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2001 erschien in der international wohl bedeutendsten medizinischen Zeitschrift "The Lancet" ein aufsehenerregender Artikel. Darin zweifelt der Kardiologe Pim van Lommel die herkömmliche Auffassung von Leben und Tod an. Seine These: Das Bewusstsein ist auch nach neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung nicht im Körper lokalisierbar und es hört nach dem Tod nicht auf zu existieren. Van Lommels "aufsehenerregende Studie" (3sat/Kulturzeit) beruht auf internationalen Langzeituntersuchungen und Berichten tausender Patienten, die Nahtoderfahrungen erlebten. Sie ist damit wissenschaftlich vielfach abgestützt!
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Seitenzahl: 654
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Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Erläuterung wichtiger Begriffe
Anmerkungen
Quellen
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Pim van Lommel
Endloses Bewusstsein
Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung
Aus dem Niederländischen übersetzt von Bärbel Jänicke
Patmos
1. Einleitung
Wie es begann | (Nah-)Tod im Krankenhaus | Fragen zu Hirnfunktionen und Bewusstsein | Gibt es Bewusstsein nach dem Tod? | Die Rolle der Wissenschaft in der Bewusstseinsforschung | Die Notwendigkeit eines Neuansatzes | Wissenschaft heißt Fragen stellen aus einer offenen Geisteshaltung heraus | Endloses Bewusstsein | Die Nahtoderfahrung: Eine Brücke zwischen Wissenschaft und Spiritualität | Der Aufbau dieses Buches
2. Eine Nahtoderfahrung und das Leben danach
3. Was ist eine Nahtoderfahrung?
Definition einer Nahtoderfahrung | Situationen, in denen eine NTE erlebt werden kann | Wie oft kommt es zu einer NTE? | Einteilung einer NTE in Elemente nach Moody | Andere Einteilungen einer NTE | Erläuterung der Unterschiede zwischen retrospektiven und prospektiven wissenschaftlichen Studien | Die Tiefe einer Erfahrung | Die zwölf Elemente einer NTE, mit anschaulichen Beispielen | Empathische NTE | Fazit
4. Veränderungen durch Nahtoderfahrungen
Einleitung | Worin bestehen die Folgen einer NTE? | Studien zu Veränderungsprozessen nach einer NTE | Faktoren, die den Veränderungsprozess beeinflussen | Die Integration der Erfahrung | Positive und negative Aspekte der Veränderungsprozesse | Überblick über die verschiedenartigen Veränderungen | Psychische Probleme nach einer NTE | Der Einfluss der Zeit auf Veränderungsprozesse bei Menschen mit und ohne NTE | Fazit
5. Nahtoderfahrungen bei Kindern
Einleitung | Wissenschaftliche Forschung zur NTE bei Kindern | Situationen, in denen Kinder eine NTE erleben | Inhalte von Nahtoderfahrungen bei Kindern | Veränderungen nach einer NTE im Kindesalter | Spontanes Verlassen des Körpers oder außerkörperliche Erfahrungen (AKE) | Beispiel einer NTE im Kindesalter
6. Forschung zu Nahtoderfahrungen
Einleitung | Entwicklung der wissenschaftlichen Forschung zum Phänomen Nahtoderfahrung | Wie oft kommt es zu einer NTE? | Der Einfluss des Alters | Wer erlebt eine NTE? | Situationen, in denen eine NTE auftreten kann | Vorläufiges Fazit zum Auftreten von Nahtoderfahrungen | Theorien über die Ursache und den Inhalt einer NTE | Physiologische Theorien | Psychologische Theorien | Geburtserinnerung | Halluzinationen | Träume | Einnahme von Medikamenten | Fazit
7. Die niederländische Studie zu Nahtoderfahrungen
Einleitung | Die Konzeption der niederländischen prospektiven Studie | Die Organisation | Wie oft sterben Patienten an einem Herzstillstand? | Die Langzeitstudie | Der Aufbau der Studie | Das erste Interview | Ein verborgenes Zeichen – nur sichtbar während einer außerkörperlichen Erfahrung | Der Aufbau der Langzeitstudie | Befunde der prospektiven Studie | Resultate der prospektiven Studie | Schlussfolgerungen aus der prospektiven Studie | Befunde der Langzeitstudie | Kommentar zur niederländischen Studie über NTE | Vergleich mit prospektiven Studien zur NTE in Amerika und Großbritannien | Fazit
8. Was geschieht im Gehirn, wenn das Herz plötzlich stehen bleibt?
Einleitung | Das Paradox eines klaren Bewusstseins während eines Ausfalls der Gehirnfunktionen | Der Ausfall der Gehirnaktivität während eines Herzstillstands ist messbar | Was geschieht, wenn das Herz stehen bleibt? | Der Unterschied zwischen einem temporären und einem dauerhaften Ausfall | Was geschieht während einer Reanimation? | Temporäre oder dauerhafte Schädigung des Gehirns nach einem Herzstillstand | Die NTE von Pamela Reynolds | Fazit
9. Was wissen wir von der Funktion des Gehirns?
Einleitung | Auf den Spuren des Bewusstseins | Die Zuverlässigkeit der heutigen Gehirnforschung | Unbewiesene Hypothesen | Neuronen und elektromagnetische Felder | Der Einfluss elektromagnetischer Aktivität auf die Gehirntätigkeit | Gehirn, Informationsspeicherkapazität und Gedächtnis | Neuroplastizität | Zusammenfassung zur Neuroplastizität | Unser Gehirn ist kein Computer | Fazit
10. Quantenphysik und Bewusstsein
Einleitung | Ein neuer Blick auf einige Elemente einer NTE | Kurze Zusammenfassung dieses Kapitels | Unser klassisches Weltbild | Komplementarität von Teilchen und Wellen | Verschränkung | Nicht-Lokalität | Das neue Weltbild auf Basis der Quantenphysik | Was ist eigentlich eine Welle? | Der Begriff Feld | Das Hologramm | Elektromagnetische Felder | Felder, Frequenzen und Informationen | Der nicht-lokale Raum der Wahrscheinlichkeitswellen | Das Bewusstsein und der nicht-lokale Raum | Die Komplementarität des nicht-lokalen Raumes | Feldtheorien in lebenden Systemen | Gilt Quantenphysik auch für lebende Systeme? | Quantentheorie, Selbstorganisation und Bewusstsein | Fazit
11. Gehirn und Bewusstsein
Einleitung | Der materialistische Ansatz | Nahtoderfahrung, Bewusstsein und Gehirn | Die Kontinuität des Bewusstseins | Neue Konzepte in der Wissenschaft | Ein neuer Blick auf Bewusstsein und Gehirn | Nicht-lokales Bewusstsein im nicht-lokalen Raum | Komplementaritätstheorie | Vergleich mit der globalen Kommunikation | Die nicht-lokale Verschränkung des Bewusstseins ist wissenschaftlich bewiesen | Die Schnittstelle zwischen nicht-lokalem Bewusstsein und Gehirn | Vorläufige Zusammenfassung | Mögliche Erklärungsansätze zum Phänomen des Übergangs | Fazit
12. Die Kontinuität des sich wandelnden Körpers
Einleitung | DNA | Kurze Zusammenfassung dieses Kapitels | Was genau ist die DNA? | Epigenetik | Die mögliche Funktion der Junk-DNA | Biophotonen | Die DNA als Informationsquelle in jeder Zelle | Nicht-lokale Informationsübertragung durch die DNA | DNA, Vererbung und Bewusstsein | Fernkommunikation mit Zellen | Transplantiertes Gedächtnis | Fazit
13. Endloses Bewusstsein
Einleitung | Unser Bewusstsein und die »Wirklichkeit« | Individuelle und gemeinschaftliche Aspekte des Bewusstseins | Transpersonale Aspekte des Bewusstseins | Erfahrungen eines veränderten Bewusstseins | Nicht-lokales Bewusstsein | Eine NTE ist ein Aspekt des endlosen Bewusstseins | Andere Formen nicht-lokalen Bewusstseins | Glaube an eine Form persönlichen Weiterlebens | Die Kontinuität des Bewusstseins nach dem körperlichen Tod | Andere Formen nicht-lokalen Informationsaustauschs | Fazit
14. Es gibt nichts Neues unter der Sonne
Einleitung | Nichts Neues | Mystische Erfahrungen als Quelle der Todeserkenntnis | Weltreligionen und mystische Erfahrungen | Hinduismus | Der tibetanische Buddhismus | Die Philosophie des antiken Griechenland | Die alte jüdische Mystik | Das Christentum | Der Islam | Einige historische Darstellungen von Nahtoderfahrungen | Fazit
15. Häufig gestellte Fragen
Einleitung | Wissenschaftlicher Widerstand gegen die NTE | Reinkarnation | Organspende: Worum es »eigentlich« geht? | Fazit
16. Die praktische Bedeutung der NTE
Hilfe nach einer NTE | NTE im Krankenhaus | Missglückte Selbsttötung und suizidgefährdete Patienten | Stationen für terminale und palliative Pflege | Erfahrungen über den Tod hinaus | Einstellungen zum Tod im Gesundheitswesen | Aktive Sterbehilfe und Hilfe zur Selbsttötung | Fazit
17. Epilog
Nahtoderfahrung und Wissenschaft | Nahtoderfahrung und Gesundheitswesen | Nahtoderfahrung und unser Menschenbild
Danksagung
Erläuterung wichtiger Begriffe
Anmerkungen
Quellen
Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, alle Theorie gründet auf Wahrnehmung, eine einzige Tatsache kann ein ganzes System stürzen.1
ARZT UND AUTOR FREDERIK VAN EEDEN, 1860–1932
Wir schreiben das Jahr 1969. Auf der Herzintensivstation wird plötzlich Alarm ausgelöst. Das Elektrokardiogramm eines Herzinfarktpatienten zeigt auf dem Monitor eine völlig gerade Linie. Er hat einen Herzstillstand. Zwei Pflegekräfte eilen zu dem mittlerweile nicht mehr ansprechbaren Patienten und schließen schnell die Vorhänge um sein Bett. Eine beginnt mit externer Herzmassage, die andere schiebt dem bewusstlosen Patienten ein kurzes Röhrchen in den Mund und verabreicht ihm über eine Maske, die sie ihm über den Mund legt, zusätzlichen Sauerstoff. Eine dritte Pflegekraft eilt mit dem Reanimationswagen herbei, auf dem ein Defibrillator steht. Er wird aufgeladen, die Elektroden werden mit Gel bestrichen und die Brust des Patienten wird entblößt. Alle nehmen die Hände vom Bett und lassen den Patienten los, dann wird er defibrilliert – er erhält einen Stromstoß auf die Brust. Keine Reaktion. Herzmassage und externe Beatmung werden wieder aufgenommen und in Absprache mit dem Arzt wird der Infusion ein weiteres Medikament beigegeben. Dann wird der Patient ein weiteres Mal defibrilliert. Nun baut sich sein Herzrhythmus wieder auf und nach cirka einer Minute erwacht er aus seiner etwa vierminütigen Bewusstlosigkeit – zur großen Erleichterung der Pflegekräfte und des diensthabenden Arztes. Der diensthabende Arzt war ich. Ich hatte in diesem Jahr meine Ausbildung zum Kardiologen begonnen.
Nach der gelungenen Reanimation waren alle zufrieden, bis auf den Patienten. Obwohl man ihn erfolgreich wiederbelebt hatte, war er zum Erstaunen aller sehr enttäuscht. Er erzählte von einem Tunnel, von Farben, einem Licht, einer wunderschönen Landschaft und von Musik. Er war aufgewühlt. Den Begriff Nahtoderfahrung (NTE) gab es damals noch nicht, und bis dahin hatte ich auch noch nie gehört, dass sich jemand an die Zeit seines Herzstillstandes erinnern konnte. In meinem Studium hatte ich gelernt, dass so etwas völlig unmöglich ist: Bewusstlose haben kein Bewusstseinserleben. Das gilt für Patienten mit Herzstillstand ebenso wie für Komapatienten. Denn während eines Herzstillstandes ist ein Patient bewusstlos, er atmet nicht mehr und er hat weder messbaren Puls noch Blutdruck. Auch beim Ausfall aller Hirnfunktionen kann man keine Bewusstseinserlebnisse haben und sich daher auch nicht an solche Momente erinnern.
1966, als sich externe Herzmassage und zusätzliche Sauerstoffzufuhr in Kombination mit externer Defibrillation (der Verabreichung eines Stromstoßes) als neue, effektive Behandlungsmethoden für Patienten mit einem Herzstillstand erwiesen hatten, wurden die ersten Herzintensivstationen in den Niederlanden eingerichtet. Für Herzinfarktpatienten ist Herzstillstand nach wie vor die häufigste Todesursache. Jährlich sterben in den Niederlanden etwa 40000 Menschen daran. Seit es die modernen Möglichkeiten der Reanimation gibt und Herzintensivstationen eingerichtet wurden, hat sich die Sterblichkeitsrate bei Herzinfarkten deutlich verringert. Heutzutage ist es längst keine Seltenheit mehr, dass Patienten einen Herzstillstand dank einer Reanimation überleben.
Als Kardiologe wurde ich nahezu täglich mit dem Thema Tod konfrontiert. Als Arzt ist man fast dazu gezwungen, sich über alle möglichen emotionalen, philosophischen und physiologischen Aspekte von Leben und Tod Gedanken zu machen. Dennoch beginnt man oft erst dann ernsthaft darüber nachzudenken, wenn man in seinem persönlichen Umfeld von dem Tod eines Familienmitglieds betroffen ist. In meinem Fall handelte es sich um den Tod meiner 62-jährigen Mutter und meines 41 Jahre alten Bruders.
Ich hatte den 1969 erfolgreich reanimierten Patienten mit seinen Erinnerungen an die Zeit seines Herzstillstands nie vergessen, mich aber seit der Zeit auch nicht mehr damit beschäftigt. Bis ich 1986 George Ritchies Buch über Nahtoderfahrungen mit dem Titel Rückkehr von morgen las.2 Ritchie hatte 1943 als Medizinstudent eine doppelseitige Lungenentzündung und war einige Zeit klinisch tot. Damals wurden Antibiotika wie Penicillin noch nicht in dem Umfang wie heute verordnet. Nach einer Krankheitsphase mit sehr hohem Fieber, die mit extremer Atemnot einherging, starb er: Seine Atmung setzte aus und er hatte keinen fühlbaren Puls mehr. Ein Arzt erklärte ihn für tot und bedeckte ihn mit einem Laken. Einer der Krankenpfleger war vom Tod dieses Medizinstudenten jedoch so erschüttert, dass er den diensthabenden Arzt überredete, Ritchie auf Herzhöhe eine Adrenalininjektion in den Brustraum zu verabreichen – eine damals sicher ungewöhnliche Maßnahme. Nachdem George Ritchie etwa neun Minuten »tot« war, kam er zum großen Erstaunen von Arzt und Pfleger wieder zu Bewusstsein. Es zeigte sich, dass er während seiner Bewusstlosigkeit, in der Zeit, in der man ihn für tot erklärt hatte, eine sehr umfassende Erfahrung gemacht hatte. Zahlreiche Details waren ihm in Erinnerung geblieben. Zunächst war es ihm weder möglich noch brachte er den Mut auf, überhaupt darüber zu sprechen. Später beschrieb er seine Erlebnisse während dieser neun Minuten in einem Buch. Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, schilderte er seine Erfahrungen in den Vorlesungen, die er als Psychiater vor Medizinstudenten hielt. Einer der anwesenden Studenten war Raymond Moody. Er fand diese Schilderungen so faszinierend, dass er begann, sich eingehender mit Erlebnissen in gesundheitlich kritischen Situationen zu beschäftigen. Mit seinem Buch Leben nach dem Tod schrieb er 1975 einen Weltbestseller.3 Darin gebraucht Moody zum ersten Mal den Begriff Near-Death Experience (NDE), der im Deutschen mit Nahtoderfahrung (NTE) übersetzt wird.
Nachdem ich George Ritchies Buch gelesen hatte, ließ mich die Frage nicht mehr los, wie bei Patienten während eines Herzstillstands ein Bewusstseinserleben möglich war und ob so etwas häufiger vorkam. Daher begann ich 1986 systematisch alle Patienten, die je in der Poliklinik, in der ich tätig war, reanimiert worden waren, zu befragen, ob sie Erinnerungen an die Zeit ihres Herzstillstands hätten. Und ich war nicht wenig erstaunt, dass mir von fünfzig Patienten, die in der Vergangenheit einen Herzstillstand überstanden hatten, zwölf von derartigen Nahtoderfahrungen berichteten. Bis dahin hatte ich, außer in diesem ersten Fall im Jahr 1969, nie wieder von solchen Erfahrungen gehört. Aber ich hatte auch nicht danach gefragt, weil ich dafür einfach nicht aufgeschlossen war. Doch die zahlreichen Berichte, die ich nun zu hören bekam, weckten meine Neugier. Denn schließlich ist es nach dem heutigen Stand der Medizin nicht möglich, Bewusstsein zu erfahren, wenn das Herz nicht mehr schlägt.
Während eines Herzstillstands ist ein Patient klinisch tot. Als klinischen Tod bezeichnet man eine Phase der Bewusstlosigkeit, die auf eine unzureichende Blutversorgung des Gehirns bei Kreislaufversagen und/oder Atemstillstand zurückgeht. Wenn man in einer solchen Situation nicht innerhalb von fünf bis zehn Minuten mit der Reanimation beginnt, kommt es zu einer irreparablen Schädigung der Gehirnzellen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient stirbt, ist selbst dann sehr hoch, wenn durch eine spätere Wiederbelebung der Herzrhythmus wieder in Gang gebracht werden kann.
Für mich begann alles mit Neugier. Damit, dass ich Fragen stellte und nach einer möglichen Erklärung für objektive Tatbestände und subjektive Erfahrungen suchte. Das Phänomen Nahtoderfahrung warf für mich eine Reihe grundsätzlicher Fragen auf. Eine NTE ist ein spezieller Bewusstseinszustand, der während eines drohenden oder wirklichen körperlichen Todes oder bei Todesangst auftritt. Wie und warum kommt es zu einer Nahtoderfahrung? Wie entstehen ihre Inhalte? Warum bewirken sie derartig tief greifende Veränderungen im Leben der Betroffenen? Mit einigen Antworten auf diese Fragen konnte ich mich nicht zufriedengeben, weil sie mir lückenhaft, falsch oder unbegründet erschienen. Ich wurde in einer akademischen Welt ausgebildet, in der man mich lehrte, dass es für alles eine reduktionistische und materialistische Erklärung gibt. Ein Standpunkt, dem ich bis dahin diskussionslos zugestimmt hatte.
Durch meine tiefer gehende Beschäftigung mit den persönlichen, psychologischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aspekten von Nahtoderfahrungen gewannen auch andere, grundlegendere Fragen für mich an Bedeutung: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Worin liegt der Ursprung meines Lebens? Wann und wie wird mein Leben enden? Und was bedeutet der Tod für mich? Geht mein Leben nach dem Tod noch weiter? Zu allen Zeiten, in allen Kulturen und in jeder Lebensphase – bei der Geburt eines Kindes oder Enkelkindes, bei der Konfrontation mit dem Sterben oder in einer ernsten Krise – stellt man sich diese Fragen zum Wunder der Geburt und dem Mysterium des Todes immer wieder neu. Aber nur selten erhält man darauf eine befriedigende Antwort. Was immer sich in unserem Leben ereignet, wie wir uns auch entwickeln, welche Glücksfälle und Widrigkeiten uns im Laufe unseres Lebens auch begegnen, wie viel Ruhm, Macht und Reichtum wir auch erlangen, der Tod bleibt immer gegenwärtig. Alles, was wir um uns anhäufen, wird in nicht allzu ferner Zukunft verloren gehen. Geburt und Tod sind Realitäten, die sich in jeder Sekunde unseres Lebens ereignen, denn unser Körper ist einem ständigen Prozess von Werden und Vergehen unterworfen.
Manche Wissenschaftler glauben, es gäbe keine unlösbaren, sondern nur falsch gestellte Fragen. 2005 erschien zum Jubiläum der Zeitschrift Science eine Sonderausgabe mit 125 Fragen, auf die die Wissenschaft bisher noch keine Antworten gefunden hat.4 Auf die wichtigste unbeantwortete Frage: Woraus besteht das Universum? folgte direkt: Welche biologische Grundlage hat das Bewusstsein? Ich würde diese zweite Frage anders formulieren, nämlich: Hat das Bewusstsein überhaupt eine biologische Grundlage? Darüber hinaus können wir in unserem Bewusstsein zeitliche von zeitlosen Aspekten unterscheiden. Eine weitere Frage wäre demnach: Können wir denn von einem Anfang unseres Bewusstseins sprechen? Und gelangt unser Bewusstsein je an ein Ende?
Diese Fragen können wir nur dann beantworten, wenn wir eine bessere Einsicht in den Zusammenhang von Hirnfunktionen und Bewusstsein erlangen. Dazu müssen wir zunächst untersuchen, ob es Hinweise für ein Bewusstseinserleben im Schlaf, im Koma, während eines Hirntods oder eines klinischen Tods, im Sterbeprozess und schließlich nach dem endgültigen Ableben gibt. Wenn sich diese Fragen positiv beantworten lassen, müssen wir nach wissenschaftlichen Erklärungen dafür suchen, warum dies möglich ist und wir müssen den Zusammenhang zwischen Hirnfunktionen und Bewusstsein in diesen verschiedenartigen Situationen näher betrachten. Das führt zu einer ganzen Reihe weiterer Fragen, die in diesem Buch zur Sprache kommen werden:
Wo bin ich, wenn ich schlafe? Kann mir im Schlaf noch etwas bewusst sein?
Offensichtlich kann man Bewusstsein manchmal auch während einer Narkose erleben. Wie lässt es sich erklären, dass einige Patienten im Nachhinein genau schildern können, was während einer Narkose – meist dann, wenn es bei ihrer Operation zu Komplikationen kam – gesagt oder getan wurde?
Kann man bei einem Patienten, der im Koma liegt, noch von Bewusstsein sprechen? Ein in der Zeitschrift
Science
erschienener Artikel befasste sich mit der Frage, ob sich Bewusstsein bei Patienten nachweisen lasse, die sich im vegetativen Status befinden.
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Dies ist eine Form des Komas, in der Spontanatmung und Gehirnstammreflexe noch funktionieren. Bei einer Gehirnuntersuchung ließen sich bei einer betroffenen Patientin als Reaktion auf die mündlich formulierten Instruktionen, sich bestimmte Tätigkeiten wie Tennisspielen oder einen Gang durch das eigene Haus vorzustellen, die gleichen Veränderungen nachweisen wie bei gesunden Probanden. Dies lässt sich nur so interpretieren, dass die Patientin die mündlichen Aufforderungen nicht nur verstanden, sondern ihnen auch Folge geleistet hat, trotz ihres Zustandes. Die Untersuchung bewies, dass diese Patientin sich im Koma sowohl ihrer selbst als auch ihrer Umgebung bewusst war. Die Schädigung ihres Gehirns hinderte sie aber daran, ihrer Außenwelt ihre Gefühle und Gedanken unmittelbar mitzuteilen. Auch Alison Korthals Altes beschreibt in ihrem Buch
Uit coma,
wie sie ihre Familie und das Personal auf der Intensivstation wahrnahm, während sie nach einem schweren Verkehrsunfall drei Wochen im Koma lag.
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Kann man einer Person, die für hirntot erklärt wird, noch Bewusstsein zusprechen? In seinem Buch
Droomvlucht in coma
beschreibt Jan Kerkhoffs, was er alles bewusst wahrgenommen hat, nachdem er von Neurologen aufgrund von Komplikationen nach einer Gehirnoperation für hirntot erklärt worden war.
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Nur der Entscheidung seiner Familie gegen eine Organspende ist es zu verdanken, dass er in seinem Buch noch von diesen Erfahrungen berichten konnte, nachdem er zum allgemeinen Erstaunen nach drei Wochen im Koma wieder zu Bewusstsein kam.
Ist ein Mensch, der hirntot ist, wirklich tot, oder setzt mit dem Hirntod erst ein Sterbeprozess ein, der Stunden, ja Tage dauern kann? Und was widerfährt dem Bewusstsein während dieses Sterbeprozesses?
Kommt der klinische Tod dem Verlust von Bewusstsein gleich? Zahlreiche Berichte über Nahtoderfahrungen, die in diesem Buch versammelt sind, belegen, dass Menschen während eines Herzstillstandes, also in einer Phase, in der sie klinisch tot sind, ein ungewöhnlich klares Bewusstsein erfahren
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können.
Kann man, nachdem jemand definitiv gestorben und der Körper erkaltet ist, noch von Bewusstsein sprechen? Auf diese letzte Frage möchte ich im Folgenden näher eingehen.
Dem Tod nahe zu sein ist sicherlich nicht dasselbe, wie tot zu sein. Dennoch kann man sich fragen, ob Studien zur NTE nicht Hinweise darauf geben können, was mit dem Bewusstsein geschieht, wenn ein Mensch definitiv gestorben ist. Es ist wichtig, die Beantwortung der Frage, ob und gegebenenfalls wie ein Bewusstseinserleben nach dem Tod möglich ist, behutsam anzugehen. Wie können wir erahnen, was mit unserem Bewusstsein geschieht, wenn wir tot sind? Woher stammen unsere Vorstellungen vom Tod? Warum sollten wir uns eigentlich so intensiv mit dem Tod und mit dem, was es bedeuten könnte, tot zu sein, beschäftigen? Die Konfrontation mit dem Tod wirft unmittelbar Fragen auf, denn der Tod ist in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu. Obwohl es »todsicher« ist, dass jeden Tag Menschen sterben.
An dem Tag, an dem Sie dieses Buch lesen, werden in den Niederlanden etwa 375 Menschen sterben, jährlich also dort ungefähr 135000 und weltweit siebzig Millionen. In Deutschland sterben täglich circa 2500 Menschen, jährlich demnach 900000. Da auf der Welt jedoch mehr Menschen geboren werden als sterben, nimmt die Weltbevölkerung immer noch zu. So werden in den Niederlanden täglich durchschnittlich 515 Kinder geboren. Sterben ist genauso alltäglich wie geboren werden. Wir aber haben den Tod aus unserer Gesellschaft verbannt. Immer häufiger verleben Menschen ihre letzten Tage in Krankenhäusern und Pflegeheimen, auch wenn sich in jüngster Zeit glücklicherweise eine Tendenz abzeichnet, das Leben zu Hause oder in Hospizen zu beschließen.
Was ist Tod? Was ist Leben? Und was wird geschehen, wenn ich tot bin? Warum fürchten sich die meisten Menschen so sehr vor dem Tod? Nach einer schweren Leidenszeit kann der Tod doch auch eine Befreiung sein. Warum empfinden Ärzte den Tod eines Patienten immer noch als medizinisches Versagen? Weil der Patient nicht am Leben bleibt? Warum darf man an einer ernsten, terminalen Krankheit nicht mehr »einfach« sterben, warum muss man sich vorher noch mit Hilfe von Schläuchen und Infusionen künstlich ernähren und beatmen lassen? Warum entscheiden sich Patienten im Endstadium einer lebensbedrohlichen Krankheit manchmal doch noch für eine Chemotherapie, durch die sich ihr Leben vielleicht um eine kurze Frist verlängert, sich die Qualität der verbleibenden Lebenszeit aber längst nicht immer erhöht. Warum liegt uns so viel daran, den Tod hinauszuzögern, koste es, was es wolle? Der Arzt möchte das Leben des Patienten so lange wie möglich erhalten, und oft ist dies auch der Wunsch des Patienten, der trotz aller Einschränkungen, Schmerzen und Beklommenheit noch weiterleben will. Liegt in der Angst vor dem Tod die wichtigste Ursache für dieses Verhalten? Und rührt diese Angst nicht aus der Unwissenheit über die Bedeutung des Todes? Haben wir eigentlich die richtigen Vorstellungen vom Tod? Ist mit dem Tod wirklich alles zu Ende?
Auch in der medizinischen Ausbildung wird der Frage nach der Bedeutung des Todes kaum Beachtung geschenkt. Die meisten Ärzte machen sich während ihres Studiums nur wenige Gedanken darüber. Trotzdem ist der Tod gegenwärtig. In einem lebendigen Körper sterben pro Sekunde 500000 Zellen, das sind dreißig Millionen in der Minute und fünfzig Milliarden am Tag. Ebenso viele Zellen bilden sich jedoch täglich wieder neu, sodass man alle paar Jahre einen fast völlig neuen Körper hat. Der Zelltod ist mit dem körperlichen Tod also nicht gleichzusetzen. Im Laufe des Lebens verändert sich unser Körper ständig, in jeder Sekunde, ohne dass es uns bewusst ist oder wir etwas davon merken. Wodurch erhält ein sich ständig wandelnder Körper Kontinuität? Zellen sind Bausteine, vergleichbar den Bausteinen eines Hauses: Aber wer entwirft den Bauplan, wer koordiniert die Bauarbeiten? Sicher nicht die Bausteine selbst. Daraus ergibt sich logischerweise die Frage: Wie kommt in jeder Sekunde des Lebens der Bau und die Koordination des sich immerzu wandelnden Körpers zustande?
Biochemisch und physiologisch funktioniert jeder Körper gleich, dennoch sind alle Menschen verschieden. Wodurch entstehen diese Unterschiede? Sie werden nicht nur von körperlichen Äußerlichkeiten bestimmt. Jeder unterscheidet sich vom anderen in seinem Charakter, seinen Gefühlen und Stimmungen, seiner Intelligenz, seinen Interessen, Vorstellungen und Bedürfnissen. Das Bewusstsein spielt bei der Ausprägung dieser Unterschiede eine große Rolle. Daher stellt sich die Frage: Ist der Mensch sein Körper oder hat er einen Körper?
Etwas mehr als die Hälfte der niederländischen Bevölkerung ist fest davon überzeugt, dass mit dem Tod alles zu Ende geht.9 Sie sind der Meinung, dass der körperliche Tod sowohl unserer Identität, unseren Gedanken und Erinnerungen als auch unserem Bewusstsein ein Ende setzt. Ungefähr 40 bis 50 Prozent glauben dagegen an eine Art Weiterleben nach dem Tod. Viele stellen sich erst dann die Frage, ob ihre Vorstellungen vom Tod richtig sind, wenn sie durch einen Todesfall, ein schweres Unglück oder eine lebensbedrohliche Krankheit in der Familie oder im engeren Freundeskreis mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert werden.
Die eingehende Beschäftigung mit dem, was man im Laufe der Geschichte – zu allen Zeiten, in allen Kulturen und Religionen – über den Tod gedacht und geschrieben hat, versetzt uns in die Lage, uns ein anderes oder besseres Bild vom Tod zu machen. Dazu können jedoch auch Erkenntnisse der neuesten wissenschaftlichen Studien zur Nahtoderfahrung beitragen. Die meisten Menschen haben nach einer NTE überhaupt keine Angst mehr vor dem Tod. Durch eigene Erfahrung sind sie zu der Einsicht gelangt, dass mit dem Tod nicht alles endet und dass es ein persönliches Weiterleben gibt. So schrieb mir jemand, der eine NTE erlebt hatte:
»Es liegt jenseits meiner Möglichkeiten, über etwas zu diskutieren, was nur der Tod beweisen kann. Für mich hat diese Erfahrung jedoch entscheidend zu meiner Überzeugung beigetragen, dass das Bewusstsein auch über das Grab hinaus Bestand hat. Dabei ist mir eines klar geworden: Zu sterben heißt nicht, tot zu sein, denn der Tod ist nur eine andere Form des Lebens.«
Menschen mit Nahtoderfahrung beschreiben den Tod nur als eine andere Form der Existenz, mit einem gesteigerten und erweiterten Bewusstsein, das allgegenwärtig vorhanden und nicht länger an einen Körper gebunden ist.
Nach Auffassung des Wissenschaftsphilosophen Ilja Maso wird in der Forschung der wissenschaftliche Ansatz am höchsten bewertet, der auf materialistischen, mechanistischen und reduktionistischen Annahmen beruht.10 In diesen Bereich fließen die meisten Gelder, hier werden die attraktivsten Ergebnisse erzielt, und hier vermutet man auch die klügsten Köpfe. Je stärker eine Anschauung von diesem materialistischen Paradigma abweicht, desto niedriger ist ihr Stellenwert und ihr Prestige innerhalb dieser Hierarchie und desto geringer sind die Mittel, die diesen Forschungsprojekten zugeteilt werden. Erfahrungsgemäß fließen unverhältnismäßig viele Gelder in die oberen Bereiche der Hierarchie, obwohl es doch gerade in den geringer angesehenen Forschungsgebieten um das geht, was den Menschen ausmacht, seine Probleme und Nöte.11 Wahre Wissenschaft beschränkt sich nicht auf materialistische, also einengende Annahmen, sondern ist neuen, anfangs bisweilen unerklärlichen Phänomenen gegenüber aufgeschlossen und betrachtet es als Herausforderung, auch für sie Erklärungsansätze zu finden. Maso spricht von einer »umfassenden Wissenschaft«. Sie schafft Raum für Ideen, die besser zu unseren Versuchen passen, Informationen über subjektive Aspekte der Welt und uns selbst zu gewinnen, als es mittels der gegenwärtig dominierenden materialistischen Grenzziehung möglich ist.12 Der Psychologe Abraham H. Maslow (1908–1970) hat eine gelungene Definition für den Begriff einer umfassenden Wissenschaft vorgeschlagen:
»Wenn es eine Erste Grundregel für die Wissenschaft gibt, so besteht diese meiner Meinung nach darin, daß man der gesamten Wirklichkeit, allem was existiert, allem was geschieht, einen Platz einräumen sollte, um es zu beschreiben. Vor allem anderen muß die Wissenschaft alles einbeziehen und all-umfassend sein. Sie muß selbst das in ihren Zuständigkeitsbereich aufnehmen, was sie nicht zu verstehen oder zu erklären vermag, das, wofür keine Theorie existiert, was man nicht messen, voraussagen, kontrollieren oder einordnen kann. Sie muß selbst das Widersprüchliche und Unlogische, das Mysteriöse, Vage, Zweideutige, Archaische, das Unbewußte und all die anderen Aspekte unseres Lebens akzeptieren, die schwer mitzuteilen sind. In ihrer besten Ausprägung ist sie für alles aufgeschlossen und schließt nichts aus; sie hat keine ›Zulassungsbedingungen‹.«13
Nach Auffassung des amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn (1922–1996) ist das Gros der Wissenschaftler noch immer darum bemüht, Theorie und Fakten möglichst gut an das von vornherein anerkannte (materialistische) Paradigma anzugleichen. Unter einem Paradigma versteht er hierbei die Gesamtheit der »von Wissenschaftlern geteilten Glaubensüberzeugungen«.14 Alle Forschungsergebnisse, die sich nicht im Rahmen des derzeitigen Weltbilds erklären lassen, werden als »anormale Phänomene« betrachtet. Denn sie bedrohen das bestehende Paradigma und laufen den Erwartungen zuwider, die aufgrund der vorherrschenden Überzeugungen bestehen. Aus diesem Grund werden diese Phänomene zu Anfang auch übersehen, ignoriert, als Irrtümer verworfen oder ins Lächerliche gezogen. Nahtoderfahrungen sind solche anormalen Phänomene. Sie eröffnen uns die Möglichkeit, dass bestehende wissenschaftliche Theorien entweder an sie angepasst oder durch neue Konzepte ersetzt werden. Neue Theorien, die sich nicht in das vorherrschende materialistische Paradigma einfügen, werden meist jedoch nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen und schwer akzeptiert. Noch immer gilt der Satz des Psychiaters Ian Stevenson (1918–2007): »Schon sehr oft sagte man, nichts sei den Leuten so unangenehm wie eine neue Idee, und ich glaube, das gilt erst recht für Wissenschaftler.«
Die meisten Neurowissenschaftler, Psychologen, Psychiater und Philosophen, die sich eingehend mit Bewusstseinsforschung beschäftigen, sind noch immer der Meinung, Bewusstsein sei materialistisch und reduktionistisch erklärbar. Zum Beispiel vertritt der bekannte Philosoph Daniel Dennett die weitverbreitete Auffassung, Bewusstsein sei nichts anderes als Materie; daher sei unsere subjektive Erfahrung, dass unser Bewusstsein etwas rein Persönliches ist und sich von anderen unterscheidet, reine Illusion.15 Bewusstsein geht nach Meinung dieser Wissenschaftler ausschließlich aus der Materie unseres Gehirns hervor. Träfe diese Annahme zu, wäre jede Bewusstseinserfahrung nur das Produkt einer Maschine, die von den Gesetzmäßigkeiten der klassischen Physik und Chemie gelenkt würde, sodass unser Verhalten ausnahmslos das Werk der Nervenzellen im Gehirn wäre. Die Idee beinhaltet natürlich auch, dass der Glaube an einen freien Willen eine Illusion ist. Ein Standpunkt, der weitreichende Auswirkungen auf das Konzept der moralischen Verantwortung und der persönlichen Freiheit hat.
Wenn man die allgemein akzeptierte Regel entkräften will, dass alle Krähen schwarz sind …, genügt es, zu beweisen, dass es wenigstens eine weiße Krähe gibt.
WILLIAM JAMES, PSYCHOLOGE UND PHILOSOPH, 1842–1910
Wenn in empirisch-wissenschaftlichen Studien Phänomene beobachtet oder Fakten bestimmt werden, die nicht mit heutigen wissenschaftlichen Theorien übereinstimmen, sollte man diese neuen Erkenntnisse nicht bestreiten, verschweigen oder gar der Lächerlichkeit preisgeben, wie es heute immer noch üblich ist. Neue Resultate sollten vielmehr dazu führen, dass bestehende Theorien erweitert, angepasst oder, wenn nötig, auch verworfen werden. Zur Erforschung unseres Bewusstseins und zum besseren Verständnis seiner Wirkungsweise brauchen wir neue Denkschemata und neue Formen der Wissenschaft. Einige Wissenschaftler, wie der australische Philosoph David Chalmers, zeigen eine größere Offenheit und nehmen das Thema Bewusstsein ernst: »Das Bewusstsein stellt uns vor eines der erschütterndsten Probleme der modernen Wissenschaft. Nichts ist uns so vertraut wie eine bewusste Erfahrung, dennoch ist nichts schwieriger, als für sie eine gute Erklärung zu finden.«16 Chalmers hat sich auf Bewusstseinsfragen spezialisiert und eine gute Übersicht über die unterschiedlichen Theorien, die gegenwärtig zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Bewusstsein und Gehirn bestehen, zusammengestellt.17 Diese Darstellung wird in einem der späteren Kapitel dieses Buches noch ausführlicher zur Sprache kommen.
Auch in der Vergangenheit entstanden immer dann neue Formen der Wissenschaft, wenn sich Phänomene mit den bestehenden Auffassungen nicht mehr erklären ließen. So entstand zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Quantenphysik, weil bestimmte Sachverhalte mit den Mitteln der klassischen Physik nicht erfassbar waren. Sie hat unser bisheriges materialistisches Weltbild, mit dem wir aufgewachsen sind, auf den Kopf gestellt. Die zögerliche Aufnahme ihrer neuen Erkenntnisse ist dieser reduktionistischen Weltanschauung geschuldet. Nach Auffassung einiger Quantenphysiker wird dem Bewusstsein sogar eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion und der Wahrnehmung der Außenwelt zuerkannt. Diese noch nicht allgemein akzeptierte Interpretation schließt auch die These ein, dass unsere Realitätsvorstellung auf Informationen beruht, die wir in unserem Bewusstsein empfangen. Aufgrund dieser Erkenntnis wandelt sich die moderne Wissenschaft zu einer subjektiven Wissenschaft, für die das Bewusstsein grundlegende Bedeutung besitzt. Der Quantenphysiker Werner Heisenberg (1901–1976) erläuterte diesen Paradigmenwechsel auf folgende Weise:
»Die Naturwissenschaft steht nicht mehr als Beschauer vor der Natur, sondern erkennt sich selbst als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur. Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen bewusst, die ihr dadurch gesetzt sind, dass der Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, dass sich die Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann.«18
Die Art und Weise, in der Aspekte des Bewusstseins während einer NTE erlebt werden, ist mit den Konzepten der Quantenphysik vergleichbar oder steht in Analogie zu ihnen. Die Quantenphysik kann das Bewusstsein natürlich nicht erklären, aber sie kann in Verbindung mit den Ergebnissen und Schlussfolgerungen der Studien zur Nahtoderfahrung dazu beitragen, den Übergang oder die Schnittstelle zwischen Bewusstsein und Gehirn besser zu verstehen.
Meiner Meinung nach muss die heutige Wissenschaft ihre Annahmen über das Wesen der wahrnehmbaren Wirklichkeit einer erneuten Prüfung unterziehen. Denn die derzeitigen Theorien haben zu einer Vernachlässigung oder Leugnung wichtiger Bewusstseinsbereiche geführt. Die heutige Wissenschaft geht größtenteils noch von einer Wirklichkeit aus, die ausschließlich auf materiell wahrnehmbaren Daten basiert. Dabei sind wir uns intuitiv doch dessen bewusst, dass neben dem objektiv und sinnlich Wahrnehmbaren auch subjektive Aspekte wie Empfindungen, Eingebungen und Intuitionen von Bedeutung sind. Mit den wissenschaftlichen Techniken der Gegenwart lassen sich Bewusstseinsinhalte weder messen noch nachweisen. Wir können wissenschaftlich nicht feststellen, dass jemand verliebt ist oder ein bestimmtes Musikstück oder Gemälde schön findet. Nur die chemischen, elektrischen oder magnetischen Veränderungen der Gehirntätigkeit lassen sich messen. Inhalte von Gedanken, Empfindungen und Gefühlen sind so nicht erfassbar. Mit einer rein materialistischen Forschungsmethodik lässt sich nichts über den Inhalt unseres Bewusstseins aussagen. Wäre uns unser Bewusstsein nicht aus unserer unmittelbaren Erfahrung bekannt, könnten wir Gedanken und Gefühle nicht wahrnehmen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass unser Bild von der Welt ausschließlich aus unserer eigenen Wahrnehmung äußerer, messbarer und reproduzierbarer Phänomene abgeleitet ist. Denn eine andere Möglichkeit gibt es nicht. So erschafft sich jeder Mensch aufgrund seines Bewusstseins seine eigene Wirklichkeit. Wenn man verliebt ist, erscheint einem die Welt wunderbar, ist man dagegen depressiv, gleicht dieselbe Welt einem Jammertal. Die »objektive« Außenwelt besteht allein aus dem Bild, das wir in unserem eigenen Bewusstsein konstruiert haben. So hält jeder sein eigenes Weltbild aufrecht. Genau diesen Gedanken können die meisten Wissenschaftler nur schwer akzeptieren.
Aufgrund prospektiver Studien zur Nahtoderfahrung, neuerer Erkenntnisse der neurophysiologischen Forschung und der Entdeckungen der Quantenphysik bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, dass das Bewusstsein weder an eine bestimmte Zeit noch einen bestimmten Ort gebunden ist. Dieses Phänomen nennt man Nicht-Lokalität. In einem solchen Raum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig existieren und zugänglich sind, ist das vollkommene und endlose Bewusstsein allgegenwärtig. Es ist ständig um uns herum und in uns präsent. Ein nicht-lokaler Raum und ein nicht-lokales Bewusstsein sind in der materiellen Welt theoretisch weder nachweisbar noch messbar.
Unser Gehirn und unser Körper dienen nur als eine Annahmestation. Sie empfangen einen Teil unseres gesamten Bewusstseins und unserer Erinnerungen in unserem Wachbewusstsein. Das nicht-lokale Bewusstsein umfasst jedoch viel mehr als unser Wachbewusstsein. Das Gehirn lässt sich mit einem Fernsehapparat vergleichen, der aus elektromagnetischen Feldern Informationen empfängt und sie zu Bildern und Tönen dekodiert. Zugleich ähnelt es einer Fernsehkamera, die Bild und Ton in elektromagnetische Wellen umwandelt beziehungsweise kodiert. Das Bewusstsein gibt Informationen an das Gehirn weiter und empfängt durch das Gehirn Informationen aus dem Körper und den Sinnesorganen. Die Funktion des Gehirns lässt sich mit der eines »Transceivers«, eines Sende-Empfängers vergleichen, denn es hat keine produktive, sondern eine befähigende Funktion: Es ermöglicht Bewusstseinserfahrungen. Zunehmend gibt es auch Hinweise darauf, dass das Bewusstsein die Prozesse und die Anatomie des Gehirns und des Körpers unmittelbar beeinflusst, ein Vorgang, in dem wahrscheinlich die DNA eine wichtige Rolle spielt (siehe Kapitel 12).
Die Vorstellung eines nicht-lokalen und endlosen Bewusstseins macht eine große Zahl außergewöhnlicher Bewusstseinserlebnisse, wie mystische und religiöse Erfahrungen, Sterbebettvisionen, peri- und postmortale Erlebnisse, eine erhöhte intuitive Sensibilität, prophetische Träume, Fernwahrnehmungen und den Einfluss des Bewusstseins auf die Materie, begreifbar. Man kann sich nur schwer der Schlussfolgerung entziehen, dass das endlose Bewusstsein schon immer unabhängig von unserem Körper existierte und auch zukünftig weiter existieren wird. Unser Bewusstsein hat weder einen Anfang noch wird es je ein Ende haben. Wir sollten die Möglichkeit ernstlich in Erwägung ziehen, dass der Tod ebenso wie die Geburt nur ein Übergang in einen anderen Bewusstseinszustand darstellen könnte und dass unser Körper zeit unseres Lebens als Schnittstelle oder Resonanzort fungiert.
Ich hoffe, dass die Leser diesem Buch empathisch und vorurteilslos begegnen. Indem es wissenschaftlich plausibel macht, dass das Bewusstsein nicht-lokal und daher allgegenwärtig ist, kann es zu einem neuen Verständnis unseres Bewusstseins und dessen Beziehung zum Gehirn beitragen. Ich weiß, dass dieses Buch nicht mehr als ein Ansatz für weitere Forschungen und Diskussionen sein kann, da wir bisher auf viele wichtige Fragen noch keine definitiven Antworten formulieren können. Zweifellos werden auch zukünftig viele Fragen zum Bewusstsein und dem Mysterium des Lebens unbeantwortet bleiben. Doch wenn sich außergewöhnliche Phänomene nachweisen lassen, muss ein rein materialistisches Paradigma in der Wissenschaft zur Diskussion gestellt werden. Eine Nahtoderfahrung ist ein solches außergewöhnliches Phänomen. Das Bewusstsein ist noch immer ein großes Mysterium. Aber neue wissenschaftliche Theorien, die auf Forschungen zur NTE beruhen, können wesentlich zur Klärung einiger Fragen beitragen. Ein einziges ungewöhnliches Phänomen, das sich nicht mit Hilfe der allgemein akzeptierten Vorstellungen und Ideen erklären lässt, kann die Wissenschaft grundlegend verändern.
Die Lektüre dieses Buches wird vermutlich viele Fragen aufwerfen. Mir ist durchaus bewusst, dass einige der angesprochenen Themen für zahlreiche Leser neu, vielleicht sogar unvorstellbar sein werden, vor allem für diejenigen, die bisher noch nie etwas über Nahtoderfahrungen gehört oder gelesen haben. Doch die Hunderttausende, die selbst eine NTE durchlebt haben, werden in der Lektüre vieles wiedererkennen und darin eine deutliche Bestätigung finden.
Eine NTE ist einerseits eine existentielle Krise, andererseits eine eindringliche Lektion des Lebens. Die Veränderungen, die eine NTE bei vielen Menschen bewirkt, entstehen aus der bewussten Erfahrung einer Dimension, in der Zeit und Distanz nicht von Bedeutung sind, in der man in die Vergangenheit und Zukunft sehen kann, in der man sich eins mit sich fühlt, unendliches Wissen erlangt und bedingungslose Liebe erfährt. Diese Lebensveränderungen beruhen vor allem auf der Erkenntnis, dass Liebe und Achtsamkeit sich selbst, anderen und der Natur gegenüber zu den wichtigen Grundlagen des Lebens zählen. Nach einer NTE ist man sich bewusst, dass jeder und alles miteinander verbunden ist, dass jeder Gedanke Einfluss auf das eigene Ich und ebenso auf andere hat und dass unser Bewusstsein nach dem körperlichen Tod weiter existiert. Man erkennt, dass der Tod nicht das Ende ist.
Menschen mit Nahtoderfahrungen waren meine größten Lehrmeister. Die zahlreichen Gespräche, die ich mit ihnen führte, und meine ernsthafte Auseinandersetzung mit der möglichen Bedeutung einer NTE haben meine Sicht auf den Sinn des Lebens und des Todes verändert. Jeder kann aus den Erkenntnissen, die eine NTE vermittelt, eine Menge lernen. Man muss nicht selbst eine Nahtoderfahrung erleben, um neue Einsichten über das Leben und den Tod zu gewinnen.
Die Anerkennung neuer wissenschaftlicher Konzepte im Allgemeinen und der Idee eines endlosen Bewusstseins im Besonderen erfordert eine offene Haltung und den Mut, dogmatische Standpunkte aufzugeben. Das gilt natürlich nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für aktuelle Fragen, die in unserer modernen westlichen Gesellschaft von Bedeutung sind. Aus unserer offenen Haltung gegenüber den universellen Fragen zu Tod, Leben und Bewusstsein kann sich ein tief greifender Wandel unseres Menschenbildes entwickeln. Ich hoffe aufrichtig, dass dieses Buch dazu einen positiven Beitrag leisten kann.
Das zweite Kapitel enthält einen ausführlichen Bericht über eine NTE und ihre Bedeutung für das weitere Leben der Betroffenen. Nach einem kurzen historischen Überblick über die ersten wissenschaftlichen Studien zur NTE werden im dritten Kapitel die zwölf universell genannten Elemente einer NTE ausführlich dargestellt und mit anschaulichen Zitaten belegt. Im vierten Kapitel gehe ich auf die lebenslangen positiven Veränderungen ein, die nach den wenigen Minuten einer NTE während eines Herzstillstands geschildert werden. Auch die zahlreichen Probleme im Verarbeitungsprozess einer NTE kommen hier zur Sprache. Denn leider werden Menschen mit Nahtoderfahrungen noch allzu oft als Träumer, Phantasten, Aufschneider oder verwirrte Patienten abgestempelt. Das fünfte Kapitel ist den Nahtoderfahrungen bei Kindern gewidmet. Denn bei jüngeren Kindern ist es äußerst unwahrscheinlich, dass ihre Nahtoderfahrungen auf äußere Einflüsse zurückzuführen sind. Sie erinnern sich nach ihrer NTE an die gleichen Elemente wie Erwachsene, und sie unterscheiden sich nach einer NTE auffallend von ihren Altersgenossen.
Im sechsten Kapitel werden alle bisher vorliegenden wissenschaftlichen Erklärungen einer NTE besprochen und mit kritischen Anmerkungen versehen. Eine akzeptable Theorie, die eine NTE in der Gesamtheit erklären kann, muss zum einen den unterschiedlichen Situationen, in denen Nahtoderfahrungen auftreten, gerecht werden, zum anderen die sehr verschiedenartigen Elemente einer NTE einbeziehen. Im siebten Kapitel wende ich mich ausführlich unserer eigenen niederländischen Studie zur NTE zu, an der 344 Patienten, die einen Herzstillstand überlebt hatten, teilgenommen haben.19 Die Resultate und Schlussfolgerungen dieser Studie werden mit drei ähnlichen Untersuchungen aus den USA und Großbritannien verglichen.20 Aus diesen vier prospektiven Studien ergab sich zwingend die Schlussfolgerung, dass alle geschilderten Elemente einer NTE in der Phase eines Herzstillstands erlebt wurden, also in einem Zeitraum, in dem die Durchblutung des Gehirns vollkommen zum Erliegen gekommen war. Wie war das möglich? Im achten Kapitel beschreibe ich, was im Gehirn genau abläuft, wenn aufgrund eines Herzstillstands oder eines Kreislaufzusammenbruchs abrupt ein gravierender Sauerstoffmangel auftritt. Im neunten Kapitel gehe ich noch tiefer auf die normalen Abläufe der Gehirntätigkeit ein sowie auf die Begrenzungen, denen unsere heutigen wissenschaftlichen Vorstellungen von der Beziehung zwischen Gehirn und Bewusstsein unterliegen.
Das zehnte Kapitel thematisiert Begriffe und Erkenntnisse der Quantenphysik, die zu einem besseren Verständnis unseres Bewusstseins beitragen können. Das elfte Kapitel gibt einen theoretischen Überblick über die Beziehung zwischen Gehirn und Bewusstsein und diskutiert einige Ideen, die eine wissenschaftliche Erklärung für diese Beziehung anbieten könnten. Im zwölften Kapitel gehe ich auf neue Erkenntnisse zur möglichen Funktion der DNA im kontinuierlichen Veränderungsprozess unseres Körpers ein. Möglicherweise fungiert die DNA als Schnittstelle zwischen dem nicht-lokalen Bewusstsein und unserem Körper und spielt eine wesentliche Rolle bei der Koordination der Zellen untereinander, der Zellsysteme, der Organe und des gesamten Organismus. Im dreizehnten Kapitel beschreibe ich detailliert die unterschiedlichen Aspekte des nicht-lokalen oder endlosen Bewusstseins, die sich dank empirisch-wissenschaftlicher Forschung aufzeigen ließen.
Die Idee eines endlosen Bewusstseins ist nicht neu. Im vierzehnten Kapitel ziehe ich antike und mittelalterliche Schriften aus Europa und Asien heran, in denen Erfahrungen eines erweiterten Bewusstseins und die Vorstellung eines Bewusstseins nach dem körperlichen Tod ausführlich zur Sprache kommen. Im fünfzehnten Kapitel gehe ich auf einige häufig gestellte Fragen zur Forschung über Nahtoderfahrungen, zu Reinkarnation und Organspende ein. Schließlich wird im sechzehnten Kapitel deutlich herausgestellt, dass das Wissen über Nahtoderfahrungen nicht allein theoretische Bedeutung für unser Menschenbild hat, sondern auch für alle Mitarbeiter im medizinischen Bereich sowie für Sterbende und deren Angehörige von großer praktischer Relevanz sein kann. Jeder sollte über die außergewöhnlichen Erfahrungen, zu denen es während eines Komas, während des Sterbens oder nach dem Tod kommen kann, informiert sein.
Hier ist ein Test, um herauszufinden, ob deine Mission auf Erden schon beendet ist: Solange du noch lebendig bist, ist sie es nicht.1
RICHARD BACH, SCHRIFTSTELLER
Ich möchte dieses Buch mit der Schilderung einer charakteristischen Nahtoderfahrung sowie des mühsamen Verarbeitungsprozesses, der sich an sie anschließt, beginnen. Diese NTE wurde von einer schweren Komplikation während einer Entbindung ausgelöst.
»Am 23. September 1978 bekomme ich die ersten Wehen. Zu der Zeit bin ich im neunten Monat schwanger und erwarte, wie sich später herausstellen wird, unsere zweite Tochter. Bis dahin war es eine Bilderbuch-Schwangerschaft. Nach einiger Zeit machen sich mein Mann und ich gemeinsam mit der Hebamme auf den Weg ins Krankenhaus. Dort fährt man mich in den Kreißsaal. Regelmäßig hört mich die Hebamme mit einem großen hölzernen Hörrohr ab. Es kommt zum Blasensprung. Im Kreißsaal wird es ganz still. Alle laufen hin und her. Sie sprechen hastig und leise miteinander. Auf meine Frage, was denn los sei, erhalten weder ich noch mein Mann eine Antwort. Die Wehen setzen aus, aber mir geht es gut. Mittlerweile sind auch der Gynäkologe und weitere Pflegekräfte eingetroffen. Wir haben keine Ahnung, was vor sich geht. Sie sagen mir, ich solle pressen. ›Ich habe keine Presswehen!‹ Da stimmt etwas nicht. Sie hantieren mit Zangen, Scheren, Behältnissen und Decken. Mein Mann kippt um. Er wird aus dem Kreißsaal gebracht und auf den Flur gelegt.
Plötzlich bemerke ich, dass ich von oben auf eine Frau hinabschaue, die auf dem Bett liegt, ihre Beine ruhen auf Stützen. Ich sehe die Panik der Pflegekräfte und Ärzte, ich sehe eine Menge Blut auf dem Bett und auf dem Boden und große Hände, die sehr fest auf ihren Bauch drücken, und dann sehe ich, wie sie von einem Kind entbunden wird.
Das Kind wird sofort in einen anderen Raum gebracht. Die Pflegekräfte wirken niedergeschlagen. Alle warten. Mit einem harten Schlag fällt mein Kopf nach hinten, als man mir das Kopfkissen mit einem Schwung wegzieht. Wieder sehe ich, wie hektische Betriebsamkeit aufkommt. Schnell wie ein Pfeil schieße ich durch einen dunklen Tunnel. Ein intensives friedliches und seliges Gefühl durchströmt mich. Ich fühle mich von Grund auf zufrieden, glücklich, ruhig und friedvoll. Ich höre herrliche Musik. Ich sehe schöne Farben und eine große Wiese mit herrlichen Blumen, in allen nur denkbaren Schattierungen. In der Ferne leuchtet ein schönes, helles, warmes Licht. Dort muss ich hin. Ich sehe eine Gestalt in einem lichten Gewand. Sie wartet auf mich und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich fühle, dass sie mich herzlich und liebevoll empfängt. Hand in Hand gehen wir auf das schöne warme Licht zu. Dann lässt sie meine Hand los und dreht sich um. Ich spüre, wie mich ein Sog zurückzieht. Ich muss zurück. Ich merke, wie eine Krankenschwester mich hart auf die Wange schlägt und mich ruft.
Nach einiger Zeit (?) weiß ich wieder, wo ich bin, und ich weiß auch, dass es nicht gut um mein Kind steht. Unsere Tochter ist nicht mehr am Leben. Was für eine schmerzhafte Rückkehr! Und wie gerne möchte ich wieder zurück nach … ja wohin eigentlich? Doch diese Welt geht weiter.
Die medizinische Ursache meiner NTE war der Blutverlust, der während der Geburt aufgetreten war. Das Pflegepersonal hatte ihn zunächst nicht oder nicht richtig bemerkt. Wahrscheinlich weil sich alle so darauf konzentriert hatten, das Kind zur Welt zu bringen. Erst im letzten Moment traf man die notwendigen Maßnahmen, man zog mir das Kissen unter dem Kopf weg und versorgte mich mit Blut … Aber das habe ich alles nicht mehr gesehen. Denn in diesem Moment war ich schon im Paradies.
Bei meiner Rückkehr aus jener schönen Welt, von dieser schönen Erfahrung, erlebte ich den Empfang hier, in dieser Welt, kühl, frostig und vor allem lieblos. Die Pflegekraft, der ich erzählen wollte, wie viel Schönes ich erlebt hatte, tat meinen Versuch nur mit der Bemerkung ab, gleich bekäme ich meine Medikamente, dann könne ich gut schlafen und schon bald sei alles vorbei! Vorbei? Vorüber? Das wollte ich überhaupt nicht. Ich wollte ja gerade, dass es nicht vorüber, nicht vorbei war. Ich wollte zurück an diesen Ort. Der Gynäkologe erklärte mir, ich sei noch jung und könne noch genug Kinder bekommen, ich solle einfach weitermachen und nach vorne schauen.
Ich erzählte meine Geschichte niemandem mehr. Ich fand es ohnehin schon schwierig genug, meine Erfahrung in Worte zu fassen. Wie hätten denn Worte beschreiben können, was ich erlebt hatte? Aber was nun? Wem konnte ich meine Geschichte denn dann mitteilen? Was war mit mir los? War ich verrückt geworden?
Der Einzige, dem ich meine Geschichte bis zum Gehtnichtmehr erzählen durfte, war mein Mann. Er hörte zu und stellte Fragen. Aber er wusste auch nicht, was ich eigentlich erlebt hatte, was ich damit anfangen sollte, wie man so etwas nannte und ob ich die Einzige war, die eine solche Erfahrung gemacht hatte. Wie froh war ich damals und wie froh bin ich heute noch, dass er so gut zuhören konnte. Meine NTE hat meine Beziehung nicht gefährdet. Und ich weiß heute, wie ungeheuer wertvoll das ist. Das ist wirklich bedingungslose Liebe! Aber ich fühlte mich, als sei ich die Einzige, die so etwas erlebt hatte. Kein Mensch fragte mich danach, niemand wollte etwas wissen. Nun war das in meinem Fall auch nicht gerade einfach, denn wie soll man reagieren, wenn man eine Geburtsanzeige erwartet und dann eine Trauerkarte erhält? Das ist für viele Leute schon schwierig genug, und wie viel schwieriger ist es erst, einer Erfahrung, wie ich sie gemacht hatte, Gehör zu schenken.
Ich lebte damals wie ein Roboter. Ich kümmerte mich zwar um meinen Mann und unsere älteste Tochter, und ich ließ den Hund raus, aber ich war nicht bei der Sache. Ich war mit meiner Erfahrung beschäftigt. Wie kam ich wieder an diesen Ort? Wo konnte ich diese schöne Musik hören, diese schönen Farben sehen, diese schönen Blumen finden, dieses schöne Licht sehen, wo konnte ich so viel bedingungslose Liebe erfahren? War ich denn verrückt, weil ich mir solche Gedanken machte? Was war mit mir los?
Als wichtigen Hinweis für alle professionellen Helfer schrieb ich in meiner Diplomarbeit: ›Wie dankbar wäre ich damals gewesen, wenn ich nur ein Prozent der vielen Ratschläge bekommen hätte, die heute in Büchern und Artikeln über NTE zu finden sind!‹ 1978 war die Betreuung noch nicht auf dem heutigen Stand, denn außer den Pflegekräften, dem Gynäkologen und der Hebamme kümmerte sich niemand um mich. Mein Hausarzt hat mich nicht besucht, auch nach Wochen nicht. Er hat nie Kontakt zu mir aufgenommen. Ob er wohl davon ausging, dass mit mir alles in Ordnung sei? Auch ich ging nicht zu ihm, denn was hätte ich ihm erzählen sollen? Ich war zu dem Schluss gekommen, dass meine Erfahrung nicht normal sei und ich besser den Mund halten sollte. Die Kontrolluntersuchung beim Gynäkologen verlief normal. Mechanisch funktionierte ich noch, das reichte aus. Ich wurde nichts weiter gefragt.
Und ich schwieg.
Jahrelang verbrachte ich mein Leben schweigend und suchend. Und als ich endlich in der Bibliothek auf ein Buch stieß, in dem etwas über eine NTE stand, konnte ich mir selbst nicht mehr vorstellen, dass ich eine solche Erfahrung gemacht hatte. Das war doch nicht möglich? Ich glaubte mir selbst nicht mehr. Nur sehr, sehr langsam brachte ich den Mut und die Kraft auf, mir selbst zu vertrauen und meine Erfahrung als real anzusehen. Und erst von da an konnte ich sie allmählich akzeptieren und in mein Leben integrieren. Das war nicht einfach. Im Laufe der Jahre hatte ich eine wirkungsvolle Überlebensstrategie, oder besser gesagt, Fluchtstrategie entwickelt. Ich floh vor meinen Gefühlen und floh damit vor mir selbst. Ich halste mir immer mehr Arbeit auf und fing fanatisch an, Sport zu treiben, bezeichnenderweise zu laufen. Wie sinnig! Lief ich nicht auch vor mir selbst und meiner NTE davon? Das ging in den ersten Jahren noch gut, auch aus der Sicht anderer: Ziemlich oft stand ich mit Blumen in der Hand auf dem Siegertreppchen, doch das waren nicht die Blumen, nach denen ich auf der Suche war. Ich bekam immer mehr Schwierigkeiten mit den Ansichten anderer, mit den Auffassungen meiner Arbeitskollegen. Ich geriet immer mehr in Konflikt mit mir selbst, mit dem, was ich fühlte und wusste. Alles wurde immer schwieriger.
Mein Körper rebellierte. Aus Überlastung, Überanstrengung und dem Gefühl, ausgebrannt zu sein, entwickelte sich eine Depression. Ich begann eine Behandlung bei einem homöopathisch orientierten Psychologen. Das war sicher kein Zufall, denn er ist der erste professionelle Helfer, der sich meine Geschichte, meine Erfahrung anhörte. Er glaubte mir auch und fand sie normal! Aber heute liegt meine NTE schon ungefähr zwanzig Jahre zurück! Er riet mir mein Erlebnis zu zeichnen, es schriftlich festzuhalten, mich unbedingt irgendwie damit zu beschäftigen. Mit ihm habe ich mich auf eine spannende Reise zu mir selbst begeben. Alles erscheint nun akzeptabel und normal. Ich merke, dass ich nicht verrückt bin, wohl aber, dass mich meine NTE verändert hat. Ich habe nun überhaupt keine Angst mehr vor dem Tod; ganz anders als in den Jahren vor meiner NTE. Jahre, in denen ich mit dem Tod und der Furcht vor dem Tod gerungen habe. Ich habe nun Schwierigkeiten mit der Zeitvorstellung. Immer vergesse ich die Zeit, ganz im Gegensatz zu früher, als ich ständig nach der Uhr lebte. Nun ist mir Materielles nicht mehr so wichtig. Es zählt für mich nur bedingungslose Liebe. Und die fand und finde ich bei meinem Mann. Auch wenn ich kürzlich erst wieder in einer Studie las, dass es zwischen Menschen keine bedingungslose Liebe geben kann. Aber mir will ja keiner glauben! Nun fühle ich mich manchmal als Außenseiter. Im Urlaub suche ich meist sehr intensiv nach den Landschaften, Farben und Blumen, die ich damals gesehen habe und die ich jetzt nicht wiederfinden kann. Ich kann seither sehr schlecht mit Streit umgehen, denn ich möchte zurück, an diesen friedlichen Ort. Es gelingt mir einfach nicht, mich zu streiten.
Nun, da ich auf meiner Reise zu mir selbst an dem Punkt angekommen bin, an dem ich heute stehe, freue ich mich über meine NTE. Ich nehme sie als etwas Schönes an, das ich erleben durfte, das mir Ruhe gibt und es mir möglich macht, mit meiner Erfahrung ich selbst zu sein. Heute kann ich gut damit leben. Seit es mir gelingt, meine NTE in mein Leben zu integrieren, ist diese Welt für mich zu einer besseren Welt geworden. Erst als ich damit begann, meine NTE zu akzeptieren, hatte ich hier wieder ein bisschen Spaß an meinem Leben. Meine Gedanken und Gefühle sind doch wichtig, sie sind nicht merkwürdig oder verrückt; ich brauche sie, um in all dem Durcheinander zu einer Identität zu finden, nicht zu irgendeiner, sondern zu meiner eigenen Identität. Das heißt aber auch, dass ich noch eine Aufgabe vor mir habe: Ich will den Menschen, vor allem den professionellen Helfern, Nahtoderfahrungen näherbringen. Meine eigenen bescheidenen Nachforschungen bei praktischen Ärzten in meinem Wohnort haben zu meiner Enttäuschung ergeben, dass viele von ihnen immer noch nicht wissen, wie sie sich einem Patienten gegenüber verhalten sollen, der eine NTE hatte.
Aber für mich ist heute das Wichtigste, dass ich sein darf, wer ich bin – mit meiner Erfahrung. Ich bin, wer ich bin, nicht mehr, aber auch nicht weniger! Und das ist gut so.«
E. M.
Es lohnt sich zu sterben, um zu erfahren, was das Leben bedeutet.
T. S. ELLIOT, DICHTER UND SCHRIFTSTELLER, 1888–1965
In der Geschichte findet man zu allen Zeiten und in allen Kulturen Berichte von Menschen, die sich nach einer lebensbedrohlichen Krise an eine außergewöhnliche Erfahrung erinnert haben. Heute nennt man so etwas eine Nahtoderfahrung. Meiner Definition nach umfasst eine Nahtoderfahrung (NTE) alle aus der Erinnerung geschilderten Eindrücke während eines außergewöhnlichen Bewusstseinszustands – mit charakteristischen Elementen wie der Erfahrung eines Tunnels, eines Lichts, eines Lebenspanoramas, der Begegnung mit Verstorbenen oder der Wahrnehmung der eigenen Reanimation. Zu diesem Bewusstseinszustand kann es während eines Herzstillstandes kommen – also in einer Phase, in der ein Mensch klinisch tot ist –, aber auch bei einer ernsthaften Erkrankung oder ohne klare medizinische Ursache. Diese Erfahrung führt fast immer zu tief greifenden und nachhaltigen Änderungen der Lebensauffassung und zu einer furchtlosen Einstellung gegenüber dem Tod. Der subjektive Charakter und der fehlende Bezugsrahmen dieser Erfahrung bringen es mit sich, dass das Vokabular, mit dem eine NTE geschildert wird, durch individuelle, kulturelle und religiöse Faktoren geprägt ist. Gleiches gilt auch für die Interpretationen einer NTE. Ein Kind wird seine Erlebnisse anders in Worte fassen und interpretieren als ein Erwachsener, ein Christ anders als ein Buddhist oder Atheist.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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