Soulless Places - Ana Dee - E-Book

Soulless Places E-Book

Ana Dee

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Beschreibung

Sophie, glücklich und zufrieden auf Wolke sieben schwebend, ist mit Nick, einem jungen Psychologiestudenten liiert. Auf der Suche nach dem ultimativen Nervenkitzel, will sich das frischverliebte Paar mit Freunden Zutritt zu einer alten Villa verschaffen. Doch das Unglück nimmt seinen Lauf und nicht nur die Tour gerät außer Kontrolle. Nachher ist nichts mehr wie es war und Sophie wird von Wahnvorstellungen geplagt. Auf der verzweifelten Suche nach Antworten, begibt sie sich erneut in Lebensgefahr.

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Soulless Places

Ana Dee

Für Gabi.

Danke für den Zuspruch und die Unterstützung.

Vorwort

Sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden und Ähnlichkeiten mit realen Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse.

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

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Impressum

Prolog

Sophie hetzte den engen Tunnel entlang und rang keuchend nach Luft. Sie stolperte über einen losen Stein, der sich aus der Wand gelöst hatte, und schlug der Länge lang hin. Die Taschenlampe rutschte ihr aus der Hand und schlagartig wurde es dunkel.

„So ein Mist“, fluchte sie und klopfte sacht auf das Gehäuse, um sie wieder in Gang zu setzen. „Jetzt komm schon …“

Die Lampe flackerte kurz, bevor sie endgültig erlosch. Stöhnend lehnte sich Sophie an die Wand und ergab sich ihrem Schicksal. In völliger Finsternis würde sie nie den Ausgang finden, denn sie hatte ganz plötzlich den Anschluss zu den anderen verloren. Wahrscheinlich war sie falsch abgebogen, sie konnte es sich einfach nicht erklären.

Mühsam rappelte sie sich auf. Ihr Knie hatte ganz schön etwas abbekommen, der Stoff fühlte sich warm und feucht an. Aber das war jetzt nebensächlich, sie wollte nur noch hier weg. Vorsichtig tastete sie sich mit den Händen voran. Es war so unheimlich hier unten, so nass und kalt. Als etwas ihren Nacken entlangkrabbelte, schlug sie kreischend um sich. Sie litt unter einer Spinnenphobie, und allein der bloße Gedanke an diese achtbeinigen Chitinmonster löste eine Panikattacke aus.

„Hallo, wo seid ihr?“, rief sie aus Leibeskräften und ihr Echo hallte dumpf von den Wänden wider. Auf eine Antwort ihrer Freunde wartete sie vergebens. Also setzte sie ihren beschwerlichen Weg fort, bis sie an der Luftströmung spürte, dass sie sich einem Abzweig näherte. Unschlüssig blieb sie stehen.

„Hallo?“

Die Wände warfen das Echo diesmal deutlich lauter zurück, sie musste in einem der Räume angekommen sein. Sophie schob sich direkt an der Wand entlang, um kein Risiko einzugehen. Plötzlich hörte sie eine zischende Stimme ganz dicht an ihrem Ohr.

„Verschwinde!“

Sie glaubte sogar, den Atem auf ihrer Haut zu spüren, und machte erschrocken einen Satz nach vorn. Ihr rechter Fuß fand keinen Halt und ihre Hände griffen ins Leere. Ein entsetzter Schrei löste sich von ihren Lippen, als sie spürte, wie sie ins Bodenlose fiel.

1

„Folgendes …“ Nick tippte mit dem Zeigefinger auf die vor ihm ausgebreitete Karte. „Die alte Fabrikantenvilla wurde am Hang auf Felsmassiv errichtet und liegt versteckt in bewaldetem Gebiet. Laut eines Zeugen, so stand es zumindest im Forum, soll sich unter der Villa ein Labyrinth von Gängen befinden. Einziger Knackpunkt bei dieser Aktion: Der Besitzer des Anwesens schaut mehrmals am Tag vorbei, um zu verhindern, dass Vandalen das Interieur auseinandernehmen.“

Sophie musterte ihn verstohlen. Sie war erst seit Kurzem mit Nick zusammen und zum ersten Mal bei einer Tour dabei. Nick, Jonas und Maike waren Studenten, die sich zu ihrem eintönigen Alltag einen passenden Ausgleich verschafften. Für Sophie völliges Neuland. Sie konnte dem nichts abgewinnen, in baufälligen Ruinen herumzuklettern, um dort den Nervenkitzel zu suchen. Sicher, ein Museum war schon mal drin, aber alte Fabrikhallen? Was konnte man dort schon Aufregendes entdecken?

Voller Unbehagen schaute sie auf die Karte. Wenn sie erwischt wurden, hatten sie eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch am Hals. War es das wirklich wert?

Und dann war da noch Maike – ein Rasseweib mit dunkler lockiger Mähne, funkelnden Augen und vollen geschwungenen Lippen. Schon ihre bloße Anwesenheit brachte Sophie zur Weißglut und sie fühlte sich blass und farblos neben ihr. Vor ein paar Jahren waren Nick und Maike ein Paar gewesen und das fuchste sie ungemein. Es war schwer, die aufkommende Eifersucht zu zügeln, wenn sich das Trio an den Wochenenden auf Tour begab.

Maike schnurrte meist wie ein Kätzchen, und wenn sie ihr Haar schwungvoll zurückwarf, war das die reinste sexuelle Provokation. Die Spitzen streiften immer ganz zufällig Nicks Gesicht.

Sophie presste die Lippen zusammen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie wollte das noch junge Glück nicht mit ihrer Eifersucht überstrapazieren und Nick eine Angriffsfläche bieten.

„Sophie? Hörst du mir überhaupt zu?“ Er musterte sie mit ernstem Blick. „Falls uns jemand erwischt, sollten wir schon einen möglichen Fluchtplan im Kopf haben. Und jetzt wieder zu dir, Sophie. Falls du aussteigen möchtest, dann wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt.“

Diesmal nickte er ihr aufmunternd zu und in seinen Augen tanzten die hellen Fünkchen, die sie so sehr liebte. Sie musste ehrlicherweise zugeben, dass sie diese Tour nur zu gern abgesagt hätte. Wären da nicht besagte Eifersucht und die ständigen Ausreden, die sie erfand, um sich davor zu drücken.

„Nein, nein, ich begleite euch, wie abgesprochen“, erwiderte sie einen Tick zu hastig.

Maike taxierte sie kurz und Sophie glaubte, einen Anflug von Spott in ihrem Blick zu erkennen. Aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein, wie so vieles in letzter Zeit.

„So, Leute …“ Nick übernahm wieder das Ruder. „Jonas wird sich um die Schlösser kümmern, damit wir ohne Einbruchsspuren in die Villa gelangen, während ich mir den Eigentümer vorknöpfe, der das Gelände checkt. Der hat mit Sicherheit seine regelmäßigen Zeiten, das macht es überschaubar. Maike, du bestellst im Internet Seile und Leuchtstäbe, damit wir uns in der Bunkeranlage nicht verirren.“

Er holte kurz Luft. „Und du, mein Schatz, besorgst dir bequeme Wanderschuhe und staffierst dich mit Klamotten aus, die auch kaputt gehen dürfen.“ Mit einem schiefen Grinsen hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange.

„Habt ihrs jetzt, ihr Turteltauben?“, fragte Jonas genervt.

Ihm schien nicht in den Kram zu passen, dass Sophie sich ihnen angeschlossen hatte. Der junge durchtrainierte Mann wirkte auf seine Mitmenschen kühl und distanziert. Das rötliche Haar, die hellen Wimpern und sein mürrischer Gesichtsausdruck ließen ihn von vornherein unsympathisch wirken. Sein ruppiges Verhalten, das er anderen gegenüber oft an den Tag legte, machte es keineswegs leichter. Kein Wunder, dass er seit Jahren Single war.

Auch das Physikstudium war nicht gerade der Brüller, um die Damenwelt von sich zu überzeugen. Allerdings schien Jonas an Maike interessiert, denn er ließ sie keine Sekunde aus den Augen.

„Aus dir spricht nur der pure Neid“, spottete Nick lachend und klopfte Jonas freundschaftlich auf die Schulter.

„Im Leben nicht“, erwiderte Jonas gereizt und warf Sophie einen undefinierbaren Blick zu.

Unbehagen machte sich breit und sie würde drei Kreuze machen, wenn dieser Ausflug der Vergangenheit angehörte. Mit Sicherheit wäre es besser, später von diversen Touren Abstand zu nehmen. Sicher, als Bauzeichnerin lag ihr die Architektur sehr am Herzen und sie liebte klassische Bauwerke. Aber nicht mit diesem Hang zum Morbiden. Schon beim bloßen Gedanken daran richteten sich ihre feinen Nackenhärchen auf.

„Da wir jetzt alles geklärt haben, können wir uns wieder dem schnöden Alltag zuwenden.“ Maike blickte ungeduldig auf ihre Uhr.

„Hast du noch ein Date?“, wollte Nick wissen und augenblicklich krampfte sich Sophies Innerstes zusammen.

„Ich fürchte, dass dich das nichts mehr angeht“, antwortete sie mit einem süffisanten Lächeln.

„Das habe ich schon vor geraumer Zeit zur Kenntnis genommen. Ich wollte lediglich Interesse heucheln“, entgegnete er.

Sophies Blick wanderte von einem zum anderen, diese neckische Ausdrucksweise irritierte sie meist. Maike und Nick studierten Medizin und hatten auch auf diese Weise zueinandergefunden. Maike würde später als Assistenzärztin arbeiten, während Nick ein weiteres Studium zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie absolvierte. Manchmal dachte Sophie tatsächlich, das hätte bei beiden Spuren hinterlassen. Ihr gegenüber verhielt sich Nick völlig normal, nur diese gegenseitigen Sticheleien der zwei verleiteten sie oft zum Grübeln.

Vielleicht lag es auch daran, dass sie die Einzige im Bunde war, die sich für den klassischen Lebensweg entschieden hatte: Kindergarten, Realschulabschluss, Lehre. Sie hatte sich immer für eine junge selbstbewusste Frau gehalten, aber die Fassade bröckelte. Warum sie so empfand, konnte sie nicht genau sagen. Nick trug sie auf Händen, zeigte offen seine Liebe, himmelte sie regelrecht an … und dennoch. Da war dieses diffuse Gefühl, dass etwas nicht stimmte, aus welchen Gründen auch immer.

„So, ihr Lieben, man sieht sich.“ Maike stand schon an der Tür und hob zum Abschied kurz die Hand. Nur wenige Minuten später jaulte der Motor eines Fahrzeugs gequält auf. Nick und Jonas tauschten wissende Blicke.

„Maike wird das Autofahren niemals lernen“, grinste Nick.

„Ne, irgendwie nicht. Deshalb lassen wir sie bei den Touren auch nie ans Steuer.“ Es war einer der seltenen Augenblicke, bei denen Jonas lächelte.

Sophie und Nick erhoben sich gleichzeitig. „Mach’s gut, Jonas, und danke für den Kaffee.“

Sie durchquerten den Flur und liefen die Treppen hinunter. In der Junggesellenbude von Jonas hatte sich Sophie noch nie sonderlich wohlgefühlt und sie genoss die wärmenden Strahlen der Sonne, als sie aus dem Gebäude traten. Nicks alter Audi stand gleich um die Ecke und sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

„Hast du noch Lust auf ein Eis?“, fragte er.

„Aber immer doch“, lachte sie.

Er steuerte den Wagen in Richtung Innenstadt und es verging eine Weile, bis er einen Parkplatz ergattert hatte. Hand in Hand schlenderten sie durch die Fußgängerzone und ließen sich auf der Terrasse des Eiscafés nieder. Sophie nutzte die Gelegenheit und betrachtete verstohlen Nicks Profil. Jetzt war er wieder weich und gefühlvoll, nicht dieser knallharte Typ, der die Touren durchzog.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich daran erinnerte, wie sie sich kennengelernt hatten. Bei ihrem wöchentlichen Großeinkauf im Supermarkt war sie ihm in die Hacken gefahren. Ja, Romantik sah deutlich anders aus. Nick hatte sich aufbrausend umgedreht, aber nach eingehender Betrachtung ihrer weiblichen Statur hinreißend gelächelt.

„Ist das jetzt eine neue Masche?“, hatte er geflachst, während ihre Wangen von einer zarten Röte überzogen waren.

Normalerweise hätte sie schlagfertig reagiert, aber stattdessen hatte sie schüchtern ihren Blick gesenkt. Nein, es war keineswegs Liebe auf den ersten Blick gewesen. Aber so charmant, wie Nick sich daraufhin um sie bemühte, hatten sie kurze Zeit später seinen Avancen nachgegeben. Sie liebte seine strahlend blauen Augen, das dunkelblonde Haar mit dem frechen Wirbel am Hinterkopf und seinen durchtrainierten Körper. Er joggte, um sich fit zu halten, und ging ab und zu ins Studio. Es gab nur wenige Gemeinsamkeiten, die sie teilten, aber die Beziehung harmonierte dennoch.

Obwohl sich Sophie wenig aus Sport machte, war ihre Figur ganz passabel. Das schulterlange Haar hatte sie mit blonden Strähnchen aufgepeppt, trotzdem reichte es an Maikes Mähne nicht heran. Aber im Großen und Ganzen war sie zufrieden, wenn man von den Selbstzweifeln absah, die sie seit Neuestem plagten. Aber das würde sich mit Sicherheit legen, wenn sie mit eigenen Augen sah, wie Nick und Maike sich während der Tour verhielten. Da war sie ganz zuversichtlich.

„Na, träumst du wieder?“, fragte Nick und ihre Blicke trafen sich. Sofort war das Feuer wieder entflammt.

„Ein wenig“, gab sie lächelnd zu.

„Du bist süßer als das Eis.“

Sie errötete, so wie immer, wenn er ihr ein Kompliment machte.

„Hättest du etwas dagegen, wenn wir nachher noch einen Abstecher zum Sportgeschäft machen? Dort kannst du dir gleich ein Paar Trekkingschuhe besorgen.“

„Sind die nicht ziemlich teuer in so einem Fachgeschäft?“, erwiderte sie.

„Das sind sie. Aber sollten wir tatsächlich den Zugang zu diesem Tunnelsystem finden, brauchst du passendes Schuhwerk.“

Trotz seines schmalen Studentenbudgets übernahm Nick ganz gentlemanlike die Rechnung. Hand in Hand schlenderten sie in die Richtung des Sportgeschäftes. Vor dem Schaufenster blieben sie stehen und seine Augen leuchteten. Es gibt schlimmere Hobbys, versuchte sich Sophie zu trösten. Sobald Nick sein Studium beendet hätte, wäre es mit diesem bizarren Hobby sowieso vorbei.

Nachdem sie das Geschäft betreten hatten, schob er sie zu einem Regal mit Trekkingschuhen, während er in der Abteilung für Sportbekleidung verschwand. Nur wenige Minuten später kehrte er mit seiner stolzen Ausbeute zurück.

„Und, hast du ein passendes Paar gefunden?“, fragte er.

Was sollte sie ihm darauf antworten? Dass sich bei diesem schwindelerregenden Preisniveau ihr Bauch schmerzhaft zusammenzog? Drei Jeans hätte sie dafür bekommen, mindestens. Sie drehte und wendete die Schuhe, aber hübscher wurden sie dadurch auch nicht. So viel Geld für den einmaligen Gebrauch, was für eine Verschwendung.

„Ich nehme die“, erklärte sie verdrossen.

„Gute Entscheidung.“

Adieu, liebes Geld, nun bist du dahin. Mit einem leicht frustrierten Gesichtsausdruck nahm sie den Karton entgegen und verließ mit Nick das Geschäft. Sie hatte gehofft, sich aus dem Internet billige Treter besorgen zu können, aber Nick war ihr zuvorgekommen. Es sollte halt nicht sein. Anschließend fuhr er sie zu ihrer Wohnung.

„Darf ich noch auf einen Sprung mit rauf?“, fragte er lächelnd.

„Wolltest du nicht für den Rest des Tages die alte Villa observieren?“, fragte sie verwundert.

„Das kann warten. Ich möchte mit dir etwas Wichtiges besprechen.“

Oh, das klang verdammt ernst. Ihr Herz pochte gegen die Rippen und sie öffnete nervös die Haustür. Der Weg in den dritten Stock war ihr noch nie so lang erschienen.

In der kleinen Zweizimmerwohnung ließ sie sich aufs Sofa fallen. „Schieß los, wo drückt der Schuh?“

Nick setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand. Sein Daumen strich sanft über ihren Handrücken. „Auch wenn wir uns erst wenige Wochen kennen, so bin ich doch der Meinung, dass sich daraus etwas Festes entwickeln könnte.“

Gott sei Dank, sie hatte schon das Schlimmste befürchtet.

„Jedenfalls wollte ich dich fragen … “ Nick räusperte sich. „Wie du denkst darüber, wenn wir zusammenziehen würden?“

Sie konnte deutlich seine Erleichterung spüren, weil er sich endlich ein Herz gefasst hatte. Trotzdem stand ihr die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Sophie, bleib ruhig und sag jetzt bloß nichts Falsches, ermahnte sie sich.

„Bist du dir sicher, dass wir schon so weit sind?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage. Verflixt, warum hatte sie nicht einfach zugestimmt?

„Ich würde dich nicht bitten, wenn es mir nicht ernst wäre. Wir lieben uns, wir respektieren uns, das sollte doch wohl genügen.“

Sie brachte ein zaghaftes Nicken zustande.

„Und falls dir meine Liebe nicht reicht“, er lachte, „dann könnte ich noch erwähnen, dass du in Zukunft keine Miete mehr zahlen müsstest.“

„Du bist unmöglich.“ Sie knuffte ihn in die Seite.

„Also, was sagst du?“

Hinter ihrer Stirn rotierten die Gedanken. Sollte sie oder sollte sie nicht? Sicher, wenn sie die Miete sparen könnte, hätte sie die Trekkingschuhe schon im ersten Monat wieder drin. Aber das sollte nicht der ausschlaggebende Punkt sein. Sie liebte ihn, was brauchte es mehr. Eine Garantie gab es nicht, jede Beziehung hatte ihre Höhen und Tiefen.

„Einverstanden, dein Argument mit der Miete hat mich überzeugt“, antwortete sie mit einem Lachen.

„Wusste ich’s doch, Geld zieht bei Frauen immer. Jetzt muss ich dich nur noch dazu überreden, so schnell wie möglich bei mir einzuziehen.“

Er küsste sie leidenschaftlich, während seine warmen Hände unter ihr Shirt wanderten. Mit einem wohligen Seufzer gab sich Sophie ihren Gefühlen hin.

Sophie stand vor dem Badezimmerspiegel und tuschte ihre Wimpern. Heute war Mädelsabend und sie freute sich schon darauf, ihren Freundinnen die Neuigkeiten zu berichten. Das Trio kannte sich noch aus der Grundschule und die Freundschaft hatte all die Jahre überdauert. Natürlich gab es auch diverse Meinungsverschiedenheiten, und das nicht zu knapp, aber sie rauften sich immer wieder zusammen.

Katja, die Burschikose unter ihnen, und Leonie, die Sensible. Wann immer Sophie Rat oder Unterstützung brauchte, ihre Freundinnen waren für sie da und diese Verbundenheit war durch nichts zu erschüttern. Sie machten oft Witze darüber, dass sie selbst im hohen Alter an diesen Treffen festhalten würden, Rollator hin oder her.

Sophie warf einen letzten Blick in den Spiegel, perfekt. Schade, dass Nick sie jetzt nicht sehen konnte, sie fühlte sich großartig. Leichtfüßig lief sie die Treppe hinunter, schloss ihren Polo auf und startete den Motor. Nach einer Viertelstunde Fahrzeit hatte sie die Pizzeria erreicht. Suchend schaute sie sich um und entdeckte Katja und Leonie an einem der hinteren Tische.

„Na, ihr zwei, alles klar?“

„Aber sicher, du kennst uns doch“, antwortete Leonie.

„Katja, was macht die Liebe?“

„Lass stecken, Sophie. Ich hatte wieder tierischen Zoff mit Charly, sie kann so eine Zicke sein.“ Katja verdrehte die Augen. „Manchmal beneide ich euch darum, dass ihr auf Männer steht.“

„Das glaubst auch nur du“, stöhnte Leonie. „Kai ist manchmal so …“, sie suchte nach dem passenden Wort, das ihn genau beschrieb.

„Phlegmatisch, vielleicht“, lachte Sophie.

„Genau“, stimmte Leonie ihr zu, „das Wort beschreibt ihn am besten. Komme ich heut nicht, komme ich morgen.“

Katja hielt sich vor Lachen den Bauch.

„Mensch Katja, dass du immer so zweideutig denken musst“, warf Leonie entrüstet ein.

„Mädels, ihr seid echt super. Wir sollten ein Buch darüber schreiben.“ Katja wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Es fiel ihr schwer, das belustigende Glucksen zu unterdrücken. „Okay, dann lasst uns die Bestellung aufgeben, ich habe einen Bärenhunger.“

„Ist auch besser so, die Leute gucken schon.“ Typisch Leonie, akkurat wie immer.

Sophie musterte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck die Freundinnen. Sie konnte sich glücklich schätzen, momentan lief es richtig gut. Auf Wolke sieben schwebend vermisste sie die Bodenhaftung kein bisschen.

„Hab ich euch schon das Neueste erzählt?“

„Du bist schwanger!“, platzte es aus Leonie heraus.

Katja schüttelte ihren Kopf. „Dass du aber auch immer vom Schlimmsten ausgehen musst.“

„Sag mal, spinnst du? Ich hätte absolut nichts dagegen, wenn es bei uns klappen würde“, erwiderte Leonie entrüstet.

„Was? Du verhütest nicht mehr?“ Sophie verschluckte sich beinahe.

„Wie soll es denn sonst funktionieren?“, warf Katja trocken ein. „Kommt er heut nicht, kommt er morgen.“ Laut prustend hätte sie beinahe die Lasagne vom Tisch gefegt.

„Du bist unmöglich.“ Leonie setzte eine beleidigte Miene auf.

„Um das Ganze abzukürzen, und bevor ihr euch noch gegenseitig an die Gurgel springt: Nick hat mich gebeten, bei ihm einzuziehen.“

„Hört, hört, unsere Sophie angelt sich einen zukünftigen Chefarzt. Aber du wusstest ja schon immer, wohin die Reise geht.“

„Katja, du bist immer so umwerfend charmant“, lachte Sophie.

„Also ist es euch ernst. Ich freue mich für dich, Sophie.“ Leonie strahlte übers ganze Gesicht. Das war eine ihrer großen Stärken, sich in andere hineinzuversetzen und sich aufrichtig zu freuen.

„Wann wirst du umziehen? Gibst du deine Wohnung auf oder lässt du dir ein Schlupfloch offen?“

Katja, die ewig Zweifelnde. Ohne doppelten Boden und einem Netz zur Absicherung ging es nicht.

„Keine Ahnung, er hat mich gestern erst gefragt. Ich denke, dass ich meine eigenen vier Wände vorläufig behalten werde. Nick hat die Eigentumswohnung seiner verstorbenen Tante übernommen und ich muss quasi keine Miete zahlen. Sollte alles reibungslos klappen, würde ich diesen Schritt endgültig wagen.“

„Spannungen und Disharmonie gibt es in jeder Beziehung und mit Nick hast du einen richtig tollen Fang gemacht. Er ist gut aussehend, intelligent und wie er dich anhimmelt …“ Leonie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Schade, dass die erste Verliebtheit nicht ewig anhält.“

„Hallo Sophie.“

Erschrocken fuhr sie herum, Maike stand direkt hinter ihr. „Was machst du denn hier?“, rief sie erstaunt.

„Pizza essen, und du?“

„Äh, ja klar, dumme Frage“, antwortete Sophie verwirrt.

„Na dann, euch noch einen schönen Abend.“

Maike war in Begleitung eines jungen Mannes erschienen, der seinen Arm besitzergreifend um ihre Taille gelegt hatte. Ob die beiden ein Paar waren?

„Wer war denn das?“, flüsterte Leonie neugierig.

„Nicks Ex.“

„Mein lieber Schwan, was für ein scharfes Gerät.“ Katja blickte Maike anerkennend hinterher.

„Vielen Dank, dass du mich ausgerechnet jetzt daran erinnerst“, entgegnete Sophie,

„Aber sie scheint nett zu sein“, sagte Leonie. „Schließlich könnte sie dich auch ignorieren.“

„Mädels, habt ihrs jetzt? Ja, sie ist die immer gut aussehende, reizende Maike und es macht mir überhaupt nichts aus, dass Nick und sie früher … na ihr wisst schon.“

„Sophie!“ Leonie riss entrüstet die Augen auf.

„Oh oh, da ist aber eine eifersüchtig“, stichelte Katja.

„Deinen Spott kannst du dir sonst wohin stecken“, fauchte Sophie.

Leonie griff tröstend nach ihrer Hand. „Lass dich nicht runterziehen, du brauchst dich nicht zu verstecken. Außerdem hat Nick sich für dich entschieden.“ Aber Leonies Versuch, sie moralisch wieder aufzurichten, fruchtete nicht.

Sophie schob den halb vollen Teller zur Seite und leerte das Glas. Der Abend war für sie gelaufen.

„Darf ich mir deine Pizza einverleiben? Die Lasagne war echt nur eine Miniportion, davon wird höchstens ein Waschbär satt.“ Katja starrte mit gierigem Blick auf die Reste.

„Nimm ruhig.“ Sophie nickte ihr zu.

„Deinen Stoffwechsel möchte ich haben. Ich brauche nur ein Stück Kuchen anzusehen, schon ist ein halbes Kilo wieder drauf“, beschwerte sich Leonie nicht ohne einen Anflug von Neid.

Sophie unterdrückte ein Gähnen. Da war sie wieder, diese bleierne Müdigkeit, mit der sie sich schon seit geraumer Zeit herumplagte. „Seid mir nicht böse, aber ich muss morgen wieder zeitig raus. Der Chef hat Termindruck und dieses Projekt raubt mir noch den letzten Nerv.“

„Schade, aber ich kann verstehen, dass du erschöpft bist.“ Leonie sah sie verständnisvoll an. „Macht es dir etwas aus, wenn wir noch bleiben?“

„Nein, keine Sorge. Habt noch einen schönen Abend.“

Sophie erhob sich und für einen kurzen Moment schwankte der Boden unter ihren Füßen. Katja sprang hastig auf und griff ihr unter die Arme.

„Bist du vielleicht doch schwanger?“, fragte Leonie besorgt.

„Nicht dass ich wüsste.“ Das Sprechen fiel Sophie schwer, die Zunge wollte einfach nicht mehr gehorchen.

„In diesem Zustand fährst du mir nicht allein, ich bringe dich nach Hause“, sagte Katja bestimmt.

„Das musst du aber nicht, ich kann auch ein Taxi nehmen.“ Lallte sie bereits? Was war nur mit ihr los?

„Nun fahrt schon, ich übernehme die Rechnung“, sprang Leonie in die Bresche. „Ihr könnt mir das Geld ein anderes Mal wiedergeben. Gute Besserung, Sophie, und pass bitte auf dich auf.“

Katja hakte sich bei Sophie unter und führte sie zur Tür. „Hast du das öfter?“

„Ja, manchmal schon“, gestand sie schuldbewusst.

„Warst du schon bei einem Arzt?“, fragte Katja.

Sophie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, das gibt sich wieder, sobald ich zur Ruhe komme.“

„Hm, wenn du jetzt noch den Umzug stemmen willst, dann sehe ich schwarz. Nimm dir eine Auszeit und suche bitte einen Arzt auf. Versprichst du mir das?“ Katja musterte sie mit ernstem Blick.

„Versprochen.“

Schweigend chauffierte Katja sie zurück und begleitete sie in die Wohnung.

„Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast. Tut mir leid, dass ich euch den Abend verdorben habe.“

„Ach was. Schone dich einfach die nächsten Tage und dann wird das schon wieder. Wenn es dir wieder besser geht, machen wir richtig einen drauf. Okay?“

„Okay.“

„Wir sehen uns, bye, bye.“ Katja winkte ihr noch einmal zu, bevor sie die Wohnung verließ.

Sophie schleppte sich in die Küche und kramte in der Hausapotheke. Zu ihrem körperlichen Unwohlsein hatte sich dummerweise auch noch Übelkeit dazugesellt. Sie verdünnte die Magentropfen mit Wasser und trank das bittere Gebräu in einem Zug. Angewidert schüttelte sie sich.

Vor zwei Tagen hatte sie sich einen Schwangerschaftstest besorgt, der zu ihrer großen Erleichterung negativ ausgefallen war. Doch das wollte sie ihren Freundinnen nicht auf die Nase binden. In ein paar Jahren wäre sie für Nachwuchs bereit, aber vorerst wollte sie nichts davon wissen.

Bevor sie sich unter die Dusche stellte, schminkte sie sich vor dem Badezimmerspiegel ab und erschrak, wie kränklich sie aussah. Dann ließ sie das warme Wasser auf ihren Körper niederprasseln. Mit tropfnassen Haaren stieg sie aus der Kabine und schlang das Handtuch um ihren Körper. Immerhin, sie fühlte sich minimal besser.

Im Wohnzimmer lehnte sie sich an den Türrahmen und ließ den Blick über das Interieur schweifen. Weiße Wände, helle Möbel und ein knallbunter Teppich waren geschickt kombiniert und verliehen dem Raum eine elegante Note. Sie hatte ein Händchen für die richtige Deko und befand sich so gut wie immer auf Schnäppchenjagd.

Wehmut schlich sich in ihr Herz, das heimelige Reich bald aufgeben zu müssen. Aber sie war in einem Alter, wo derlei Dinge dazugehörten. Leonie und Kai wohnten schon seit drei Jahren zusammen, und obwohl alle den Kopf darüber geschüttelt hatten, funktionierte das Zusammenleben reibungslos.

Es hatte ja auch sein Gutes, die Zukunft an Nicks Seite. Diese unstillbare Sehnsucht nach den gemeinsamen Wochenenden, wenn der Alltag sie wieder fest im Griff hatte, wäre endgültig vorbei. Viel zu selten fanden sie Zeit füreinander, doch das würde sich von nun an ändern. Jeden Morgen neben Nick zu erwachen, wie oft hatte sie schon davon geträumt, und nun wurde dieser Traum Wirklichkeit.

Sie löste sich vom Türrahmen und föhnte im Badezimmer das Haar. Dann schlüpfte sie in ein bequemes Shirt und unter die Bettdecke. Das Unwohlsein hielt weiterhin an und sie rollte sich mit einem leisen Stöhnen auf die Seite. „Bitte, lass es endlich vorübergehen …“, murmelte sie gequält.

Ein Schrei zerriss die Stille und Sophie fuhr erschrocken hoch. Ihr Herz trommelte gegen die Rippenbögen und sie spürte den kalten Schweiß auf ihrer Haut. Was für ein schrecklicher Traum, der Schrei musste aus ihrem Mund gekommen sein. Hektisch tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe und gedämpftes Licht flammte auf. Sie fühlte sich schlapp und die Übelkeit hatte sich wieder verstärkt. Ein schlechtes Zeichen.

In letzter Zeit waren diese merkwürdigen Träume vermehrt aufgetreten und jagten ihr Angst ein. Manchmal hatte sie das Gefühl, kaum noch zwischen Realität und Traumwelt unterscheiden zu können. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Verdammt, was war nur mit ihr los?

Momentan lief alles bestens und sie war glücklich bis auf die immer häufiger auftretenden Aussetzer. Sie befürchtete, dass Nick sie abservieren würde, sobald er mitbekam, wie es wirklich um sie stand. Sie wollte ihm als Frau und Partnerin nahe sein, nicht als zukünftige Patientin. Doch alles in ihr sträubte sich, einen Arzt aufzusuchen.

Von ihren Zweifeln geplagt, schlug sie die Bettdecke zurück und schlich in die Küche. Dort löschte sie ihren Durst mit einem Glas Wasser.

Erneut forschte sie nach Gründen, die diesen Wandel ausgelöst haben könnten, doch sie erinnerte sich an nichts. Ihr Leben war in geregelten Bahnen verlaufen. Sie hatte eine rundum glückliche Kindheit verbracht und jegliches Mobbing war ihr während der Schulzeit erspart geblieben. Da gab es nichts, das einen psychischen Knacks gerechtfertigt hätte. Ihr Leben plätscherte ohne größere Höhen und Tiefen seicht dahin und sie war zufrieden damit.

Trotzdem musste sich etwas verändert haben. Schleichend. Im Traum waren sie durch ein Labyrinth gegeistert, ohne einen Ausgang zu finden. Maikes höhnisches Lachen hatte von den Wänden widergehallt und ihr den Verstand geraubt. Sie musste wohl im Schlaf geschrien haben, als die Situation für sie unerträglich geworden war. Konnte die Eifersucht daran schuld sein, dass ihr seelischer Zustand derart aus dem Ruder lief?

Gähnend tappte sie zurück ins Schlafzimmer, doch der Schlaf ließ auf sich warten. Sie machte sich ernsthafte Sorgen um ihre psychische Gesundheit. Warum hatte Nick sich nicht für ein anderes Studium entschieden? Das würde die jetzige Situation um einiges erleichtern. Sie hegte den Verdacht, dass er ihr sonderbares Verhalten vielleicht analysieren könnte, schon von Berufs wegen. Das wollte sie unbedingt verhindern.

2

Hektisch lief Sophie durch die Wohnung und suchte ihre sieben Sachen zusammen. Im Stehen kippte sie einen Kaffee herunter, schnappte sich ihre Tasche und eilte aus dem Haus.

Ausgerechnet jetzt waren die Straßen vom morgendlichen Berufsverkehr verstopft und am liebsten hätte sie ununterbrochen auf die Hupe gedrückt. Es war ihr ein Rätsel, warum sie den Wecker zum wiederholten Male nicht gehört hatte. Das war ihr bisher noch nie passiert. Dabei hatte sie selbst hohe Ansprüche, was die Pünktlichkeit betraf.

Nachdem sie angekommen war, stahl sie sich in ihr Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Sandra, ihre Kollegin, nickte ihr zu.

„Du bist spät dran. Hat der Chef dich erwischt?“

„Nein, glücklicherweise nicht.“

„Du weißt, dass wir ranklotzen müssen, damit der Umbau pünktlich beginnen kann.“

„Erinnere mich bloß nicht daran, dieser Termindruck versaut einem die ganze Freude an der Arbeit.“

Sophie fuhr ihren Rechner hoch und startete das CAD-Programm. Bauzeichnerin war genau ihr Ding, obwohl sie während ihrer Schulzeit mit Mathematik auf Kriegsfuß gestanden hatte. Doch mittlerweile spielte sie gern mit den Zahlen und arbeitete exakt. In das neue 3D-Programm musste sie sich zwar noch einarbeiten, aber das war ein Kinderspiel.

„Guten Morgen, die Damen.“ Herr Rode, Architekt und Chef in einer Person, steckte den Kopf zur Tür hinein. „Frau Thiel, kommen Sie doch bitte in mein Büro.“

„Halleluja Sophie, das klang gar nicht gut.“ Sandra wiegte bedächtig ihren Kopf.

„Keine Ahnung, was er will.“ Ratlos zuckte Sophie mit den Schultern.

Noch einmal tief durchatmen und dann ab in die Höhle des Löwen. Zaghaft drückte sie die Klinke herunter und trat ein.

„Ich habe mir Ihren Plot noch einmal genau angesehen.“ Mit geübten Handgriffen breitete ihr Chef die Zeichnung auf dem Schreibtisch aus. „Fällt Ihnen etwas auf?“

Sophie ließ ihren Blick über das Papier wandern. „Ich kann nichts finden“, gestand sie ihm.

„Genau das ist das Problem.“ Herr Rode räusperte sich. „Schauen Sie sich einmal die Treppen im ersten Obergeschoss an.“

„Oh …“

„Das können Sie laut sagen, Frau Thiel. Das wären wieder einige Tausend Euro Schaden gewesen, wenn der Treppenbauer nach Ihren Maßen gearbeitet hätte.“

Mit hochrotem Kopf stand sie neben ihrem Chef. So ein Patzer war ihr bisher noch nie passiert. Es fehlte genau eine Stufe zum Obergeschoss, sie hatte die Maße falsch eingetragen. Dieser Fehler erschien so winzig auf dem riesigen Plot des Einkaufszentrums, und doch hätte er die Firma in Unkosten gestürzt.

„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, stammelte sie schuldbewusst.

Ihr Chef musterte sie aufmerksam. „Natürlich kann ich nachvollziehen, dass die momentan anfallenden Überstunden meinen Mitarbeitern einiges abverlangen. Es ist unser erstes Projekt in dieser gigantischen Größenordnung, und sollten wir in der Branche Fuß fassen, bekommen Sie auch einen neuen Kollegen an Ihre Seite gestellt. Aber jetzt müssen wir durchhalten und Gas geben.“ Aufmunternd nickte er ihr zu.

„Geht klar, Herr Rode, ich werde sämtliche Maße noch einmal überprüfen.“

„Na dann, frohes Schaffen.“

Geknickt verließ sie das Büro.

„Und?“, fragte Sandra, „Kopf noch dran?“

Sophie winkte ab. „Master of Desaster, ich habe die Treppenhöhe falsch berechnet. Zum Glück ist es dem Cheffe noch rechtzeitig aufgefallen. Das hätte wieder ein Theater gegeben, oh Mann.“ Mit einem Ächzen ließ sie sich auf ihren Bürostuhl fallen.

„Was ist eigentlich los mit dir?“ Sandra hatte eine sorgenvolle Miene aufgesetzt. „Ich dachte, du bist frisch verliebt? Da läuft man doch bekanntlich zur Höchstform auf.“ Ein wissendes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht ihrer Kollegin.

„Genau das ist ja mein Problem. Ich habe manchmal das Gefühl, völlig neben mir zu stehen. Körperliches Unwohlsein, haarsträubende Albträume … es ist zum Verrücktwerden.“

„Warum gehst du nicht zum Arzt? Der kann dir sicher weiterhelfen. Auf keinen Fall solltest du das auf die leichte Schulter nehmen, lass das sicherheitshalber abklären.“

„Werde ich machen“, versprach Sophie mit wenig Begeisterung in ihrer Stimme.

„Kopf hoch, Sophie“, tröstete Sandra. „Ich braue uns erst einmal einen starken Kaffee, dann sehen wir weiter.“

Mit starken Kopfschmerzen steuerte Sophie den Wagen heimwärts. Es hatte sie etliche Überstunden gekostet, die Baupläne bis ins kleinste Detail zu überprüfen. Ihre Augen tränten und sie fühlte sich ausgelaugt. Ein Wannenbad nach dem Abendessen wäre genau das Richtige, um zu entspannen. Sie schleppte sich die Treppe nach oben, schloss die Eingangstür auf und schlüpfte in ihr kleines Reich.

Verwundert blieb sie im Flur stehen und schaltete das Licht an. Wieso waren die Jalousien heruntergelassen? Ja, sie hatte verschlafen, aber sie konnte sich noch daran erinnern, wie die Staubflocken im einfallenden Sonnenlicht über das Parkett getanzt waren. Konnte sie ihren eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen? Für einen Arztbesuch war es mittlerweile zu spät, den würde sie auf morgen verschieben müssen.

Obwohl sie einen Bärenhunger verspürte, war ihr nicht nach Kochen zumute. In weiser Voraussicht brühte sie sich einen magenschonenden Tee und schmierte zwei Butterbrote. Dann ließ sie Wasser in die Wanne laufen und versank bis zur Nasenspitze im Schaum. Sie versuchte, sich zu entspannen, doch die Gedanken kreisten hinter ihrer Stirn. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, zog sie sich ins Schlafzimmer zurück. Der Liebesroman lag seit Tagen achtlos auf dem Nachtschränkchen, zum Lesen fehlten ihr Zeit und Muße. Silbern schimmerte das Mondlicht durch die Vorhänge und ehe sie sich’s versah, war sie eingeschlafen.

Ein leises Geräusch holte Sophie aus ihren Träumen. Im Wohnzimmer knarrte das Parkett und sie vernahm leise Schritte. Benommen richtete sie sich auf. Hatte sich eine fremde Person Zutritt verschafft? Sie hasste geschlossene Türen, hoffentlich wurde ihr das jetzt nicht zum Verhängnis.

„Hallo? Ist da wer?“

Das Sprechen fiel ihr außergewöhnlich schwer, der Puls raste und kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Die Schritte näherten sich dem Schlafzimmer. Sie raffte die Bettdecke schützend vor den Oberkörper und hielt den Atem an. Panik machte sich breit.

Ein Schatten baute sich vor ihr auf und lehnte sich lässig an den Türrahmen.

„Nick? Was machst du denn hier?“, nuschelte sie. Ihre Zunge fühlte sich wie ein unförmiger Klumpen an und klebte am Gaumen.

Er hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben und musterte sie belustigt.

„Wie bist du überhaupt in die Wohnung gekommen?“

Sie konnte nicht mehr klar denken. Auf keinen Fall hätte sie Nick einen Schlüssel anvertraut, da war sie sehr eigen. Ein zweiter Schatten gesellte sich dazu. Maike! Nicks Ex legte ihre Hände lasziv auf seine Schultern und küsste ihn leidenschaftlich. Sophie konnte nicht begreifen, was da vor sich ging. Wieso erwiderte Nick diesen Kuss mit einer Intensität, die sie nie bei ihm vermutet hätte?

„Warum tust du mir das an?“, stammelte sie bestürzt.

Er hob seinen Kopf. „Weil du wahnsinnig bist, mein Schatz.“

„Ich bin nicht verrückt“, widersprach sie heftig. Mit zwei Fingern kniff sie sich in den Oberschenkel. Sie spürte den Schmerz, das konnte kein Traum sein. „Verlasst auf der Stelle meine Wohnung“, rief sie fassungslos. „Raus, sofort!“

Sie versuchte, ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen, doch die Stimme wollte ihr einfach nicht gehorchen. Sie sprang entschlossen auf, um die beiden hochkant aus ihrer Wohnung zu werfen. Dabei verhedderten sich ihre Beine in der Bettdecke und sie stürzte auf das Parkett. Schlagartig wurde es dunkel.

„So, dann erzählen Sie einmal, unter welchen Beschwerden Sie in letzter Zeit leiden.“ Der Arzt musterte sie aufmerksam über den Rand seiner Brille hinweg.

Stockend berichtete Sophie von ihren beängstigenden Erlebnissen, bei denen sie anscheinend unter Wahnvorstellungen litt. Am Morgen war sie neben dem Bett aufgewacht und hatte einige Minuten gebraucht, um sich zu orientieren. Sie konnte nicht begreifen, was sich in dieser Nacht abgespielt hatte. Der Hausschlüssel steckte von innen im Schloss, Nick konnte also unmöglich auf herkömmlichen Weg in die Wohnung gelangt sein.

Inzwischen musste sie sich eingestehen, dass ihr Problem größer war, als sie angenommen hatte. Besorgt hatte sie einen Termin beim Hausarzt vereinbart und hockte nun in der Praxis, um ihr Innerstes nach außen zu kehren.

Der Arzt räusperte sich. „Ich werde ihnen ein pflanzliches Präparat verschreiben und Sie sollten sich in nächster Zeit unbedingt schonen. Ihre Werte sind in bester Ordnung, wahrscheinlich macht Ihnen der berufliche Stress zu schaffen. Für die nächsten fünf Werktage sind Sie krankgeschrieben.“

„Aber das geht nicht“, widersprach sie. „Wir arbeiten an einem wichtigen Projekt und der Termindruck lässt uns keine Wahl.“

„Wenn Sie sich keine Auszeit nehmen, Frau Thiel, wird sich an der jetzigen Situation nichts ändern. Sie kennen mich inzwischen schon eine Weile und ich bin bekannt dafür, Krankschreibungen äußerst sparsam auszustellen.“

Mit strengem Blick schob er den Schein über den Schreibtisch in ihre Richtung. Zaghaft nahm sie diesen an sich und verließ die Arztpraxis.

Ihr Chef zeigte wenig Begeisterung, dass sie sich hatte krankschreiben lassen. Die Reaktion war zwar zu erwarten gewesen, aber schon aus einer gehörigen Portion Trotz heraus überlegte sie, alle fünf Tage in Anspruch zu nehmen. Sie hatte ja noch etwas Bedenkzeit.

Die Frage war nur, was sie jetzt mit ihrer freien Zeit anstellte? Gedankenverloren steuerte sie das elterliche Reihenhaus an. Sie brauchte dringend eine Vertrauensperson, mit der sie über alles reden konnte. Ihre Mutter war Freiberuflerin und um diese Zeit meist zu Hause.

„Na, meine Kleine, was treibt dich denn hierher?“, fragte ihre Mutter an der Tür und nahm sie zur Begrüßung in den Arm. „Du kommst genau richtig, ich habe gerade eine Kanne Kaffee aufgesetzt.“ Sophie folgte ihrer Mutter in die Küche. „Musst du heute nicht arbeiten?“

„Nein, ich bin krankgeschrieben“, antwortete Sophie.

„Etwas Ernstes?“, fragte ihre Mutter besorgt.

„Eigentlich nicht, aber ich möchte trotzdem mit dir darüber reden.“

„Gut, setzen wir uns ins Wohnzimmer.“

Mit der Tasse in der Hand ließen sie sich auf der bequemen Couch nieder.

„Wo ist Papa?“

Ihre Mutter seufzte. „Er hat Frühschicht und muss anschließend Überstunden schieben.“

„Woher kenne ich das nur, die Arbeitswelt hat uns fest im Griff“, antwortete Sophie.

„So, und jetzt erzähl. Was bedrückt dich?“ Ihre Mutter nickte ihr aufmunternd zu.

„Wo fange ich bloß an?“ Sophie nippte am heißen Kaffee. „Manchmal habe ich das Gefühl, unter Halluzinationen zu leiden, und hin und wieder treten als Begleiterscheinungen auch Unwohlsein und Übelkeit auf. Letzte Nacht dachte ich wirklich, dass Nick und seine Verflossene wild knutschend in meinem Schlafzimmer stehen. Am nächsten Morgen bin ich dann neben meinem Bett aufgewacht, ich muss wohl rausgefallen sein. Es macht mich wahnsinnig, nicht zu wissen, was mit mir geschieht.“

„Spätzchen“, erwiderte ihre Mutter sanft, „kann es vielleicht sein, dass du dich selbst unter Druck setzt? Es ist eine sehr unglückliche Konstellation, dass Nick mit seiner Exfreundin immer wieder unterwegs ist. Aber du musst lernen, damit umzugehen.“

„Du hast gut reden, Mama.“

„Ich weiß, das Leben ist ziemlich kompliziert.“ Ihre Mutter Christine strahlte Zuversicht aus und kleine Lachfältchen umspielten ihre Augen. Sie war noch immer eine wunderschöne Frau, auch wenn erste graue Strähnchen im kastanienbraunen Haar sichtbar wurden.

„Vertrau darauf, dass Nick die richtige Wahl getroffen hat. Es gibt ein Sprichwort: Aus einer schönen Schüssel isst man nie allein. Vielleicht trifft das auch auf Maike zu. Die Beziehung der beiden ist endgültig vorbei, und sobald du das akzeptiert und verinnerlicht hast, wird es dir seelisch auch wieder besser gehen.“

„Ich weiß doch auch, dass ich mit meiner Eifersucht total übertrieben reagiere. Ständig habe ich Angst, dass Nick mir ansieht, was ich denke, dass er mein Verhalten analysiert.“

„Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Psychiater sind auch nur Menschen. Du solltest auf den Rat deines Arztes hören und dich schonen. Nur weil du krankgeschrieben bist, geht die Welt nicht unter. Es ist an der Zeit, dass dein Chef eine weitere Kraft einstellt.“

„Mama, du hast ja recht. Es tut gut, mit dir darüber zu reden.“

„Dafür bin ich doch da, du kannst immer zu mir kommen“, erwiderte Christine.

„Übrigens, Nick hat mich gefragt, ob ich zu ihm ziehen will“, platzte Sophie mit der Neuigkeit heraus.

„Na also, wusste ich’s doch. Er meint es tatsächlich ernst, und das freut mich für dich. Bist du denn schon bereit für diesen Schritt?“

Sophie schluckte. „Ja, wahrscheinlich schon. Der Gedanke daran ist noch so frisch, so ungewohnt … Aber ich freue mich, ihm endlich ganz nah zu sein.“

„Das wird schon. Lass dir alles in Ruhe noch einmal durch den Kopf gehen und wenn du Hilfe brauchst, dann melde dich.“

„Danke Mama, du bist die beste.“

„Na, das will ich doch hoffen.“

„Ich werde jetzt nach Hause fahren und mich noch ein wenig ausruhen. Wir sehen uns.“

„Mach’s gut, meine Kleine.“

Nachdem Sophie das Elternhaus verlassen hatte, fühlte sie sich schon bedeutend wohler und lief leichtfüßig zu ihrem Polo. Eine leichte Brise strich über ihre Haut, die Sonne strahlte vom Himmel und sie atmete den Duft des Sommers ein. Ja, das Leben konnte so schön sein. Sie brauchte dringend eine Auszeit und sobald das Projekt abgeschlossen wäre, würde sie bei Herrn Rode eine Woche Urlaub einreichen.

Während der Fahrt zurück traf sie eine Entscheidung. Sie beschloss, an dieser Tour nicht teilzunehmen, Nick würde das bestimmt verstehen. Sie wollte ihren Chef nicht hängen lassen und auf die Besichtigung der Villa konnte sie getrost verzichten.

Sie parkte den Wagen vor dem Haus und eilte die Stufen hinauf. Im Flur kickte sie die Schuhe von den Füßen, hängte die Tasche an die Garderobe und öffnete alle Fenster, um die Sonne hereinzulassen. Anschließend mixte sie sich eine Apfelschorle, setzte sich in den Sessel und legte die Beine hoch. Es wurde allmählich Zeit, das Leben wieder zu genießen.