Feindbild Islam - Jürgen Todenhöfer - E-Book

Feindbild Islam E-Book

Jürgen Todenhöfer

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Beschreibung

Nach dem Untergang der Sowjetunion brauchte der Westen ein neues Feindbild. Osama Bin Laden lieferte es. 9/11 gab George W. Bush die Gelegenheit zu zwei Kriegen, die für alle Beteiligten desaströs ausgingen. “Feindbild Islam – Thesen gegen den Hass“ schildert prägnant und packend das Verhältnis der westlichen zur muslimischen Welt. Es zeigt die Ignoranz und Gefährlichkeit unserer Politik gegenüber dem Orient. Jürgen Todehöfer zieht die Bilanz von 50 Jahren Reisen in die muslimische Welt und zehn Jahren falscher Antworten auf die Herausforderung 9/11.

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Jürgen Todenhöfer

Feindbild Islam

Thesen gegen den Hass

C. Bertelsmann

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www.cbertelsmann.de

»Ihr würdet euch wundern, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird«, hatte einst Papst Julius III. gesagt. Wie recht er hatte! Ignoranz ist oft genauso gefährlich wie Bosheit. Viele der Fehlentscheidungen des Westens gegenüber der muslimischen Welt hängen mit der Unkenntnis einfachster Fakten zusammen. Fünfzig Jahre lang habe ich mich bei meinen Reisen in muslimische Länder immer wieder wegen des abenteuerlichen Unsinns geschämt, den westliche Politiker und Publizisten über die muslimische Welt verbreiten.

Mit dieser Scham könnte man leben. Aber nicht mit den fürchterlichen Folgen, die die Ignoranz unserer Politiker in Afghanistan, im Irak und in anderen muslimischen Ländern angerichtet hat. Tausende junge Amerikaner und Hunderttausende Muslime mussten dafür sterben. Und sterben weiter.

Meine Thesen werden Kritik hervorrufen. Das akzeptiere ich. Aber vielleicht öffnen sie auch die Fenster zu einer anderen Sicht der muslimischen Welt – oder wenigstens zu einer fairen Diskussion. Nichts macht uns so verwundbar wie unsere Ignoranz.

1. Der Westen ist viel gewalttätiger als die muslimische Welt. Millionen arabische Zivilisten wurden seit Beginn der Kolonialisierung getötet.

Der große französische Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville war ein leidenschaftlicher Vorkämpfer individueller Freiheit. Stets hatte sie für ihn Vorrang vor Gleichheit. Ungleichheit kam für ihn »unmittelbar von Gott«. Kein Wunder also, dass der aufgeklärte Staatsmann wie die meisten seiner Zeitgenossen für Rassengleichheit nicht zu haben war.

In seinem 1835 erschienenen Hauptwerk Über die Demokratie in Amerika stellte Tocqueville die für jene Zeit charakteristische Frage: »Hat man beim Anblick der Vorgänge in der Welt nicht den Eindruck, dass der Europäer für andere Rassen das ist, was der Mensch für die Tiere bedeutet? Er macht sie seinem Dienst untertan, und wenn er sie nicht mehr unterjochen kann, vernichtet er sie.« Für den liberalen Denker gab es »keinen Grund, die muslimischen Subjekte so zu behandeln, als wären sie uns gleich«.

Nicht anders hat der Westen die muslimische Welt während der letzten zweihundert Jahre behandelt. Arabische Familien wurden in der Kolonialzeit wie »Hyänen, Schakale und räudige Füchse« gejagt. Die Strategie, mit der die Kolonialherren im 19. Jahrhundert den Widerstand gegen ihre »Zivilisierungsmission« brachen, hieß: »ruinieren, jagen, terrorisieren« (Olivier Le Cour Grandmaison).

In Algerien wurden mehrfach ganze Stämme, die sich in Höhlen geflüchtet hatten, »ausgeräuchert« (»Enfumades«). Der französische Oberst Lucien-François de Montagnac schrieb 1842 in einem Brief aus Algerien: »Wir töten, wir erwürgen. Die Schreie der Verzweifelten, der Sterbenden mischen sich mit dem Lärm des brüllenden, blökenden Viehs. Ihr fragt mich, was wir mit den Frauen machen. Nun, wir behalten einige als Geiseln, andere tauschen wir gegen Pferde, der Rest wird wie Vieh versteigert.« Um seine dunklen, depressiven Gedanken zu vertreiben, lasse er manchmal einfach »Köpfe abschneiden. Keine Artischockenköpfe, Menschenköpfe.«

Louis de Baudicour, französischer Schriftsteller und Kolonist in Algerien, schilderte eine der vielen Schlächtereien: »Hier schnitt ein Soldat aus Spaß einer Frau die Brust ab, dort nahm ein anderer ein Kind an den Beinen und zerschmetterte seinen Schädel an einer Mauer.« Victor Hugo berichtete von Soldaten, die sich gegenseitig Kinder zuwarfen, um sie mit der Spitze ihrer Bajonette aufzufangen. Für in Salz eingelegte Ohren gab es 100 Sous. Abgeschnittene Köpfe wurden noch höher prämiert. Arabische Gebeine wurden zeitweise zu Tierkohle verarbeitet (Olivier Le Cour Grandmaison).

Napoleon III. aber sah die Hand Gottes am Werk: »Frankreich ist die Herrin Algeriens, weil Gott dies gewollt hat.« Die Algerier sahen das anders. Doch sie mussten für ihre Freiheit einen hohen Blutzoll zahlen. Allein im Unabhängigkeitskrieg zwischen 1954 und 1962 wurden achttausend algerische Dörfer von der französischen Luftwaffe durch Napalmbomben zerstört. Auch vonseiten des FLN, des algerischen Front de Libération Nationale, gab es grauenvolle Akte des Terrors. Albert Camus hat zu Recht darauf hingewiesen. Aber zahlenmäßig stehen sie in keinem Verhältnis zu den Gewalttaten der Kolonialisten.

Insgesamt töteten diese während ihrer 130 Jahre dauernden, angeblich christlichen »Zivilisierungsmission« nach algerischen Angaben weit über zwei Millionen Algerier. Selbst französische Schätzungen gehen von über einer Million getöteten Algeriern und hunderttausend getöteten Franzosen aus.

Den von Großbritannien kolonialisierten Irakern erging es nicht wesentlich besser. Winston Churchill warf ihnen 1920 wegen ihres Aufstands gegen die britische Unterdrückung »Undankbarkeit« vor. Er setzte chemische Waffen ein – »mit ausgezeichneter moralischer Wirkung«, wie er anmerkte. »Bomber Harris«, der geistige Vater des »moral bombing«, der damit im Zweiten Weltkrieg Weltruhm erlangte, erklärte nach einem Luftangriff stolz: »Die Araber und Kurden wissen jetzt, was eine richtige Bombardierung ist. In 45 Minuten fegen wir ein ganzes Dorf weg.«

Bombenangriffe galten auch als effektive Methode zum Eintreiben von Steuern. Der Royal-Air-Force-Offizier Lionel Charlton quittierte 1924 erschüttert seinen Dienst, nachdem er in einem Krankenhaus die verstümmelten Opfer gesehen hatte. Er ahnte nicht, dass sein Land achtzig Jahre später den Irak erneut bombardieren würde.

In Libyen warfen die damaligen italienischen Kolonialisten Fässer mit Phosgen und Senfgas auf Aufständische und Zivilbevölkerung. Stammesführer wurden in Flugzeuge gepackt und aus schwindelnder Höhe abgeworfen. Über hunderttausend Zivilisten wurden in Wüstenlager deportiert, die Hälfte ging kläglich zugrunde. Libysche Mädchen wurden für die Kolonialtruppen als Sexsklavinnen gehalten. Die Spanier setzten während der Kabylenaufstände in Marokko ebenfalls chemische Waffen ein. Die Folgen waren auch hier grauenvoll.

Als Vorbild für die Behandlung der Araber galt die erfolgreiche Ausrottungsstrategie der Europäer gegenüber den Indianern Amerikas. Der rassistisch-zivilisatorische Überlegenheitswahn jener Zeit kannte keine Grenzen. Gustave Le Bon, genialer Begründer der Massenpsychologie, leider aber auch unerbittlicher Kämpfer gegen den »Gleichheits-Aberglauben«, teilte die Menschen in vier Klassen ein: Die australische und amerikanische Urbevölkerung galten als »primitive Rasse«, die »Neger« als »niedere«, die Chinesen und Araber immerhin als »mittlere«, die Indoeuropäer aber als »höhere Rasse«.