Das Brunnenmädchen - Martina Frey - E-Book

Das Brunnenmädchen E-Book

Martina Frey

4,7

Beschreibung

Wiesbaden, 1890. Sophie arbeitet als Brunnenmädchen an einer Heilquelle im Wiesbadener Kurbetrieb und schenkt den Kurgästen Wasser aus. Als sie erfährt, dass ein reicher Bürgerlicher ihre Schwester verführen wollte und ihr damit das Herz bricht, schwört Sophie Rache. Sie schafft es, sich in die noble Gesellschaft einzuschmuggeln. Mit ungeahnten Folgen.

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Das Brunnenmädchen

von Martina Frey

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Impressum

Leseprobe

1. Kapitel

Wiesbaden, September 1890

Irgendetwas stimmt nicht, dachte Sophie, als sie die Dachkammer betrat. Sie hörte, vom Bett her, ein lautes Schluchzen. Dort lag ihre Schwester zusammengekauert und hatte den Kopf in das Kissen gedrückt. Ihre Schultern bebten.

„Was ist denn passiert?“, rief Sophie erschrocken und eilte zum Bett. Sie setzte sich neben ihre Schwester und strich ihr über das wirre Haar.

„Warum weinst du?“

„Es ist alles schrecklich“, erklang es dumpf. „Und dabei war er vorher immer so freundlich gewesen.“

Sophie legte ihre Hand beruhigend auf Annelies Schultern, aber sie spürte nur, wie sich ein heftiges Zittern von den Schultern in den restlichen Oberkörper ihrer Schwester ausbreitete. Und auch ihre eigenen Finger begannen zu zittern, so sehr war sie über Annelies Zustand erschrocken.

„Er? Wer?“ Statt einer Antwort hörte sie nur wieder das Schluchzen. Das letzte Tageslicht fiel trüb durch die Fenster der Dachkammer. Während der Abend dämmerte, breitete sich Düsterkeit im Raum aus. Nach einer Weile war Annelie nur noch als Silhouette neben ihr zu erkennen. In absehbarer Zeit würden sie in völliger Dunkelheit sitzen.

„Wir haben uns stundenlang unterhalten.“ Annelies Stimme versagte, bis sie sich wieder gefasst hatte und ohne eine Spur von Fröhlichkeit sagte: „Er kann so lustig sein.“ Nun hob sie endlich den Kopf. Ihr Gesicht war halb im Schatten verborgen, aber auf den Wangen schimmerten deutlich Tränen.

„Von wem redest du?“, fragte Sophie verwirrt.

„Ich hab dir doch erzählt, dass ich vor einiger Zeit im Hause der Bickenbachs vorgesprochen hab.“

Sophie versuchte, sich zu erinnern. „Du wolltest dich dort für eine Stelle als Dienstmädchen vorstellen, stimmt‘s?“

„Genau. Aber die Hausherrin, Frau Bickenbach, war nicht da. Und da hab ich Maximilian kennengelernt.“

Jetzt erinnerte sich Sophie wieder. Ihre Schwester hatte begeistert von diesem jungen Mann berichtet. Die Dienstmädchenstelle hatte Annelie nicht erhalten, dafür aber ihr Herz an diesen Fremden verloren.

„Gleich an der Tür hat er mich empfangen und hat mich in den Salon gebeten. Dort hat er mir gesagt, dass Frau Bickenbach noch nicht da ist.“ Annelie seufzte. „Er sah so gut aus in seinen Reithosen und der Jacke. Sehr freundlich war er zu mir, hat mich durchs Haus geführt und mir die Ställe gezeigt.“

„Wozu hat er dir das Haus gezeigt?“

„Damit ich einen Eindruck von dem Arbeitsplatz bekomme, hat er gemeint, er war halt sehr zuvorkommend. Das hab ich dir aber erzählt.“

„Du hast mir nur erzählt, du hättest den Sohn der Herrschaften kennengelernt und er würde gut aussehen.“ Langsam erinnerte sich Sophie. Während ihre Schwester sich wegen dieses Herrn in einem völlig euphorischen Zustand befunden hatte, war Sophie argwöhnisch geblieben, was diese Bekanntschaft anging.

Annelie ereiferte sich nun zu sagen: „Max hat mich dann zum Spaziergang durch den Park eingeladen.“ Sie richtete sich langsam auf und wischte sich mit einer Hand über das Gesicht, um es zu trocknen. Wirre Strähnen klebten an ihren blassen Wangen. Ihre Augen sahen traurig aus. „Ich musste ihn wiedersehen.“

Sophie bemühte sich, die Bruchstücke ihrer Erinnerungen zusammenzufügen. „Du hast dich mit ihm getroffen, obwohl ich dir geraten hab, dich von ihm fernzuhalten?“

Annelie nickte, widersprach nicht ihrem Vorwurf, was Sophie wunderte. „Wir haben uns gut unterhalten. Schau mich nicht wieder so skeptisch an.“ Sie begann erneut zu weinen. „Auch wenn er viel schlauer ist als ich und viel mehr Geld besitzt, haben wir eine schöne Zeit miteinander verbracht. Ich konnte ihm einfach nicht widerstehen, als er mich fragte, ob wir uns wieder treffen. Er hat sogar einmal die Kutsche selbst gelenkt, um mit mir eine Fahrt zu machen. Ach, es war so schön.“

„Du hast dich öfters mit diesem Mann getroffen? Davon hast du mir aber nichts erzählt.“

„Als ich dir gesagt hab, dass ich mit ihm sonntags durch den Park spazieren will, hast du mir einen langen Vortrag gehalten. Ich wollte nicht, dass du dich wieder aufregst, deshalb hab ich dir nichts mehr gesagt.“

Seit einigen Wochen arbeitete Annelie als Aushilfe bei Herrschaften, die für ein halbes Jahr zur Kur in Wiesbaden waren, und daher sahen sich die Schwestern seltener. Sophie fiel jetzt erst auf, dass sie kaum miteinander gesprochen hatten. Annelie konnte in ihrer wenigen freien Zeit ihren eigenen Aktivitäten nachgehen, ohne dass Sophie etwas davon mitbekam. Sie fragte sich plötzlich, was ihr Annelie sonst noch verschwieg und hakte nach: „Jetzt erzähl mir alles.“

Annelie räusperte sich verlegen. „Max hat mich wie gesagt zu einer Kutschenfahrt eingeladen, dann waren wir auf dem Neroberg und an einem Sonntag sind wir am Rhein spazieren gewesen. Er hat mir auch die Stelle als Aushilfe bei den Kurgästen verschafft. Wir haben uns sogar geküsst!“ Annelie klang, als wollte sie damit angeben.

„Annelie Haas! So etwas tut ein anständiges Mädchen nicht.“

„Das sagst du nur, weil dich noch nie ein Mann geküsst hat.“ Dann wurde sie wieder traurig. „Aber jetzt ist mein Leben ein Trümmerhaufen …“

Sophie ignorierte den Vorwurf ihrer Schwester. „Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht gewarnt hätt. Ich hab dir gesagt, solche Leute bringen nur Verdruss mit sich. Damit hatte ich anscheinend recht.“ Sie fühlte sich plötzlich alt und erfahren, obwohl sie nur ein Jahr älter war. Aber Annelie kam ihr in mancher Hinsicht zu gutgläubig vor. Sophie wäre so etwas nie passiert.

Auf ihre Worte hin verdüsterte sich die Miene ihrer Schwester. Tränen liefen ihr die Wangen herunter, als sie sagte: „Wir hatten uns für heut Nachmittag verabredet. Es war doch mein freier Tag. Max und ich haben uns im Nerotal getroffen.“

„Er wollte wohl mit einem armen Mädchen nicht in aller Öffentlichkeit gesehen werden“, vermutete Sophie spöttisch und biss sich auf die Zunge, als ihr die Gefühlslosigkeit ihrer Bemerkung bewusst wurde.

„Er wollte mit mir allein sein!“, widersprach Annelie, dann stockte ihre Stimme wieder. „Ich hab gehofft, er sagt mir endlich, was er für mich empfindet, aber stattdessen sprach er davon, dass es da etwas gäbe, was er mir zu sagen hätt. Er sagte, dass er mich nicht heiraten will.“ Sie weinte wieder. „Er hat mit meinen Gefühlen gespielt, mehr nicht. Nie hatte er ernsthafte Absichten mich zu heiraten. Ich glaub, er wollte mich nur verführen.“

„Nur?“ Empörung und Verdruss stiegen in Sophie auf. „Dieser Schuft … hat er dich gegen deinen Willen …?“ Sie wollte gar nicht mehr davon hören und musste sich zwingen, ihre nächste Frage laut auszusprechen. „Hat er dir etwas angetan?“

Voller Ungeduld wartete sie, bis ihre Schwester sich beruhigte und verständliche Worte hervorbrachte statt nur Gestammel und Schluchzen. „Nein. Ich bin weggelaufen, ehe er noch etwas gesagt hat oder etwas tun konnte. Ich wollte nichts mehr hören. So ein gemeiner Kerl.“

Sophie fragte sich verächtlich: Was wollte ein wohlsituierter Mann von einem einfachen Mädchen, außer das, was diese Herren sich immer nahmen, wenn sie es begehrten?

„Er ist ein angesehener Mann, und wenn er sich mit dir amüsieren will, dann kann er das tun, ohne Folgen zu befürchten“, entgegnete Sophie bitter und merkte, wie sie zugleich einen sicherlich unsinnigen Wunsch nach Vergeltung verspürte. Sie strich über das weiche Haar ihrer Schwester. Es war gar nicht auszudenken, was alles hätte passieren können. „Du bist zu gutgläubig.“

„Und ich dachte, er liebt mich“, sagte Annelie leise und ignorierte den Einwurf.

„Du bist nichts wert in seinen Augen.“ Es klang hart, das wusste Sophie. „Das ist genau das, wovor ich dich warnen wollte. Die feinen Herrschaften nehmen auf uns keine Rücksicht!“

Annelie hob das verweinte Gesicht und fuhr sich mit dem Handrücken über ihre rote Nase.

Sophie nahm ihre Schwester in die Arme und wollte sie trösten, wusste aber nicht wie.

„Ich hätt auf dich hören sollen“, jammerte die Jüngere, „aber ich dachte, du bist neidisch.“

„Auf die Bekanntschaft mit einem wie dem?“ Sophie schnaubte abfällig. „Nein, bestimmt nicht. So gut kann er gar nicht aussehen, dass ich vergessen könnte, was er ist.“

„Du hättest mich aufhalten müssen!“, sagte Annelie plötzlich. „Du hast doch Mama und Papa versprochen, auf mich aufzupassen.“

„Jetzt gib nicht mir die Schuld. Du bist kein kleines Kind mehr. Außerdem hast du mir ja nichts gesagt.“

„Du hast mit mir geschimpft.“

„Zu Recht!“

Aber im Stillen fragte sich Sophie: Hatte sie versagt? Hätte sie Annelie vielleicht doch zurückhalten sollen, was ihre Schwärmerei für diesen Flegel anging? Es gab genug Menschen, die weder ehrlich noch tugendhaft handelten. Und diese Herrschaften besaßen kein aufrichtiges Gemüt, kein Mitgefühl. Meist nahmen sie sich, was sie wollten.

Annelie stieß mit brüchiger Stimme hervor: „Er ist so gemein! Ich würde ihm am liebsten gegens Schienbein treten, oder besser …“ Sie wischte hastig ihre Tränen fort und ereiferte sich: „Tu du das! Du kannst die reichen Schnösel, wie du sie nennst, sowieso nicht leiden. Du bist immer so mutig. Geh zu ihm hin und sag ihm, was wir von ihm halten!“

Sophie lächelte grimmig. „Das würde ich mit dem größten Vergnügen tun. Aber es wird ihn nicht kümmern, was ich zu sagen habe.“

Der jämmerliche Eindruck, den Sophie vom Zustand ihrer Schwester hatte, verstärkte sich und es tat ihr leid, die Forderung nach Vergeltung in den Wind geschlagen zu haben.

Annelie löste sich aus Sophies Umarmung und warf sich auf das Kissen zurück. Aufs Neue erklang ihr gedämpftes Schluchzen.

2. Kapitel

Kuranlage am Kochbrunnen

„Pass doch auf! Du bist wirklich ein ungeschicktes Brunnenmädchen!“, fuhr die ältere Dame sie an.

„Verzeihen Sie, aber …“ Sophie zuckte mit ihrer Karaffe zurück, entsetzt über den Wasserfleck, der sich auf der feinen Seide ausbreitete. Sie blickte vorwurfsvoll über ihre Schulter zu dem Fremden, der sie angerempelt hatte. Achtlos war er an ihr vorübergegangen, ohne eine Entschuldigung.

„Gib jetzt nicht anderen die Schuld für deine Unfähigkeit“, ereiferte sich die Frau und strich über den Wasserfleck auf ihrem Kleid. „Das ist unerhört.“

„Bitte, das war keine Absicht“, versicherte Sophie, ließ den Kopf sinken, um ihre Ergebenheit zu zeigen. Sie versuchte den Wasserfleck von dem Stoff der Fremden fortzuwischen.

„Du hast nicht aufgepasst, daran liegt es!“ Die Frau klopfte ihr auf die Hand, als wollte sie ein Insekt erschlagen. „Wenn das noch einmal passiert, werde ich mich über dich beschweren!“

Sophie bekam einen Schreck. Beschwerden wurden bei der Kurdirektion sehr ernst genommen. Wer sich etwas zuschulden kommen ließ, hatte Maßregelungen zu fürchten. Sophie brauchte diese Arbeit und durfte sich keine groben Fehler erlauben.

Die Fremde schien ihre Angst zu ignorieren, denn sie hob eine Hand und wedelte damit herum, als versuchte sie Fliegen zu verscheuchen. „Entferne dich jetzt. Wenn wir noch etwas benötigen, möchten wir von einem anderen Brunnenmädchen bedient werden.“ Die ältere Dame warf ihr einen abfälligen Blick zu, ohne sie wirklich anzusehen, und drehte Sophie den Rücken zu. Ihre Begleitung, dem Äußeren nach zu urteilen die Tochter, begutachtete den Schandfleck auf dem Stoff, während auch sie sich empört über die Ungeschicktheit des Brunnenmädchens äußerte.

Im Hintergrund wurde wie jeden Vormittag zur Morgenmusik aufgespielt, doch Sophie achtete nicht darauf. Sie ärgerte sich, zeigte jedoch eine demutsvolle Haltung und ahnte mit einer gewissen Genugtuung, dass der nasse Fleck durch das salzhaltige Thermalwasser bald einen weißen Rand bekommen würde.

„Es ist eine Unverschämtheit, so unbedarfte Dinger zu beschäftigen“, schimpfte die ältere Frau, während ihre Tochter sie zu beruhigen versuchte.

In Sophie brodelte es. Sie war alles andere als unbedarft, dachte sie missmutig. Natürlich durfte sie nichts tun, was den Kurgast noch mehr verärgern könnte, auch wenn Sophie am liebsten eine ganze Kanne Kochbrunnenwasser dieser Frau über den Kopf geschüttet hätte.

„Eingebildete, alte Ziege“, murmelte sie erbittert und zog sich zurück.

„Bitte?“, erklang im Hintergrund die Stimme der Frau.

Sophie zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um. Hatte sie laut gedacht? „Oh, ich sagte, ich hoffe, dass ich keinen Ärger kriege.“

Die Frau maß sie mit Herablassung und erweckte nicht den Eindruck, als würde sie dem Brunnenmädchen Glauben schenken, doch dann wandte sie sich ab. Der Hutschmuck der Erzürnten zitterte dabei bedrohlich.

Sophie kehrte zum Schankbereich an der Heilquelle zurück. Während sie sich Vorwürfe machte, brachte sie einige leere Gläser zum Spültisch. Es wäre besser gewesen, erst nachzudenken und dann zu sprechen oder ihre Gedanken für sich zu behalten, schalt sie sich. Durch diese Eigenheit geriet sie des Öfteren in Ungnade. Hoffentlich beschwerte sich die alte Furie nicht.

Sophie begann, die Gläser zu spülen und warf einen Blick durch die Trinkhalle.

In diesem Jahr war die Anlage am Kochbrunnen fertiggestellt worden, dazu hatte die Errichtung einer Trink- und Wandelhalle mit hohen Fenstern und einem dunkelgrünen Kupferdach gehört. Auch der angrenzende Quellenpavillon war nun für jedermann zugänglich. Im Hintergrund lagen der Europäische Hof und das Badhaus des Römerbades. Besonders bei rheumatischen Erkrankungen sollten die Heilbäder dort Linderung bringen.

Sophie stellte die gespülten Gläser auf ein Tablett und beobachtete eine Gruppe von Damen: Wie sie sich gewandt bewegten; welche Gesichter sie zogen, wenn ihnen gerade jemand, den sie nicht mochten, den Rücken zudrehte. Trotz ihres wohlerzogenen Getues glich ihr Lachen einem Gackern, das Sophie an den Hühnerstall ihrer Eltern denken ließ. Und die Männer erst. Die waren nicht besser. Sophies Blicke glitten hinüber zu einer Gruppe von Herren in vornehmen Anzügen und Hüten: Wie sie den jungen Frauen nachstarrten, ihnen anzügliche Komplimente zuflüsterten, wenn gerade die Anstandsdame nicht aufpasste. Sie plusterten sich auf wie die Gockel und gaben mit ihrem Reichtum an, um Eindruck zu schinden.

Sophie hätte diesen Hühnerstall fast amüsant finden können, wenn sie selbst darin nicht in Schwierigkeiten geraten würde. So wie eben, als sie unbeabsichtigt der Frau Thermalwasser übergeschüttet hatte.

Sophie stellte erleichtert fest, dass ihr Dienst zu Ende war. Keinen weiteren hochnäsigen Kurgast würde sie heute noch ertragen können. Sie zog die Haube vom Kopf und fuhr sich mit einer Hand über ihr zurückgebundenes Haar, um sicherzugehen, dass sich keine Strähne gelockert hatte. Die weiße Schürze legte sie ordentlich zusammen, winkte ihren Kolleginnen zu und verließ die Trinkhalle.

Beim Laufen zog sie den grauen Rock glatt. Ihr Aussehen durfte zwar der Mode entsprechen, musste jedoch unauffällig sein. Es wurde nicht geduldet, dass die Brunnenmädchen in ihrem Äußeren den eleganten weiblichen Kurgästen Konkurrenz machten. Ihre Stellung war eindeutig. Obwohl es strenge Regeln gab, machte Sophie der Dienst am Kochbrunnen Spaß. Trotz der Strapazen. Es mochte anstrengend sein, jeden Tag unterwürfig und höflich zu bleiben, immer zu lächeln, auch wenn manche Kurgäste sie herablassend behandelten. Aber die bunte Mischung der Gäste war verlockend. Bürgerliche und Adelige unterschiedlichsten Charakters fanden sich aus zahlreichen Ländern hier ein. Sophie lauschte den Erzählungen über Reisen, ferne Kulturen und Abenteuer, die sie selbst niemals erleben würde. Manche Kurgäste, die sich von ihr Thermalwasser einschenken ließen, bedankten sich, zeigten sich gesprächig, andere trommelten ungeduldig mit den Fingern auf den Schanktisch oder reichten ihr, ohne sie anzusehen, das Glas, einige entpuppten sich als Furien, so wie die Frau von eben. Aber eines hatten sie alle gemeinsam: Sie steckten in feinem Zwirn und teuren Kleidern und zeigten mit jeder Bewegung oder jedem Wort, wie dick ihr Portemonnaie war und aus welch gutem Haus sie stammten.

Sophie lief, in Gedanken versunken, am Schwarzen Bock, dem ältesten Hotel Wiesbadens, vorbei. Sie war froh, nicht dem höheren Stand anzugehören. So sehr verabscheute sie die feine Gesellschaft, die Ausbeuter, wie ihr Vater zu sagen pflegte. Mit ihrem Geld kauften sie sich alles und jeden. Er hatte sie gewarnt, bevor sie in die Stadt gegangen war: „Achte stets auf dein aufrichtiges Gemüt, vergiss niemals, dass Du ein guter Mensch bist, voller Mitgefühl. Lass dich nicht verderben von den geldgierigen Herrschaften.“

Es war ein angenehmer, warmer Herbsttag, der sich dem Ende neigte. Als die letzten Strahlen der Sonne über den Dächern der Stadt verschwunden waren, kehrte die Kälte zurück, die nicht ungewöhnlich für den September war. Sophie zog sich den wollenen Schal enger um die Schultern und lief durch die Webergasse.

Mit der Abenddämmerung begann sich Wiesbaden zur Ruhe zu begeben. Der Trubel des Tages nahm ab, als Sophie das Bergviertel erreichte, wo die Arbeiter wohnten. Hier lebten alle, die den Kurbetrieb aufrechterhielten: Tagelöhner, Köche, Schneider, Dienstboten, Handwerker, die jeden Tag dafür sorgten, dass es den Kurgästen an nichts fehlte. Sie wohnten zusammengepfercht in alten Fachwerkhäusern, in engen Räumen, dicht an dicht, in schmalen Gassen und dunklen Hinterhöfen, unsichtbar für die höhergestellte Gesellschaft unten in der Stadt. Der Anblick ihrer ärmlichen Unterkunft sollte kein vornehmes Auge beleidigen, daher war die Straße verwinkelt gebaut worden.

Kurz vor dem Haus des Schneiders, in dem sich Sophie mit ihrer Schwester eine kleine Dachkammer teilte, begegnete sie einer alten Frau, die mit gebeugtem Gang die Gasse entlangging. Ihr war der Korb, den sie trug, sichtlich zu schwer.

„Guten Abend, Hilde“, rief Sophie freundlich und nahm der Alten den schweren Korb ab, um sie zu deren Haus zu begleiten, das nicht weit von ihrer eigenen Unterkunft entfernt lag. „Du solltest nicht so schwer tragen, Hilde. Dein Rücken ...“

Die alte Frau schüttelte den Kopf: „Mein Leben lang hab ich schwer getragen und hart gearbeitet. Aber vor ein paar Tagen hab ich mir an der Herdplatte meinen Arm verbrannt.“ Sie zeigte auf ihren rechten Arm. „Tut höllisch weh, doch ich muss trotzdem arbeiten.“

Sie tätschelte mit zittrigen Fingern, die von Rheuma gekrümmt waren, Sophies Arm. „Trotzdem danke, dass du immer so hilfsbereit bist. Du bist ein gutes Mädchen.“

Als sie auf das kleine Haus mit den krummen Balken zugingen, fiel Sophie auf, dass das Dach an manchen Stellen kaputt war. Vor der Tür blieb sie stehen und überreichte Hilde den Korb. „Du solltest wegen dem Arm mal zum Arzt gehen.“

Die Alte zuckte mit den Schultern. „Kein Geld. Aber das wird schon von alleine wieder.“ Sophie winkte zum Abschied und eilte zu ihrem Haus zurück.

Im Eingangsbereich wurde sie vom Schneider Brach persönlich abgefangen. Er war ein untersetzter Mann mit dickem Bauch und einer Halbglatze, auf der jeden Tag, ganz gleich ob Sommer oder Winter, kleine Schweißperlen glänzten. An den Seiten wuchsen graue Haare, die ebenso ungepflegt waren wie der Rest seiner Erscheinung. Die schwarze Hose wirkte alt, genau wie die Weste, die er über dem beigen Hemd trug. Obwohl er als Änderungsschneider wohlhabende Kundschaft hatte, war er nicht modisch gekleidet. Das lag daran, dass seine Frau in die Hotels ging, um die Kleidung der Kunden zu holen oder Maß zu nehmen. Keiner der Vornehmen würde einen Fuß in dieses Viertel setzen. Die restlichen Auftraggeber, die in Wiesbaden wohnten, ließen durch Boten ihre Kleidungsstücke überbringen oder zitierten Frau Brach zu sich nach Hause. Der Schneider war ein alter Bekannter ihres Vaters, sodass Sophie und ihre Schwester nach der Ankunft in der Stadt zu ihm gegangen waren. Die meisten Mädchen, die vom Land kamen, hatten Verwandte in Wiesbaden. Sophies Familie nicht. Es gab niemanden, den sie um eine Unterkunft hatten bitten können, außer Schneider Brach. Er hatte ihnen die kleine Kammer angeboten, für die sie nur wenig zahlen mussten. Dafür ließ er sie schuften.

„Hier.“ Der Schneider drückte Sophie zwei Kleider in die Hand. „Die ändere bis morgen ab!“

Sophie seufzte. „Aber da muss ich die ganze Nacht arbeiten. Ich muss morgen in aller Früh am Kochbrunnen sein.“

Schneider Brach schien unbeeindruckt. „Wer in meinem Haus wohnt, muss etwas dafür tun. Ich bin deinem Vater nichts schuldig und muss euch hier nicht kostenfrei wohnen lassen.“

Sie und Annelie zahlten jeden Monat pünktlich die Miete, die zwar nicht hoch war, aber mehr war diese zugige Dachkammer nicht wert. Wenn es regnete, mussten sie unter den vielen undichten Stellen im Dach Schüsseln aufstellen, um das Wasser aufzufangen. Seine Forderungen sind unverschämt, dachte Sophie ungehalten, schwieg jedoch. Eine unbedachte Äußerung hätte auch hier verhängnisvolle Folgen. Eine andere Unterkunft würden sie sich nicht leisten können. Sie setzte eine mitleidheischende Miene auf.

Dem Schneider schien dies aufzufallen, denn er sagte: „Na gut, ein Kleid machst du bis morgen früh fertig, mit dem anderen kannst du dir bis zum Abend Zeit lassen.“

Sophie wandte sich missmutig zur Treppe, stieg die Stufen hinauf und brummte leise: „Halsabschneider.“

„Hä?“

Verflixt. Sophie schalt sich, dass sie den Mund nicht halten konnte. Sie drehte sich halb zum Schneider um. „Ach, ich sagte nur: Schöne Kleider!“

Er hob einen Zeigefinger. „Und arbeite ordentlich! Ich weiß, du hast flinke Finger und deine Arbeit war bisher anständig. Streng dich an.“

Wahrscheinlich behauptete er vor seinen Kunden, er habe diese Arbeiten selbst erledigt, um das Lob einzustreichen, vermutete Sophie, während sie die schmalen Stufen hinauf zu der Dachkammer stieg, die sie sich mit ihrer Schwester teilte. Sie war froh, endlich die vertrauten vier Wände erreicht zu haben, ehe sie wegen ihrer unbedachten Äußerungen weiteren Ärger auf sich zog. In der Kammer angekommen, warf Sophie die beiden Kleider über einen Hocker, zog ihr eigenes aus und hängte es ordentlich auf, damit es bis zum nächsten Morgen keine Falten bekam.

Ihr Missgeschick am Kochbrunnen ärgerte sie noch immer, aber mehr noch, dass sie sich von dieser Frau so hatte anfahren lassen müssen, ohne sich verteidigen zu dürfen. Das war ungerecht. Genauso ungerecht war es, dass dieser Maximilian Bickenbach tun und lassen konnte, was er wollte. Das schrie förmlich danach, es ihm heimzuzahlen. Er hätte Annelie verführt, wäre sie nicht davongelaufen, davon war Sophie überzeugt. Bei diesem Gedanken überkam sie eine Kälte, als schüttete jemand eisiges Wasser über ihren Rücken. Und da waren noch immer die Vorwürfe, die ihr keine Ruhe ließen. Wie gern hätte sie ihre Schwester vor diesem Kummer bewahrt. Sie hätte Annelie besser behüten sollen. Mutter war voller Sorge gewesen, bevor die beiden in die Stadt gegangen waren, daher hatte Sophie ihr versprechen müssen, auf ihre jüngere Schwester gut zu achten und sie vor allem Unheil zu bewahren.

Das Leben in Wiesbaden war immer in Bewegung. In der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes hier war Sophie Zimmermädchen in einem Hotel gewesen, zeitweise Dienstmädchen für Kurgäste oder Schenkmagd in einem Gasthof und jetzt in der Hauptsaison Brunnenmädchen. Bis sie eine feste Anstellung als Dienstmädchen finden würde, musste sie mit kleineren Tätigkeiten auskommen. Sie und Annelie führten ein Leben in aller Bescheidenheit und waren zufrieden. Auch wenn Annelies kurzzeitige Anstellung in den Haushalten von Kurgästen keinen größeren Lohn einbrachte, war es mehr, als der Lohn eines Brunnenmädchens. Sie konnten sich weiterhin diese Kammer unter dem Dach leisten, mussten nicht hungern und freuten sich an dem geselligen Leben in der Stadt. Es hätte also alles wunderbar sein können, wäre da nicht dieser Vorfall mit Maximilian Bickenbach gewesen. Die letzten Tage waren voll Arbeit gewesen. Sie hatte keine Ruhe gefunden, um nachzudenken. Ihr war daher Annelies Aufregung um diesen feinen Schnösel entgangen und so hatte sie nicht rechtzeitig eingegriffen, um ihre Schwester eindringlicher zu warnen.

Sophie seufzte, als sie sich ihrer unliebsamen Arbeit zuwandte und das Kästchen mit dem Nähzeug holte. Sie ging zum Hocker, auf dem die beiden Kleider lagen, schob ihn zu dem Tischchen, auf dem die Öllampe stand. Sophie nahm die Zündhölzer und entzündete den Docht. Sie setzte sich hin, zog das erste Kleid auf ihren Schoß und befühlte den weichen Stoff. Ihre Gedanken verweilten bei Annelie. Sich zu verlieben sollte eine wundervolle Erfahrung sein, voller Aufregung. Liebe musste etwas Schönes sein, dachte Sophie sehnsüchtig. Annelies Worte hatten sie getroffen, als sie behauptete, Sophie wüsste nicht, wie es sei sich zu verlieben. Das stimmte nicht. Sie hatte sich auch hin und wieder verliebt, jedoch nicht so sehr, dass sie am Boden zerstört war, sobald sie erkannte, wie wenig ihre Gefühle erwidert wurden.

Sophie würde diesen Maximilian Bickenbach und seinen boshaften Charakter gern kennenlernen. Ein vornehmer Herr und ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen. Allein die Vorstellung war lächerlich. Sophie dachte voller Wehmut an ihren Vater und an seine Überzeugungen. Eines Tages würde es eine Zeit geben ohne den Unterschied zwischen Arbeitern, wohlhabendem Bürgertum und Adel; das waren seine Worte. Sophie glaubte daran. Die Ansichten ihres Vaters hatte sie so verinnerlicht, dass sie am liebsten leidenschaftlich für sie gekämpft hätte. Denn solange diese Zeit noch nicht gekommen war, verurteilte sie die Klassenunterschiede. Ihre Meinung frei auszusprechen, war unter einem Kaiser unmöglich. Sophie wusste, dass es Demokraten gab, die das ändern und jedem Menschen gleiche Rechte geben wollten. Sie hatte auch von Frauen gehört, die gegen ihre Unterdrückung und Benachteiligung aufbegehrten. Wie gern würde sich Sophie gegen jene Menschen auflehnen, die allein durch ihr Geburtsrecht einen höheren Stellenwert besaßen. Doch sie wusste, sie konnte diese Ungerechtigkeit nicht beenden. Sie war schließlich nur ein armes Brunnenmädchen.

Sophie stach sich in den Finger und zuckte zusammen. Blut quoll aus dem kleinen Stich hervor. Mit ihren Gedanken war sie weit fort, als Sophie den Finger in den Mund steckte und das Blut schmeckte. Sie stellte sich vor, wie sie vor diesen gelackten Snob trat, um ihm die Meinung zu sagen. Das wäre eine Genugtuung, frohlockte sie. Natürlich würde es ihr nicht gelingen, bis zu ihm vorzudringen. Man würde sie vertreiben wie Ungeziefer. Doch allein der Gedanke daran war befriedigend genug.

Ich muss vorsichtig sein, dass keine Blutflecke auf die teure Seide kommen, ermahnte sich Sophie. Sie ließ den blutigen Finger sinken und starrte auf das Kleid. Was für ein feiner Stoff! In einem solchen Kleid würde sie wahrscheinlich mehr Anerkennung finden als in ihrer schlichten Kluft. Sophie strich über das weiche Gewebe und achtete darauf, keine Flecken zu hinterlassen. In einem solchen Kleid würde sie selbst von einem Herrn wie diesem Maximilian Bickenbach beachtet werden.

Was dachte sie da nur? Sie, in einem solchen Kleid? Das würde sie sich niemals leisten können. Wie viele Jahre müsste sie am Kochbrunnen arbeiten, um sich so etwas Geschmackvolles kaufen zu können?

Sophie ließ die Nadel durch den Stoff gleiten. Es waren ordentliche, aneinandergereihte Stiche; ein Geschick, das sich Sophie durch langjährige Übung angeeignet hatte. Doch erst, seitdem sie bei Schneider Brach lebte, durfte sie Stoffe wie Seide und Satin in den Händen halten. Kostbarkeiten, die sie nie würde auf ihrer Haut tragen können.

3. Kapitel

Wilhelmstraße

War ihr die Aufregung anzusehen?

Sie musste verrückt sein. Was tat sie da nur?

Niemand beachtete Sophie, als sie das Haus des Schneiders verließ. Dank ihres Mantels war ihre feine Aufmachung nicht zu erkennen. Ihre Füße trugen sie immer schneller das Bergviertel hinunter. Sie holte ein Paar ältere Handschuhe aus der Manteltasche. Annelie hatte sie in einer Ecke im Nähzimmer des Schneiders gefunden. Die rissigen Stellen des seidenen Stoffes hatte Sophie mit einigen Stichen geflickt, sodass der schäbige Zustand kaum noch zu erkennen war.

Wenigstens die Kopfbedeckung und ihre lange ersparten, neu gekauften Schuhe, die zwar unpassend, aber kaum unter dem Saum des Kleides zu sehen waren, gehörten ihr, dachte sie und ermahnte sich zur Ruhe. Wenn der Schneider herausfinden würde, was sie hier tat, gäbe es eine Menge Ärger. Aber ihr Plan stand jetzt fest und musste durchgeführt werden.

Als sie ihre Straße verlassen hatte, zog sie den Mantel aus. Sie versteckte ihn hinter einem Busch, wo ihn keiner entdecken konnte. Bei ihrer Rückkehr würde sie ihn wieder anziehen. Hastig blickte sie sich um, dann eilte sie weiter.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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