Das Erbe von Sunneck. Band 2 - Martina Frey - E-Book

Das Erbe von Sunneck. Band 2 E-Book

Martina Frey

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Beschreibung

Wiesbaden / Nassau 1243 Um den Frieden zwischen Mechtheim und Nassau zu sichern, kehrt Jonata ihrer Heimat in Sunneck den Rücken und begleitet den verletzten Ritter Simon von Mechtheim in dessen Heimat. Doch die Verbitterung über den Ausgang der vergangenen Schlacht trägt ihr das Misstrauen der Bewohner ein. Willkommen ist sie dort nicht. Auch ihre eigene Vergangenheit, ihr Hass auf ihren toten Gemahl, lässt sie nicht los. Als sie seinen Sohn zur Welt bringt, ist ihre Angst, dass er wie sein Vater werden könnte, so groß, dass sie ihn nicht sehen will. Die Feinde Mechtheims verstricken sie erneut in politische Streitigkeiten und Kriegsdrohungen. In Nassau muss Jonata schließlich erneut kämpfen - für ihre Verbündeten, ihre Liebe und ihr Kind.

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Martina Frey
Das Erbe von Sunneck
Historischer Roman

Inhaltsverzeichnis

Das Erbe von Sunneck

Mechtheim, Sommer 1242

Burg Stein, Nassau

Mechtheim

August 1242

Burg Stein, Nassau, Ende September 1242

Mechtheim, Oktober 1242

Nassau

Mechtheim

Burg Nassau

Mechtheim

Burg Stein, Nassau

Mechtheim

Mechtheim

Mechtheim, Anfang Januar 1243

Solzbachtal

Mechtheim

Solzbachtal

Mechtheim

Erzbischöflicher Palast, Mainz

Solzbachtal

Wiesbaden

Mechtheim

Solzbachtal

Burg Nassau

Mechtheim

Solzbachtal

Mechtheim

Solzbachtal

Burg Nassau

Mechtheim

Mechtheim, März 1243

Burg Nassau

Mechtheim

Mechtheim

Burg Nassau

Mechtheim

Nassau

Mechtheim

Burg Stein, Nassau

Nassau

Kapelle am Hahnenkopf

Burg Stein, Nassau

Nassau

Auf der Heide

Nassau

Auf der Heide

Burg Nassau

Burg Stein

Burg Nassau

Burg Stein

Mechtheim

Burg Nassau

Mechtheim

Burg Stein

Mechtheim

Burg Stein

Mechtheim

Burg Stein

Mechtheim

Burg Stein

Mechtheim

Burg Nassau

Im Lahntal

Nassau

Lahntal

Personenverzeichnis

Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Mechtheim, Sommer 1242

Das Land der Mechtheimer hatte sie sich anders vorgestellt. Düster, imposant oder bedrohlich, aber nicht so. Überrascht von dem Anblick vergaß Jonata sogar ihre Rückenschmerzen und das Ziehen in den Beinen. Am Ende des Waldes lagen einige Höfe. Sie schmiegten sich zwischen bewaldete Hügel, an einen Bach, der eher einem Rinnsal glich. Heruntergekommene Hütten und Scheunen, von Holzzäunen umgeben, gruppierten sich um einen Platz. Dahinter lagen Gärten. Etwas abseits ragte ein eckiger Turm empor. Sein Unterbau war aus Stein gebaut, der Rest aus Holz. Er sah nicht bewohnt aus.
Eine warme Brise wehte den Duft von frischem Holz und Gras zu Jonata und ließ sie tief durchatmen.
Gunnar, der Anführer ihrer Gruppe, machte ein so finsteres Gesicht, dass Jonata befürchtet hatte, er würde sie aus Zorn über den Ausgang des Kampfes in der Wildnis aussetzen. Dass er es nicht getan hatte, verdankte sie wahrscheinlich seiner Treue zu Simon, dem er Rechenschaft über ihren Verbleib ablegen musste.
Wie Jonata bereits vermutete, gingen sie an dem Dorf vorbei auf die altersschwache Befestigung zu. Dahinter schlängelte sich das Tal weiter bis zum Rhein.
Männer und Frauen, die auf den Äckern arbeiteten, waren auf die Gruppe aufmerksam geworden und kamen neugierig, aber auch misstrauisch näher.
Jonata spürte die Blicke auf sich und konnte sich gut vorstellen, dass sich jeder fragte, wer sie war.
Das mächtige Tor vor ihnen öffnete sich träge.
Jonata war froh, nach diesem langen Tag endlich am Ende ihrer Reise angekommen zu sein. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, auf sie Rücksicht zu nehmen, und so war sie fast am Ende ihrer Kräfte. Nachdem sie vor zwei Tagen die brennenden Trümmer von Sunneck verlassen hatten, war die Gruppe zügig losgezogen. Die Männer befürchteten wahrscheinlich, dass Lo­rentz von Marbach oder Gerald von Stein ihre Meinung änderten und sie doch noch verfolgten und abschlachten würden. Ihre Anwesenheit garantierte den Mechtheimern eine sichere Heimkehr. Dennoch stieg die Angst wie eine eisige Flut in ihr auf. Was sie hier erwartete, würde nicht einfach sein. Fast greifbar war der Hass der Männer, mit denen sie unterwegs gewesen war. An diesem Ort würde es bestimmt nicht besser werden.
Noch immer hielt die Erinnerung an Sunneck sie gefangen. Bisher war es nicht möglich gewesen, über das, was geschehen war, nachzudenken und zu verarbeiten. Dafür hatte sie weder die Kraft noch die Zeit gehabt.
Das Ableben ihres verhassten Gemahls.
Der Bruch mit ihrem einstigen Verlobten Lorentz von Marbach.
Simons nahender Tod.
Der Abschied von ihrer Schwester und von Sunneck.
Es war ihr alles zu viel.
Sie bemühte sich, in der Nähe des Karrens zu bleiben, auf dem Simon in seinem Blut lag. Jonata hatte seine Wunden nur dürftig verbinden können. Sie waren langsam vorwärtsgekommen. In den zähen Stunden des Marsches war er kein einziges Mal aufgewacht. Selbst die eine Nacht, die sie im Freien verbracht hatten, genügte nicht, um sich von den Strapazen der letzten Tage zu erholen. Die Sorgen um Simon und ihr neues Leben, das auf sie wartete, ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
Mit einer schmutzigen Hand wischte Jonata über ihre schweißbedeckte Stirn. Das Ziehen in ihrem Bauch verstärkte sich. Mit jedem Schritt wurde die Qual größer.
Nun war sie hier. In der Heimat ihres toten Gemahls Ulrich von Mechtheim.
Was hatte sie sich dabei gedacht, Lorentz von Marbach zu bitten, sie mit jenen Menschen gehen zu lassen, von denen sie monatelang gefangen gehalten, gequält und tyrannisiert worden war? Was war in sie gefahren, den Schutz ihrer Familie und ihres Verlobten zu verlassen?
Um des Friedens willen hatte sie das alles getan. Ihr Zuhause waren nur noch verkohlte Steinblöcke. Die Ruine erinnerte an den letzten, schrecklichen Kampf. Keinen Augenblick hatte sie gezögert oder darüber nachgedacht, was mit ihr geschehen würde, wenn sie sich von Lorentz lossagte. Sie trug das Kind eines Mannes in sich, den sie abgrundtief hasste.
Ihr Blick klärte sich und brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Der erste friedliche Eindruck verlor sich langsam, je näher sie ihrem Ziel kam. Das Heim der Ritter von Mechtheim sah jetzt, beim näheren Hinsehen, heruntergekommen aus.
Neben dem Turm stand ein lang gezogenes Fachwerkhaus, ein ehemaliger, ausgebauter Zehnthof, mit einem großen Holzschindeldach. Dieser Bereich war mit dem Turm von einer brüchigen Wehrmauer umgeben und sollte bei einem Überfall den Bewohnern Schutz bieten. Das Fachwerkgebäude verlor hier und da seine schützenden Holzschindeln. Das Dach sah aus, als würde es dem nächsten Sturm nicht standhalten. Die obere Schicht der Hauswand war teilweise abgebröckelt und entblößte ein Gemisch aus Zweigen und getrocknetem Lehm. Entlang der Wehrmauer standen ein großer Stall und wenige Hütten. Die Gesindehäuser waren genauso heruntergekommen wie der Rest der Gebäude.
Alles sieht so verwahrlost aus, dachte Jonata, während sie sich unauffällig umblickte. Vor dem Wohngebäude lag Gerümpel. Vergammeltes Stroh, Pferdeäpfel und andere braune Hinterlassenschaften von herumstreunenden Hunden waren über dem Boden verteilt. Neben dem Haus, in der Nähe des Gemüsegartens, häuften sich Essensreste, von denen der beißende Gestank der Fäulnis herüberwehte.
Mehr war es nicht. Der Ort, an dem Ulrich aufgewachsen war, und der ihn zu einem rücksichtslosen, brutalen Mann hatte werden lassen, war ein erbärmlicher Haufen von stinkendem Pferdedung und verschimmelten Essensresten. Ekel überkam Jonata, und die schmerzende Sehnsucht nach ihrer Familie und Sunneck trieb ihr Tränen in die Augen.
Ihre einzige Sorge galt Simon. Auf dem Weg hierher hatte er viel Blut verloren. Sie holte hastig zum Karren auf, und warf einen Blick auf den Ritter. Besorgt legte sie eine Hand auf seine Brust und spürte den unregelmäßigen Herzschlag. Simons Verletzungen waren so schwer, dass Jonata befürchtete, sein Leben dieses Mal nicht retten zu können. Es war ein Wunder, dass er die mühsame Reise nach Mechtheim überlebt hatte. Seine Widerstandskraft hatte er bereits auf Sunneck bewiesen. Was mit ihr geschehen würde, sollte er doch sterben, darüber dachte sie lieber nicht nach.
Das Gefährt, dem sie bis jetzt stoisch gefolgt war, blieb vor dem Haus stehen.
Frauen, Kinder und ältere Männer versammelten sich um die Ankommenden. Die Heimkehrenden wurden mit Umarmungen und Fragen begrüßt. Zurückhaltende Freude zeigte sich in manchen Gesichtern. Hier und da ertönte Klagen und Schluchzen. Noch hatten sie ihren verletzten Herrn im Karren nicht entdeckt. Trotz warmer Luft und Sonnenschein lag Simon in eine Decke gehüllt.
Einige Menschen scharten sich um Gunnar. Die ersten Fragen prasselten auf ihn ein. In seinen Augen lag der Ausdruck von Ungeduld und Gereiztheit. Er rang um Beherrschung und bemühte sich, alle Fragen zu beantworten.
»Was ist geschehen?«, fragte eine mollige Frau mit grauen Haaren.
»Wir kommen direkt von Sunneck.«
»Wo sind Ulrich und Simon?«
Nun wurde Gunnar erwartungsvoll angestarrt.
Mit gesenktem Kopf, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, verharrte Jonata bewegungslos neben dem Karren.
»Ulrich ist tot!«, hörte sie Gunnar sagen. Ehe er über Simons Verbleib sprechen konnte, wurden die Stimmen der Umstehenden laut. Ein Aufschrei des Entsetzens und der Empörung kam von allen Seiten.
Jonata spürte um sich herum die Fassungslosigkeit, als wäre es unmöglich, dass Ulrich nicht mehr am Leben war.
»Wie kann das sein? Was ist geschehen?«, prasselten die Fragen auf Gunnar ein.
»Der Herr Ulrich ist tot? Das ist ja furchtbar«, sagte einer der Umstehenden.
Die Entrüstung und das Klagen dieser Menschen reizte Jonata so sehr, dass sie am liebsten laut geschrien hätte, wie glücklich sie über Ulrichs Ableben war. Ihn in seinem Blut auf dem Boden liegen zu sehen, erfüllte sie immer noch mit Genugtuung. Sie würde dieser Gefühle wegen, eine Beichte ablegen müssen. Trotzdem war die Welt durch seinen Tod ein Stück besser geworden. Wie konnten es diese Menschen wagen, um ein solches Scheusal zu trauern?
Verdrossen presste sie die Lippen aufeinander.
»Was wird jetzt sein?«, fragte eine Frau.
»Das werden wir sehen«, erwiderte Gunnar.
»Was ist mit Simon?«, verlangte ein älterer Mann zu erfahren, und alle anderen verstummten wieder.
Gunnars Blick zuckte zum Karren. »Er ist verletzt. Ich erzähle euch alles, aber bringt ihn erst einmal auf sein Lager. Er muss versorgt werden.«
Er winkte zwei Männern zu. Sie traten an den Karren, schlugen die Decke zur Seite und hoben vorsichtig ihren Herrn heraus. Simon war noch immer nicht bei Bewusstsein und der Verband wieder blutdurchtränkt. Jemand schrie erschrocken auf, einige Frauen wichen den Männern aus, als sie ihren verletzten Herrn sahen.
»Was ist auf Sunneck passiert?«, wollte der ältere Mann jetzt wissen.
Jonata hob den Kopf, um ihn eingehender zu betrachten. Er sah nicht aus, als würde er sich mit einer fadenscheinigen Erklärung zufriedengeben. Von seiner schäbigen Kleidung her wirkte er auf den ersten Blick wie ein Bauer. Nur seine Haltung und der Dolch an seinem Gürtel verrieten ihn als Kämpfer.
Seine Beinlinge strotzten vor Dreck, und auch die naturfarbene Tunika war abgetragen. Sein grauer Bart dagegen sah gepflegt aus, ebenso das dunkle Haar, das sich von seiner schäbigen Kleidung abhob. Seine hohe Gestalt überragte Gunnar um einen Kopf.
»Es lief alles wie geplant«, begann dieser zu erzählen. In knappen Worten berichtete er, was auf Sunneck passiert war und schloss damit, wie Lorentz von Marbach mit Gerald von Stein die Burg gestürmt und Ulrich getötet hatte.
Jonata stand still da und lauschte seinem Bericht. Obwohl sie dabei gewesen war, erschien ihr das Geschehene wie eine Geschichte, die jemand anderes erlebt hatte. Erst als Gunnar davon sprach, das Sunneck den Flammen zum Opfer fiel, wurde ihre Trauer wieder übermächtig. Erinnerungen und Gefühle formten sich zu entsetzlichen Bildern und ließen sie frösteln. Was sie erlebt hatte, dieser immerwährende Alptraum, begleitete sie Tag und Nacht. Auch hier in Mechtheim würde sie das nicht vergessen können. Sie hatte Sunneck und alles, was sie liebte, verlassen, nicht nur für den Waffenstillstand, sondern für ihren eigenen Seelenfrieden. Einerseits wollte sie endlich eine Nacht schlafen, ohne Angst vor einem Überfall zu haben, andererseits plante sie, dieses verhasste Kind an diesem Ort zur Welt bringen.
»Es wundert mich, dass Gerald von Stein euch alle hat ziehen lassen«, murmelte der ältere Mann misstrauisch.
»Das haben wir ihr zu verdanken«, stieß Gunnar hervor und zeigte auf Jonata. »Sie ist der Garant für unser Überleben.« Verbittert spuckte er auf den Boden.
Sofort wurde Jonata argwöhnisch beäugt.
»Wer ist das?«, fragte ein Mädchen.
Gunnar spuckte erneut neben sich und schnallte den Gürtel von seinem Sattel ab. »Beachtet sie nicht weiter.«
Jonata spürte Zorn in sich aufsteigen. Sie legte nicht aus Fürsorge eine Hand auf ihren Bauch, sondern um darauf aufmerksam zu machen, dass sie die Brut des Ritters in ihrem Leib trug, um dessen Tod alle trauerten. Statt laut aufzubegehren, hielt sie es für angebrachter zu schweigen.
Der ältere Mann beugte sich leicht zu Gunnar. »Wenn sie der Garant für euer Überleben ist, warum sollen wir sie missachten?« Da er Gunnars Anweisung nicht einfach hinnahm, vermutete Jonata, dass er mehr als ein Soldat war.
»Weil sie … sie wird Scherereien machen, deshalb solltet ihr euch alle von ihr fernhalten«, blaffte Gunnar gereizt. »Jetzt stell mir nicht so überflüssige Fragen, Oskar. Sieh zu, dass du mehr Wachen aufstellst. Ich traue keinem der Nassauer, egal ob dieses Weib uns begleitet hat oder nicht.«
Seine Worte schürten ihren Zorn immer mehr. Ehe sie entgegen ihrer Ermahnung aufbegehren konnte, stellte Oskar weitere Fragen. Dabei machte er ein so verbissenes Gesicht, dass Jonata dachte, er würde sich gleich bewaffnen und Rache nehmen wollen. »Was ist mit Sunneck?«
»Niedergebrannt.«
»Was ist mit Gerald von Stein und Lorentz von Marbach? Wen der beiden müssen wir erwarten?«
Gunnar atmete tief durch und schien noch einmal nachzudenken. »Lorentz von Marbach wird nichts tun, um die Frau in Gefahr zu bringen, aber ich weiß nicht, was wir aus Nassau befürchten müssen.«
»Die Frage, wie es weitergeht, ist berechtigt, Gunnar«, raunte der ältere Mann ihm schließlich zu. »Wie steht es wirklich um Simon?«
Die Wenigen, die noch bei ihnen waren, beobachteten Gunnar erwartungsvoll. Dessen Miene verriet nichts Gutes. Jonata bekam es mit der Angst zu tun. Was würde aus ihr werden, sollte Simon sterben? Ihre Bemühungen hatten den freien Abzug von Sunneck bedeutet. Das hatte Gunnar hingenommen, um zu überleben. Jetzt waren sie sicher in Mechtheim angekommen. Wenn Simon starb, würde Gunnar sie als Geisel nehmen, um in Nassau Forderungen zu stellen. Oder wollte er sie töten, um endgültig die Erinnerungen an Sunneck auszulöschen?
»Wenn du es genau wissen willst, liegt Simon im Sterben.« Gunnar machte eine Pause, ehe er fortfuhr: »Es steht nicht gut um uns alle. Mechtheim wird früher oder später unseren Feinden zum Opfer fallen.« Sein Blick richtete sich auf Jonata. »Das kann keiner verhindern.«
Einige Frauen begannen zu weinen. Die Männer schwiegen. Ihnen war aber anzusehen, was sie dachten. Wut und Empörung und schiere Angst vor der Zukunft spiegelten sich in den Gesichtern wider. Im Grunde unterschieden sie sich nicht von Jonata, die mit den gleichen Befürchtungen rang.
»Feinde gibt es genug«, ergänzte der alte Mann. »Ich meine nicht Gerald von Stein.« Er wollte sich fort drehen, hielt aber er inne und zeigte auf Jonata. »Ist sie eine Gefangene? Muss ich dir heute alles aus der Nase ziehen, Gunnar? Warum ist sie hier? Wer ist sie?«
Gunnar ließ den Kopf sinken und seufzte. »Sie ist Ulrichs Frau … Witwe, und sie erwartet sein Kind.« Er unterließ es, zu erwähnen, wessen Verlobte sie einst war, und wandte sich den Männern zu, um ihnen Anweisungen zu geben.
Oskar betrachtete sie kurz, dann ließ er die Schultern sinken und schlenderte auf das Tor zu, um die Wachen zu verstärken. Er wollte gewappnet sein, sollte ein wütender Ritter angreifen.
Nachdem Jonata ein letztes Mal gemustert wurde, ließ man sie stehen. Niemand beachtete sie mehr. Gunnars Worte hatten alle hingenommen, ohne weitere Fragen zu stellen. Die Erkenntnis, dass Ulrich tot war und auch Simon bald unter der Erde liegen würde, machte alle mutlos. Die Frauen schleppten ihre verletzten Männer in ihre Hütten. Die Kinder trollten sich. Gunnar stapfte zum Haus. Zwei Burschen eilten herbei und schafften die Pferde der Überlebenden zum Stall. Die Nachricht von Ulrichs Tod und den Zustand seines Bruders würde schnell in die umliegenden Siedlungen und Höfe weitergetragen werden.
Jonata stand da und beobachtete das Geschehen wie aus der Ferne. Es kam ihr wie ein Traum vor, in dem sie sich bewegte, ohne selbst gesehen zu werden. Niemand kümmerte sich um sie oder zeigte ihr einen Platz, wo sie bleiben konnte. Das machte ihr deutlich, wie wenig sie hierher gehörte.
Selbst Gunnar, der sie auf der Reise nicht aus den Augen gelassen hatte, scherte sich nicht weiter um sie. Er kehrte auch nicht zurück, sondern blieb im Haus verschwunden.
Jonata rührte sich nicht vom Fleck.
Sie stand inmitten ihrer Feinde, die ihr alles genommen hatten, was ihr lieb und teuer war.
Was sollte sie jetzt tun?
Wohin sollte sie gehen?
So völlig fehl am Platz wurde ihr noch bewusster, was sie getan hatte, als sie Lorentz gegenübergestanden und ihn um die Freiheit dieser Männer gebeten hatte. Sie hatte Simon versprochen, dass sie überlebten, wenn er sich ergab. Lorentz‘ Hass auf die Mechtheimer und Gerald von Steins Rachsucht waren zu groß, als dass Jonatas Worte allein etwas ausrichten konnten. Die beiden Ritter waren zuerst nicht bereit gewesen, Simon und seine Männer gehen zu lassen. Also hatte Jonata mehr tun müssen, als reden.
Für einen Augenblick war sie versucht, zum Tor zu laufen und diesen Ort zu verlassen.
Jonata vermisste ihre Schwester Roberta und ihre ehemalige Kinderfrau Hermine. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie war wie betäubt von der Leere in ihrem Inneren. All das, was geschehen war, zog immer wieder als Bilder durch ihren Kopf. Die Burg, die in Flammen aufgegangen und zerstört war. Ulrich von Mechtheim, der sie und ihre Schwester gequält und erniedrigt hatte und schließlich durch Lorentz' Schwert den Tod fand.
Schmerz durchfuhr sie und ließ sie sich krümmen. Ihre Finger krallten sich in ihren Bauch, dem noch nicht anzusehen war, dass etwas darin heranwuchs. Die Übelkeit erinnerte sie jeden Tag daran. Ulrich hatte dafür gesorgt, dass sie ihn nicht vergaß. Er war tot und hatte ihr eine bleibende Erinnerung hinterlassen.
Die Leere in ihr machte plötzlich kalter Verachtung Platz. Sie hasste den Gedanken an das Kind. Es war Ulrichs Erbe und würde genauso werden wie sein Vater. Ein Scheusal. Ihr nächster Atemzug endete in einem Schluchzer.
Ihre Gedanken schweiften ab, zu Lorentz von Marbach und diesem anderen Leben, dem sie den Rücken gekehrt hatte. Ihnen war keine Zeit geblieben, ihre Erlebnisse auszutauschen. Jonata wusste kaum, was Lorentz alles auf sich genommen hatte, um schließlich mit Soldaten aus Nassau zurückzukehren und sie zu befreien. Und dann hatte Jonata von einem Atemzug zum nächsten eine Entscheidung getroffen. Sie hatte sich von Lorentz losgesagt. Von dem Mann, mit dem sie hatte glücklich werden wollen. Sosehr es ihr leidtat, war ihr klar geworden, dass sie Lo­rentz nicht hätte heiraten können, nach allem, was geschehen war. Wie sollte sie von ihm erwarten, dass er das Kind seines Feindes aufzog? Wie würde sie selbst damit zurechtkommen?
Jonata blickte sich um. Es hatte keinen Sinn zu klagen. Sie war hier, aus freien Stücken. Sie wusste nicht, worauf sie wartete. Niemand würde sie einladen.
Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck und ging an dem Karren vorbei, auf dem das frische Blut im Tageslicht glänzte. Fast widerwillig setzte sie einen Fuß vor den anderen und betrat das Haus. Zu ihrer Linken stand eine Tür offen. Von dort zog der würzige Duft von Essen zu ihr. Jonata konnte durch den Spalt kaum etwas sehen. Der Raum war düster und vom letzten Feuer in Dunst gehüllt. Töpfe klapperten, ein Mörser knirschte. Die Frauenstimmen klangen verhalten.
Außer der Küche und den Unterkünften der Dienstmannen gab es hier nicht viel zu sehen. Zu ihrer Rechten führte eine Holztreppe in das obere Stockwerk. Dort mussten der große Saal und die Kemenaten liegen.
Jonata fragte sich, wohin Simon gebracht worden war. Würde sie sich um ihn kümmern können?
Eine Magd trat aus der Küche und blieb wie angewurzelt stehen.
»Sag mir, wo Simon ist?«, wollte Jonata im herrischen Tonfall wissen.
»Wer bist du?«, fragte das Mädchen unvermittelt.
»Ich bin Jonata von Sunneck und ich … ich … meine, ich bin die Gemahlin von Ritter Ulrich.«
Eingeschüchtert von Jonatas energischer Stimme blinzelte das Mädchen scheu und eilte an ihr vorbei.
»Komm zurück und beantworte meine Frage«, rief Jonata ihr nach. Sie wollte niemandem zeigen, wie müde und mutlos sie war. Je mehr Schwäche sie preisgab, desto angreifbarer war sie. Das hatte sie unter Ulrichs Tyrannei lernen müssen.
»Er wird versorgt«, sagte jemand von der Treppe her.
Jonatas Kopf fuhr herum.
Gunnar war ein treuer Gefolgsmann und ein langjähriger Waffenkamerad von Simon, genauso gefühllos und hartherzig wie alle Mechtheimer. Auch das hatte sie erfahren müssen.
Er hatte sich noch nicht gewaschen. An seinem Waffenrock und in dem bärtigen Gesicht klebte Blut. Sein Haar war voller Dreck. Die dunklen Augen versprühten eine Drohung, die sie einen Schritt zurückweichen ließ. Nicht nur seine gedrungene, sehnige Gestalt flößte Jonata Furcht ein. Sie wollte ihn nicht reizen. Seiner Willkür würde sie sich aber nicht beugen. Er mag gefährlich sein, aber er ist nur ein Gefolgsmann der Mechtheimer, redete sie sich ein. Sie war die Tochter eines ehrenwerten Ritters und die Gemahlin des Herrn dieses Tals. Um hier zu überleben, musste sie das Recht auf ihre Stellung einfordern.
»Wie geht es Simon? Ich möchte ihn sehen.« Jonata klang gebieterischer als beabsichtigt, um ihre Furcht zu verbergen.
»Ihm geht es gut. Haltet Euch von ihm fern«, kam es lakonisch. Gunnar stieg die Stufen hinunter und wollte an ihr vorbeigehen.
Jonata war zu erschöpft, um sich um Diplomatie zu bemühen. Kurzerhand trat sie dem Mann in den Weg und zwang ihn, stehenzubleiben.
In seinen Augen blitzte es böse, doch er beschwerte sich nicht über ihre Anmaßung.
»Das ist alles, was Ihr zu sagen habt, Gunnar?«
Geringschätzig maß er Jonata. Sie hatten nie viele Worte miteinander gewechselt. Auf Sunneck hatte sie versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. »Ich weiß nicht, warum Ihr mit uns gegangen seid, Jonata, aber ich traue Euch nicht.«
»Ohne mich wärt Ihr nicht mehr am Leben«, erinnerte sie ihn.
Gunnar schnaubte verächtlich. »Noch nie habe ich ein Weib nötig gehabt, um zu überleben. Von mir braucht Ihr keine Dankbarkeit erwarten.« Er beugte sich vor, sodass ihr der Geruch von Wein in seinem Atem entgegenschlug. »Ich würde gerne erfahren, warum Ihr uns begleitet habt. Was wollt Ihr wirklich?«
»Ich trage Ulrichs Kind in mir, vergesst das nicht.«
»Und wenn Ihr es auf die Welt gebracht habt, dann wird uns Lorentz von Marbach angreifen oder gar Gerald von Stein? Brennt Ihr auf Rache? Ist es das? Sollt Ihr für die beiden die Lage erkunden?« Gunnar verzog verächtlich den Mund. »Das könnt Ihr Euch sparen. Hier gibt es nichts auszukundschaften. Mechtheim ist am Ende. Wir haben weder genug Männer noch Waffen, um gegen die Nassauer zu bestehen. Sagt das Eurem Ritter Lorentz. Er kann uns mit einem Streich töten und seine Rache vollenden. Dafür muss er kein Weib herschicken.«
Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft für ihren aufflammenden Zorn nahm. »Ihr glaubt, ich will Rache und Euch bespitzeln? Das ist lächerlich, und das wisst Ihr selbst. Ich will den Frieden wahren, deshalb bin ich hier. Ich habe Simon versprochen, dass …«
»Machen wir uns nichts vor, Jonata«, unterbrach er sie brüsk. »Ihr gehört nicht hierher. Ich werde mir auch nicht die Mühe machen, freundlich zu Euch zu sein.«
»Ich erwarte von Euch keine Freundlichkeit.« Jetzt klang sie verbittert. »Sagt mir, wo ich schlafen kann.«
Er zeigte mit einer knappen Handbewegung an ihr vorbei. »Drüben in der Hütte der Mägde ist noch Platz.« Ein herablassendes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sich abwandte.
Empört schnappte Jonata nach Luft. Dieser Kerl war unausstehlich. Das würde sie nicht einfach hinnehmen. »Ihr wollt, dass ich beim Gesinde schlafe? Das ist nicht Euer Ernst?«
Gunnar drehte sich wieder zu ihr um. »Seht Ihr mich lachen? Ich scherze nicht.« In seinen Augen lag unverhohlene Verachtung. »Mir ist es egal, was Ihr macht, schert Euch zum Teufel, das wäre mir recht.«
Jonata machte einen Schritt auf den Mann zu. Die Verwirrung und Unsicherheit, die sie verspürte, seitdem sie angekommen war, gaben ihr die Kraft, um aufzubegehren. »Jetzt hört mir gut zu, Gunnar. Eure Herren von Mechtheim haben Sunneck überfallen, meinen Vater getötet und mein Heim zerstört. Ulrich quälte meine Schwester und mich. Ich habe es ertragen, dass er mich zur Frau nahm, und ich ertrage sein Kind, aber ich bin immer noch die Tochter eines ehrenvollen Ritters. Ich werde nicht beim Gesinde schlafen, nur weil es Euch gefällt. Ich bin hier, weil ich es Simon versprochen habe, und ich bleibe, bis ich dieses Kind zur Welt gebracht habe. Ich erwarte von Euch Ehrerbietung. Andernfalls werde ich Euch jeden Tag aufsuchen und Euch mit meinem Gerede zum Wahnsinn treiben.«
Stille.
Entgeistert starrte Gunnar sie an. Er machte geradewegs den Eindruck, als habe noch nie eine Frau in diesem Ton mit ihm gesprochen. Es wird noch keine gewagt haben, dachte Jonata. Er bemerkte ihre Entschlossenheit und befürchtete wohl, sie würde ihre Drohung wahr machen, denn er widersprach ihr nicht. »Da mir Eure Stimme auf den Geist geht, ist es mir recht, Euch nur selten sehen zu müssen.« Er deutete zur Treppe. »Ulrichs Kammer ist frei geworden. Da ist Platz für seine Gemahlin.«
Beinahe hätte sie auch dieses Angebot abgelehnt. Bei dem Gedanken, auf Ulrichs Lager zu schlafen, wurde ihr übel. Lieber würde sie auf einem Misthaufen oder doch lieber bei den Mägden übernachten. Ihren Widerwillen niederkämpfend, bemühte sich Jonata, ruhig zu bleiben, und dankte dem Mann. Sie war müde und wollte sich endlich hinlegen. Mit hocherhobenem Kopf schritt sie an Gunnar vorbei, die Stufen hinauf.
Oben angekommen, suchte sie die Kammer, in der Ulrich gelebt hatte. Das war nicht schwierig, denn neben dem großen Saal gab es vier weitere Räume. Einer stand leer. In einem lag Simon, aus dem sie sofort hinausgeworfen wurde, der andere war verschlossen. Obwohl der Schlüssel steckte, gab es wahrscheinlich einen Grund, warum die Kammer nicht betreten werden sollte. Jonata erreichte den letzten Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Erschöpft lehnte sie sich dagegen. Ihr war nach Weinen zumute, aber sie fand keine Kraft mehr dazu.
Wie erwartet war die Kammer nicht aufgeräumt. Kleidungsstücke lagen zerstreut auf dem Boden, leere Kannen und Schüsseln stapelten sich um das Nachtlager. Aus einer offenstehenden Truhe an der Wand quollen Hemden und Tuniken hervor. Ein gebrochener Bogen lag daneben. Ohne sich weiter in der schäbig eingerichteten Kammer umzublicken, ging Jonata zu dem Bett. Eine Wolldecke, Schafsfelle und Kissen lagen zerwühlt auf dem einfachen Holzgestell, als sei Ulrich gerade aufgestanden.
Der Anblick ließ sie frösteln.
Kurzerhand packte sie die mit Wolle gefüllte Matratze und zog sie in die Mitte des Raumes. Dann holte sie die Wolldecke und ein Kissen. Es roch nach Leder und Ulrich. Viel zu müde, um darüber nachzudenken, wickelte sie sich in die grobgewebte Decke und legte sich auf die Matratze. Erschöpft schloss sie die Augen und wollte für einen Augenblick vergessen, was geschehen war. Langsam entspannten sich ihre verkrampften Muskeln. Nur vergessen konnte sie nichts.
Ihre Träume führten sie zurück nach Sunneck, zwischen die Trümmer ihres Heimes, dort wo sie aufgewachsen und glücklich gewesen war. Es war ein friedliches Leben gewesen, bis die Ritter von Mechtheim alles zerstört hatten.
Plötzlich stand sie Lorentz gegenüber. »Ich verbiete dir zu gehen!«, brüllte er sie an.
Im Hintergrund brannte der Turm von Sunneck.
Sie atmete tief durch, dann ergriff sie Lorentz‘ Hände. »Ulrich ist tot. Vater wurde gerächt. Ihr solltet nicht mehr kämpfen, und damit du dich daran hältst, werde ich mit Simon gehen. Ich habe ihm versprochen, dass er und seine Männer gehen können.«
»Warum tust du mir das an? Glaubst du wirklich, ihn kümmert ein Versprechen? Er ist ein Lügner, ein gewissenloser Bastard.« Seine Stimme klang durchdringend, verletzt. »Sobald wir ihm den Rücken kehren, wird er uns töten.«
Sie spürte förmlich seinen Zorn und seine Enttäuschung.
»Du hast kein Recht, mich aufzuhalten. Ich gehöre dir nicht. Ich gehöre niemandem!« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Und ich hasse es, dass von Ulrich etwas zurückbleibt … ich hasse mich dafür. Ich kann dich nicht heiraten, Lorentz. Ich kann dir das nicht antun. Es tut mir leid.«
Es zerriss ihr das Herz, ihm das zu sagen. Dem Mann, den sie liebte, mit dem sie ihre Träume wahr werden lassen wollte.
»Ich liebe dich, Jonata«, sagte er leise. »Daran wird sich nichts ändern.«
Jonata erwachte und starrte an die dunkle Decke. Ihr Atem ging schnell. Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust.
Der Traum hatte sie tief in ihrem Inneren berührt. Es war schrecklich, die Enttäuschung und den Zorn in Lorentz‘ Augen zu sehen. Er hatte Vieles auf sich genommen, um sie zu befreien, daran zweifelte sie nicht. Sie hatte sich so einsam gefühlt. Lange Zeit hatte sie auf Sunneck unter Ulrichs Tyrannei leben müssen, ständig in Angst vor ihm. Sie war allein gewesen. Niemand hatte ihr beigestanden. Längst müsste ihr dieses Gefühl zur Gewohnheit geworden sein.
Nein. Das ist nicht wahr, verbesserte sie sich plötzlich.
Simon war da gewesen. Er war nicht wie Ulrich. Er hatte versucht, sie zu beschützen. Dafür würde sie ihm immer dankbar sein. Jetzt brauchte er ihre Hilfe. Dieser Gedanke ließ sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Sie musste wissen, wie es ihm ging und ob sie etwas für ihn tun konnte.
Jonata erhob sich von der Matratze. Ihre Glieder waren steif und schmerzten bei jeder Bewegung. Der kurze Schlaf hatte ihr kaum Erholung gebracht. Noch immer trug sie das verdreckte, blutverschmierte Oberkleid. Wie gerne hätte sie sich gewaschen und umgezogen, aber außer diesem Fetzen Stoff an ihrem Leib besaß sie nichts mehr.
Jonata huschte durch den düsteren Gang, bis zu der Kammer, aus der sie vorhin von einer Fremden hinausgeworfen worden war. Behutsam öffnete sie die Tür und blickte hinein. Eine Kerze neben dem Bett erhellte nur schwach den Raum.
Jonata entdeckte Simon auf seinem Lager. Sonst war niemand hier. Vorsichtig schlich sie durch die Kammer. Hier sah es nicht anders aus als bei Ulrich. Sie sind eben Brüder, stellte sie fest. Gut, dass nur die Unordnung sie verband und nicht die Kaltblütigkeit.
Neben dem Bett blieb sie stehen und blickte auf das Antlitz des Mannes.
»Simon.« Sie fuhr mit einer Hand über das erhitzte Gesicht. Die blonden Haare klebten verschwitzt an seinem Kopf. Er war nicht bei Bewusstsein, sodass sie behutsam seine verbundenen Wunden untersuchte. Aus einem Lederbeutel, der stets an ihrem Gürtel hing, holte sie ein Tontöpfchen und trug die Heilpaste auf die kleineren Verletzungen. Sanft strich sie mit einem Finger die Paste über einen Schnitt auf seiner Stirn.
Jonata zweifelte nicht daran, dass hier eine Heilerin am Werk gewesen war. Ihre Paste würde bei der Heilung helfen. Hermine hatte ihr gezeigt, wie man sie zubereitet.
»Ich bete zu Gott, dass er dich gesund werden lässt«, versprach sie leise.
Sie hielt seine Hand, sprach leise ein Gebet und wusste nicht, ob Gott sie erhörte, wenn sie um das Leben eines Menschen mit solch arger Vergangenheit bat. Sie wollte Simon nicht verlieren. Nicht nachdem ihr Vater gestorben war und sie Lorentz verlassen hatte. Wenn sie nun auch noch Simon verlor, wäre sie ganz allein. Allein mit Ulrichs Brut. Was sollte sie dann tun?
Schwerfällig erhob sich Jonata und wischte die Tränen von ihren Wimpern. Ihre Schwäche ärgerte sie. Sie wollte nicht weinen und sich ihrem Selbstmitleid hingeben. Das lag nicht in ihrer Natur.
»Glaubst du, Gott wird dich erhören, wenn es um mich geht?«, drang eine dunkle Stimme an ihr Ohr, schwach und brüchig.
Blaue Augen berührten ihr Inneres. Sein angedeutetes Grinsen fegte alle düsteren Gedanken aus ihrem Kopf. Glücklich setzte sie sich wieder an Simons Seite. »Ich werde Gott davon überzeugen, dass du ein guter Kerl bist.«
Er brauchte eine Weile, bis er Kraft fand, die nächsten Worte auszusprechen. »Da wirst du viel zu tun haben. Wenn ich überlebe, wird es nicht Gott gewesen sein.« Um seine Lippen zuckte es, ehe er wieder einschlief.
Jonata nahm seine Hand und hielt sie fest. Seine Wärme zu spüren, spendete ihr Trost.
»He, was machst du da?«, klang eine schrille Stimme von der Tür her.
Jonata fuhr zusammen.
Eine mollige Frau, die sie vorhin der Kammer verwiesen hatte, knallte die Tür hinter sich zu und kam energischen Schrittes auf Jonata zu.
Sie ließ Simons Hand los. »Ich wollte kurz nach ihm sehen.«
»Verschwinde und lass ihn ruhen.« Sie bedachte Jonata mit finsterem Blick. »Hörst du nicht? Du sollst verschwinden.«
Jonata trat von dem Bett zurück.
»Ich weiß gar nicht, was du hier zu suchen hast. Wer bist du?«
Erst wollte sie tun, was die Frau ihr befohlen hatte, dann besann sie sich. »Mein Name ist Jonata, ich bin die Tochter von Ritter Gundrich von Sunneck.« Stolz reckte sie ihr Kinn vor. »Das solltest du dir merken und ich werde Simon besuchen, wann und so oft es mir passt, hast du verstanden?«
Verstört blinzelte die Frau sie an. Ihr Tonfall wurde gefälliger. »Natürlich, Herrin, vergebt mir. Wir sind alle … etwas unsicher und … besorgt.«
Jonata beruhigte sich wieder. »Ich verstehe das.« Sie hatte Angst die nächste Frage auszusprechen. Ganz egal wie die Antwort ausfiel, sie musste es wissen. »Wird Simon sterben?«
Die Fremde entspannte sich und machte einen friedlicheren Eindruck. »Diesem Kerl muss Schlimmeres passieren, damit er stirbt. Er hat schon einiges in seinem Leben überstanden.«
Jonata konnte ihre eigene Erleichterung kaum fassen. Die ganze Zeit hatte sie Simon hassen wollen, dabei war er der Einzige, der ihr in einer schlimmen Zeit Hoffnung gegeben hatte. Durch ihn hatte sie gelernt, gegen Ulrich zu bestehen und nicht aufzugeben.
Anfangs hatte er sich in seiner Schroffheit kaum von seinem Bruder unterschieden. Seine anfängliche Härte, seine Rücksichtslosigkeit waren schließlich vergangen. Er war der Grund, warum sie ihren Stolz und ihren Eigenwillen nicht verloren hatte. Dafür würde sie ihm immer dankbar sein.
»Ihr seid wirklich besorgt um ihn? Gunnar sagte, Ihr gehört zu unseren Feinden«, sagte die Frau argwöhnisch.
Jonata war sich nicht sicher, was über sie geredet wurde. Welche Lügen verbreitete Gunnar über sie? Natürlich wurde ihre Anwesenheit in Mechtheim hinterfragt. Das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen, würde sehr schwer werden. Trotzdem wollte es Jonata versuchen, denn ganz egal was Gunnar über sie erzählte, sie würde seine Gemeinheiten nicht hinnehmen.
»Ich mag zu Euren Feinden gehören, aber ich habe Simon viel zu verdanken, und ja, ich bin besorgt«, sagte sie versöhnlich. »Ich möchte helfen, dass er schnell wieder gesund wird. Ich kenne mich in der Heilkunde aus und kann mich um Simon kümmern.«
Die Frau kratzte sich nun am Kopf. Ihr war anzusehen, dass ihr Jonatas Wunsch nicht behagte. »Ich weiß nicht, ob Gunnar das gutheißt.«
»Was Gunnar will, kümmert mich nicht«, entgegnete Jonata eigensinnig. »Und wenn du keinen Ärger willst, sagst du ihm nichts davon.«
Die Frau ließ die Hand von ihrem Kopf sinken, warf erst Simon einen besorgten, dann Jonata einen misstrauischen Blick zu. »Ich hole frische Tücher.« Sie wollte sich zur Tür drehen, da hielt sie inne. »Ihr könnt Euch um ihn kümmern, aber so, wie Ihr ausseht, täte Euch etwas Schlaf gut. Ihr könnt ihm nicht helfen, wenn Ihr umfallt.« Sie ging, ohne auf eine Erwiderung zu warten.
Tatsächlich fühlte sich Jonata immer noch erschöpft. Womöglich hatte die Frau recht. Sie musste selbst erst wieder zu Kräften kommen, bevor sie sich um Simon kümmern konnte.
Da er schlief und seine Verletzungen versorgt waren, gab es für sie nichts weiter zu tun. Sie kehrte in Ulrichs Kammer zurück.
Die eingebildete Gegenwart ihres Gemahls störte sie. Seine Habseligkeiten, die verstreut in seiner Kammer herumlagen, machten sie unruhig. Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, packte sie den Unrat und die Kleidung zusammen und trug sie zu der alten Truhe. Darin verstaute sie alles und drückte den Deckel zu. Damit er richtig schloss, setzte sie sich darauf und betrachtete die Matratze auf dem Boden. Gleich morgen würde sie die Decke und die Leinentücher waschen. Nichts sollte sie mehr an Ulrich erinnern. Ihr Blick fiel auf ihren Unterleib.
Widerwillig ging sie zu der Matratze, rollte sich in die Decke und versuchte, den verhassten Geruch aus ihrer Nase zu verbannen. Es war nicht einfach, den Gedanken, dass Ulrich hier gelegen hatte, zu verdrängen. Als sie diesmal einschlief, wurde sie von keinen bösen Träumen verfolgt.
Der nächste Morgen war düster. Graue Wolken hingen über Mechtheim und spiegelten Jonatas Stimmung wider. Ihr war nach einem Bad oder zumindest etwas Wasser, um sich frisch zu machen. Ihr Kleid, dreckig und blutig, stank entsetzlich. Die Haare klebten an ihrem Kopf. Sie fühlte sich so unwohl, wie schon lange nicht mehr. Da niemand sie beachtete, musste sie selbst den Brunnen finden.
Es regnete, als sie vor das Haus trat.
Das Gesinde streunte untätig umher, als gäbe es nicht genügend Arbeit für sie, dabei strotzte es hier von Dreck. Niemand erledigte seine Aufgaben, so wie es Jonata gewohnt war. Mühselig fragte sie sich durch, bis ihr das Mädchen, das gestern vor ihr geflohen war, sagte, wo sie sich ihrer Bedürfnisse entledigen konnte und der Brunnen stand.
In der Nähe des Turmes fand sie den Brunnen, holte einen gefüllten Holzkübel aus der Tiefe und wusch sich das Gesicht. Das kühle Nass vertrieb die Müdigkeit und klärte ihren Kopf. Zwei Frauen trugen dreckige Wäsche auf ihren Armen und beäugten sie. Dabei tuschelten sie miteinander und huschten ängstlich an Jonata vorbei. Sie hatte kein freudiges Willkommen erwartet, aber diese Haltung ihr gegenüber war anstrengend.
Es hatte keinen Sinn über ihre Zukunft zu grübeln. Jonata musste von einem Augenblick zum nächsten planen. Das war besser, als über ihren Zustand oder die vielen Veränderungen in ihrem Leben nachzudenken.
Sie warf den Kübel zurück in die Tiefe, dann wischte sie ihre nassen Hände an ihrem verdreckten Kleid ab. Mit einer hastigen Bewegung ordnete sie ihre Haare. Der Ekel vor sich selbst war kaum zu ertragen. Unzufrieden kehrte Jonata in das Haus zurück. Eine andere Cotte besaß sie nicht, genauso wenig wie ein frisches Unterkleid. Woher sie es bekommen sollte, war ihr schleierhaft.
Unwillkürlich musste sie an ihre Schwester denken. Nicht das erste Mal fragte sie sich, wie es Roberta ging. Der Abschied auf Sunneck war kurz und flüchtig gewesen. Das blasse Gesicht und der verschreckte Ausdruck in Robertas Augen hatten sich in ihre Gedanken eingebrannt. Sicher fühlte sich ihre Schwester genauso einsam wie Jonata. Bisher war kaum ein Tag vergangen, dass sie sich nicht sahen oder miteinander sprachen. Sie waren immer zusammen gewesen. Jonata vermisste ihr Lachen. Ihre Fröhlichkeit war ansteckend, genauso wie ihre Lebensfreude. Jonata hatte mitansehen müssen, wie der Frohsinn ihrer Schwester verschwunden war.
Was hatte Roberta in der Zeit auf Sunneck alles ertragen müssen? Dabei hatte Jonata geglaubt, ihre Schwester sei längst in Sicherheit. Sie würde für sie und Hermine beten und Gott bitten, ihrer Schwester den Funken von Unbekümmertheit zurückzugeben, um die Schrecken auf Sunneck zu vergessen.
Genau das hoffte Jonata auch für sich selbst.
Vergessen, was geschehen war, nachdem die Mechtheimer sie überfallen hatten. Die Furcht vergessen, genauso wie die Pein und die Verzweiflung.
Ihr Magen begann zu grummeln. Wann hatte sie das letzte Mal gegessen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern.
Vor der Küche blieb sie stehen und atmete tief durch, um sich gegen die Feindseligkeit dahinter zu wappnen. Sie stieß die Tür auf und trat ein. Der Anblick erschütterte sie.
Solch einen Dreck und Durcheinander hatte Jonata noch nie gesehen. Die Mägde hatten schmutzige Finger und Flecken auf ihren Kleidern. Ihre verdreckten Schuhe versanken in Essensresten und sonstigem Abfall. Auf einer Arbeitsfläche lagen abgenagte Knochen und vergammelte Gemüsereste. Ein Holzeimer stand daneben, in dem sich der Schimmel ausbreitete.
»Was willst du hier?«, fuhr eine Frau sie an. Ihre Wangen waren gerötet, aber nicht von der harten Arbeit, sondern vom Wein. Das bestätigte die Fahne, die Jonata entgegenschlug. An der Vielzahl der verschiedenen Flecken auf der Schürze konnte Jonata ablesen, dass sie schon länger als drei Tage getragen wurde.
»Ich habe Hunger und möchte etwas essen«, verkündete Jonata.
»Ich habe noch Getreidebrei von heute Morgen.« Die Frau schaute in ein paar Holzschüsseln und zeigte achselzuckend auf eine von ihnen. Es sah aus, als hätte jemand nicht fertig gegessen. Ein Holzlöffel steckte noch im Brei, dessen Oberfläche angetrocknet war.
Ihr verging der Appetit. »Heute Morgen? Welche Tageszeit haben wir?«
»Mittag. Wollt Ihr was davon oder nicht?« Die Frau hielt ihr die Schale unter die Nase.
Jonata straffte ihre Schultern, um sich selbst zu stärken und so würdevoll wie möglich zu klingen. »Ich erwarte mehr Ehrerbietung, Frau. Ich bin die Tochter von …« Rasch besann sie sich: »Ich bin die Gemahlin von Ulrich von Mechtheim.«
Die Frau starrte sie entgeistert an. »Also ist es wahr? Ihr seid die Frau unseres Herrn Ulrich, Gott sei ihm gnädig.« Hastig bekreuzigte sie sich.
»Gott?« Jonata lächelte verbittert. »Ich hoffe, Ulrich schmort in der Hölle, und ja, ich bin es, und jetzt gib mir was Anständiges zu essen, denn ich werde unleidlich, wenn ich Hunger habe.«
Die Frau runzelte, überrascht über diese Äußerung, die Stirn, dann eilte sie in eine kleine Kammer nach nebenan. Kurze Zeit später kehrte sie mit Dörrobst zurück. Über dem kargen Feuer in der Kochstelle bereitete sie einen frischen Getreidebrei zu, den sie Jonata schließlich in einer Schüssel reichte.
Angewidert schob sie mit dem Fuß die Küchenreste beiseite und setzte sich auf einen Schemel. Gierig begann sie zu essen. »In dem Brei fehlt Honig.«
»Wir haben keinen », erwiderte die Frau und wischte sich die Hände an der dreckigen Schürze ab. »Schon lange nicht. Niemand kümmert sich darum.«
Jonata runzelte die Stirn. »Hier sieht es aus, als kümmert sich keiner um irgendetwas.«
Daraufhin blieb die Köchin vor ihr stehen. »Das geht Euch nichts an. Gunnar hat gesagt …«
»Gunnar?« Jonata ließ die Schüssel sinken.
Die Frau stemmte ihre Hände in die Hüften und verriet ihr nicht, was dieser Mann über den Gast erzählte. »Werdet Ihr lange hierbleiben?«
»Bis Ulrichs Kind auf der Welt ist«, antwortete Jonata mit vollem Mund, wohl wissend, dass Hermine, hätte sie sie so gesehen, schimpfen würde.
»Und dann? Geht Ihr dann wieder?«, hakte die Frau jetzt neugierig nach.
Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht.
Meine Zukunft ist so dunkel wie eine sternenlose Nacht, überlegte Jonata. Sollte Simon sterben, gäbe es niemanden, der sich um sie kümmert. Sie hatte Lorentz von Marbach den Rücken gekehrt. Selbst seine Zusicherung, sie immer zu lieben, würde irgendwann verblassen, und es bliebe nur noch Verachtung zurück.
Vermutlich würde sie in das Kloster nach Klarenthal gehen. Hinter diesen dicken Mauern würde sie ihren Frieden finden. Dieser Gedanke erschreckte sie, genauso wie der, länger als nötig hierzubleiben. Sie wollte keine Nonne werden und jeden Tag vor dem Altar knien. Hierbleiben wollte sie aber auch nicht.
»Hat Gunnar nichts darüber gesagt?«, fragte Jonata höhnisch.
»Gunnar hat gesagt, Ihr würdet …« Die Frau stockte verlegen.
Jonata horchte auf. »Was hat er gesagt? Los, sprich. Ich will es wissen.«
Die Frau gab sich einen Ruck und fuhr fort: »Er sagte, Ihr würdet Unheil über uns bringen.«
Nachdenklich tunkte Jonata den Löffel in den faden Brei. Selbst das Dörrobst machte den Geschmack nicht besser. Dieser Gunnar gab sich viel Mühe, sie unbeliebt zu machen.
»Er will nicht, dass wir mit Euch reden«, fuhr die Frau fort, obwohl Jonata gar nichts mehr darüber wissen wollte.
Zorn wallte in ihr auf. Dieser Kerl wollte ihr das Leben zur Hölle machen. Ehe sie sich weiter darüber aufregte, lenkte sie sich ab, indem sie sich in dem Raum umsah.
»Die Küche ist in keinem guten Zustand«, stellte sie fest. »Auch wenn du mit mir nicht sprechen darfst, sag mir, wer du bist. Wie ist dein Name?«
Die Frau fuhr mit einer Hand über das dünne, schüttere Haar. »Mein Name ist Hilde, und ich bin die Köchin. Es hat sich nie jemand darum gekümmert, wie die Küche aussieht, seitdem die Herrin gestorben ist.«
Jonata ließ die fast leere Schüssel sinken. »Welche Herrin?«
»Die Mutter von Ulrich und Simon.« Ein sanfter Ausdruck weichte die vergrämten Gesichtszüge der Köchin auf. »Gott hab sie selig. Unsere Herrin war eine wunderbare Person.«
Angewidert schnaubte Jonata und fragte sich, wie eine Frau gewesen sein mochte, die zwei solche Söhne geboren und aufgezogen hatte. Besonders einen wie Ulrich. Wie herzlos und grausam musste sie gewesen sein? Kein guter Mensch brachte solche Monster hervor.
Jonata zuckte zusammen, als ihr ein Gedanken durch den Kopf schoss. Genau wie sie selbst. Das Kind in ihr würde wie Ulrich werden. Sie würde einen Mörder und Peiniger zur Welt bringen. Das gleiche Blut, dachte sie beklommen.
Ein bitterer Geschmack ließ sie würgen.
»Sie hätte keine Kinder bekommen sollen«, sagte sie schließlich. Einmal hatte sie mit Gift vergeblich ihre eigene Schwangerschaft beenden wollen. Der Hass auf Ulrich war auf dieses ungeborene Etwas übergegangen. Sie hatte Simon schwören müssen, es nicht mehr zu versuchen. »Dann wäre uns allen viel erspart geblieben.«
Die Köchin schaute empört drein. »Ihr habt kein Recht, so über die Herrin zu sprechen.«
Jonata atmete tief durch und bekämpfte den Hass in sich. »Ich kannte sie nicht, das ist richtig. Ich kannte aber Ulrich.«
»Unsere Herrin war eine schöne und kluge Frau, aber …« Hilde drehte sich weg, so als wollte sie nicht weiter mit Jonata reden. Vermutlich erinnerte sie sich an Gunnars Anweisung.
Jonata wollte mehr erfahren. Wenn sie hier Fuß fassen wollte, musste sie das Vertrauen dieser Menschen gewinnen.
»Es tut mir leid, wenn ich deine Herrin beleidigt habe. Das war nicht meine Absicht.«
Schweigen.
»Hilde, ich bin neu hier. Ich bin …«
»Esst fertig und geht«, unterbrach die Köchin sie hastig. »Ich will mit Gunnar keinen Ärger bekommen.«
Jonata schob sich den letzten Löffel Getreidebrei in den Mund. »Du bekommst keinen Ärger. Ich werde Gunnar nicht verraten, dass du mir Essen gegeben und mit mir gesprochen hast.«
Hilde legte ein Messer auf den dreckigen Tisch und stellte einige Becher hin. Dabei machte sie einen geschäftigen Eindruck, als müsste sie unbedingt etwas vorbereiten. Nichts von ihren Handgriffen machte Sinn.
Jonata wollte nicht aufgeben. Die Köchin wirkte zugänglich und hegte keinen Groll gegen sie.
»Ich danke dir, dass du mir etwas zu essen gegeben hast«, sagte sie. »Du bist sehr nett, Hilde. Und ich würde mich freuen, wenn du mir noch etwas erzählen würdest. Ich kenne nichts von Mechtheim. Ich weiß nichts über euch. Ich kannte nur Ulrich …« Sie verstummte. »Er und Simon haben mein Heim überfallen und meinen Vater getötet. Erzählt Gunnar davon auch?«
Hilde schob die Becher in eine andere Anordnung, dann drehte sie sich zu ihr um. »Nein, das hat er nicht erwähnt.«
Natürlich. Er unterließ es, den anderen zu erzählen, was den Bewohnern auf Sunneck widerfahren war und was sie alles erdulden mussten. Er verschwieg, wie Ulrich mit allen umgegangen und wie dieses Kind entstanden war.
»Egal, was Gunnar behauptet. Ich bin nicht hier, um euch zu schaden. Ich erwarte Ulrichs Kind, und ich möchte, dass es Simon bald besser geht.«
Längst war der Brei aufgegessen und die Schale leer. Jonata blieb auf dem Schemel sitzen und beobachtete die Köchin, wie sie mit sich rang.
Schließlich gab Hilde ihrem Vorsatz, sie zu missachten auf. Sie nahm ihr die Schüssel aus der Hand und fragte: »Wollt Ihr noch einen Nachschlag?«
Jonata lächelte. »Nein. Sag, was ist aus der Herrin geworden?«
Hilde stellte die Schüssel auf den Tisch neben die Becher und sagte: »Sie starb auf grausame Weise. Sie war zu gutmütig und zu schwach.«
»Gutmütig?« Das konnte sie sich gar nicht vorstellen. Wie konnte eine Frau, die solch ein Ungeheuer aufzog, schwach und gutherzig sein?
Die Köchin verzog bedauernd das Gesicht. »Ihre Söhne waren …«
»Was tut Ihr hier?« Gunnars Stimme ließ sie beide gleichzeitig zusammenzucken.
Die Köchin fuhr herum. Sofort beschäftigte sie sich mit etwas anderem und tat so, als sei Jonata nicht anwesend.
Diese steckte sich gemächlich eine getrocknete Pflaume in den Mund. Der gefüllte Magen tat gut, verlieh ihr die Kraft, um sich gegen Gunnar zu wappnen. »Essen. Würde ich nichts zu mir nehmen, würde ich sterben und Ulrichs Kind dazu. Das wäre Euch als treuem Gefolgsmann sicher nicht recht, oder?« Sie forderte ihn mit ihrer Gelassenheit heraus.
Es war ihm anzusehen, dass er sich beherrschen musste. »Eure Weisheiten könnt Ihr Euch sparen.«
»Mir hat niemand gesagt, wann es Essen gibt, also musste ich es selbst finden.«
»Verschwindet hier, Jonata. Geht in Ulrichs Kammer. Hier habt Ihr nichts zu suchen.«
Sie erhob sich so schnell von dem Schemel, dass der umkippte und über den Boden schepperte. »Wenn ich mir diese Küche ansehe und den Hof und das Dorf, dann bin ich der Meinung, dass ich etwas zu tun hätte. Mechtheim ist ein heruntergekommener Misthaufen. Darauf war Ulrich so stolz?« Sie rümpfte die Nase. »Der stolze, mächtige Ulrich, der nichts konnte, außer alles zu zerstören. Statt fremde Burgen zu überfallen, hätte er sich um seine Leute und sein Heim kümmern sollen.«
Stille.
Die Köchin stand wie angewurzelt am Tisch. Ihr war anzusehen, dass sie ein Donnerwetter befürchtete.
Jonata war klar, dass noch nie jemand den Mut hatte diese Worte auszusprechen, sodass sie glaubte, Gunnars Zorn als eisigen Windhauch zu spüren. Der Mann schwankte kurz und rang sichtlich damit, sich nicht auf sie zu stürzen. Drohend hob er die Hände. »Mir täte es wohl, Euren Hals zu packen und zuzudrücken, Jonata. Da ich weiß, dass Simon mir die Hölle heiß machen würde, sollte ich Hand an Euch legen, wäre es besser, Ihr würdet mir aus den Augen gehen.«
»Euch kümmert doch das Wohl des Kindes, oder? Sollte Simon sterben, wird dies …«, sie zeigte auf ihren Bauch, »… Mechtheim erben.«
Gunnar starrte auf den Punkt, auf den sie gerade gedeutet hatte, und knirschte mit den Zähnen. »Mag sein, dennoch verlange ich von Euch, dass Ihr Euch hier so wenig wie möglich zeigt und Euch so benehmt, wie ich es von Euch erwarte.«
»Warum? Weil die Leute sonst feststellen könnten, dass ich nicht die böse Hexe bin, für die Ihr mich haltet?«
Kämpferisch stierten sie sich an.
»Was wollt Ihr, Jonata?«, zischte Gunnar. »Euch einzusperren, ist die einzige Lösung, damit Ihr Euer loses Mundwerk haltet und Euch nicht in Sachen einmischt, die Euch nichts angehen.«
»Ich will mich um Simon kümmern«, verkündete sie im herrischen Ton, seine Drohung ignorierend.
»Die Kräuterfrau kümmert sich schon um ihn.«
»Ich will das übernehmen. Ich habe ihn schon einmal geheilt.«
Er machte einen Schritt auf sie zu, um sie einzuschüchtern. Der Tisch zwischen ihnen hinderte ihn daran, sich auf Jonata zu stürzen. »Und ihn beinahe getötet«, fügte er hinzu.
Überrascht presste sie die Lippen aufeinander. Er wusste von ihrem Versuch, Simon etwas anzutun. Der Wunsch nach Vergeltung hatte damals ihre Skrupel beseitigt. Sie war kurz davor gewesen, Simons Leben ein Ende zu setzen.
»Glaubt Ihr, Simon hätte es mir nicht erzählt, dass Ihr ihn verbluten lassen wolltet?«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken erraten. Er machte einen weiteren Schritt vor und stieß gegen die Tischkante. »Ich weiß, zu was Ihr fähig seid, Jonata. Und Ihr tut gut daran, mir zu gehorchen. Geht in die Kammer zurück.«
»Ihr würdet mich da verrotten lassen«, widersprach sie kämpferisch. »Simon wird Euch dafür bestrafen.«
Gunnar verschränkte die Arme vor seiner Brust und wippte mit den Füßen. »Mag sein, aber solange habe ich meine Ruhe vor Euch.«
Jonata atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. »Lasst uns vernünftig reden, Gunnar. Lasst mich zu Simon. Ich tue alles, damit er gesund wird.«
Erst wirkte er uneinsichtig. Seinem Gesicht war sein innerer Kampf anzusehen. Die Kieferknochen mahlten aufeinander. In seinen Augen blitzte es. Drohend zeigte er mit einem Finger auf Jonata. »Die Heilerin wird ein Auge auf Euch haben. Solltet Ihr etwas tun, was Simon schadet, dann …«
»Ich verstehe«, unterbrach sie ihn beschwichtigend.
Die Genugtuung, diesmal gewonnen zu haben, besänftigte sie. Die Aussicht, endlich eine Aufgabe zu haben und sich nicht unnütz zu fühlen, verlieh ihr neue Kraft und Mut. Mit vorgestrecktem Kinn ging sie um den Tisch herum, um die Küche zu verlassen.
Ehe sie an Gunnar vorbeigehen konnte, packte er sie am Arm und hielt sie zurück. »Ich warne Euch, Jonata. Ihr könnt versuchen, die anderen mit Eurer Freundlichkeit zu blenden, aber ich werde immer wachsam sein. Und wenn Ihr irgendetwas tut, das Simon oder Mechtheim schadet, werde ich es Euch spüren lassen.«
Nach seinen Worten ließ er sie los und trat zur Seite, damit sie vorbeigehen konnte. Ohne eine Erwiderung flüchtete Jonata aus der Küche. Ihre Glieder zitterten heftig. Ihr war klar, dass Gunnar ihr niemals trauen und ihr das Leben schwer machen würde. Vor diesem Mann musste sie sich in Acht nehmen. Dieses neue Leben würde nicht einfach werden.
Doch was hatte sie von Mechtheim erwartet?

Burg Stein, Nassau

Kaum war die Sonne über der bewaldeten Anhöhe aufgetaucht, erwärmte sich die Luft. Kein Wölkchen ließ sich blicken, um die Menschen für einen Augenblick von der Hitze zu erlösen.
Lorentz von Marbach brachte am Ufer der Lahn sein Pferd zum Stehen und betrachtete das Tal. Ihm gegenüber auf der anderen Flussseite am Fuß des Berges, lag das von einem schützenden Wall eingeschlossene Dorf Nassau. Die alte Fernstraße verlief über eine einfache Holzbrücke durch das Lahntal Richtung Rhein. Für diesen Monat war es ein ungewöhnlich heißer Tag gewesen. Mit dem Abend kam endlich die kühle Erlösung.
Der Stammsitz der Nassauer thronte hoch oben auf dem Berg. Auf halber Strecke zur Anhöhe, am nördlichen Hang, wo der Mühlbach in die Lahn mündete, erhob sich Burg Stein. Lorentz ahnte, woher sie ihren Namen hatte, denn das Gemäuer schien förmlich aus dem Felsen zu wachsen. Der helle Putz leuchtete im Sonnenlicht. Dort lebte ein Gefolgsmann der Nassauer, Gerald von Stein. Jeder, der zum Grafen hinaufwollte, musste zuerst an dieser Vorburg vorbei. Zwischen einsamen, kargen Büschen, hinter denen sich kein Angreifer verstecken konnte, führte der Weg hinauf. Türme und Erker zierten die Vorburg, auf dessen höchstem Turm die Flagge mit dem Wappen der Familie von Stein flatterte. Eine rote Rose mit blauem Butzen, in Gold gehalten.
Der mächtige Bau auf dem Gipfel dagegen war beeindruckend. Innerhalb des Mauerrings stand der bewohnte Bergfried, in eindrucksvoller Größe, von dessen Spitze das Wappen winkte. In der nördlichen Ecke der Wehrmauer stand der weißgetünchte Palas, in dem sich der große Versammlungsraum befand.
Durch den staufischen Kaiser gestärkt, reichte die Herrschaft des Nassauer Grafen weit über die Lahn und den Rhein hinaus. Heinrich II. hatte über den Sturm auf seine kleine Stadt am Rhein hinweggesehen und trotzte weiterhin dem Papst und seinem persönlichen Erzfeind Siegfried III.. Ein Feind, den Lorentz zwar nicht fürchtete, dem er aber respektvoll aus dem Weg ging.
Lorentz hatte vor Kurzem Roberta und deren ehemalige Kinderfrau Hermine nach Wiesbaden gebracht, dann war er nach Nassau aufgebrochen, um dort ein Versteck zu finden. Als ehemaliger Knappe wurde ihm der Schutz gewährt. Seit seinem Eintreffen auf Burg Stein fühlte sich Lorentz nutzlos und lungerte oft bei den Stallungen herum. Er hatte sich von den Verletzungen, die er im Kampf um Sunneck davongetragen hatte, noch nicht ganz erholt. Martin und Linus, die ihm treu gefolgt waren, hatten sich in Geralds Dienste gestellt. Erst hatten sie Lorentz die Treue schwören wollen, aber außer seinem Rittertitel war ihm nichts geblieben. Nicht einmal einen Knappen konnte er sich leisten.
Für Lorentz gab es nirgendwo einen Platz. Er war sich sicher, dass der Erzbischof von Mainz nach ihm suchen ließ. Während des Überfalls auf Wiesbaden hatte Lorentz dessen Befehle missachtet, sich ihm sogar später noch einmal widersetzt und Burg Sunneck angegriffen. Reue erfüllte ihn noch immer nicht. Er hatte Rache nehmen und seine Verlobte befreien wollen. Beides war ihm nicht zufriedenstellend gelungen.
Die Sonne im Gesicht beobachtete er seine Kameraden, die den Weg hinunterkamen. Gerald von Stein wie auch Walram, der Sohn des Grafen von Nassau, befürchteten weitere Übergriffe auf ihre Ländereien und schickten regelmäßig Dienstmannen los, um nach dem Rechten zu sehen.
Heinrich II. blieb an der Seite des jungen Königs Konrad IV., zu dem er während der langwierigen politischen Auseinandersetzungen zurückgekehrt war. Seine ehemaligen Verbündeten hatten darin einen Verrat gesehen. Das war auch der Grund, warum der Erzbischof von Mainz mit seinen Brüdern, den Grafen von Eppstein, die Stadt Wiesbaden überfallen hatte.
Wenn Siegfried schon bei einem mächtigen Mann wie dem Grafen von Nassau zu solchen Mitteln griff, was würde er tun, wenn er seinen einstigen Herold in die Finger bekam?
Lorentz hatte mit Walram, einem Sohn von Heinrich II. ein ernstes Gespräch geführt. Er wollte den Nassauern seine Dienste anbieten. Der Grafensohn befürchtete einen Bruch zwischen ihnen und Eppstein, sollte Lorentz sich dem Hause Nassau anschließen. Walram wollte unbedingt einen weiteren Zusammenstoß vermeiden. Solange Lorentz vom Erzbischof gesucht wurde, blieb es bei dem Wunsch ein Vasall des Grafen zu werden.
Lorentz atmete tief durch und trieb sein Pferd an.
Kurz nach seiner Ankunft in Nassau hatte er seinen zerrissenen Waffenrock abgelegt. Seitdem trug er die schlichte Kleidung eines Bauern. Er hatte mit Linus und Martin ein beengtes Quartier auf Burg Stein bezogen und hielt sich seitdem unauffällig im Hintergrund. Den ganzen Tag untätig zu sein, würde ihn bald in den Wahnsinn treiben.
Lorentz erreichte den Burghof und zügelte sein Pferd.
Gerald von Stein trat aus dem Palais, erblickte Lorentz und ging auf ihn zu. »Eurem Gesicht ist anzusehen, dass Ihr Euch langweilt.«
»Ich bin es nicht gewohnt, den ganzen Tag herumzusitzen und nichts zu tun.«
Gerald von Stein grinste. Sein leicht ergrautes Haar stand im Gegensatz zu seiner Kraft, die er mit seinen Worten wie auch mit seinen Bewegungen ausstrahlte. Sein Ruf aufbrausend zu sein, eilte ihm voraus. Ihn von einem Feldzug gegen Mechtheim abzuhalten, hatte Lorentz große Mühe gekostet. Er wollte Jonata nicht in Gefahr bringen. Diese Mechtheimer waren zu allem fähig und würden nicht zögern, ihr etwas anzutun.
»Für einen ehemaligen Herold muss es die Hölle sein«, stellte Gerald fest.
»Der Palast des Erzbischofs von Mainz wäre jetzt für mich die Hölle. Deshalb nehme ich gerne Nichtstun in Kauf.«
»Über Siegfried wird erzählt, dass er Vergehen niemals vergisst«, sagte Gerald.
Der Erzbischof verfolgte seine eigenen Pläne, und wer sich nicht daranhielt oder sie gar durchkreuzte, hatte nichts mehr zu lachen.
Gerald fuhr mit einer Hand über seinen Bart. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Eure Verlobte mit diesem Raubritter gegangen ist.«
Das verstand er selbst nicht. Jeder Gedanke daran zerriss ihn ein Stück mehr. Wie ein Narr hatte er dagestanden und ansehen müssen, wie sie zwischen seinen Feinden fortgegangen war. Es hatte ihn in den Fingern gejuckt, ihre Bitte zu missachten.
»Eure Verlobte ist ein einfältiges Ding«, schimpfte Gerald. »Sie ist dem Untergang geweiht, seitdem sie den Mechtheimern in die Hände fiel.«
»Jonata ist nicht mehr meine Verlobte«, erwiderte Lorentz. Seine eigenen Worte machten ihn noch verdrossener. Es auszusprechen, machte es noch endgültiger.
»Holt sie Euch zurück«, riet ihm der Ritter. »Kein Weib sollte einen Mann so verhöhnen.«
»Ulrich war ihr Gemahl und …« Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er verteidigte ihre Entscheidung und ihr Verhalten, dabei sah er es genauso wie Gerald. Den nächsten Satz auszusprechen, kostete ihn Überwindung. »Sie trägt sein Kind unter ihrem Herzen.«
Die Nachricht darüber hatte ihn so bestürzt, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Für ihn war es schon schlimm genug, dass Ulrich sie zu seiner Frau genommen hatte. Dass sie jetzt auch noch seine Brut in sich trug, war für ihn schier unfassbar.
Gerald sah ihn überrascht an. »So. Das wusste ich nicht. Ulrich hat also einen Nachkommen.« Er wandte sich ab und ließ Lorentz mit seinen düsteren Gedanken allein.
Wie oft überlegte er, was er hätte anders machen oder sagen können, um Jonata von ihrem Vorhaben abzubringen. Welche Worte wären nötig gewesen, damit sie Vernunft annahm, statt ihn zurückzulassen und mit den Feinden zu gehen? Oder waren es weniger Worte, die er hätte nutzen sollen, sondern eher Taten? Hätte er sie daran erinnern sollen, was einmal zwischen ihnen war? Er wäre für sie gestorben. Er hatte alles für sie geopfert. Und Jonata? Sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich an den Hals des nächsten Teufels zu werfen. Bis heute wollte er nicht wahrhaben, dass sie etwas für diesen Simon empfand. Immer wieder redete er sich ein, dass etwas anderes dahintersteckte. Doch es änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn abgewiesen hatte. Damit hatte sie ihn zutiefst gedemütigt und gekränkt.
Würde Jonata heute vor ihm stehen, er würde sie beschimpfen, sie anschreien und ihr Vorhaltungen machen. Und dann würde er sie in die Arme nehmen, sie küssen und ihr verzeihen.

Mechtheim

Die Tage zogen sich dahin. Jonata kümmerte sich unermüdlich um Simon. Die Heilerin verschwand aus der Kammer, sobald sie eintrat. Nachdem sie an diesem Morgen Simons Wunden neu verbunden hatte, erkundete sie, trotz Gunnars Verbot, das Haus und betrat im oberen Stockwerk den Versammlungsraum. Hier sah es genauso schlimm aus wie in der Küche und dem Rest des Hauses. Die alten Binsen stanken und der Kamin war seit langer Zeit nicht gesäubert worden. Die Asche quoll aus ihm heraus und hatte sich über den Boden verteilt. Von den ekelerregenden Haufen in den Ecken, die von den Hunden stammten, breitete sich ein unangenehmer Gestank aus. Angewidert drehte sich Jonata um.