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Existiert das Böse tatsächlich? Und wenn ja, lässt es sich aufhalten? Katharina von Burgstett, eine Frau in den besten Jahren und beruflich sehr erfolgreich, arbeitet als Psychiaterin in einer renommierten Klinik. Eines Tages erhält sie mysteriöse Videos. Patienten scheinen in einer Anstalt in Sibirien regelrecht zu schweben und die düsteren, verstörenden Bilder wecken ihr Interesse. Sie entschließt sich zu einer Forschungsreise nach Russland, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Doch ihr Aufenthalt verläuft anders als erwartet, überstürzt reist sie ab. Was Katharina jedoch nicht ahnt - sie kehrt nicht allein nach Deutschland zurück.
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Seitenzahl: 389
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Für meinen Mann,
der einen Satansbraten geheiratet hat.
Danke für deine immerwährende Unterstützung.
Anmerkung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Weitere Bücher der Autorin
Möge das Gute immer siegen.
Dieses Buch unterscheidet sich ein wenig von den bisher erschienen Büchern und ist im Genre Horror angesiedelt. Die fiktive Idee dazu basiert auf einem Video, welches für einige Zeit in den sozialen Netzwerken kursierte.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman jedoch frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung.
Katharina von Burgstett setzte ihre Brille ab und rieb sich die tränenden Augen, bevor sie erschöpft ihren Kopf auf den Schreibtisch bettete.
Der heutige Arbeitstag hatte ihr alles abverlangt, von den zusätzlichen Überstunden ganz zu schweigen. Das war also ihr Leben - ein Alltag zwischen Patienten, Stress, Hektik und ihrem Lehrstuhl an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sie richtete sich auf und löste den festsitzenden Dutt. Schwarze lockige Haare flossen wie ein Strom über ihre Schultern und umschmeichelten ihr blasses Gesicht. Ihre strahlend blauen Augen, um die sie sogar Terence Hill beneidet hätte, blickten ernst.
Seufzend erhob sie sich, zog den weißen Kittel aus, schnappte sich ihre Tasche und verließ das Büro. Ihr stand der Sinn nach einem entspannenden Wannenbad. Aber nach dem anstrengenden Dienst reichte es meist nur noch für eine kurze Dusche und anschließend kroch sie sofort ins Bett. An manchen Tagen ließ sie sogar das Essen ausfallen.
Eilig durchschritt sie den langen Flur, eine der Neonleuchten flackerte. Sie würde in der nächsten Schicht dem Hausmeister eine Info zukommen lassen, damit er die Röhren austauschte. An der Tür, welche die Flure voneinander trennte, gab sie den Sicherheitscode ein. Ein leises Summen ertönte und die Tür öffnete sich.
Während sie zum Ausgang hastete, hörte sie das laute Kreischen eines Patienten. Für Katharina gehörte diese Geräuschkulisse zum Alltag, sie nahm die Laute manchmal schon gar nicht mehr wahr. An der Rezeption winkte sie den beiden Damen vom Nachtdienst zu, stieß die schwere Eingangstür auf und schlüpfte hinaus.
Die kühle Luft ließ sie tief durchatmen und sie genoss die Stille der Nacht. Der wolkenlose Himmel trumpfte mit einem Meer aus Sternen auf und sie schaute sehnsüchtig nach oben. Dann riss sie sich los und schlenderte zu ihrem Wagen.
Die Fahrt zum Villenviertel Meerbusch dauerte nicht lange. Das elektrische Garagentor fuhr lautlos nach oben und der BMW glitt hinein. Leise gähnend schloss sie die Haustür auf und betrat die steril wirkende Villa. Ihre Putzfrau war eine echte Perle, kein Staubkörnchen zierte ein Möbelstück. Aber vielleicht war genau das ihr Problem?
Obwohl eine stadtbekannte Innenarchitektin alles wohnlich und geschmackvoll eingerichtet hatte, wirkten die Räume allesamt unpersönlich. Nie lag etwas herum, von einer fröhlichen Unordnung ganz zu schwiegen.
Pumps und Jacke ließ sie achtlos im Flur liegen und lief barfuß über den kühlen Granitboden im Eingangsbereich. In der Küche schenkte sie sich ein Glas Mineralwasser ein und trank es gierig in einem Zug. Dann schnupperte sie an den Töpfen, verspürte aber nicht die geringste Lust, das vorgekochte Essen aufzuwärmen.
Ein letzter Gang ins Bad, eine kurze Dusche, bevor sie sich in die Kissen kuschelte und das Licht löschte. Da lag sie nun, einsam und verloren in dem riesigen Doppelbett, starrte an die Decke und hörte ihre innere Uhr ticken.
Sie stammte aus einer angesehenen Ärztefamilie und es war selbstverständlich, dass sie in die Fußstapfen ihrer Eltern treten würde. Das Staatsexamen bewältigte sie in Lichtgeschwindigkeit und zwei Doktortitel nannte sie ihr Eigen. Ja, sie konnte durchaus auf ihre Erfolge zurückblicken. Beruflich saß sie hoch zu Ross, aber ihr Privatleben ließ sehr zu wünschen übrig.
Frustriert rollte sie sich auf die andere Seite. Mit sechsunddreißig Jahren war es nicht mehr so leicht, einen passenden Prinzen zu ergattern. Erotische Abenteuer gerade bei ihrem schneewittchenhaften Aussehen waren immer möglich. Aber die meisten ihrer männlichen Kollegen trugen einen Ehering. Männer aus anderen beruflichen Bereichen zeigten wenig Verständnis für ihren aufreibenden Job und fühlten sich bereits nach kurzer Zeit stark vernachlässigt.
Es dauerte meist nicht sehr lange, bis ihre jeweiligen Lebenspartner dazu neigten, sich die fehlende Selbstbestätigung woanders zu holen. Sie konnte die zahlreichen Affären ihrer Exfreunde schon gar nicht mehr zählen.
Dabei sehnte sie sich nach einer Familie, wollte jeden Abend das gemeinsame Kind zu Bett bringen und mit ihrem Ehemann über seine herumliegenden Socken streiten. Sie träumte von ketchupverschmierten Kindershirts, von heißen Nächten, aber auch kühlen Tagen, an denen sie Halt in ihrer kleinen Familie fand.
Eine einzelne Träne perlte über ihre Wange und tropfte auf das Kopfkissen. Vielleicht sollte sie doch bei der Singlebörse Akademiker mit Niveau vorbeischauen, dachte sie verbittert. Während die Großstadt allmählich zum Leben erwachte, übermannte Katharina der Schlaf.
Kurz vor zwölf holte sie der Wecker aus einer Tiefschlafphase und sie zog sich müde die Bettdecke über ihren Kopf. „Ich will noch nicht aufstehen“, murmelte sie trotzig. Fünf Minuten gönnte sie sich noch, dann schwang sie die Beine aus dem Bett und tappte ins Bad.
Maria, die Haushälterin, grüßte leise und fragte nach Katharinas Wünschen. „Möchten Sie einen starken Kaffee? Dazu Toast oder frische Brötchen?“
„Ich hätte gern Toast und einen starken Kaffee, so wie immer. Danke, Maria.“
Nach der kurzen Morgentoilette setzte sie sich an den Küchentisch und ließ sich von ihrer Haushälterin bedienen. Maria, eine rundliche Spanierin um die sechzig, bemutterte sie fürsorglich und hatte immer ein offenes Ohr. Beide pflegten eine innige, vertrauensvolle Beziehung zueinander. Katharinas Eltern waren beruflich stark eingespannt und sie hatte sich oft eine herzlichere Mutter an ihrer Seite gewünscht.
Eigentlich wollte sie es besser machen, wollte den Beruf hintenanstellen, wenn es um die Erziehung ihrer Kinder ging. Wollte für sie da sein, sie trösten, umsorgen und lieben. Stattdessen hatte sie es noch nicht einmal geschafft, eine Familie zu gründen.
Ständig erschien vor ihrem geistigen Auge eine überdimensionale Vierzig, die bedrohlich auf sie zuraste. Besorgt registrierte sie die ersten tieferen Fältchen um die Augenpartie und vereinzelte graue Haare im Schläfenbereich. Nein, sie war keine eitle Person, ganz im Gegenteil. Aber dieses verdammt laute Ticken der verflixten inneren Uhr.
Maria setzte sich ihr gegenüber. „Sie sehen traurig aus. Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf?“, fragte sie mit aufrichtiger Anteilnahme in ihrer Stimme.
„Ach Maria, Sie können sich mit ihren drei Enkeln wirklich glücklich schätzen. Sie wissen ja, die Zeit läuft.“
„Wenn Sie rund um die Uhr arbeiten, finden Sie nie einen passenden Mann. Sie müssen kürzer treten oder sich eine längere Pause gönnen. Sie haben genug Geld und sind nicht auf das Gehalt angewiesen. Fahren Sie in den Urlaub oder machen Sie eine Kreuzfahrt, vielleicht begegnet Ihnen dort die große Liebe.“
„Danke für Ihren Zuspruch Maria, ich werde darüber nachdenken.“ Sie biss herzhaft in den knusprigen Toast und auch der starke Kaffee weckte ihre verschollen geglaubten Lebensgeister.
Maria hantierte inzwischen eifrig mit dem Wischmopp, obwohl der Fußboden glänzte. In ihren Gedanken sah Katharina das Spielzeug auf dem Boden herumliegen und schmutzige Fußabdrücke von Kinderschuhen. Bevor sie sich noch weiter hineinsteigerte, stoppte sie die Flut der Bilder in ihrem Kopf. Ihr Ego konnte in Sachen Beziehung keine weiteren Tiefschläge mehr verkraften.
„Ich bin jetzt im Arbeitszimmer“, rief sie Maria zu und lief die Treppe nach oben. Der heimische Arbeitsplatz war lichtdurchflutet und modern ausgestattet. Sie ließ sich auf den Bürostuhl fallen und streckte ihre Beine unter dem Schreibtisch aus. Dann fuhr sie den Rechner hoch und checkte die Mails. Werbung, Werbung und kein Ende. Pharmareferenten und Firmen bombardierten sie auch privat mit Angeboten. Genervt drückte sie auf Löschen und hätte beinahe eine Mail mit einem russischen Absender ins Nirwana versenkt.
Neugierig öffnete sie die Nachricht und übersetzte das fehlerhafte Englisch. Zwei Videos befanden sich im Anhang. Sie speicherte die Mail in einem Ordner ab und beschloss, sich an ihrem freien Wochenende darum zu kümmern. Hin und wieder zog man sie bei schwierigen Patienten zu Rate. Ihren guten Ruf jedoch, den hatte sie sich hart erarbeiten müssen.
Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie sich allmählich auf den Weg ins St. Josefs Hospital begeben sollte. Auch heut lag eine zwölfstündige Schicht vor ihr, aber es nützte ja nichts.
Maria klopfte leise an den Türrahmen. „Ich bin fertig, Frau von Burgstett. Eine warme Mahlzeit befindet sich auf dem Herd und das Haus ist geputzt. Ihnen einen angenehmen Arbeitstag.“
„Vielen Dank Maria, ich weiß Ihre Arbeit sehr zu schätzen.“
Sie hörte die Haustür ins Schloss fallen und war nun wieder mutterseelenallein in einem viel zu großen Haus. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie die Villa nach dem Tod ihrer Tante übernahm. Mehrmals hatte er den Versuch gestartet, sie mit dem Architekten, der für den Umbau angeheuert worden war, zu verkuppeln.
Sicher, sie war mit diesem gut aussehenden Charmeur tatsächlich im Bett gelandet, doch der wollte alles andere, nur keine Familie gründen. Diese reichen Sonnyboys hatten ein unberechenbares Gemüt und sie konnte schon froh sein, dass er sich überhaupt für eine alternde Sechsunddreißigjährige entschieden hatte - Abenteuer hin oder her. Die meisten Affären dieser ewigen Junggesellen waren blond und vom geistigen Niveau ziemlich einfach gestrickt. Geld und Ansehen, das reichte fürs Erste.
Jetzt sollte sie aber …
Hastig griff sie nach einem Ordner und eilte die Treppe hinunter in den Flur. Schuhe, Jacke, Aktentasche, ab in die Garage und den Motor gestartet. Das Garagentor glitt nach oben und sie trat aufs Gas.
Ein herrlicher Sommertag offenbarte sich ihr und sie hätte nur zu gern dessen Vorzüge genossen. Leider verhinderte ihr täglicher Dienst, dass sie den Luxus eines Sonnenbades auf der großzügig angelegten Terrasse genießen konnte. Schichtdienst, Lehrstuhl, Forschung – all das engte sie ein und nahm ihr die Luft zum Atmen. Marias Worte schwirrten in ihrem Hinterkopf: Nehmen Sie sich eine Auszeit.
Eine Fahrt ans Meer wäre geradezu himmlisch - den feuchten Sand unter den nackten Sohlen zu spüren, den tosenden Wellen zu lauschen und diese endlose Weite zu genießen. Warum in Gottes Namen gönnte sie sich eigentlich keine Auszeit? Weil ihr Leben bis obenhin mit Arbeit vollgestopft war?
Geschickt manövrierte sie ihren Wagen auf den engen Stellplatz des St. Josefs Hospitals und eilte mit schnellen Schritten in ihr Büro. Der diensthabende Stationsleiter scharrte bereits mit den Hufen.
„Der kleine Tim möchte seinen Spaziergang nicht antreten. Er will unbedingt, dass Sie ihn begleiten.“
„Das ist doch aber nicht mein Aufgabenbereich, Andreas. Ich kann doch nicht auf sämtliche Sonderwünsche aller Patienten eingehen. Nachher muss ich auch noch in die Forensik. Das Gutachten für die drogenabhängige Frau Wagner muss in Kürze beim Staatsanwalt vorliegen.“
„Machen Sie eine Ausnahme, bitte.“ Andreas warf ihr einen treuherzigen Blick zu.
„Wo finde ich Tim?“
„Er schläft im Aufenthaltsraum am Tisch.“
Sie nickte ihm zu, machte auf dem Absatz kehrt und lief den Flur entlang. Tim schlief tatsächlich tief und fest und sie näherte sich ihm leise. Seit zwei Tagen wurden dem Jungen Beruhigungsmittel verabreicht, da sich sein Zustand verschlimmert hatte.
Der zehnjährige autistische Junge war ihr sehr ans Herz gewachsen. Obwohl er in seiner eigenen Welt lebte, ließ er Katharina manchmal hinein und öffnete sich. Sein dunkelblonder Strubbelkopf und die zierliche Gestalt weckten ihre Muttergefühle und am liebsten hätte sie den Jungen vom Fleck weg adoptiert.
Seine Mutter war mit dem verschlossenen Jungen total überfordert gewesen. Es fiel ihr schwer zu begreifen, warum Tim nicht mit ihr kommunizieren wollte oder konnte. Sie hielt ihn für einen verstockten bösartigen Jungen und mehr als einmal war ihr die Hand ausgerutscht. Den Vater schien das Ganze wenig zu interessieren.
Das Jugendamt sorgte mit dem Einverständnis der Eltern dafür, dass Tim in das Hospital eingewiesen wurde, und er lebte jetzt in einer gemischten Gruppe mit verschiedenen Altersstufen. Wenn ihm der Stress auf der Station zu viel wurde, dann schlug sich dieser äußerst sensible Junge ununterbrochen auf sein rechtes Ohr. Innerhalb kürzester Zeit fing es an zu bluten und Tim wurden ruhigstellende Medikamente verabreicht.
Katharina hockte sich neben ihn und streichelte liebevoll über sein kurzes Haar. „Aufwachen, mein Kleiner. Dort draußen scheint die Sonne und du möchtest doch bestimmt im Park die Schmetterlinge beobachten. Hab ich recht?“
Tim grunzte leise und stieß sie weg.
„Nun komm schon, lass mich nicht warten.“
Sie erhob sich, griff Tim behutsam unter die Arme und richtete ihn auf. Dann ließ sie den Jungen sofort los, denn er mochte keinerlei Berührungen. Gestresst fing Tim wieder damit an, sich mit der flachen Hand auf sein Ohr zu schlagen. Ihre Finger schnellten nach vorn, umfassten sanft Tims Unterarm, bevor sie seine Aufmerksamkeit bewusst in eine andere Richtung lenkte.
„Hast du am Fenster den großen Schmetterling gesehen? Wir sollten schnell nach draußen gehen, vielleicht entdecken wir ihn auf einer Blume.“
Beharrlich schob sie Tim zur Tür hinaus und bugsierte ihn zu einer Bank neben einer Blumenrabatte. Dort flatterten Kohlweißlinge um die blauen Lavendelblüten und fasziniert beobachtete der Junge die Insekten.
„Du bist ein Schatz, Tim, aber ich muss wieder an die Arbeit.“
Mit wehendem Kittel hastete sie zurück in ihr Büro. Familie Schulze wartete bereits ungeduldig, das konnte sie deutlich von den Mienen der Eltern ablesen. Deren Tochter Jessica, ihre Patientin, hockte auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch, schnaufte wie ein Walross und wiegte ihren Oberkörper vor und zurück.
Die geistige und körperliche Förderung ihres einzigen Kindes lag dem Ehepaar sehr am Herzen. Für die Eltern stand außer Frage, ihr geliebtes Mädchen einfach abzuschieben und mit tiefem Bedauern dachte Katharina an Tim.
Kurz und knapp schilderte Katharina weitere Möglichkeiten für Jessica und das Ehepaar saugte die Informationen auf wie ein Schwamm. Jessica hingegen war mit der Situation völlig überfordert. Die lauten Schreie der Patienten im Flurbereich irritierten und verunsicherten sie zutiefst. Hektisch sprang sie auf, hüpfte durch den engen Raum und drehte sich im Kreis.
Nach etwa fünf Minuten hatte das siebzehnjährige mollige Mädchen ihre überschüssige Energie abgebaut, setzte sich wieder auf den Stuhl und wiegte sich im gewohnten Rhythmus. Katharina bewunderte Jessicas Eltern, mit welcher Ruhe und Gelassenheit sie die Tochter gewähren ließen. Da hatte sie schon ganz andere Fälle erlebt. Nach einer halben Stunde war das Gespräch beendet und alle Beteiligten atmeten auf.
Jetzt stand der Termin mit Frau Wagner in der Forensik auf dem Programm. Obwohl Katharinas Fach- und Forschungsgebiet sämtliche Formen des Autismus beinhaltete, betreute sie auch andere Fachbereiche. Die Psychologie hatte sie schon immer fasziniert, vor allen Dingen, welche Wirrungen ein menschlicher Geist nehmen konnte.
Während sie sich rasch eine Tasse Kaffee gönnte, dachte sie mit Unbehagen daran zurück, unter welch Grausamkeiten diesen kranken Menschen teilweise zu leiden hatten.
Im dritten Reich gnadenlos euthanasiert, verstörenden Elektroschocktherapien ausgesetzt und vom Exorzismus ganz zu schweigen. In vielen Heimen wie Vieh gehalten, vegetierten die armen Seelen bis zu ihrem Lebensende vor sich hin. Die Rechte und Bedürfnisse dieser Menschen wurden mit Füßen getreten und mancherorts werden sie das auch noch heut.
Jetzt musste sie sich aber sputen. Erneut eilte sie über die Flure, schloss Türen auf und wieder zu. Obwohl die staatlichen Gelder an allen Ecken und Enden fehlten, waren die Patienten trotzdem gut untergebracht. Helle, freundliche Zimmer, warmes Essen und soweit möglich, eine Betreuung rund um die Uhr. Einzig die Gitter vor den Fenstern störten die Idylle und nahmen den Räumen das Heimelige. Der Fachkräftemangel machte allen zu schaffen, aber das stand auf einem ganz anderen Blatt.
Katharina schloss die Tür zur Forensik auf und schritt an den Einzelzimmern mit den Monitoren vorbei. Hier befanden sich Patienten, die als besonders aggressiv eingestuft worden waren. Sie wurden rund um die Uhr überwacht und die Zimmertüren blieben verschlossen.
Frau Wagner saß schon vor dem Sprechzimmer und wirkte sehr nervös. Im Drogenrausch hatte sie auf ihren Lebensgefährten eingestochen und sollte nach einer längeren Therapie entlassen werden. Täglich machte sie von ihrem Freigang Gebrauch, um sich wieder an die Welt vor den Toren der Psychiatrie zu gewöhnen.
Katharina führte mit ihr ein längeres Abschlussgespräch. Es war gar nicht so leicht für diese Patienten. Für die erste Zeit mussten sie bei Freunden oder der Familie unterkommen, um sich dann eine Wohnung und später auch Arbeit zu suchen. Es würde schwer werden und die meisten Patienten griffen bereits während dieser Zeit erneut zu Drogen.
Sie wünschte ihrer Patientin alles Gute und verabschiedete sich, dann eilte sie zurück in ihren Fachbereich. Zwei Neuaufnahmen, weitere Gespräche und Untersuchungen standen auf dem Programm. Nur mit einem straffen Zeitplan war die tägliche Arbeit zu bewältigen, ausgebildete Pflegekräfte fehlten an allen Ecken und Enden. Viele Mitarbeiter hielten der psychischen Belastung nicht stand und wanderten ab. Auf allen Stationen herrschte eine hohe Fluktuation, sehr zum Leidwesen der meisten Insassen, die feste Bezugspersonen benötigten. Das würde sich naher Zukunft hoffentlich ändern.
Endlich war ihr Spätdienst vorüber und völlig übermüdet überquerte sie den Parkplatz. Ihre Schritte hallten durch die milde Nacht und sie freute sich auf ihre zwei freien Tage. Wie üblich hatte sie sich viel vorgenommen: Sauna, Joggen, Treffen mit Freunden, aber meist scheiterte es an der Umsetzung.
Abgespannt und überarbeitet lümmelte sie fast den ganzen Tag auf der Couch, las viel oder surfte im Internet. Manchmal schaffte sie es auch bis zur Terrasse und sonnte sich. Aber mehr war einfach nicht drin. Sie hasste ihren inneren Schweinehund, der seinen Trotzkopf immer wieder durchsetzte. Glücklicherweise blieb das ihren Patienten verborgen, denen sie ganz andere Dinge predigte.
Ihre Eltern hatten sie zu einer zünftigen Grillparty eingeladen, natürlich mit einem hohen Anteil potenzieller Junggesellen. Schon beim bloßen Gedanken an die gekünstelte Konversation sträubte sich ihr Innerstes. Immerhin konnte sie sich als Ärztin selbst krankschreiben, na wenn das kein Vorteil war.
Erschöpft lenkte sie den Wagen in die Garage und lief ins Haus. Aktentasche, Jacke und Schuhe ließ sie achtlos im Flur liegen und steuerte die Küche an. Das kalte Essen richtete sie lieblos auf dem Teller an und verzehrte einige Bissen.
Dieser ewige Schichtdienst machte sie mürbe. Früher hatte ihr das wenig Sorgen bereitet, aber mit zunehmendem Alter … Verdammt, nicht schon wieder dieses Thema! Verärgert kniff sie ihre Lippen zusammen und stellte den halbvollen Teller auf den Tresen. Nach einer kurzen Dusche zog sie sich in das Schlafzimmer zurück und freute sich darauf, am nächsten Morgen endlich wieder einmal ausschlafen zu können.
Die Sonne stand bereits hoch am Horizont, als sie blinzelnd die Augen öffnete. Gähnend räkelte sie sich, es war einfach himmlisch, so in den Tag zu starten. Das einzig Unfaire daran - ein halber freier Tag war inzwischen verstrichen.
Nach einem angemessenen Frühstück mit Rührei, Toast und einem starkem Kaffee, suchte sie das Arbeitszimmer auf und fuhr den Rechner hoch. Bis auf die zahlreichen Werbemails war das Postfach leer geblieben, sehr zu ihrem Bedauern. Laura, ihre beste Freundin, war seit kurzem frisch verliebt und meldete sich nur noch selten. Katharina gönnte ihr das Glück von Herzen, fühlte sich aber dadurch einsamer denn je und der anstrengende Job ließ leider wenig Freiraum. Doch wie sollte sie neue Bekanntschaften schließen, wenn sie sich an den freien Tagen in der Villa verschanzte?
Sie erinnerte sich an die gestrige Mail aus Russland. Kopfschüttelnd las sie die Zeilen ein weiteres Mal und warf dann einen Blick auf das Video. Verstörende Bilder reihten sich aneinander und ihr stockte der Atem. Ein Kollege musste sie hier gehörig zum Narren halten, anders konnte sie sich diese Umstände nicht erklären.
In einer dunklen Zelle, bestückt mit einer Toilettenschüssel und einem Metallbett samt Matratze, hockte ein magerer Mann. Nur mit einem dünnen OP-Hemdchen bekleidet sprang er durch den Raum, trommelte an die Wände und schrie wie besessen. Seltsamerweise störten die Schreie des Mannes die Aufnahmequalität der Kamera.
Hin und wieder wuchtete er das Bett durch den Raum, obwohl Katharina manchmal das Gefühl hatte, es bewege sich von allein. Zwischendrin hockte sich der Patient auf den Boden, um zu urinieren, oder lag auf dem Bett und krampfte. Seine Stimme wechselte in verschiedene, ja fast dämonenhafte Tonlagen und verursachte mehrere unangenehme Schauer, die ihr über den Rücken jagten.
Kurz bevor das Video endete, wurde die Aufzeichnung erneut gestört. Danach schwebte der Mann schluchzend und verwirrt stammelnd in der Luft. Was für eine Frechheit, dachte sie erbost. Wenn diese Bilder echt wären, müsste man das Hospital in Krasnojarsk auf der Stelle schließen.
Zornig tippte sie eine gepfefferte Antwort, schickte sie ab und löschte die Mail. Um auf andere Gedanken zu kommen, surfte sie noch eine Weile im Internet und überlegte tatsächlich, sich in einem Portal für Singles anzumelden. Aber der Gedanke, sich mit wildfremden Männern zu treffen, schreckte sie letztlich ab. Sie dachte dabei an unzählige Gespräche, bei denen man auf keinen gemeinsamen Nenner kam und die sich quälend in die Länge zogen. Vielleicht sollte sie doch auf der Grillparty ihrer Eltern aufkreuzen. Immerhin waren dort auch einige ihrer Kollegen anwesend und nicht nur die übergebliebenen Junggesellen.
Sie erhob sich und lief zur Tür. Mit einem leisen Pling kündigte sich eine weitere Mail an. Bestimmt wieder Werbung, dachte Katharina, aber letztlich siegte die Neugier. Zwei Klicks und das Postfach öffnete sich. Eine weitere Mail aus Russland war eingegangen.
Sollte sie sich das antun oder lieber die Terrasse aufsuchen? Doch wissbegierig, wie sie nun einmal war, las sie die Zeilen und sah sich auch die Aufzeichnungen an. Verschiedene Patienten, aber ähnliche Inhalte. Kreischen, Toben, Krampfen, Schweben und Betten, die wie von Geisterhand bewegt, laut über den Boden polterten.
Die hageren Gestalten, unter unwürdigsten Bedingungen gehalten, versuchten diesem Grauen zu entkommen. Verzweifelt trommelten sie mit ihren Fäusten an Türen und Wände. In Einzelhaft vegetierten sie dahin und niemand kümmerte sich um sie.
Katharina versuchte die Videos zu analysieren und bezweifelte deren Echtheit. Der Text allerdings war eindringlich. Sie wurde um Hilfe gebeten und sollte diesen Fall untersuchen, das stand außer Frage. Wollte man auf diese Weise vielleicht um Spendengelder bitten?
Eine zweite Meinung wäre mit Sicherheit nicht schlecht, wenn es darum ging, die Lebensumstände zu verbessern. Aber auch ihr Gewissen meldete sich zu Wort, diesen schutzlosen Patienten musste geholfen werden. Vielleicht konnte sie ja auf der Party den einen oder anderen Gönner aufspüren. Sie zog das Videomaterial auf ihr Smartphone und speicherte es ab. David, ihren besten Freund, konnte sie vorab um Sichtung des Materials bitten, bevor sie sich zum Gespött aller machte.
Anschließend fischte sie ein paar Papiere aus der Ablage und verzog sich auf die Terrasse, um die nächste Vorlesung an der Uni vorzubereiten. Sie nahm auf der Liege Platz, setzte die Sonnenbrille auf und blätterte eifrig in den Unterlagen. Die wärmenden Sonnenstrahlen und die bequeme Position ließen sie schläfrig werden. Sie legte die Papiere zur Seite und schloss die Augen.
Ein heftiger Windstoß wirbelte die Unterlagen durch die Luft und erschrocken riss Katharina die Augen auf. Ernüchtert warf sie einen Blick auf die Uhr, sie hatte tatsächlich zwei Stunden am Stück geschlafen.
Sie sprang hastig auf, sammelte die losen Blätter wieder ein und eilte ins Haus. Der Himmel war inzwischen von dicken Regenwolken bedeckt und die drückende Luft kündigte ein Gewitter an. Hoffentlich hielt das Wetter bis zum Ende der Grillparty durch. Obwohl, wenn sich der Regen mittendrin entlud, konnte sie schon eher nach Hause.
Für ein entspannendes Wannenbad war es bereits zu spät, also hüpfte sie nur kurz unter die Dusche. Im Schlafzimmer legte sie eine helle Leinenhose und eine pastellfarbene Bluse auf das Bett. Dann föhnte sie ihr widerspenstiges Haar, bis es in weichen Wellen über ihre Schultern fiel, und legte ein dezentes Make-up auf. Nach dem Umkleiden warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel und war zufrieden mit dem, was sie sah.
Sie schnappte sich ihre Handtasche, griff nach dem Schlüsselbund und machte sich zu Fuß auf den Weg. Ihre Eltern wohnten nicht weit von ihr entfernt und die Parkplatzsuche würde sich schwierig gestalten bei all den blank polierten Wagen vor der elterlichen Jungendstilvilla.
Der Wind hatte aufgefrischt und wirbelte die sorgsam frisierten Haare durcheinander. Ein strenger Blick ihrer Mutter war ihr gewiss. Obwohl es ein lockerer Grillabend werden sollte, bestand ihre Mutter auf einen entsprechenden Dresscode ihrer Gäste. Für Katharinas Geschmack lief alles viel zu steif und bieder ab, aber seine Eltern konnte man sich nun einmal nicht aussuchen.
Ihr Vater war ein angesehener Chirurg und die Mutter Zahnärztin, Geld stand in einem äußerst gesunden Maß zur Verfügung. Nur diese unterkühlte Distanz, die zwischen ihnen herrschte, machte es bisweilen schwer im zwischenmenschlichen Bereich. Schon mehr als einmal hatte sie darüber nachgedacht, ob das vielleicht der Grund dafür war, warum sie sich einem Mann gegenüber so schwer öffnen konnte.
Als kleines Mädchen hatte Katharina von einer Mutter geträumt, die am Herd steht und extra für sie Spagetti kochte, wenn sie aus der Schule nach Hause kam. Die das blutende Knie verarztete, auf Hausfrauenart und mit einem Küsschen natürlich, und ihr dabei zärtlich über die Locken strich.
Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Der Vater arbeitete im Schichtdienst und ihre Mutter kehrte am Abend abgespannt aus der eigenen Praxis zurück. Hin und wieder gab es zwar eine Gutenachtgeschichte, aber die hatte Seltenheitswert. Nur die Urlaube wurden gemeinsam verbracht, wobei sie meist deutlich gespürt hatte, dass ihre Eltern in dieser Zeit die eigene Ruhe hauptsächlich für sich beanspruchten.
Mit einem Anflug von Neid hatte sie am Strand gesessen und die anderen Familien beobachtet. Mütter und Väter, die ausgelassen mit ihren Kindern Ball spielten oder Sandburgen bauten. Und beim Neid war es bis heute geblieben. Wann immer ihr eine schwangere Frau begegnete, versetzte es ihr einen Stich und die Sehnsucht nach einer intakten Familie reifte in Sekundenschnelle.
Einige Male hatte sie sogar eine Adoption in Erwägung gezogen, aber letztlich verwarf sie diesen Gedanken wieder. Ihre Eltern hätten diese Entscheidung wahrscheinlich niemals akzeptiert.
Abermals spürte sie das innere Aufbegehren, die Fesseln des Alltags abzustreifen und zu fliehen. Weg, einfach nur weg von hier.
Nach einigen Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht und drückte auf die Klingel. Ein leises Summen ertönte und das schmiedeeiserne Tor öffnete sich.
„Kathi, du bist aber spät dran!“ Evelin, ihre Mutter, eilte ihr entgegen, küsste sie flüchtig rechts und links auf die Wange und musterte ihr Outfit. „Hast du wirklich nichts Besseres auftreiben können? Die Bluse macht dich älter, als du tatsächlich bist, wir haben schließlich einige Junggesellen an Bord. Und warum versteckst du deine schlanken Beine unter so viel Stoff? Wenn du dir einen Mann angeln möchtest, solltest du schon etwas aufreizender wirken. Köpfchen und Stil, so lautet die Devise.“
„Mutter, jetzt ist’s aber gut. Ich fühle mich ausgesprochen wohl in meiner Kleidung. Wie geht es euch?“
Ein weiterer, missbilligender Blick verweilte auf Katharinas Haarpracht. „Liebes, wenn du kein Geld für einen Friseurbesuch aufbringen kannst, dann leihe ich dir gern etwas. Du siehst heut alles andere als bezaubernd aus.“
„Danke für die Blumen. Wo finde ich Papa?“
„Er hat sich mit zwei seiner Kollegen in den Salon zurückgezogen. Dein Vater kann die Fachsimpelei einfach nicht lassen.“ Frustriert rollte Evelin die Augen.
„Auch gut. Dann schaue ich mich erst einmal um, wer alles unter den Gästen zu finden ist.“
„Dein Studienfreund und Kollege nebst Gattin ist bereits hier. Die Dame ist unter seinem Niveau, aber wem sage ich das. Katharina, ich werde an der Front gebraucht. Du kommst allein zurecht?“
„Aber sicher, Mutter.“
Evelin eilte davon und ließ ihre Tochter einfach so stehen. Katharina zuckte nur mit den Schultern und schlenderte durch den üppig blühenden Garten. Ein Hoch auf den engagierten und gut bezahlten Gärtner. Hier und da ergatterte sie ein freundliches Nicken, aber die Gäste unterbrachen selten ihre Gespräche, um sie persönlich zu begrüßen.
Angestrengt hielt sie nach David, ihrem Kollegen, Ausschau, denn sie wollte ihm unbedingt das Videomaterial zeigen. Schon seit der Studienzeit war er ihr Vertrauter und bester Freund. David hatte nie einen Hehl daraus gemacht, sich unsterblich in Katharina verliebt zu haben, aber sie hatte ihn abblitzen lassen. In ihren Augen war er einfach zu brav, um sich eine erotische Beziehung mit ihm vorstellen zu können.
Enttäuscht über diese Ablehnung heiratete er sehr jung, doch seine erste Ehe scheiterte. Nach seiner Scheidung ging Katharina ein paar Mal mit ihm aus. Aber es fühlte sich falsch an, diese innige Freundschaft wegen eines Liebesaktes zu zerstören. Gut, sie waren einmal bereits kurz davor gewesen, sich einander hinzugeben, aber sie hatte gerade noch rechtzeitig die Reißleine gezogen.
Wenig später heiratete David in aller Stille eine Patientin. Das galt unter Kollegen als verpönt, aber Katharina konnte es David nicht verübeln. Sie hatte ihn zurückgewiesen, ein weiteres Mal, und ihn damit zutiefst verletzt. Hin und wieder fing sie einen seiner sehnsüchtigen Blicke ein. Ja, er liebte sie noch immer und zeigte offen seine Schwäche für sie. Vielleicht war er doch die Liebe ihres Lebens und sie hatte die vielen Chancen, eine eigene Familie zu gründen, sinnlos verstreichen lassen ...
Endlich hatte sie David gefunden. Verloren stand er unter dem Dach des Pavillons im hinteren Teil des großzügig angelegten Gartens. Glücklicherweise war von seiner Gattin weit und breit nichts zu sehen, also pirschte sie sich an ihn heran.
„Na du, auch hier?“
Lächelnd blickte sie zu ihm auf. Sein müder Blick streifte ihr Gesicht und hellte sich augenblicklich auf. David sah genauso abgearbeitet aus wie sie selbst.
„Eigentlich würde ich viel lieber auf der eigenen Couch liegen, Psychiater hin oder her, aber Vanessa wollte unbedingt wieder einmal unter Menschen. Sie muss im Mittelpunkt stehen, muss unablässig bewundert werden … na du weißt ja, wie sie ist. Dir hätte die Couch auch besser gestanden, so erschöpft wie du ausschaust.“
„Danke für das Kompliment, David.“ Katharina lachte. „Du kannst es wunderbar umschreiben, wenn selbst das Make-up die Augenringe nicht mehr verbergen kann.“
„Trotzdem siehst du immer noch bezaubernd aus.“
„Lass das bloß nicht deine Gattin hören. Hast du einen Moment, ich möchte dich etwas fragen.“
„Deine Frage kommt zu spät. Ich bin, wie dir sicher aufgefallen ist, leider schon vergeben.“
Sie knuffte ihn in die Seite. „Das ist mir in der Tat schon aufgefallen, aber jetzt Spaß beiseite. Ich habe eine Mail aus Russland bekommen, in der mich jemand um Hilfe bittet. Es geht um seltsame Vorfälle innerhalb eines Hospitals, aber ich denke, es handelt sich um ein manipuliertes Video. Dennoch möchte ich gern deine Meinung dazu einholen.“
Sie fischte das Smartphone aus ihrer Tasche, tippte auf das Display und zeigte David die Aufnahme. „Und, was sagst du?“
Er neigte seinen Kopf. „Kaum vorstellbar, welche Zustände dort herrschen. Sollst du Spenden sammeln?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber was denkst du über diesen Patienten?“
„Wenn er nicht schon vorher wahnsinnig war, so hat er spätestens in dieser Zelle seinen Verstand verloren.“
„Da stimme ich dir zu, aber wieso kann er schweben?“
„Wie … schweben?“
„Hast du das denn nicht gesehen?“ Erneut spielte sie das Video ab.
„Ach das meinst du. Ja, es sieht tatsächlich so aus, als ob der Mann in der Luft levitiert. Aber ich bezweifle die Echtheit. Für Kameras reicht das Geld, aber nicht für anständige Zimmer und Betten? Wirklich seltsam.“
„Dann bist du also auch der Meinung, dass es hierbei um etwas ganz anderes geht und sich diese Leute nur wichtigmachen wollen?“
„Mit Sicherheit. Du hast zwar morgen frei, aber wenn du eine halbe Stunde deiner kostbaren Zeit opfern würdest, könnten wir das Material gemeinsam in der Klinik sichten. Außerdem steht uns dort ein größerer Monitor zur Verfügung. “
„Das lässt sich einrichten, ich habe den Tag sowieso noch nicht verplant. Mich interessieren die Beweggründe dieser Leute, warum sie ausgerechnet mir das Video zugeschickt haben.“
„Tja, dein guter Ruf eilt dir voraus und du brauchst dein Fachwissen nicht zu verstecken.“
„Danke für die Ehre.“ Sie nickte ihm lächelnd zu. „David, ich werde mich jetzt zum Buffet vorarbeiten. Wir sehen uns morgen.“
„Ja, bis morgen.“
Katharina wandte sich ab und tauchte in der Menge unter. Sie war froh darüber, Davids Frau nicht begegnet zu sein, Vanessa hätte mit Sicherheit wieder eine Szene gemacht. Sie litt unter dem Borderline-Syndrom und machte David das Leben bisweilen zur Hölle. Gegen diese psychische Störung war kein Kraut gewachsen, selten half eine Therapie auf Dauer.
Vanessa wirkte charismatisch und sehr weiblich. Dieser Umstand ließ Männerherzen höher schlagen, besonders das von David. Er hatte wohl gehofft, sie heilen zu können oder sie zumindest seelisch zu stabilisieren. Doch sein Plan war leider nicht aufgegangen und nur die tiefen Schuldgefühle ihr gegenüber hielten ihn von einer Trennung zurück.
Er hatte sich genau wie Katharina eine große Familie gewünscht, aber auch für ihn war dieser Traum ausgeträumt. Sie wusste, dass er seine selbstsüchtige Frau niemals auf eigene Kinder loslassen würde. Vielleicht hatte Katharina mit ihrer Hinhaltetaktik zwei Menschen gleichermaßen unglücklich gemacht.
David war durchaus ein attraktiver Mann mit seinen grauen Schläfen, der stattlichen Figur und seiner sympathisch warmen Ausstrahlung. Die Herzen der Patientinnen lagen ihm reihenweise zu Füßen. Trotz aller Versuchungen war er nur bei Vanessa schwach geworden und hielt treu zu ihr, auch wenn es ihm immer schwerer fiel.
„Lass gefälligst die Finger von meinem Mann“, fauchte eine Stimme hinter ihr. Erschrocken drehte Katharina sich um und starrte irritiert in Vanessas zorniges Gesicht.
„Du brauchst gar nicht so dumm aus der Wäsche zu gucken, du weißt ganz genau, was ich meine. Der Zug ist für dich abgefahren, du hast deine Chance verpasst. Halte dich in Zukunft von David fern“, drohte sie leise.
„Liebe Vanessa, ich hatte rein beruflich mit ihm zu tun. Hör bitte mit deinen Unterstellungen auf, ich weiß schließlich, was sich gehört.“
„Ach ja? Kaum bist du auf der Party, tauchst du schon Minuten später bei ihm auf.“
„Vanessa, lass es gut sein, ich verspüre nicht die geringste Lust auf dieses Theater. Warum bist du nicht bei ihm, wenn es dich stört, dass er sich mit mir unterhält?“
„Soll ich ihn rund um die Uhr bewachen?“
„Tust du ja bereits.“
„Halte dich von ihm fern. Haben wir uns verstanden?“
„Vanessa, ich wiederhole es gern noch einmal, es war rein beruflich. Ich habe ihm nur ein Video gezeigt.“
„Aha, und wo hast du deinen Laptop versteckt?“
„Hier, schau, das Video befindet sich auf meinem Smartphone.“
Neugierig verfolgte Vanessa das Geschehen auf dem winzigen Display und wich plötzlich verstört zurück. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte davon. Verwundert blickte Katharina ihr hinterher. Aus dieser Frau wurde sie einfach nicht schlau.
Sie schlenderte gemächlich zum Zelt, in welchem sich das gut bestückte Buffet befand. Ihr war schon ganz flau im Magen und sie belud den Teller mit einer ordentlichen Portion lecker zubereiteter Salate. Am Grill ergatterte sie noch ein Steak und suchte sich einen freien Platz. Abseits des Trubels ließ sie sich das Essen schmecken.
Ihr Blick wanderte über das illustre Häufchen und sie langweilte sich. Nach Smalltalk war ihr wirklich nicht zumute und als in der Ferne der erste Donner grollte, atmete sie erleichtert auf. Höflicherweise wartete sie ab, bis das Gewitter näher gezogen war, um dann mit den anderen Gästen aufzubrechen. Besser konnte es gar nicht laufen.
Hastig verabschiedete sie sich von ihren Eltern, die damit beschäftigt waren, das Essen und die Sitzauflagen vor dem Regen zu retten. Der auffrischende Wind fegte einzelne Blätter von den Bäumen und auch das Donnergrollen wurde zunehmend lauter. Zufrieden über den raschen Aufbruch eilte Katharina durch die Straßen.
Die ersten schweren Tropfen klatschten auf das Pflaster, als sie die Eingangstür aufschloss und ins Innere flüchtete. Nach einer kurzen Dusche zog sie sich in das Schlafzimmer zurück und öffnete das Fenster. So ein Gewitter hatte auch etwas Reinigendes. Am liebsten lag sie unter der Bettdecke, während es draußen stürmte und regnete.
Die Blitze zuckten grell am Horizont und der Regen rauschte. Doch dieses Mal fühlte sie sich eigenartigerweise unwohl und spürte eine negative Energie. Barfuß tappte sie zum Fenster, um es zu schließen, als sie einen kaum hörbaren Klagelaut vernahm. Was war das?
Das lautstarke Gewitter verschluckte die meisten Geräusche und obwohl sie angestrengt lauschte, hörte sie keinen Mucks. Die Luft hatte sich stark abgekühlt und ein Schauer jagte über ihren Rücken. Sie wollte gerade den Fensterflügel zuschlagen, als erneut das Wimmern erklang. Irgendetwas dort draußen befand sich in großer Not.
Am liebsten wäre sie liegengeblieben, aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, dieses jämmerliche Fiepen zu ignorieren. Mit Taschenlampe und Regenjacke bewaffnet stromerte sie in Nachtwäsche über das Grundstück. Es fiel ihr schwer, den Ursprung des Geräusches zu orten, denn noch immer tobte das Gewitter über der Stadt.
Stopp, jetzt war sie dem Wimmern ganz nah. Der mächtige Rhododendron schränkte die Sicht ein und so ging Katharina in die Hocke, um mit der Lampe in das dichte Blattwerk hineinzuleuchten. Ein leises Rascheln schärfte ihre Sinne. Hatte sich dort hinten etwas bewegt?
Auf allen vieren kroch sie über den glitschigen Boden, bis der Strahl der Taschenlampe von einem aufleuchtenden Augenpaar reflektiert wurde. Ein völlig verängstigtes Häufchen Elend saß klatschnass vor ihr auf dem Boden. Ihre freie Hand schnellte nach vorn und griff beherzt in das winzige Fellbündel.
Das fellige Etwas setzte zur Gegenwehr an, fauchte, biss und kratzte, aber Katharinas Griff lockerte sich nicht. Behutsam zog sie das Tierchen hervor, presste es an ihre Brust und stolperte durch den dunklen Garten zurück ins Haus. In der Küche setzte sie das kleine Kätzchen ab und rubbelte den Neuzugang mit einem Handtuch vorsichtig trocken. Verstört fauchte der kleine Wicht, beruhigte sich aber schnell. Anschließend verarztete Katharina ihr Handgelenk und tupfte die tiefen Kratzer mit einem Desinfektionsmittel sauber. Dieser Winzling hatte ganze Arbeit geleistet.
Neugierig musterte sie das Tierchen, bestimmt hatte der kleine Findling Hunger. Was fraßen Katzen eigentlich? Ein Blick in den Kühlschrank ließ sie zu einer Packung Schinken greifen. Sie würfelte die Scheiben, servierte sie auf einer Untertasse und stellte eine Schüssel mit Wasser daneben. Gespannt wartete sie darauf, ob die Miez das Angebot annehmen würde.
Und das tat sie tatsächlich. In Windeseile war der Schinken verputzt und das Bäuchlein rund. Aus dem Abstellraum angelte Katharina einen Karton, legte ein Sofakissen hinein und packte das Kätzchen obendrauf.
„So, du süßer Wicht, jetzt wird geschlafen.“
Dann löschte sie das Licht und lief ins Schlafzimmer. Schläfrig kuschelte sie sich in die Kissen. Die feuchten Haare klebten zwar unangenehm am Hals, aber sie war einfach schon zu müde, um sie noch trocken zu föhnen. Das Gewitter war inzwischen weitergezogen, nur der Regen trommelte monoton auf das Dach. Während sie noch den Geräuschen der Nacht lauschte, dämmerte sie hinüber in einen tiefen Schlaf.
Lautes Geschrei weckte sie am frühen Morgen. Stöhnend schlug sie die Bettdecke zurück und lief in die Küche. Der Winzling saß mitten im Raum und maunzte in den höchsten Tönen. Erst einige Sekunden später stieg ihr ein ekelhafter Geruch in die Nase.
„Oh nein, du hast doch nicht wirklich in den Karton …“
Keine Frage, er oder sie hatte! Mit einem Papiertuch beseitigte sie das gröbste Übel und brachte den Karton samt Kissen vor die Tür. Bei weit geöffnetem Fenster fütterte sie den Winzling mit einer weiteren Portion Schinken.
Dann kochte sie sich eine Kanne Kaffee und suchte die Nummer des Tierheimes heraus. Hierbleiben konnte die Minisamtpfote auf keinen Fall. Irgendwie meldete sich doch das schlechte Gewissen zu Wort, als sie die Telefonnummer in das Display tippte. Aber da musste sie jetzt durch.
„Tut uns wirklich leid, aber wir sind völlig überfüllt. Momentan gibt es einen Aufnahmestopp für Katzen, es sind einfach zu viele.“
Ja, das war genau die Antwort, die sie sich erhofft hatte. Aber Maria! Die hatte doch Enkelkinder, die sich bestimmt über so ein kleines Kätzchen freu … nein, die nächste Absage. Ihre beste Freundin Laura wusste auch keinen Rat.
„Behalte sie doch einfach, du bist doch sowieso allein in einem viel zu großen Haus.“
Rums, das hatte gesessen. Jeder in ihrem Umfeld schien ein vernünftiges Liebesleben zu haben, nur sie teilte sich die Villa mit einer Katze.
„Tja, du kleiner Wicht, sieht nicht gut aus. Du wirst wohl oder übel hierbleiben müssen, dabei weiß ich noch nicht einmal, wo ich zum Sonntag eine Katzentoilette auftreiben soll. Aber ich arbeite daran.“
Nachdem sie sich durch sämtliche Webseiten über Katzenhaltung geklickt hatte, verstaute sie den Laptop in ihrer Aktentasche und lief nach unten. Sie beförderte einen weiteren Karton in die Küche und befüllte diesen mit Zeitungsschnipseln, damit der Winzling nicht wieder ein stilles Örtchen suchen musste. In einem der Fachmagazine hatte ihr größter Kontrahent einen unmöglichen Artikel über Autisten verfasst und auf diesen Zeilen konnte die kleine Katze getrost ihr Geschäft verrichten.
Obwohl Katharina sich mit David nur beruflich in der Klinik traf, machte sie sich ein wenig zurecht und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Ihr gefiel, was sie sah. Kurz darauf glitt der Wagen aus der Garage und sie trat aufs Gas. David wartete schon im Büro auf sie und wie immer strahlten seine Augen, als sie den Raum betrat.
„So, dann wollen wir mal.“ Sie fuhr den Laptop hoch und klickte auf Start.
Erneut schüttelte David den Kopf. „Ich kann es nicht fassen, wie die Menschen dort verwahrt werden, eine Szene ist verstörender als die andere.“
„Ja, da stimme ich dir zu. Achtung, jetzt kommt die Stelle, wo er schwebt.“
„Hm, dieser Kerl müsste ein verdammt guter Schauspieler sein. Den Anfall kann man kaum besser darstellen, aber gut, mit der heutigen Technik ist vieles machbar.“
„Ist es echt?“
„Ich bezweifle das. Zeig mir bitte die anderen Videos.“
„Gerne.“
Gebannt beobachtete David das Verhalten der zwei weiteren Patienten. „Mir jagen diese Bilder einen Schauer über den Rücken“, gab er offen zu. „Das ist doch kein Leben, das ist die Hölle. Was mir besonders auffällt, ist der absolut schlechte Gesundheitszustand dieser Menschen, abgemagert und unterernährt. Sie sind seelisch vollkommen verwahrlost, überall auf dem Boden verteilen sich Fäkalien, obwohl eine Toilette im Raum vorhanden ist. Kein Pfleger wischt den Boden, niemanden kümmert es. Bei uns ist auch nicht alles Gold, was glänzt, aber das?“
„Diese Menschen sind der Situation hilflos ausgeliefert, falls die Videos echt sind.“
„Was mich ebenfalls erstaunt, wer betreibt für so ein kurzes Video einen derartigen Aufwand? Wurden diese Leute extra gecastet? Mussten die Darsteller hungern? Einerseits überkommt mich das nackte Grauen, je länger ich mir dieses Video anschaue. Andererseits wehrt sich mein Innerstes und behauptet, dass diese Bilder einfach nicht der Wahrheit entsprechen können.“
Katharina musterte David skeptisch. „Jetzt sag schon, würde sich eine Reise lohnen?“
„Du bist verrückt. Willst du wirklich nach Sibirien reisen?“
„Warum nicht? Vielleicht kann man entsprechendes Material einigen Journalisten zuspielen und so für eine Verbesserung der Lebensbedingungen sorgen. Die Zellen, in denen diese Menschen hausen müssen, existieren immerhin.“
„Aber stell dir doch nur einmal vor, du fährst gutgläubig dorthin und dann handelt es sich nur um eine Fälschung. Von der negativen Presse, die über dich hereinbricht, ganz zu schweigen. Deinen guten Ruf bist du los.“
„Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aber egal, wie sehr mich das Videomaterial auch abstößt, es zieht mich trotzdem magisch an. In zwei Wochen habe ich für eine längere Zeit frei und wenn ich noch ein paar Urlaubstage anhänge, könnte es klappen.“
„Ist das dein voller Ernst?“
„Selbstverständlich. Ich muss einfach hier raus, ich habe das Gefühl zu ersticken. Nichts läuft so, wie ich es mir wünsche. Ich bin total frustriert.“
„Ach Katharina … Warum hast du uns bloß nie eine Chance gegeben? Gesteh dir doch endlich ein, dass du genauso unglücklich darüber bist wie ich. Wir sitzen beide in einem Hamsterrad fest.“
„Bitte David, nicht schon wieder.“
„Auch wenn du es nicht hören willst, ich habe recht. Diese Tatsache kannst du drehen und wenden, wie du möchtest.“
„Lass uns jetzt nicht darüber streiten. Du bist mit Vanessa liiert, also erübrigt sich dieses Gespräch.“
„Danke, dass du mich freundlicherweise daran erinnerst.“
„Was ist jetzt mit dem Videomaterial? Würde sich eine Reise lohnen?“
„Die Forschung ist dein Steckenpferd und die Antwort darauf kennst nur du allein. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl, dich fahren zu lassen.“
„Dann werde ich morgen den Chef um Beistand bitten. Mal schauen, was er dazu sagt.“
„Ja, mach das. Ich wünsche dir noch einen entspannten Sonntag.“
„Danke, und ich dir einen raschen Feierabend.“
Sie sah, wie er sich enttäuscht abwandte und geschäftig in seinen Unterlagen kramte. Es tat ihr leid, ihn verletzt zu haben. Doch sie wollte nicht von einer gemeinsamen Zukunft träumen, die es so für beide nicht geben konnte. Vanessa würde in die Scheidung niemals einwilligen, von einer öffentlichen Schlammschlacht ganz zu schweigen. Davids Ruf wäre ruiniert. Für immer.
Warum musste er ausgerechnet heut dieses leidige Thema wieder ansprechen? Ihre gute Laune war dahin, vom restlichen Sonntag ganz zu schweigen. Verärgert steuerte sie den Wagen durch die Straßen und grübelte darüber nach, ob es sich lohnte, diesen geradezu unheimlichen Vorkommnissen auf den Grund zu gehen. Sie glaubte nicht an derlei Zeugs und schon gar nicht an schwebende Menschen. Trotzdem würde sie sich um weiteres Material kümmern, damit sie sich auf die vorliegenden Fakten stützen konnte.
Nachdem sie in die Villa zurückgekehrt war, suchte sie das Kätzchen und entdeckte es im Arbeitszimmer. Zusammengerollt lag es zwischen den Kissen und begann sofort zu schnurren, als ihre Finger zärtlich durch das samtige Fell glitten.
„So langsam wird es Zeit, dass ich dir einen Namen gebe, denn auf Dauer wirst du wohl kein Winzling bleiben.“ Behutsam hob sie ihren neuen Mitbewohner hoch. Aha, ein Mädchen. „Wäre es dir recht, wenn ich dich ab heute Minou nenne?“
Zärtlich drückte Katharina das Fellbündel an ihre Brust. Das Kätzchen schnurrte noch immer und kuschelte sich an ihr neues Frauchen. Binnen Sekunden hatte Minou Katharinas Herz im Sturm erobert. Nein, das Tierchen wegzugeben kam definitiv nicht mehr in Frage. Unten in der Küche taute sie das teure Fischfilet auf, um den Neuzugang zu verköstigen.
Anschließend zog sie sich in das Arbeitszimmer zurück und forderte weiteres Videomaterial an, um eine Entscheidung fällen zu können.
Morgen war es endlich so weit, der Flug war gebucht und die Koffer gepackt. Sechs Tage würde Katharina in Krasnojarsk bleiben, um den seltsamen Dingen auf den Grund zu gehen.
Ihr Chef hatte zwar den Urlaub genehmigt, aber keinerlei Forschungsgelder zur Verfügung gestellt. Flug und Unterbringung bezahlte sie also aus eigener Tasche. Außerdem hatte sie noch zusätzliches Equipment besorgt, um das dortige Umfeld zu dokumentieren.
David war nach wie vor wenig angetan von ihrem Entschluss. Er hatte sie mehrmals darum gebeten, die Reise abzusagen. Auch Maria vertrat die Meinung, dass ein klassischer Urlaub mehr zu ihrer Erholung beitragen würde. Aber Katharina war einfach zu neugierig und ihr Wissensdurst, einmal entfacht, ließ sich nicht so leicht stillen.
Der Feierabend nahte und sie wollte sich noch rasch von Tim verabschieden. In letzter Zeit wirkte der Junge verlorener als sonst und ihr schlechtes Gewissen meldete sich in regelmäßigen Abständen zu Wort. Aber es sind doch nur sechs Tage, versuchte sie sich stets zu beruhigen. Danach hatten die Patienten sie schließlich wieder.