Frauen des Dorfs gaben sich Mühe, falls sie abends ihre Männer in den ‚Dorfkrug’ begleiteten. Sie legten in dilettantischen Versuchen Make-up auf und trugen Frisuren, die schon seit langem aus der Mode waren. Doch die rissige Haut und die Schwielen an den Händen zeugten davon, dass auch sie hart arbeiteten.
Die Gespräche kreisten immer um die gleichen Themen: die Ernte, die Viehzucht, Fußball und darum, dass die Böschung der Halster endlich befestigt werden sollte, damit der Fluss nach starken Regenfällen nicht mehr über die Ufer treten und die Straße überschwemmen konnte. Doch dafür brauchte man Geld und die Gemeinde war arm, was in Halsterbach überall ersichtlich war. Von der Kreisverwaltung oder gar Landesregierung konnte man – da waren sich alle einige – sowieso keine Unterstützung erwarten.
Die Bewohner von Halsterbach hatten im Lauf der Geschichte ihres Ortes viele schlechte Erfahrungen mit Fremden gemacht, die sich für ihre Belange nicht interessierten. Weil von außerhalb noch nie etwas Gutes gekommen war, musste die Dorfgemeinschaft zusammenhalten, um sich gegen die restliche Welt behaupten zu können, lautete die einhellige Meinung.
Am Ortsende stand abseits am Waldrand ein altes, unbewohntes Fachwerkhaus. Das Dach hatte Löcher, der Putz bröckelte von den Wänden, einige Fensterscheiben waren zerbrochen und der Garten völlig verwildert. Um das Grundstück zog sich ein uralter Baumbestand und wuchernde Hecken, weshalb es von außen nicht einsehbar war. Nur ein holpriger Weg aus Lehm und Kies führte über rund fünfzig Meter zu dem niedrigen Tor im Gartenzaun, an dem einige Latten fehlten. Unmittelbar hinter dem Areal plätscherte die Halster entlang.
Ich werde den Augenblick nie vergessen, als ich zum ersten Mal davor stand. Niemand würde sich hierhin verirren. Mein neues Zuhause. Es kam mir vor wie das Paradies.
Nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war, erschien mir die Stille so unwirklich, dass ich für einen Moment den Eindruck hatte, mit meinen Ohren würde etwas nicht stimmen. Wenn man sein Leben in einer Großstadt wie Köln verbracht hatte, kannte man im Freien das Fehlen der typischen Hintergrundgeräusche von Stimmen, Verkehr und plärrenden Lautsprechern einfach nicht.
Ich hatte das Haus im Internet bei irgendeinem windigen Immobilienmakler gefunden. Er pries es als „Perle in der Ruhe der Natur“ und „absolutes Schnäppchen“ an. Dass er einen überzogenen Preis verlangte, war mir klar, als ich ihm nach der Besichtigung zwanzig Prozent weniger bot und er trotzdem sofort einverstanden war. Aber da der Makler zusicherte, den Verkauf schnell abzuwickeln und innerhalb einer Woche einen Notartermin organisieren zu können, feilschte ich nicht weiter, sondern willigte ein.
Der Kerl musste mich für einen Idioten gehalten haben, weil ich die schier unverkäufliche Bruchbude genommen hatte. Er hatte sich danach garantiert vergnügt die Hände gerieben, so leicht jemanden ausgenommen zu haben. Es war mir egal.
Der Makler konnte nicht ahnen, dass es für mich um Leben und Tod ging und es mir einerlei war, wo ich versuchen würde zu überleben. Ich wollte nur weg und alles hinter mir lassen, bevor ich daran zugrunde ging.
Um mir das Haus leisten zu können, kratzte ich einen Großteil meiner Ersparnisse zusammen, nahm einen Bankkredit auf und verkaufte die Hälfte dessen, was ich besaß. Vor allem die Sachen, die mich an mein früheres Leben erinnerten. Manches entsorgte ich sogar kurz entschlossen auf der Müllkippe. Ich wollte es nicht mehr sehen.
„Renovierungsbedürftig“, wie es in dem Inserat geheißen hatte, war noch eine gnadenlose Untertreibung für den Zustand des Hauses. Es war schon über hundert Jahre alt, und die letzte Besitzerin war im hohen Alter kinderlos gestorben. Eine entfernte Verwandte, die das Haus geerbt hatte und im Ausland lebte, wollte es einfach nur loswerden. Es hatte viele Jahre leer gestanden und niemand hatte die Ruine kaufen wollen. Bis ich kam.
Andere hätten das marode Gemäuer wahrscheinlich komplett abgerissen. Aber ich hatte Zeit, viel Zeit und kaum eine Vorstellung, was ich damit anfangen sollte. Da kam mir die Aufgabe, mein eigenes Heim instand zu setzen, beinahe wie ein Geschenk vor.
Ich räumte meine Sachen in das einzige Zimmer, das sich im halbwegs bewohnbaren Zustand befand. Es war nicht viel, was ich aus meinen Wagen laden musste.
Am nächsten Tag kam der erste neugierige Dorfbewohner, um den Deppen zu sehen, der die alte Ruine gekauft hatte. Er fand mich voller Eifer vor, wie ich versuchte, ein Fenster, das nicht mehr schloss, zu reparieren. Es sah dilettantisch aus und war es auch. Aber ich tat etwas Sinnvolles und allein das Gefühl ließ mich aufblühen.
Mit einer Bassstimme stellte er sich als Hannes Overich vor und zerquetschte mir beinah die Hand. Er war fast zwei Meter groß mit Pranken wie Bratpfannen. Ich schätze ihn auf mein Alter, Mitte dreißig. Sein verschmitzter Gesichtsausdruck mit den schelmisch blitzenden Augen fiel mir sofort auf. Er erklärte, dass er den Bauernhof ein paar hundert Meter weiter bewirtschafte und ihm jemand aus dem Dorf erzählt habe, dass gestern Nachmittag ein voll bepackter VW Bus mit Kölner Kennzeichen hier angekommen sei. Es war das erste Mal, dass ich erfuhr, wie schnell sich Neuigkeiten in einem kleinen Dorf herumsprechen und jeder über jeden Bescheid wusste.
Zu meiner Überraschung bot mir Hannes sogar seine Hilfe bei den Reparaturen am Haus an, die ich aber dankend ablehnte. Mit einem Blick auf die massenhafte Arbeit, die mir noch bevorstand, zuckte er nur grinsend die Achseln und meinte, ich könne es mir ja noch überlegen.
Seitdem arbeitete ich nicht nur an dem Haus, sondern auch an meinem Verhältnis zu den Dorfbewohnern. Dank Hannes verspürte ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder so etwas wie Optimismus.
Ich renovierte mein neues Heim grundlegend. Sicher fehlte mir für viele Arbeiten die Erfahrung. Ich hatte weder vom Dachdecken, noch vom Verputzen, Heizung reparieren oder vom Fliesen legen viel Ahnung, aber nach und nach begriff ich, worauf es ankam. Als die wichtigsten Reparaturen nach etlichen Wochen schließlich abgeschlossen waren, war ich auch ein bisschen stolz auf mich. Die meisten meiner Werke waren zwar weit entfernt von der Perfektion, aber wenigstens funktionsfähig und manches sogar durchaus ansehnlich.
Langsam kam ich innerlich wieder zur Ruhe. Hatte ich mich in den Monaten vor meinem Umzug permanent angespannt und ausgebrannt gefühlt, verspürte ich mittlerweile eine gewisse Ausgeglichenheit. Die Tage verliefen beschaulich. Ich konzentrierte mich auf die Reparaturen an meinem Haus und versuchte, mir einen bestimmten Tagesrythmus anzueignen.
Ich genoss die Stille. Nur hin und wieder hörte ich in der Ferne die Kühe oder das Rattern eines Traktors. Ich musste keinen Menschen sehen, wenn ich nicht wollte, kein Telefon klingelte. Manchmal ließ ich das Werkzeug einfach fallen und durchstreifte stundenlang den Wald. Es hatte etwas Meditatives. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal jemand werden würde, der sich für die Natur begeistern könnte. Es erfüllte mich mit einem bisher unbekannten Gefühl von Frieden.
Diverse Gerüchte kursierten über mich in Halsterbach, wie ich von Hannes erfuhr. Manche waren amüsant, wie etwa, ich wäre ein abgedrehter Künstler auf der Suche nach Inspiration. Anderen erschien ich eher verdächtig, und sie behaupteten, ich würde mich vor Gläubigern verstecken.
Es war mir gleichgültig, ich hatte von vorneherein beabsichtigt, meine Berührungspunkte mit den Dörflern auf ein notwendiges Minimum zu beschränken. Meine Introvertiertheit kam den Einwohnern entgegen, denn sie hegten die gleiche Absicht mir gegenüber. Wenn ich während der ersten Wochen durch den Ort ging, folgten mir häufig neugierige Augenpaare. Manche heimlich hinter den Gardinen, andere ganz offen auf der Straße. Nur ein Gespräch wollte niemand mit mir beginnen. Mir was das recht so. Lediglich beim Bäcker und in dem winzigen Laden, der sich hochtrabend ‚Supermarkt’ nannte, war ich gezwungen, Konversation zu betreiben. Man begegnete mir dort höflich, aber wortkarg.
Trotzdem interessierte alle brennend, wer ich war und was ich machte. Die einzige verlässliche Informationsquelle für sie war Hannes, und der äußerte sich lobend über mich. Nur die Frage, warum ich nach Halsterbach gezogen war, konnte auch er nicht zufrieden stellend beantworten. Ich hatte ihm erzählt, dass ich einfach ein ruhiges Plätzchen gesucht hätte, aber Fragen nach meinem früheren Leben wich ich aus. Ich erklärte lediglich vage, dass ich mich beruflich neu orientieren wolle, allerdings noch keine konkrete Vorstellung darüber hätte.
Hannes kam manchmal unangekündigt vorbei, um zu plauschen. Er unterschied sich von den übrigen Halsterbachern darin, dass er offen, kontaktfreudig und eine Frohnatur war. Zunächst wusste ich nicht, was ich von ihm halten sollte, gewöhnte mich aber schließlich an ihn. Manchmal legten wir uns in zwei Liegestühlen in den Garten, wie ich optimistisch die verwilderte Wiese hinter meinem Haus bezeichnete, und tranken ein paar Bier zusammen. Er erzählte mir von seinem Leben, seiner Familie und den Sorgen über die Zukunft, denn seinem Betrieb ging es, wie fast allen in Halsterbach, nicht gut. Meistens beschränkte ich mich auf das Zuhören und stellte nur manchmal aus Höflichkeit ein paar Fragen.
Eines Tages, während ich gerade den Fußboden meines Wohnzimmers mit Holzbohlen auslegte, fragte Hannes mich unverhofft, ob ich ihm helfen könne. „Du scheinst ein fähiger Handwerker zu sein. Hättest du nicht Lust, meinen Dachboden auszubauen? Ich bezahl dich natürlich dafür.“
Ich zögerte zunächst und sagte, ich müsse erst mein Haus fertig stellen. In Wahrheit war es nur eine Ausrede, weil ich mir nicht sicher war, ob ich engeren Umgang mit jemandem haben wollte. Ich war in den zwei Monaten, seit ich ihn kannte, noch nie bei ihm zuhause gewesen, trotz einiger Einladungen. Bisher hatte ich immer irgendwelche Gründe vorgeschoben.
Erst am nächsten Morgen wurde mir klar, dass ich den riesigen Kerl mit dem herzlichen Lachen eigentlich ganz sympathisch fand und mich gerne mit ihm unterhielt. Ich kam mir auf einmal lächerlich vor, das Angebot ausschlagen zu wollen, nur weil ich Angst vor einer neuen Freundschaft hatte. Spontan zog ich meine zerschlissene Lederjacke an und lief durch den Regen zu Hannes’ Hof. Als er öffnete, war ich völlig durchnässt, und das Wasser lief mir in Strömen durch die Haare in den Kragen. Ich teilte ihm nur knapp mit, dass ich seinen Dachboden ausbauen würde, wenn er noch wolle.
Hannes war so verblüfft über meinen Anblick, dass er mich zunächst entgeistert anstarrte. „Nur deshalb hast du dich komplett durchweichen lassen? Ich habe auch ein Telefon“, sagte er schließlich und musste dann fürchterlich lachen.
Neben Hannes gab es kurz nach meinem Eintreffen in Halsterbach noch eine weitere Person, die wenigstens vorübergehend den Kontakt mit mir suchte – den Pfarrer.
Etwa zwei Wochen nach meiner Ankunft, sprach er mich an, als ich gerade die Kirche passierte. Das Pfarrhaus, das gleichzeitig seine Wohnung beherbergte, lag direkt nebenan. Auch wenn ich ihn noch nie gesehen hatte, signalisierte der weiße, steife Kragen unmissverständlich, dass es sich bei seinem Träger um einen Geistlichen handelte.
„Ah, unser neues Gemeindemitglied!“, rief er, kaum dass er mich sah und eilte mir strammen Schrittes entgegen.
Er stellte sich vor und reichte mir die Hand. Sie war kalt und feucht. Sein Name war Herbert Bäumler und er wirkte aalglatt auf mich. Dabei war er keine ungepflegte Erscheinung, wenn auch seine dicken Lippen mich irgendwie an einen Fisch erinnerten. Er ging auf die Fünfzig zu, und seine grauen Haare waren an der Stirn weit nach oben zurückgewichen. Die blauen Augen wirkten kühl und berechnend.
Seine Mimik wirkte aufgesetzt und in seinem Gesicht war kein Funken echter Freundlichkeit zu erkennen. Ich misstraute Menschen, die nicht ehrlich lächeln konnten. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, ausgerechnet bei ihm zu beichten, selbst wenn ich gläubig gewesen wäre.
Um nicht unhöflich zu erscheinen, ließ ich mich auf ein Gespräch ein. Nach ein paar kurzen Floskeln über das Wetter und meine Hausrenovierung leitete Bäumler direkt zu seinem Lieblingsthema über: Seiner harten Arbeit für die Gemeinde. Wie ich später erfuhr, ließ er kaum eine Gelegenheit aus, um seine aufopfernde Rolle für das Werk Gottes zu betonen.
„Das Leben ist nicht einfach hier “, erklärte er mir in leidendem Tonfall. „Aber ich arbeite seit fünfzehn Jahren daran, dass es jeden Tag ein kleines Stück besser wird. Und die Menschen in Halsterbach sind fleißig und gottesfürchtig, wie sie sicher schon gemerkt haben.“
Ich ahnte, worauf er hinaus wollte und versuchte, dem Thema auszuweichen, doch Bäumler nagelte mich fest. „Ich habe Sie leider bis heute noch nicht in unserer Kirche begrüßen können, Herr Junker“, kam er auf den Punkt.
„Ich fürchte, ich bin ein schwarzes Schaf, Herr Pfarrer, und es hat keinen Zweck, mich zur Herde zurückführen zu wollen!“
Hatte Bäumler bis dahin noch versucht, den aufopfernden Seelsorger zu spielen, trat nun eine steile Falte zwischen seine Augen und seine Stimme wurde um eine Nuance schroffer. „Es ist ein Fehler, den Weg zu Gott nicht zu suchen!“
Sein missionarischer Ton gefiel mir nicht. „Vielleicht will ich ihn gar nicht finden.“
Er blickte, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Da ich die Sache nicht eskalieren lassen wollte, erklärte ich rasch, dass ich noch viel zu tun hätte und verabschiedete mich kurz angebunden.
Eines stand fest, mit Bäumler würde ich wohl nicht warm miteinander werden. Vielleicht war es nicht klug gewesen, den Pfarrer der Gemeinde gleich beim ersten Treffen so harsch angegangen zu sein, aber ich hasste es, zu irgendetwas gedrängt zu werden.
Ich hielt mich aus dem sozialen Leben des Dorfes heraus, auch wenn ich mich deshalb manchmal selbst als feige empfand. Früher hatte ich menschliche Gesellschaft sogar ausgesprochen genossen. Ich hatte eine Menge Leute in Köln gekannt und mich gerne und oft mit ihnen getroffen. Doch dann hatte ich schmerzlich erfahren müssen, wie schnell man von Menschen, die man für Freunde gehalten hatte, fallen gelassen werden konnte. Seitdem mied ich neue Bekanntschaften. Ich gestehe, dass ich Angst hatte, erneut bitter enttäuscht zu werden und suchte deshalb die Einsamkeit. Misstrauen ist eine furchtbare Saat.
Als ich mit dem Ausbau von Hannes Dachboden anfing, bestand er am Abend darauf, mich im ‚Dorfkrug’ auf ein Bier einzuladen. Wir hatten den ganzen Nachmittag zusammen unter dem brütend heißen Dach verbracht, und Hannes hatte es immer wieder geschafft, mich, trotz der anstrengenden Arbeit, zum Lachen zu bringen. Ich hatte gute Laune, und deshalb kam mir in dem Moment die Vorstellung, mich wieder unter Leute zu begeben, gar nicht so schrecklich vor und willigte ein.
Erst als wir uns der Wirtschaft näherten, wurde mir auf einmal mulmig, und ich war mir nicht mehr sicher, ob dieser Schritt richtig war. Ich atmete tief durch und zwang mich, mir nichts anmerken zu lassen.
Der ‚Dorfkrug’ lag im Erdgeschoss eines alten Hauses, das wahrscheinlich schon beide Weltkriege überstanden hatte. Die Fassade war zwar irgendwann einmal neu verputzt worden, aber inzwischen bröckelte sie wieder unübersehbar ab. Die Fenster bestanden aus getönten, undurchsichtigen Butzenscheiben, wie es typisch für Gaststätten war.
Zwei Stufen führten zu einer schweren, dunkelbraunen Holztür, die dem Öffnen einen erheblichen Widerstand entgegensetzte. Es roch nach Bier, Essensdünsten und kaltem Zigarettenrauch. Das Gesetz zum Rauchverbot in Gaststätten war hier noch nicht angekommen. Im Schankraum reichte eine lang gezogene Theke aus Esche fast über die gesamte linke Seite. Sie war blank gewienert und drei verchromte Zapfhähne versprachen den durstigen Kehlen rasche Linderung. Im Regal dahinter standen fein säuberlich aufgereiht Dutzende Flaschen mit hochprozentigem Alkohol. Da keine Staubschicht auf ihnen zu erkennen war, vermutete ich, dass sie nie lange dort unberührt blieben, sondern rasch aufgebraucht wurden. Mein Verdacht bestätigte sich bald, als die Gäste neben Bier auch fleißig Schnaps orderten.
Gegenüber der Theke standen zehn Tische im Raum verteilt, vier davon länglich, der Rest maß nur einen Meter im Quadrat. Natürlich durfte in einer ordentlichen deutschen Wirtschaft eines nicht fehlen: Auf dem größten Tisch stand ein merkwürdiges Holzgestell, in das der Schriftzug ‚Stammtisch’ eingeritzt war. Mir kam es vor wie das Symbol für Spießigkeit schlechthin.
Als Hannes und ich eintraten, geschah, was ich befürchtet hatte: Die Gespräche verstummten schlagartig und alle gafften mich an. Wenn Hannes nicht dabei gewesen wäre, hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht. Doch er legte mir jovial die Hand auf die Schulter und drückte mich mit sanfter Gewalt zur Theke. Dort bestellte er zwei Bier in einer Lautstärke, die man wahrscheinlich im gesamten Dorf hatte hören können: Für seinen Freund und sich. Als wäre es das Stichwort gewesen, wandten sich alle wieder ihren Tischgenossen zu und redeten weiter. Mir war bewusst, dass sich die nun deutlich leiseren Gespräche um mich drehten, aber wenigstens wurde ich danach von den bereits Anwesenden kaum noch angestarrt, höchstens flüchtig gemustert.
Es war so etwas wie eine Aufnahmezeremonie gewesen und Hannes war mein Gewährsmann. Selbstverständlich gehörte ich dadurch noch längst nicht der Dorfgemeinschaft an, darüber machte ich mir keine Illusionen. Wer nicht hier geboren war, würde immer einer von außerhalb bleiben. Die Frage war nur, wieweit man sich einem Zugezogenen gegenüber öffnen würde.
Die Gäste trafen meistens einzeln ein. Weit hatte es hier niemand bis zum ‚Dorfkrug’, und viele kamen direkt von der Arbeit. Jeder, der eintrat, musterte mich mit kritischem Blick, doch Hannes grüßte alle mit Vornamen und seine unbekümmerte Art nahm der beklemmenden Situation ihre Härte.
Einer der ersten Gäste, der kurz nach uns mit klobigen Wanderschuhen in die Wirtschaft gestapft kam, war ein Mann mit auffallend roter Gesichtsfarbe und stoppeligem Bart. Ich hatte ihn schon einige Male auf einem Traktor gesehen, aber erst jetzt erfuhr ich von Hannes, dass er Josef Schuster hieß.
„Jupp ist der Einzige, der sich bereit erklärt hat, für uns den Bürgermeister zu spielen und seitdem quälen wir ihn mit unseren Anliegen“, erklärte er grinsend.
Ein Lächeln schiefer, gelber Zähne blitzte auf, als Schuster mich ansah. „Dabei mache ich den Mist sogar ehrenamtlich. Eine so kleine Gemeinde kann sich kein Gehalt für den Bürgermeister leisten.“
„Und selbst damit ist er noch überbezahlt“, lachte Hannes lauthals.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte ich. „So ein Amt dürfte eher Bürde als reine Freude sein.“
Schuster sah mich erstaunt an. Dann reichte er mir die Hand. Sie fühlte sich schwielig an. „Freut mich, Sie persönlich kennen zu lernen, Herr Junker!“
Ich war überrascht, dass er meinen Namen kannte, da Hannes ihn nicht erwähnt hatte. Wir sahen uns in die Augen und für einen Moment schien so etwas wie Vertrautheit zwischen uns zu bestehen. Dann setzte Schuster sich rasch an den Stammtisch und widmete sich seinem ersten Glas Bier.
Es war eine der vielen Lektionen, die ich an dem Abend im ‚Dorfkrug’ lernen musste. Über mich, den Zugezogenen, wurden eifrig Information zusammengetragen und ausgetauscht. Ich hingegen wusste so gut wie nichts über sie. Wenn nicht Hannes einen Narren an mir gefressen hätte, wäre dies vermutlich auch so geblieben.
Andererseits war es mir bis zu einem gewissen Grad auch ganz recht, denn so blieben mir allzu neugierige Fragen nach meiner Vergangenheit erspart – und das war schließlich der Grund gewesen, warum ich in ein kleines, einsames Dorf gezogen war.
Erneut orderte Hannes zwei Bier bei der resoluten Wirtin, die mir als Doris Barweiler vorgestellt worden war. Sie mochte Mitte vierzig sein und verfügte über kräftige Schulter, wie sie durch die harte Arbeit in der Gastronomie entstanden. Ihre strähnigen, dunkelblonden Haare strich sie regelmäßig aus dem Gesicht. Als junge Frau war sie bestimmt einmal recht hübsch gewesen, doch die Jahre waren nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Doris Barweiler hatte eine direkte, manchmal sogar etwas ruppige Art, mit den Gästen umzugehen. Sie verstellte sich nicht, sondern sagte offen, was sie dachte – ein Wesenszug, den ich sympathisch an ihr fand.
„Wollt ihr auch etwas essen?“, fragte sie, kaum dass sie die beiden Bier vor uns abgestellt hatte.
„Wir sind eigentlich nur wegen deiner berühmten Schnitzel mit Bratkartoffeln hier“, erklärte Hannes. „Bring mal zwei ordentliche Portionen! Marcus hier“, er deutete mit dem Daumen auf mich, „muss doch endlich deine Spezialität kennen lernen.“
Sie blickte mich an und ein Lächeln erschien auf dem Gesicht. „Dann will ich euch mal nicht enttäuschen.“
Die Wirtin ging zu einer Tür auf der ‚Privat’ stand und öffnete sie. Dahinter erschien eine steile Treppe, die sie nun hinauf blickte und lautstark nach ihrem Mann rief.
Über der Wirtschaft lag die Wohnung der Barweilers, in der sie mit ihrer erwachsenen Tochter Sonja lebten. Ein ungehaltenes Brummen kam von oben zur Antwort. Doris Barweiler erklärte ihrem Gatten gebieterisch, dass er unverzüglich hinter der Theke zu erscheinen hätte, da sie in die Küche müsste.
Wenig später schlurfte Oliver Barweiler mit einem blau-weiß-gestreiften Hemd und ausgeleierter Jeans herein. Er begrüßte die meisten Gäste kurz, was mit einem Nicken oder einem gemurmelten Wort erwidert wurde. Als Barweilers Blick auf mich fiel, stutzte er und sah dann fragend Hannes an. Der tat so, als würde er es gar nicht merken. Barweiler zögerte noch einen Moment, dann nickte er auch mir knapp zu und trollte sich hinter die Theke.
„So sind sie, die Halsterbacher“, sagte Hannes beinahe verlegen. „Sie haben ein großes Herz, aber gegenüber Leuten, die sie nicht kennen, sind sie vorsichtig.“
„Warum?“
Hannes musste über die Frage erst nachdenken. „Es kommen nur selten Menschen hierher, und wenn, dann wollen sie meistens etwas von uns haben – nämlich Geld. Früher waren es Steuereintreiber, heute eher Vertreter, die uns Sachen andrehen wollen, die wir nicht brauchen.“
„Von mir sollten die Halsterbacher eigentlich wissen, dass ich ihnen nichts wegnehmen will, ich lebe schließlich auch hier.“
Er kratzte sich verlegen hinter dem Ohr. „Sicher“, brummte er schließlich. „Aber sie brauchen halt Zeit, das zu begreifen und, um dich kennen zu lernen.“
Ich blickte in die Runde. Niemand schenkte mir mehr Beachtung. „Eilig haben sie es offensichtlich damit nicht.“
Hannes wechselte das Thema und deutete mit dem Kinn auf einen etwa vierzigjährigen Mann, der soeben die Wirtschaft betreten hatte, weder links noch rechts grüßte, sondern direkt auf den Stammtisch zusteuerte. Er trug einen Schnurrbart und mir fiel ein goldenes Kreuz an einer Halskette auf, das nicht zu seinem Erscheinungsbild passte. Den grünen Pullover hatte er in seine Jeans gestopft, die von einer Gürtelschnalle in Form eines Adlers mit ausgebreiteten Schwingen gehalten wurde. Seine Haare waren über der Stirn kurz geschnitten, im Nacken dafür deutlich länger, als es geschmacklich akzeptabel gewesen wäre. Das Gesicht mit den heruntergezogenen Mundwinkeln wirkte bullig, humorlos und abweisend. Er setzte sich dem Bürgermeister gegenüber, nickte ihm kurz zu und schwieg.
„Das ist Eddie Broich“, erklärte mir Hannes mit gedämpfter Stimme. „Er hat eine kleine Autowerkstatt. Schmeißt den Laden alleine, einen Lehrling kann er sich nicht leisten. Es geht hier halt allen nicht so toll.“
„Scheint eine echte Stimmungskanone zu sein.“
„Sehr gesprächig war Eddie noch nie, aber das muss er ja auch nicht sein.“
Wenig später kam Doris Barweiler mit dem Essen aus der Küche, und wir verlagerten unseren Standort an einen der kleinen Tische. Hannes hatte nicht zuviel versprochen, die Schnitzel waren fast größer als die Teller und schmeckten hervorragend.
Langsam wurde es voll. Für die meisten Dorfbewohner schien der Besuch der Wirtschaft zum allabendlichen Ritual zu gehören. Auch jetzt noch bemerkte ich bei jedem, der eintrat, den gleichen kritischen Blick in meine Richtung. Es stand die unausgesprochene Frage im Raum: Was will der hier?
Ich könnte nicht behaupten, dass ich mich daran gewöhnte, aber schließlich wich mein Ärger der trotzigen Einstellung, jetzt erst recht hier zu bleiben.
Als wir gerade mit dem Essen fertig waren, kam eine stattliche Erscheinung durch die Tür. Der Mann maß etwas über einen Meter achtzig und wog sicher hundertzwanzig Kilo. Über seinen fleischigen Wangen saßen zwei kleine Augen, die hinter einer blau getönten Brille mit Goldrand wachsam die Umgebung peilten. Seine Haare hatte er mit viel Gel auf den Schädel gekleistert. Ein mächtiger Bauch spannte sein himmelblaues Hemd, auf dem dunkle Schweißflecken unter den Achseln zu sehen waren. Am Finger trug er einen protzigen Ring und am Handgelenk eine Rolex. Ob die Uhr echt war, konnte ich auf die Entfernung zwar nicht beurteilen, aber der Mann versuchte mehr als deutlich zu demonstrieren, dass er Geld besaß.
„Da kommt gerade unsere Ausnahme: Boris Thielmeyer“, erklärte Hannes.
„Ausnahme?“
„Er hat es als einziger hier im Dorf zu Reichtum gebracht. Schon sein Vater handelte mit Landmaschinen, und er hat den Laden dann vor zehn Jahren übernommen. Mittlerweile verkauft er seine Traktoren in der gesamten Eifel und sogar bis drüben nach Belgien.“
Ich kannte das große, umzäunte Gelände mit den nagelneuen Traktoren und Mähdreschern etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes vom Vorbeifahren. Die landwirtschaftlichen Fahrzeuge standen dort zu Dutzenden fein säuberlich aufgereiht. Tatsächlich war es das Einzige, was an Fortschritt in der Gemeinde Halsterbach zu erkennen war.
„Das Blöde ist nur, dass Boris seinen Erfolg ständig raushängen lässt. Er muss das größte Haus haben, das dickste Auto, die teuerste Uhr, die beste Flinte. Nur was sein Gemächt angeht ...“, Hannes grinste breit und zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine winzige Spanne an, „So klein.“ Dann schüttete er sich aus vor Lachen. Die Männer am Nachbartisch sahen irritiert zu uns herüber.
„Was ist so lustig, Hannes?“, erkundigte sich Thielmeyer, der sich auf einen Stuhl am Kopfende des Stammtischs hatte fallen lassen. Er lispelte leicht und hatte für seine Körperfülle eine erstaunlich hohe Stimme.
„Nichts, Boris, schon gut!“, winkte er ab und bestellte im gleichen Atemzug bei Barweiler noch zwei Bier.
In der Wirtschaft waren inzwischen gut fünfzig Leute versammelt, was etwa einem Viertel der Einwohnerzahl Halsterbachs entsprach. Einige der Leute hatte ich in den fast zwei Monaten, die ich bereits im Dorf wohnte, noch nie gesehen. Hannes klärte mich eifrig über jeden einzelnen flüsternd auf. Mit zunehmendem Bierkonsum wurde er zwar lauter, aber der ebenfalls anschwellende Geräuschpegel im Raum glich das wieder aus.
An einem der Nebentische hatten sich Henning Dittscheid und seine Frau Dorothe niedergelassen. Sie waren die Einzigen, die mich ohne zu zögern höflich, wenn auch nicht gerade überschwänglich grüßten, schließlich kaufte ich einmal in der Woche in ihrem winzigen Supermarkt ein.
Es war schwer, ihr Alter einzuschätzen, da beide ungesund mager wirkten, ich vermutete aber, dass sie Mitte Fünfzig waren. Wenig später gesellte sich auch ihre erwachsene Tochter dazu, die das gleiche hagere Erscheinungsbild bot. Ich kannte ihren Namen nicht, wusste aber, dass sie im elterlichen Laden arbeitete. Hannes beeilte sich, mir zu verraten, dass sie Ines hieß und der blasse Kerl in ihrem Schlepptau ihr Mann Martin war. An seiner Hand hing ihre gemeinsame fünfjährige Tochter Laura. Das kleine blonde Mädchen packte Buntstifte aus einem kleinen Köfferchen und begann auf einem Zeichenblock zu malen. Es sah aus, wie bei einem Familienausflug. Ihre Eltern und Großeltern unterhielten sich ausdauernd über den Supermarkt. Offensichtlich kannten sie kein anderes Thema als ihren Betrieb.
An der Theke standen die Leute dicht gedrängt, die wenigen Barhocker waren längst besetzt. Auch um die Tische drängelten sich die Gäste. Nur an unserem wollte sich keiner niederlassen, obwohl noch ein Stuhl frei war.
Schließlich tauchte Sonja auf, die Tochter des Wirtsehepaars. Ich hatte sie schon öfters in der Bäckerei Kesseling gesehen, wo sie als Verkäuferin arbeitete. Es gab in einem Dorf wie Halsterbach für Jugendliche nicht viele Möglichkeiten, einen Job zu bekommen.
Sonja wirkte meist kühl und unnahbar, was ich jedoch auf ihre Unsicherheit zurückführte. Eine Verhaltensweise, die sicher auf viele junge Frauen zutraf.
Wenn es im ‚Dorfkrug’ abends voll wurde, half Sonja oft, Essen und Getränke an die Tische zu tragen, während ihr Vater im Akkord Bier zapfte und ihre Mutter in der Küche arbeitete. An manchen Wochenenden kam aber auch Sonja kaum noch mit den Bestellungen hinterher. Deshalb hatte sie sich an jenem Abend eine Freundin zur Verstärkung mitgebracht.
Es war das erste Mal, dass ich Melanie Köhler sah. Sie war, wie Sonja, ebenfalls zwanzig Jahre alt und mit ihr seit frühester Kindheit befreundet, wie ich später erfuhr. Sowohl Sonja als auch Melanie waren sehr hübsch, wenn auch von ihrem Äußeren völlig unterschiedlich.
Jemand wie Melanie konnte sich in einem Provinzkaff wie Halsterbach nicht wohl fühlen. Sie hatte sich die Haare schwarz gefärbt, wild frisiert und dunklen Lidschatten aufgelegt, in ihren beiden Ohren steckten insgesamt sieben Ringe, der Größe nach aufgereiht. In ihrer linken Augenbraue funkelte ein Piercing, das T-Shirt und die weite Hose mit aufgesetzten Taschen und Nietengürtel waren farblich angepasst: alles schwarz.
Ihr Aussehen musste bei den meisten Einwohnern Halsterbachs auf Befremden stoßen. Es war eine klare Auflehnung gegen die Werte des Spießbürgertums. Dennoch strahlte Melanie eine ansteckende Fröhlichkeit aus. Sie lachte viel und scherzte mit den Gästen, während sie das Tablett mit den Gläsern schleppte.
Sonja war einen Kopf größer als ihre Freundin, Gerten schlank und mit einem ebenmäßigen Gesicht gesegnet, wie man es sonst nur in Hochglanz-Magazinen zu sehen bekam. Sie entsprach mit einem gelben Top und engen Bluejeans der gängigen Modevorstellung des Mainstreams. Ihre schulterlangen, blonden Haare wurden von einem Haarreifen zurückgehalten, ihr Make-up war dezent, lediglich der Lipgloss fiel auf. Sie gab sich auch an diesem Abend wie üblich ernst und fast schon distanziert den Gästen gegenüber.
Es erstaunte mich, dass die beiden jungen Frauen, obwohl sie so verschieden erschienen, eine enge Freundschaft verband. Wenn die zwei kurzzeitig an der Theke zusammen standen und auf die nächste Ladung Bier warteten, tuschelten sie kichernd miteinander und bildeten dabei für den Betrachter einen merkwürdigen Kontrast.
Als Melanie an unseren Tisch kam und die leeren Biergläser auf ihr Tablett stellte, musterte sie mich neugierig. „Sie wohnen jetzt im Haus von der alten Martha?“
„Ja, ich glaube so hat die Vorbesitzerin geheißen.“
„Dann haben sie ganz schön viel zu tun, um die Ruine wieder in Schuss zu bekommen. Sie steht doch schon seit Jahren leer. Ich weiß noch, dass unsere Eltern uns schon als Kinder verboten hatten, dort zu spielen, wegen der Einsturzgefahr.“
„Ich gebe mir Mühe, das Haus wieder halbwegs bewohnbar zu machen. Sonst muss ich wohl weiter als Höhlenmensch vor mich hin vegetieren.“
Sie lachte über den Witz. „Wo kommen Sie her?“
„Aus Köln.“
„Da studiere ich seit dem Sommer“, strahlte sie. „Ich habe eine kleine Bude in Köln-Sülz, nahe bei der Uni. Wo haben Sie gewohnt?“
„In der Südstadt“, antwortete ich vage und lenkte das Gespräch rasch auf ein anderes Thema. „Was studierst du?“
„Deutsch und Englisch. Ich möchte Lehrerin werden.“
„Melanie, sei so gut und hol uns noch zwei Bier!“, unterbrach Hannes sie. „Deine Lebensgeschichte kannst du Marcus später erzählen.“
Dazu war es an dem Abend jedoch nicht mehr gekommen, da Melanie zu viel zu tun hatte. Ich traf sie in den folgenden Monaten noch zwei- oder dreimal in der Wirtschaft, weil sie nur in den Semesterferien oder an Wochenenden gelegentlich nach Halsterbach kam. Außer ein paar belanglosen Sätzen hatte ich mich nie näher mit ihr unterhalten. Etwas, das ich später sehr bedauerte.
Das Einzige, woran ich mich in Zusammenhang mit Melanie noch erinnerte, war, dass an jenem ersten Abend im ‚Dorfkrug’ ein junger Mann von vielleicht achtzehn Jahren auftauchte, dessen Ähnlichkeit mit Melanie keinen Zweifel daran ließ, dass es sich um ihren Bruder handeln musste. Er hatte schulterlange Haare, die ihm vorne fast über die Augen fielen. Seine Jeans war an den Knien zerlöchert, und er trug ein schwarzes „AC/DC“-T-Shirt.
Der Junge sprach kurz mit Melanie, verschwendete keinen Blick an die übrigen Gäste und ging dann rasch wieder. Ihm schien die Umgebung nicht zu gefallen. Erst einige Tage später sollte ich Chris näher kennen lernen.
Zu vorgerückter Stunde betrat ein Mann den ‚Dorfkrug’, der sich schon allein durch seinen eleganten, dunklen Anzug mit Seidenkrawatte von den übrigen Gästen unterschied. Er war groß, hager und sein angegrautes Haar trug er ordentlich gescheitelt, aber einen Tick länger als nötig. Er mochte etwa Ende vierzig sein und machte einen selbstsicheren, ausgeglichenen Eindruck. Wie jemand, der sich seiner Stärke bewusst war. Er war eine attraktive Erscheinung, wie ich neidlos anerkennen musste. Der Mann passte so gar nicht unter die eher leger gekleidete Landbevölkerung.
Doch den freundlichen Grüßen von allen Seiten entnahm ich, dass er hier wohl bekannt sein musste. An der Theke bestellte er ein Bier und wechselte ein paar Worte mit Barweiler, dann sah er sich im Raum um. Schließlich blieb sein Blick an Hannes und mir hängen. Er nahm einen Schluck und kam dann auf uns zu.