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Die Bibel ist das am meisten überschätzte Buch der Weltliteratur, Jesus von Nazareth die am meisten überschätzte Person der Weltgeschichte. Mit solchen Thesen hinterfragt der Autor, selbst promovierter Theologe, die in Europa vorherrschende Weltreligion des Christentums. In gut lesbarer Form und nicht ohne Ironie wird gefragt, ob die Bibel denn tatsächlich ein gutes und ethisch wertvolles Buch sei, wie die Kirchen immer wieder behaupten, oder ob sich im Alten Testament nicht vielmehr ein zorniger Kriegsgott austobt und das Neue Testament für das Ende der Zeiten die Vernichtung aller Ungläubigen ankündigt. "Wer da glaubt und getauft wird, der soll selig werden, wer aber nicht glaubt, der soll verdammt werden." (Mk 16,16). Und es wird gefragt, ob sich die Kirchen denn zu Recht auf jenen Jesus von Nazareth berufen, den sie als Gottes Sohn verkündigen. Denn die wissenschaftliche Forschung hat längst erkannt, dass Jesus ein ganz anderer war und mit dem Jesus der Kirchen fast nichts gemein hat. Das Christentum bewegt sich in der Weltgeschichte ohne Fahrschein. Dieses Buch richtet sich sowohl an Gläubige und Anhänger der Kirchen, die sich nicht scheuen, auch mit unangenehmen Fakten konfrontiert zu werden, als auch an der Kirche Fernstehende, die immer schon vermutet hatten, dass mit dem Christentum etwas nicht stimmen kann.
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Seitenzahl: 605
Heinz-Werner Kubitza
Der Jesuswahn. Wie die Christen sich ihren Gott erschufen. Die Entzauberung einer Weltreligion durch die wissenschaftliche Forschung Umschlagabbildung: © joshblake – www.istockphoto.com
© Tectum Verlag Marburg, 2012
ISBN 978-3-8288-5597-7
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-2435-5 im Tectum Verlag erschienen.)
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Vorwort
1. Der peinliche Gott des Alten Testaments
Jahwe – Gott des Krieges und der Gewalt
Geschichtsklitterungen im Alten Testament
Karriere eines Gottes – erster Teil
Das Alte Testament – Ein ethisches Defizit
2. Der fragwürdige Gott des Neuen Testaments
Karriere eines Gottes – zweiter Teil
Kann ein Gott sich ändern?
Jesus – ein religiöser Fundamentalist?
Fragwürdiges bei Paulus
Die Schrecken der Apokalypse
Welcher Gott soll es denn nun sein?
3. Jesus von Nazareth – ein entzauberter Gottessohn
Das Schweigen der Quellen
Der lange Marsch zu den Evangelien
Die Zwei-Quellen-Theorie
Das Desinteresse des Paulus
Fragwürdige Quellen über Jesus – die Evangelien
Fromme Schummeleien zur höheren Ehre Gottes
Schon bei Paulus
Erfundene Verfassernamen
Fälschungen bei den Synoptikern
Johannes – ein ganzes Evangelium als fromme Dichtung
Alte und neue Leben-Jesu-Forschung
Jesu Herkunft und Abstammung
Das Aussehen Jesu
Die Geburtslegenden
Jesus, ein Schüler Johannes des Täufers?
Die Taufe Jesu durch Johannes
Der Kardinalirrtum Jesu – das Gottesreich kam nicht
Die Ankündigung des Gottesreichs durch Jesus
Die Rolle Jesu im Reich Gottes
Peinlichkeiten – die Naherwartung der ersten Christen
Jesus wollte keine Weltmission
Jesus als Wundertäter und Exorzist
Sind Wunder möglich?
War Jesu Lehre wirklich neu?
Positives in der Lehre Jesu
Fragwürdiges in seiner Verkündigung
Widersprüchlichkeiten – Abschließendes zur Ethik Jesu
Die Hinrichtung Jesu
Die Umdeutung der Niederlage am Kreuz
Idealisierungen in den Evangelien
Wer ist schuld am Tod Jesu? – Die Anfänge des christlichen Judenhasses
Ungereimtheiten beim Prozess Jesu
Warum wurde Jesus getötet?
Weitere unruhige Gestalten neben Jesus
Die Auferstehungslegenden
Hypothesen zum Urmirakel des Christentums
Widersprüche in der Überlieferung von der Auferstehung Jesu
Erscheinungen eines Untoten
„Ist Christus nicht auferstanden, ist eure Predigt vergeblich“
Wer war Jesus nun wirklich?
Für wen hat er sich gehalten? – Jesu Selbstverständnis
Die schrittweise Vergöttlichung des Menschen Jesus
Das Christentum als weltgeschichtlicher Irrtum – Ein Zwischenfazit
4. Im Zauberwald der Dogmen – Die Hauptlehren des Christentums
Wahrer Gott und wahrer Mensch – Widersprüche als höhere Weisheit
Die göttliche Trinität
Eine blutige Erlösung am Kreuz
Ein verzerrtes Welt- und Menschenbild
Die mythologische Herleitung der Sünde
Sünde im Dienst der Kirche
Dürftigkeit und Defizite im Menschenbild
Diffamierung der Frau
Zölibat und Abwertung der Ehe
Mythologische Welterklärungen
Die Hölle
Fegefeuer
Die Abschaffung der Vorhölle
Teufel, Dämonen und Exorzismen
Die Engel
Marienfrömmigkeit
Die missverstandene Gottesmutter
Jungfrauengeburt
Glorifizierung Marias – Herabsetzung der Frau
Bibelgläubigkeit und biblischer Fundamentalismus
Christentum als Ideologie und Esoterik
Religion ist Ideologie
Glaube ist Aberglaube
Religion und Esoterik
Esoterik als Ausverkauf des Geistes
Ist Christentum Esoterik?
Gebete
5. Auf der Suche nach den christlichen Werten
Vom Wert und Unwert der Zehn Gebote
Biblische Unworte
Sind Glaube, Hoffnung und Liebe wirklich Tugenden?
Jesus, ein fragwürdiges Vorbild
Woher stammen unsere Werte wirklich?
Wozu noch Christentum?
Karriere eines Gottes – letzter Teil (statt eines Nachworts)
Personen- und Sachverzeichnis
Literaturverzeichnis
Freiheit der Vernunft erfechten,
Heißt für alle Völker rechten,
Gilt für alle ewge Zeit.
Friedrich Schiller
Die Bibel ist das am meisten überschätzte Buch der Weltliteratur. Weil sie die grundlegenden Schriften der bislang noch größten Weltreligion enthält und in hohen Auflagen in fast allen Sprachen gedruckt wird, schreiben selbst der Kirche Fernstehende diesem Buch eine gewisse inhaltliche Qualität zu. Die Bibel profitiert von einem Klassikerkult, die auch denen Respekt abnötigt, die selbst gar keine Christen sind. Sie wird gelobt, obwohl die meisten sie kaum gelesen haben. Und geschichtliche Wirkung hat sie ja auf alle Fälle gehabt.
Doch bedeutet geschichtliche Wirkung nicht immer auch inhaltliche Qualität. Und so ist es ein hartnäckig sich haltendes Gerücht, dass die Bibel eine wertvolle Lektüre sei, dass sich in ihr nicht nur Glauben, sondern auch ein werthaftes Ethos spiegele, dass sie Orientierung und Sinnhaftigkeit vermitteln und dass sie deshalb besonders auch Heranwachsenden empfohlen werden könne.
Doch dies ist falsch oder stimmt zumindest heute nicht mehr. Wir haben es bei den Schriften des Alten und des Neuen Testaments mit antiken Texten zu tun, die mit unserer Zeit und unserer Gesellschaft nicht nur nichts mehr zu tun haben, sondern die an unzähligen Stellen elementaren Grundsätzen einer modernen und freiheitlichen Rechts- und Gesellschaftsordnung widersprechen. Viele Handlungsmuster und Prämissen der Bibel sind über weite Strecken für den heutigen Menschen nicht nur unbrauchbar geworden, die Bibel zeigt an vielen Stellen geradezu beispielhaft, wie man nicht handeln sollte. Man kann ihr daraus nicht einmal einen Vorwurf machen. Denn die Bibel ist ein Relikt aus einer anderen Zeit, Überbleibsel einer Epoche und eines Paradigmas, welches zu Recht auf den Schutthaufen der Geschichte gehört. Der Begründung dieser These sind die ersten Kapitel dieses Buches gewidmet, die den Blick freigeben auf manches Abgründige, Erschreckende und Absurde in den Heiligen Schriften der Christenheit.
Das Ansehen und der Einfluss der Kirchen war schon einmal größer. In 10–20 Jahren werden die Konfessionslosen gegenüber den beiden großen Kirchen in Deutschland in der Mehrheit sein. Obwohl sie sich so menschlich und mitfühlend zeigen wie selten in ihrer Geschichte, laufen ihr die Gläubigen davon. Dagegen erfreut sich die Person Jesus, ihr angeblicher Gründer, weiter ungebrochener Sympathie, sogar bei ausgewiesenen Kirchengegnern oder Anhängern der esoterischen Subkultur. Jesus ja, Kirche nein – mit dieser Kurzformel kann man die Haltung vieler Zeitgenossen umreißen. Jesus als aufrechter Mann mit einer guten Botschaft, dessen gewaltsamer Tod durch die Mächtigen ehrliche Anteilnahme auch bei Nichtchristen auslösen kann.
Doch war seine Botschaft wirklich so gut? Eignet er sich wirklich als Vorbild oder gar als anzubetender Gott? Die historische Forschung ist sich weitgehend einig, dass der Jesus, wie ihn die Kirchen verkündigen und wie er teilweise schon in der Bibel verkündet wird, so niemals existiert hat. Wie die Bibel das am meisten überschätzte Buch der Weltliteratur ist, dürfte Jesus die am meisten überschätzte Person der Weltgeschichte sein. Wer Jesus wirklich war und was man heute wissenschaftlich verantwortbar über ihn sagen kann, soll deshalb in einem zentralen Kapitel über ihn festgehalten werden. Es muss dabei auch der Blick freigegeben werden auf die Begrenztheiten und die Abgründe dieses Wanderpredigers aus Galiläa. Die Ergebnisse sind für Gläubige und auch seine profanen Verehrer nicht immer angenehm. Nicht jeder möchte das so genau wissen.
Was hat die Kirche aus Jesu Lehre gemacht? Hat er überhaupt eine tragende Rolle gespielt bei der Ausgestaltung der Kirche und ihrer Glaubenssätze? Hat die Kirche auf ihn Rücksicht genommen? Oder kam ihm bei der Aufführung der theologischen Oper nur die Rolle des Hausmeisters zu? Diesen Fragen zu den Dogmen der Kirche wird im Anschluss an die Kapitel über Jesus nachgegangen, auch hier mit interessanten Ergebnissen.
Abschließend begeben wir uns auf die Suche nach den christlichen Werten, die nicht zuletzt von Politikern in Sonntagsreden immer wieder beschworen werden. Auch jeder Nichtpolitiker glaubt zu wissen, was damit gemeint ist, doch die christlichen Werte genau zu benennen fällt umso schwerer, je genauer man hinsieht – ähnlich einer Fata Morgana, die verschwimmt, je genauer man sie fixieren will. Denn vieles, was ein modernes Gemeinwesen konstituiert, hat mit christlichen Wurzeln oder Prämissen schlechterdings nichts zu tun. Ja man darf geradezu froh sein, dass unsere Gesellschaft gerade nicht auf den so oft beschworenen biblischen oder christlichen Grundlagen beruht. Das Christentum wird deshalb auch als Quelle der Ethik und als Grundlage für eine moderne Gesellschaft bei Weitem überschätzt.
Dieses Buch will die Grundlagen und die Ausprägungen des christlichen Paradigmas kritisch beleuchten, welches die abendländische Geschichte über mehr als 1500 Jahre bestimmt hat. Es zeigt dabei die fast völlige Differenz und Unterschiedenheit der Lehren der christlichen Kirchen von demjenigen an, auf den sich diese Kirchen fälschlicherweise berufen. Die wissenschaftliche Forschung, besonders die Erforschung des Neuen Testaments mit wissenschaftlicher Methodik, hat die historische Haltlosigkeit der Fundamente des Christentums weitgehend und hinlänglich belegt. Die Wahrheit des Christentums ist prinzipiell keine Frage des Glaubens mehr, nichts, wofür man sich entscheiden kann oder auch nicht. Denn noch vor aller zu glaubenden Dogmatik ist das Christentum bereits durch die historische Vorprüfung gefallen. Die historische Forschung hat die Frage nach der Wahrheit des Christentums nachhaltiger gelöst, als es Bibliotheken von Dogmatiken je hätten tun können. Die Frage der Entscheidung stellt sich nun gar nicht mehr, sondern nur noch die Frage, ob man persönlich bereit ist, diese Ergebnisse zu akzeptieren oder vor ihnen die Augen zu verschließen. Das christliche Paradigma kann intellektuell verantwortbar als erledigt, die Frage nach seiner Wahrheit in negativem Sinne als gelöst betrachtet werden. Und dies auch ungeachtet des Umstands, dass das Christentum selbst sicher noch Jahrhunderte bestehen wird, wie einst auch die germanische und römische Götterwelt nach dem Sieg des Christentums noch Jahrhunderte Bestand hatte.
Denn trotz religiöser Sperrstunde lassen sich die Stammgäste auch vom erfahrensten Wirt nicht so einfach vor die Tür setzen. Die Kirchen haben als soziologische und institutionelle Größen ein nicht zu unterschätzendes Sitzfleisch und Beharrungsvermögen. Und die Gläubigen wollen glauben und sind Argumenten in diesem für sie ja existenziellen Bereich nur sehr schwer zugänglich. Trotzdem oder gerade deshalb sind kritische Argumente nicht von vornherein vergebliche Liebesmüh, sondern umso notwendiger.
Dieses Buch richtet sich deshalb sowohl an Glieder und Freunde der christlichen Kirchen, die sich nicht scheuen mit Gedanken konfrontiert zu werden, die geeignet sind, ihre Lebens- und Glaubensprämissen zu hinterfragen oder sogar zur Disposition zu stellen. Es kann für sie neue Einsichten eröffnen und zu einer besseren Erschließung der Wirklichkeit führen, aber auch die gewohnten und als angenehm empfundenen Sinnzusammenhänge schal werden und fragwürdig erscheinen lassen. Sie werden es wenig erbaulich, aber dafür hoffentlich umso mehr erkenntniserweiternd empfinden. Und dieses Buch richtet sich gleichermaßen auch an Kritiker des Christentums und an solche, die immer schon vermutet hatten, dass mit dem Christentum etwas nicht stimmen kann. Sie erhalten mit diesem Buch die Möglichkeit, ihr richtiges Gefühl argumentativ zu unterlegen. Denn tatsächlich lässt sich manches zum bestehenden Christentum und seiner Entstehung sagen.
Dieses Buch versteht sich so in bester aufklärerischer Tradition. Dass Aufklärung ein alter Hut und speziell Religionskritik ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert sei, kann dabei nicht zugestanden werden. Sie ist es zumindest so lange nicht, wie allsonntäglich in Zigtausenden von Kirchen das Gegenteil gepredigt wird. Dieses Buch ist jedoch kein Beitrag zu einem grundsätzlichen Atheismus. Es beschäftigt sich ausschließlich mit dem Christentum als der Hauptreligion dieses Kulturkreises. Das Christentum ist dabei auch diejenige Religion, die von allen Religionen am meisten wissenschaftlich untersucht wurde. Allerdings drängt sich stark der Verdacht auf, dass auch viele andere Religionen, würden sie sich ernsthaft einer wissenschaftlichen Untersuchung stellen, ebenfalls ohne Fahrschein dastünden.
Um einem Missverständnis gleich hier vorzubeugen: Wenn im Titel dieses Buches vom Jesuswahn die Rede ist, meint dies natürlich nicht, dass es sich bei den Gläubigen um irgendwie religiös „Wahnsinnige“ handeln würde. Es finden sich unter Christen und den Amtsträgern der Kirchen oft ausgesprochen sympathische und freundliche Menschen. Und es geht auch nicht darum, Gläubige oder deren Glauben zu diffamieren. Doch schon bei an sich kritischen und nichtreligiösen Menschen lassen sich, ein interessantes Phänomen, zuweilen Inseln des Irrationalen finden, man denke nur an z.B. Karlsruher Philosophen, die von der Wahrheit der Homöopathie überzeugt sind oder Politiker, die regelmäßig Horoskope lesen. Seitensprünge ins Abergläubische, die bei diesen wie ein Spleen erscheinen, sind bei Gläubigen jedoch konstitutiv, sie bilden die Grundlage ihrer Weltanschauung im Ganzen, sind ein permanenter Ehebruch gegen die Wirklichkeit. Wobei Gläubige sich selbst natürlich nicht als abergläubig verstanden wissen wollen. Die Kirchen und ihre Dogmen sind jedoch, dies hat nicht zuletzt die historische Forschung gezeigt, geradezu Formen der organisierten Irrationalität.
Gläubige müssen es sich schon gefallen lassen, dass Behauptungen wie die, dass ein Mensch gewordener Gottessohn für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist, dass er von den Toten auferstanden und dass er Teil einer göttlichen Trinität ist, aus dem Kirchendunkel und Beichtstuhlmief ins vergleichsweise klare Licht der historischen Betrachtung gezogen werden. Das starre Festhalten an überlieferten und angeblich ewigen und heiligen Glaubenssätzen trotz des klaren Nachweises ihres historischen Gewordenseins, das Behaupten einer Scheinwelt neben der empirisch erfahrbaren Welt, gar die Erwartung einer Hölle mit ewigen Qualen oder eines Paradieses (mit oder ohne Jungfrauen) samt eines Lebens nach dem Tod; dies hat durchaus wahnhafte Züge.
Nichtchristen mögen zunächst fragen: Was habe ich mit einem alten Gott zu schaffen? Und warum so viel Aufwand wegen einiger antiker Texte? Doch die Texte blieben ja nicht in der Antike. Noch heute werden die Kirchen nicht müde, das Lesen der Bibel anzuempfehlen, noch heute werden Kinder in Schulen und religiösen Unterweisungen mit diesen Texten konfrontiert, wird ein Leben nach „biblischen Grundsätzen“ von Frommen und Kirchentreuen als Lebensmaxime angestrebt.
Dabei sind die biblischen Schriften in ihrem Gottes- und Menschenbild mit humanen und freiheitlichen Grundsätzen nicht zur Deckung zu bringen. Das vermeintlich positive Bild der Bibel rührt vor allem daher, dass sie nur bruchstückhaft zur Kenntnis genommen wird. Den Gläubigen wird von den Kirchen eine entschärfte Version angeboten, eine Textauswahl, die nur die Stellen den Gläubigen meint anbieten zu können, die gut verdaulich sind. Ein saftiger Braten wird wegen seiner Gemüsedekoration den Gläubigen so als vegetarisches Gericht verkauft. Es ist die Steinbruchmethode, die aber nicht nur die Kirchen bewusst, sondern die auch private Bibelleser unbewusst anwenden, das Heraussuchen von erbaulichen und positiven Stellen und das Weglassen und Herausfiltern von allem, was diesem Schema nicht entspricht. Und es ist die Person Jesus von Nazareth, die für die Christen zentrale Bedeutung hat. Wenn man ihn versteht, meint man die Bibel, auch das Alte Testament, verstanden zu haben. Mit Jesus von Nazareth, zu dem es einiges festzustellen gibt, werden wir uns an späterer Stelle in diesem Buch eingehend beschäftigen. Doch vor dem vermeintlichen Sohn interessiert uns hier zunächst der vermeintliche Vater, der Gott des Alten Testaments.
Der Gott des Alten Testaments begegnet, aller Schönfärberei der Kirchen zum Trotz und diesen vielfach auch Anlass zur Peinlichkeit, über weite Teile als Kriegsgott. Jahwe ist der, der das Volk Israel aus Ägypten herausführt und von dem sie das Land Palästina erhalten, das sie freilich erst von den rechtmäßigen Bewohnern erobern sollen. Die Zuwendung Gottes zu Israel zeigt sich vielfach im Krieg. Und dieser Gott Jahwe hat noch ein völlig unbefangenes Verhältnis zu Krieg und Mord. Angriffs- und Vernichtungskriege sind nicht nur erlaubt, sie werden sogar ausdrücklich von ihm gefordert. Ethische Skrupel scheint dieser Gott nicht zu kennen, vornehme Zurückhaltung ist seine Sache nicht. Gott ist der Herr Zebaoth, der Gott der Heerscharen, mit denen die Kirchen (das Herr Zebaoth wird in den Kirchen immer noch verwendet) heute gerne „himmlische Heerscharen“ meinen, die aber in ihrer Ursprungsbedeutung eine Kriegerschar bezeichneten. Jahwe war ein Kriegsgott.
Die Kriege, zu denen Jahwe aufruft, sind dann natürlich heilige Kriege, die Schlachterfolge, die Israel erzielt, sind Zeichen seiner Macht. Er selbst kämpft mit. Vor dem Durchzug durch den Jordan heißt es:
So sollst du denn heute erfahren, dass Jahwe, dein Gott, selbst vor dir als ein verzehrendes Feuer hinüberzieht; er wird sie vertilgen, und er wird sie vor dir niederwerfen, so daß du sie rasch aus ihrem Besitze vertreiben und vernichten kannst, wie dir Jahwe zugesagt hat. (Dtn 9,3)
Die Landnahme wird von Juden und Christen gleichermaßen als Segnung Gottes verstanden. Dabei handelt es sich aus heutiger Sicht eindeutig um Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge. Und diese werden religiös gerechtfertigt und sind gekennzeichnet durch außergewöhnliche Grausamkeit.
Wenn du gegen eine Stadt anrückst, um sie zu bekriegen, so sollst du ihr zuerst eine friedliche Regelung anbieten. Geht sie auf die friedliche Lösung ein und öffnet sie dir die Tore, dann soll dir die ganze darin befindliche Bevölkerung frondienstpflichtig und untertan sein. Wenn sie aber keine friedliche Übereinkunft mit dir eingeht […] dann magst du alles Männliche in ihr mit der Schärfe des Schwertes erschlagen. Die Frauen und Kinder jedoch, das Vieh und alles, was sich in der Stadt findet, alles in ihr Erbeutete sollst du an dich nehmen und das von deinen Feinden Erbeutete, welches dir Jahwe, dein Gott, gibt, genießen. Auf diese Weise sollst du mit all den Städten verfahren, die sehr weit von dir entfernt liegen, die nicht zu den Städten dieser Völker dazugehören. Nur aus den Städten dieser Völker, welche dir Jahwe, dein Gott, als Erbbesitz geben will, sollst du keine Seele am Leben lassen, denn an ihnen musst du den Bann unbedingt vollstrecken. (Dtn 20,10–16)
Vor dem Einzug der Israeliten nach Palästina liest man an anderer Stelle:
Wenn dich Jahwe, dein Gott, in das Land bringt, in das du nun einziehst, um es in Besitz zu nehmen, und wenn er viele Völker vor dir vertreibt […] und wenn sie Jahwe, dein Gott, dir preisgibt und du sie dann besiegst, dann sollst du an ihnen unbedingt den Bann vollstrecken; du darfst weder einen Vertrag mit ihnen abschließen noch Gnade an ihnen üben […]. Ihr sollt vielmehr mit ihnen so verfahren: ihre Altäre sollt ihr niederreißen, ihre Malsteine zertrümmern, ihre heiligen Bäume umhauen und ihre Gottesbilder im Feuer verbrennen […]. Du aber sollst alle Völker, welche Jahwe, dein Gott, dir preisgibt, verschlingen; du darfst sie nicht mitleidigen Blickes schonen, und ihre Götter darfst du nicht verehren […]. (Dtn 7, 1,2,5,17)
Das Alte Testament ist voll solcher Stellen, in denen Jahwe sein Volk zu Krieg und Vernichtung aufruft. Und der Gehorsam des Volkes zeigt sich gerade darin, dass es den göttlichen Blutrausch in die Tat umsetzt.
Und Jahwe redete zu Mose also: Nimm an den Midianitern für die Israeliten Rache […]. So zogen sie gegen Midian, wie Jahwe Mose geboten hatte, und machten alle männlichen Personen nieder. […] Dann führten die Israeliten die Frauen und die Kinder Midians gefangen fort, schleppten all ihr Vieh, ihre sämtlichen Habe als Beute mit, steckten alle ihre Städte in ihren Wohngebieten und alle ihre Zeltlager in Brand […]. Mose fuhr sie an: „Habt ihr wirklich alle Weiber am Leben gelassen? […] Tötet sofort alle männlichen Kinder, ebenso tötet jedes Weib, das bereits mit einem Manne geschlechtlich verkehrt hat! Alle jungen Mädchen aber, die mit einem Mann noch nicht geschlechtlich zu tun hatten, laßt für euch am Leben. (Num 31, 1–2,7–10,15–18)
Religiöse Helden wie Mose und Josua entpuppen sich nach unserem Verständnis als Kriegsverbrecher, die in religiösem Wahn sich als Werkzeug ihres Gottes sehen. Mose kann singen:
Mach’ trunken vom Blut meine Pfeile, und Fleisch soll fressen mein Schwert – Von Erschlagener und Verwundeter Blut, vom Haupte feindlicher Führer. (Dtn 32,42)
Es ist unbegreiflich, dass die Bibel trotz solch ungezügelter Gewaltphantasien immer noch als eine moralische Instanz angesehen wird, dass immer noch fromme Eltern ihren Kindern deren Lektüre empfehlen. Denn religiöse Helden können leicht die Ausbildung einer humanen Ethik behindern. Richard Dawkins erzählt in seinem Buch „Der Gotteswahn“ (S. 354ff.) von einem Experiment mit über 1000 Schülern in Israel im Alter von acht bis vierzehn Jahren, denen der Bericht von der Schlacht um Jericho vorgelesen wurde:
Als die Priester beim siebten Mal die Hörner bliesen, sagte Josua zum Volk: Erhebt das Kriegsgeschrei! Denn der Herr hat die Stadt in eure Gewalt gegeben. Die Stadt mit allem, was in ihr ist, soll zu Ehren des Herrn dem Untergang geweiht sein. […] Alles Gold und Silber und die Geräte aus Bronze und Eisen sollen dem Herrn geweiht sein und in den Schatz des Herrn kommen. Darauf erhob das Volk das Kriegsgeschrei und die Widderhörner wurden geblasen. Als das Volk den Hörnerschall hörte, brach es in lautes Kriegsgeschrei aus. Die Stadtmauer stürzte in sich zusammen, und das Volk stieg in die Stadt hinein, jeder an der nächstbesten Stelle. So eroberten sie die Stadt. Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel. […] Die Stadt aber und alles, was darin war, brannte man nieder; nur das Silber und Gold und die Geräte aus Bronze und Eisen brachte man in den Schatz im Haus des Herrn. (Jos 6,16–24)
Anschließend wurde den Schülern die Frage gestellt, ob Josua und die Israeliten richtig gehandelt haben oder nicht. Zwei Drittel der Kinder fanden das Handeln richtig. Gott habe es ja befohlen und die Menschen in Jericho hatten ja eine andere Religion, war von den Kindern als Begründung zu hören. Für israelische Schüler ist Josua eben einfach ein Volksheld, das hat ihnen ihre Religion eingeschärft. Seine Taten sind deshalb nicht nur entschuldbar, sondern sogar richtig. Interessant ist das Ergebnis einer Kontrollgruppe. Bei 168 israelischen Schülern ersetzte man den Namen Josua durch General Lin und Israel durch ein chinesisches Königreich vor 3000 Jahren. Das Ergebnis können Sie sich vielleicht denken? Nur 7 % fanden das Verhalten von General Lin gut, aber 75 % lehnten es ab.
Viele Geschichten aus dem Alten Testament sind aus ethischer Sicht mehr als bedenklich. In Gen 22 soll Abraham seinen Sohn Isaak opfern, wie zu hören ist, weil Gott ihn auf die Probe stellen will. Abraham ist festen Willens zu gehorchen, erst am Schluss erklärt Gott das Geschehen quasi als göttlichen Aprilscherz. Diese realiter religiös-perverse Geschichte wird dennoch gerne in den Kirchen als Beweis für große Glaubensstärke gewertet. Soll aber ein Vater, der bereit ist, seinen Sohn auf religiöses Geheiß abzuschlachten, wirklich ein Vorbild sein? Oder zeigt sich darin nicht eher Fanatismus und religiöser Wahn? Auch eine solche Geschichte wird Kindern zugemutet.
Die Tochter des Jephtach hatte übrigens weniger Glück (Ri 11, 28–40). Ihr Vater hatte geschworen, im Falle eines Sieges gegen die Ammoniter das Erste zu opfern, was ihm zu Hause begegnen würde. Dies war jedoch dann seine geliebte Tochter. Er trauert und klagt, doch er steht zu seinem Wort, die Tochter muss sterben. Jephtach also auch ein Glaubensheld? Oder doch eher ein religiöser Fanatiker, der auch vor Kindesmord nicht zurückschreckt? Was ist das für ein Gott, der solche Opfer fordert, und was sind das für Menschen, die solche Opfer zu geben bereit sind?
Bei der Sintflut bringt dieser Gott gleich die ganze Menschheit um. Natürlich ist dies nie geschehen, die Israeliten bedienen sich hier nachweisbar an Versatzstücken der babylonischen Mythologie. Doch welches Gottesbild spricht aus dieser frommen Erzählung? Noah und seine Arche sind auch heute noch in christlichen Kindergärten gern verwendete Motive für Spiel- und Bastelnachmittage. Ein Völkermord als Kinderspiel? Und die Taube wirklich ein Zeichen der Hoffnung? Nachdem der Rest der Welt gerade von seinem Schöpfer ertränkt worden ist?
Bedenklich auch die völlig überzogenen Drohungen und angedrohten Strafen für den Fall, das Israel nicht gehorcht. Sklavischer Gehorsam scheint im Alten Testament die höchste Tugend zu sein.
Wenn du aber der Stimme Jahwes […] nicht gehorchst, so kommen die nachfolgenden Flüche über dich und treffen dich: Verflucht bist du in der Stadt und verflucht auf dem Felde […]. Verflucht ist die Frucht deines Leibes und die Frucht deines Bodens […]. Jahwe hängt dir die Pest an, bis er dich gänzlich aus dem Lande ausgerottet hat […]. Jahwe schlägt dich mit Schwindsucht, Fieber, Hitze und Entzündung […]. Deine Leichen werden ein Fraß für die Vögel des Himmels und die wilden Tiere der Erde […]. Jahwe schlägt dich mit ägyptischem Geschwüre, mit Pestbeulen, Krätze und Grind, von denen du keine Heilung finden kannst. Jahwe schlägt dich mit Wahnsinn, Blindheit und Geistesverwirrung. (Dtn 28,15–28)
Eine gewisse Geistesverwirrung scheint bei solchen Sprüchen tatsächlich im Spiel zu sein. Natürlich sind solche primitiven Ausfälle nicht wirklich Reden einer Gottheit. Keinem Gott sollte man ein solch niedriges Niveau unterstellen. Es sind alles erfundene Sprüche und Drohgebärden von interessierten Kreisen, die allermeisten wohl aus der Priesterschaft. Doch spielt auch dies keine Rolle, sie kommen oft mit der Einleitung So spricht Gott (co amar Jahwe) daher und wollen als Gotteswort gelten. Und es besteht kein Zweifel, dass man sie zumeist dafür gehalten hat, und dass fromme Bibelleser und ein von der Aufklärung ungeküsster Katholizismus sie noch heute dafür halten. Abzulehnen sind das Gottesbild und die ethischen Maximen, welche hier vermittelt werden. Sie sind den Werten unserer Gesellschaftsordnung in extremer Weise entgegengesetzt. Die Bibel zeigt, wie man gerade nicht handeln soll.
Vor dem Auszug aus Ägypten lässt dieser Gott über Mose ankündigen:
So spricht Jahwe: Um Mitternacht gehe ich durch Ägypten. Dann wird jede Erstgeburt im Land Ägypten sterben, von dem Erstgeborenen des Pharao, der auf dem Thron sitzt, bis zu dem Erstgeborenen der Magd hinter der Handmühle und alle Erstgeburt des Viehs. (Ex 11,4–6)
Und Jahwe lässt seiner Drohung Taten folgen und drangsaliert die Ägypter noch mit einer Reihe anderer Plagen. Auch hier gilt: Nicht dass dies tatsächlich geschehen wäre, die Historiker sind sich einig, dass es sich um recht späte Ausschmückungen eines viel prosaischeren Geschehens handelt, wenn es überhaupt nicht gänzlich erfunden wurde. Entscheidend auch hier das Bild eines Schlächtergottes, dem offenbar jedes Mittel recht ist.
Immer wieder die sadistische Grausamkeit Jahwes, der Feuer und Überschwemmungen schickt, der die Völker frisst, ihre Knochen zermalmt (Num 24,8), der das Hinschlachten von Frauen und Kindern befiehlt, der seine Freude daran hat, euch auszutilgen und euch zu vernichten (Dtn 28,61), wenn das Volk nicht gehorcht. Bei diesen Invektiven bleibt für Fremdvölker kaum noch eine Steigerungsmöglichkeit. Bei Jesaja heißt es in den Sprüchen gegen Babylon:
Jahwe Zebaoth mustert das Kriegsheer […]. Heult, denn der Tag Jahwes ist nahe […]. Seht, es kommt der Tag Jahwes, furchtbar und voll Grimm und Zornesglut, um die Erde in eine Wüste zu verwandeln und die Sünder daraus zu tilgen […]. Wen man findet, der wird niedergestoßen; wer ergriffen wird, fällt durch das Schwert. Ihre Kinder werden vor ihren Augen zerschmettert, ihre Häuser geplündert und ihre Frauen geschändet. Seht, ich biete gegen sie die Meder […]. Alle Knaben werden zerschlagen und die Mädchen zerschmettert; sie haben kein Erbarmen selbst mit der Leibesfrucht, ihr Auge kennt kein Mitleid mit den Kindern.“ (Jes 13,4–18)
Die Meder müssen herhalten, weil Israel selber zu einer Gegenwehr gegen das nicht nur militärisch, sondern auch kulturell höher stehende Reich der Babylonier nicht mehr in der Lage ist. Im Übrigen haben auch die Meder, die Jahwe aufbietet, an der Vorherrschaft der Babylonier nichts ändern können. Wunschdenken von Priesterkreisen!
Besonders perfide ist die Konstruktion, dass Jahwe selbst die Völker und die Menschen verstockt und diese dann deshalb bestraft werden.
Sichon, der König von Heschbon, aber weigerte sich, uns bei sich durchziehen zu lassen; denn Jahwe, dein Gott, hatte seinen Sinn hartnäckig und sein Herz unnachgiebig gemacht, um ihn in deine Gewalt zu geben, wie es jetzt geschehen ist. (Dtn 2,30)
Jahwes Wirken wird auch bei anderen kriegerischen Akten gesehen. Über die Ägypter heißt es beim Propheten Jesaja:
Dann stachle ich Ägypter gegen Ägypter auf, dass Bruder gegen Bruder kämpft, Freund gegen Freund, Stadt gegen Stadt, Gau gegen Gau. (Jes 19,2)
Wirklich nett ist das nicht. Andersgläubigen gilt auch sonst nur geringe Sympathie. Zahlreich sind die Aufrufe, fremde Kultstätten zu zerstören. Im sogenannten Kultischen Dekalog lesen wir:
Hüte dich, mit den Bewohnern des Landes, in das du kommen wirst, ein Bündnis zu schließen […]. Ihr sollt vielmehr ihre Altäre niederreißen, ihre Malsteine zertrümmern und ihre Ascheren umhauen. Denn du darfst keinen anderen Gott anbeten. „Eifersüchtig“ ist ja sein Name und ein eifersüchtiger Gott ist er. (Ex 34,12–14)
Auch dies ist nicht gerade ein wertvoller Beitrag zum Dialog der Religionen. Doch für Toleranz gab es im Hebräischen noch kein Wort. Die Anhänger fremder Kulte werden verfolgt und getötet, das Erschlagen von Baalspriestern lobend erwähnt. Aber auch wer im eigenen Volk fremden Göttern dienen will, also nicht religiös auf Linie bleibt, soll bestraft werden, natürlich gleich mit dem Tod. Und dies gilt auch für die nächsten Angehörigen, wie eindrücklich eingeschärft wird:
Wenn dein Bruder […] oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau, mit der du schläfst, oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst, dich heimlich verführen will und sagt: Gehen wir und dienen wir anderen Göttern […] dann sollst du nicht nachgeben und nicht auf ihn hören. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihm aufsteigen lassen, sollst keine Nachsicht für ihn kennen und die Sache nicht vertuschen. Sondern du sollst ihn anzeigen. Wenn er hingerichtet wird, sollst du als Erster deine Hand gegen ihn erheben […]. Du sollst ihn steinigen und er soll sterben; denn er hat versucht, dich vom Herrn, deinem Gott, abzubringen […]. (Dtn 13,7–11)
Nicht erst beim Anstiften zur Denunziation fühlt man sich an schlimme Kapitel der deutschen Geschichte erinnert. Mose führt nach der Anbetung des goldenen Kalbs vor, dass es nicht bei der Theorie bleibt:
Er sagte zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. Vom Volk fielen an jenem Tag gegen dreitausend Mann. Dann sagte Mose: Füllt heute eure Hände mit Gaben für den Herrn! Denn jeder von euch ist heute gegen seinen Sohn und seinen Bruder vorgegangen und der Herr hat Segen auf euch gelegt. (Ex 32,27–29)
Du sollst deinen Nächsten erschlagen? Dies meint man auch schon einmal anders gehört zu haben. Man empfindet, wie stark diese antiken Texte von unseren ethischen Maximen entfernt sind, wie groß der Graben der Geschichte sich hier erweist. Und man versteht die Forderung, dass solche Texte in einer freien und toleranten Gesellschaft eigentlich nichts mehr verloren haben. Sie gehören in den Giftschrank der Geschichte, auf keinen Fall aber in die Hände von Kindern. Es ist bereits ein Zeichen religiöser Deformierung, wenn Gläubige das zutiefst Inhumane solcher Stellen nicht mehr empfinden. Nicht nur die Liebe macht blind.
Weit von humanen Vorstellungen entfernt ist auch die Todesstrafe, die der biblische Gott selbst für vergleichsweise harmlose Vergehen ausspricht. Eine schaurige Auflistung findet sich im Buch von Franz Buggle Denn sie wissen nicht was sie glauben, der eine Gesamtsicht auf die inhumanen und menschenverachtenden Stellen, nicht nur mit Blick auf die Todesstrafe, des Alten und Neuen Testaments bietet. Unter die todeswürdigen Vergehen fallen nicht nur Mord (nur bei den Angehörigen des eigenen Volkes!) und religiöser „Abfall“, sondern auch Ehebruch (jedenfalls der der Frau), Wahrsagerei, Geschlechtsverkehr während der Menstruation und Sodomie. Des Todes würdig war das Brennholzsammeln am Sabbat, der Genuss gesäuerter Brote am Passahfest, der Alkoholgenuss des Priesters vor dem Gottesdienst, aber auch das Essen von mehr als drei Tage altem Fleisch. Todeswürdig war das Berühren des Berges Sinai und unkorrekte Kleidung des Hohepriesters beim Tempeldienst. Mit dem Tode sollte auch bestraft werden der voreheliche Geschlechtsverkehr, das Nichtschreien einer Verlobten bei Vergewaltigung und natürlich Homosexualität. Auch Söhne, die sich schwierig und widerspenstig zeigten, konnten gesteinigt werden. (vgl. Buggle, Denn sie wissen nicht was sie glauben, S. 94ff.)
Stünden solche Anweisungen in den Schriften unbekannter Völker, man würde sie mit Recht als primitiv (im durchaus negativen Sinne des Wortes) ansehen. Doch dieser Bibel wird von den Gläubigen und den Kirchen immer noch eine ethische Kompetenz und Wichtigkeit unterstellt. Und man soll nicht meinen, die menschenverachtenden Stellen wären nur Ausnahmen. Der konservative Theologe und Jesuit Raymund Schwager stellt fest:
Die Stellen, die von einem ausdrücklichen Tötungsbefehl Gottes sprechen, sind recht zahlreich. Neben ungefähr tausend Versen, in denen Jahwe selber als der direkte Vollstrecker von strafenden Gewalttaten erscheint, und neben vielen Texten, gemäß denen der Herr die Übeltäter dem Schwert der Bestrafer ausliefert, gibt es über hundert weitere Stellen, in denen Jahwe ausdrücklich befiehlt, Menschen zu töten. Nach diesen Aussagen tötet er zwar nicht selber, insofern tritt er etwas in den Hintergrund. Dennoch ist er es, der befiehlt, menschliches Leben zu vernichten, der sein Volk wie Schlachtvieh preisgibt und der Menschen gegeneinander aufhetzt. (Raymund Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock. Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften, S. 70; die ganze Schrift ist online verfügbar)
Das Alte Testament ist ein Dokument des religiösen Extremismus, der Gewaltverherrlichung und der Intoleranz. Es ist geprägt von Rassismus, Verachtung Andersdenkender, von perversen Bestrafungsfantasien und einer rückständigen Ethik. „Die zusammengeschusterten alten jüdischen Bücher präsentieren einen übel gelaunten, unerbittlichen, blutigen und provinziellen Gott, der womöglich am meisten Angst verbreitete, wenn er guter Stimmung war – die klassische Eigenschaft des Diktators.“ (Christopher Hitchens, Der Herr ist kein Hirte, S. 215)
Doch in unserem Kulturkreis sind wir es gewohnt, das Alte Testament vom Neuen her zu lesen und den Gott des Alten Testaments vom Neuen her zu interpretieren. Und der neutestamentliche Gott wird ja, zumindest primär, als ein Gott der Liebe verstanden, als der Vater Jesu Christi. Stellen im Alten Testament, die dieser Sichtweise nicht entsprechen, werden von den Gläubigen unbewusst übergangen oder ignoriert, in den Predigtzyklen der Kirchen kommen sie nicht vor. Unmenschlichkeit und Menschenverachtung finden sich jedoch auch bei Personen, die in der Verkündigung hoch geschätzt sind, und in Teilen der Bibel, die sich eines prinzipiell hohen Ansehens erfreuen.
König David, bedeutendster König von Israel und Juda (obwohl sein Großreich nicht größer war als das Hessen Roland Kochs) wird als Glaubensheld bis in unsere Zeit verehrt, viele der Psalmen werden ihm (fälschlich) zugeschrieben. Vor seinem Königtum jedoch war David, wie man in der Bibel nachlesen kann (1. Sam 27,1–12) sechzehn Monate eine Art Bandenhauptmann bei den Philistern, damals die gefährlichsten Gegner Israels. Als solcher überfiel David das Land und ließ weder Mann noch Frau am Leben. Erst später wechselte er die Seiten und kämpfte nun gegen seine ehemaligen Beschützer. Denn die Philister hatten ihm Schutz vor seinem Widersacher Saul gewährt. Später wird er die Tochter Sauls heiraten, und er sollte Saul dafür die Vorhäute von 100 Philistern (!) zum Geschenk machen. Heute ist für die Schwiegereltern eher eine Kiste Wein ratsam – David erschlägt gleich zweihundert Philister.
Als König führt David dann nahezu ständig Krieg mit fast allen Völkern und Stämmen der Umgebung. „Meinen Feinden jagte ich nach und vertilgte sie, und ich kehrte nie um, bis ich sie umgebracht habe“ (2. Sam 22,38). Das gefangene Volk der Ammoniterstadt Rabba legte er „unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und verbrannte sie in Ziegelöfen. So tat er allen Städten der Kinder Ammons“ (2. Sam 12,31). Das Verbrennen in den Ziegelöfen war der evangelischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg offenbar so peinlich, dass sie es, entgegen der Übersetzung Martin Luthers, änderte in „und ließ sie an den Ziegelöfen arbeiten“ (vgl. Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, Band 1, S. 86f.). In 1. Sam 6,19 wird berichtet, David habe 50.700 Menschen umbringen lassen, nur weil sie die Bundeslade angeschaut hatten. Auch hier macht die EKD aus der Übersetzung Luthers „bescheiden siebzig Mann“ (Deschner, ebenda, S. 88).
Natürlich wird man davon ausgehen können, dass auch die Grausamkeiten an vielen Stellen übertrieben wurden. Je grausamer, desto machtvoller erschien ein Herrscher. Doch unabhängig vom tatsächlichen historischen Geschehen: Welches rückständige ethische Niveau zeigt sich hier erneut? Die Davidsgeschichten werden wegen ihrer Lebendigkeit auch gerne in christlichen Kindergärten nachgespielt. Haben wir nichts Besseres für unsere Kinder?
Trotz aller Gewalttat: David rühmt sich in einem Danklied über die Maßen selbst, denn er sieht sich bei allem Blutvergießen doch in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes.
Der Herr ist mein Fels, meine Burg und mein Retter; Gott ist mein Fels, in dem ich mich berge, mein Schild und das Horn meines Heils, meine sichere Festung und meine Zuflucht, mein Retter, der mich von Gewalttat befreit! (1. Sam 22, 2–3)
Wenn ein Herrscher in diesem Ton reden kann (obwohl das Lied vermutlich nicht auf David zurückgeht), und das ganze Kapitel ist in diesem Ton gehalten, dann sind die Gläubigen gerne bereit, bei seinen Taten nicht so genau hinzusehen. Auch Jahwe rühmt David ausdrücklich, weil er tat, was ihm wohlgefiel. Man muss sich ganz frei machen von dem Gedanken, dass das Alte Testament dies irgendwie spirituell oder in übertragenem Sinne meint. Das Morden wird für gut befunden, wenn es im rechten Glauben geschieht. Nicht anders haben es die Terroristen vom 11. September auch gesehen.
Der unglückliche Saul, erster König Israels und Vorgänger Davids, war zunächst auch ein solcher Liebling Jahwes gewesen. Dieser hatte ihm über den frühen Propheten Samuel befohlen:
So ziehe nun hin und schlage Amalek, und vollstrecke den Bann an allem, was er hat, und schone ihn nicht; sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel! (1. Sam 15,3)
Und Saul tat, wie Gott ihm befohlen hatte. Als er aber das beste Vieh verschonte (und nur die Männer, Frauen und Kinder umbrachte!), zeigt sich Jahwe verstimmt.
Es reut mich, daß ich Saul zum König gemacht habe; denn er hat sich von mir abgewandt und meine Worte nicht erfüllt! (1. Sam 15,11)
Über Samuel lässt er Saul nicht nur tadeln, sondern nimmt ihm auch sein Königtum. Saul, der sich herausreden will, die besten Tiere seien als Opfertiere geplant gewesen, muss sich sagen lassen: Gehorsam ist besser als Schlachtopfer. Ein Vers, über den auch in den Kirchen immer gerne gepredigt wird, ohne freilich auf den Kontext genauer zu achten.
Denn wäre bei all diesen göttlichen Vernichtungs- und Rachegelüsten nicht eher ein grundsätzlicher Ungehorsam geboten? Sich der geschundenen Menschen gnädig erweisen, wenn Gott sich schon ungnädig zeigt? Natürlich lag ein solches Denken nicht im Horizont der damals Handelnden, es ist zugegebenermaßen ungeschichtlich. Nur: Was will man mit solchen Geschichten ethisch heute erreichen, was will man Gläubigen vermitteln, was können Kinder anderes aus solchen Geschichten lernen als einen religiösverbrämten Kadavergehorsam?
Es bleibt dabei, der alttestamentliche Gott hat ethisch gewaltige Defizite, die alttestamentlichen Schriften, die halbmythischen religiösen Helden taugen nicht zur Wertevermittlung. „Die Bibel ist ein Regelwerk der Gruppenmoral mit Anweisungen zum Völkermord, zur Versklavung anderer Gruppen und zur Weltherrschaft.“ „Der Gott des Alten Testaments ist – das kann man mit Fug und Recht behaupten – die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur.“ (Richard Dawkins, Der Gotteswahn, S. 358; 45)
Besonderer Wertschätzung erfreuen sich in den Kirchen die Psalmen. Sie werden häufig in den gottesdienstlichen Lesungen berücksichtigt und als Gebetbuch der Bibel besonders gerne zur Lektüre empfohlen. Wer nun hier endlich Besinnliches erwartet, wird erneut enttäuscht, Gewalttätigkeit und Vernichtungswillen dominieren auch hier. Für Buggle sind die Psalmen „ein in weiten Teilen und in einem selten sonst zu findenden Ausmaß von primitiv-unkontrollierten Haßgefühlen, Rachebedürfnissen und Selbstgerechtigkeit bestimmter Text“ (vgl. Franz Buggle, Denn sie wissen nicht was sie glauben, S. 75–81, 102–111, das Zitat S. 103). Gleich zu Beginn wird Jahwe gerühmt: „All meinen Feinden hast du den Kiefer zerschmettert, hast den Frevlern die Zähne gebrochen.“ (Ps 3,8) Der Beter lobt Gott: „[…] du hast die Völker bedroht, die Frevler vernichtet, ihre Namen gelöscht für immer und ewig.“ (Ps 9,6) „In deinem Namen zertreten wir unsere Gegner.“ (Ps 44,6) „Der Herr steht dir zur Rechten, er zerschmettert Könige am Tage seines Zorns. Er hält Gericht unter den Heiden, er häuft die Toten, die Häupter zerschmettert er weithin auf Erden“. (Ps 110,5–6) Widerlich sind Sprüche wie jener gegen Babylon: „Wohl dem, der deine kleinen Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert.“ (Ps 137,9) Primitive Rachegedanken in Verbindung mit einer kaum zu überbietenden Selbstgerechtigkeit. Doch in den Kirchen betet man stattdessen: „Lobet den Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“
Man kann Buggle verstehen, wenn er in Bezug auf den Psalter formulieren muss, „dass ich seit langem keinen so durch exzessiven und ungezügelten Haß und Vergeltungssucht geprägten Text gesehen habe“ (Buggle, Denn sie wissen nicht was sie glauben, S. 104). Doch haben wir vom Alten Testament nicht auch ganz andere Töne im Ohr? Ist die Auswahl der gewiss bedenklichen Stellen nicht sehr einseitig? Finden sich nicht auch viele positive Stellen zum alttestamentlichen Gott?
Natürlich ist dies so. Nur ist die Einseitigkeit der Stellenauswahl nicht Buggle, sondern gerade den Kirchen vorzuwerfen, die uns ein Gottesbild präsentieren, das nach Möglichkeit mit den freundlicheren neutestamentlichen Gottesbildern in Verbindung gebracht werden kann. Die meisten der inkriminierten Stellen bekommt ein Gottesdienstbesucher in seinem ganzen Leben nicht zu hören, sie werden, sicher auch aus Peinlichkeit, in den Kirchen einfach nicht verwendet. Und bei einer privaten Bibellese wird man sich unbewusst natürlich diejenigen Stellen heraussuchen, die das fromme Gefühl am besten befördern. Das Unbewusste selbst nimmt hier eine Art Zensur vor oder interpretiert Grausamkeiten frömmigkeitskompatibel.
Das ethische Dilemma besteht darin, dass im Alten Testament positiv und negativ assoziierende Texte praktisch übergangslos miteinander verbunden sind. Gottes Güte wird gelobt, eben weil er die Feinde vernichtet hat. Weil Gott treu ist, wird er die Andersgläubigen vertilgen. Weil Gott Gebete erhört, werden die Feinde des Beters sterben. Und in oft unmittelbarer Nähe von als positiv empfundenen Stellen finden sich menschenverachtende Verse und Passagen. Die Propheten sind in diesem kurzen Überblick noch gar nicht zu Worte gekommen, aber auch hier ist das ethische Resümee verheerend. Jeder kennt die folgenden Verse aus der Weihnachtsliturgie:
Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf […]. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. Seine Herrschaft ist groß und der Friede hat kein Ende. Auf dem Thron Davids herrscht er über sein Reich; er festigt und stützt es durch Recht und Gerechtigkeit, jetzt und für alle Zeiten. Der leidenschaftliche Eifer des Herrn der Heere (!) wird das vollbringen. (Jes 9,1;5–6)
Verse, so ganz nach dem Geschmack einer religiösen Seele. Doch nur wenige Worte später wird das Idyll schon wieder gestört mit der Ankündigung eines göttlichen Strafgerichts. Gott selber stachelt die Feinde Israels an und hetzt sie gegen sie (Jes 9,10), und bald schon ist wieder Chaos und Vernichtung angesagt:
Deshalb verschont der Herr weder die Männer, noch hat er mit den Witwen und Waisen Erbarmen. Denn alle sind ruchlos und böse; aus jedem Mund kommt verruchtes Geschwätz. Doch bei all dem lässt sein Zorn nicht nach, seine Hand bleibt ausgestreckt. (Jes 9,16)
Es gibt wohl keine Stelle mit einem positiven Gottesbild, die nicht schon wenige Verse später in ihrem Aussagegehalt konterkariert würde. Besonders in den Psalmen folgen Zuckerbrot und Peitsche unmittelbar aufeinander. Und es dominiert die Peitsche.
Wie will man aber ein Heiliges Buch heute zur religiösen und ethischen Unterweisung nutzen, das so ungeschieden bedenkenswerte Passagen, die ja im Alten Testament unbestreitbar auch vorhanden sind, neben einer primitiven Racheethik bringt? Ist ein solches Buch wirklich hilfreich zur geistigen oder geistlichen Orientierung? Gab es da nicht schon in der Antike wesentlich niveauvollere und wertvollere Texte? Es bleibt dabei: Die Bibel ist das am meisten überschätzte Buch der Weltliteratur. Und auf das Alte Testament trifft dies in besonderem Maße zu. Es verdankt seine Bedeutung letztlich einer anfangs halb schicksalhaften Verbindung mit dem sich ausbreitenden Christentum. Und huckepack hat das Christentum das Alte Testament als ein schweres Erbe durch die Jahrhunderte geschleppt. Es war der große Gelehrte Adolf von Harnack, der dies in einer viel zitierten Passage seines Marcion-Buches so ausgedrückt hat:
Das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber im 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu conservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung. (Adolf von Harnack, Marcion, Leipzig 1921, S. 248f.)
Im 21. Jahrhundert ist auch vielen Pfarrern dass autoritäre Gottesbild und das rückständige Menschen- und Gesellschaftsbild vieler alttestamentlicher Stellen regelrecht peinlich. Denn eines darf man getrost unterstellen: Das ethische Niveau der in den Kirchen Tätigen übersteigt das ethische Niveau des alttestamentlichen Gottes bei Weitem. Wohl kein Pfarrer predigt heute noch im Geiste oder besser im Ungeiste des Alten Testaments. Es sind dabei vor allem protestantische Pfarrer, die sich im Rahmen eines Studiums auch wissenschaftlich mit den Überlieferungen beschäftigt haben und eine durch die europäische Aufklärung geläuterte Theologie betreiben, und die sich häufig nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft engagieren. Sie wissen natürlich um die Probleme mit dem Alten Testament, auch wenn sie diese wohl eher als Schwächen denn als ethischen Offenbarungseid interpretieren werden. Sie versuchen eben das Beste daraus zu machen. Das Christentum lebt auch davon, dass seine Amtsträger ein besseres ethisches Fundament besitzen, als das Alte Testament es bietet, und dass ein Gott verkündet wird, der sich eben nicht an einem Gott orientiert, der sich wie ein unbeherrschter Choleriker aufführt.
Zur Ehrenrettung Jahwes wird man aber sagen können, dass er es ja gar nicht ist, der im Alten Testament spricht, sondern dass es eben priesterliche Kreise sind, die ihre provinzielle Gruppenethik ihrem Gott in den Mund legen. Menschliche Satzungen werden als Gottes Gebote ausgegeben und beanspruchen als solche eine unbedingte, weil von Gott abgeleitete Autorität. Ein alter Trick, man kann ihn in der Religionsgeschichte häufig beobachten. Nicht der Gott ist damit letztlich grausam und unmenschlich, sondern seine Verehrer entlarven sich als solche. Sie haben ihren Gott dazu gemacht. Und nur so wird auch verständlich, warum es so viele Gottesworte zu vergleichsweise belanglosen Dingen gibt. Auch fromme Bibelleser werden sich schon gefragt haben, warum Jahwe sich damals um jede Kleinigkeit gekümmert hat. Kein Gott, der etwas auf sich hält, würde sich für die wirre Vielfalt der Ritualvorschriften interessieren, die im Pentateuch verhandelt werden. Wohl aber haben Priesterkreise an diesen Vorschriften ein gesteigertes Interesse gehabt. Sie sind die eigentlichen Urheber der Gottesworte. Und sie hatten offenbar keinerlei Hemmungen, von diesem Mittel intensiv Gebrauch zu machen und den Gott für das rituelle Alltagsgeschäft einzuspannen. Die Gottesreden im Alten Testament sind deshalb absichtliche Fälschungen, die Formel co amar Jahwe, das So spricht Jahwe, leitet eben kein Gotteswort ein, sondern spiegelt nur kultische und gesellschaftliche Fragestellungen einer Gesellschaft wider, die vor mehr als 2000 Jahren bestanden hat. Mit uns hätten diese Bestimmungen nichts zu tun, genauso wenig wie Ritualgesetze eines Südseestammes etwas mit uns zu tun hätten, wenn nicht das Alte Testament dem Christentum wie ein Schatten folgen und ihm eine Relevanz für das Leben der Gläubigen zuerkannt würde.
Noch einmal sei daran erinnert, dass es für die ethische Beurteilung keine Rolle spielt, ob ein Gott etwas wirklich gesagt hat, ja ob er überhaupt irgendetwas wirklich gesagt hat. Entscheidend ist nur, welche Aussagen ihm in der Überlieferung zugeschrieben worden sind, welches Welt-, Menschen- und Gottesbild sich darin zeigt, welche Ethik sich in ihnen spiegelt.
Doch wer war dann Jahwe wirklich, wenn seine Worte auf Erfindungen der Priester zurückgehen? Diese Frage führt etwas ab von unserem Thema, das sich ja um das Christentum und Jesus von Nazareth drehen soll. Einige Informationen zum Stand der Erforschung des Alten Testaments und des alttestamentlichen Gottes sind dennoch nicht uninteressant. Denn im allgemeinen Bewusstsein, erst recht in frommen Kreisen, erscheint das Alte Testament immer noch als ein relativ einheitlicher Block, wenn auch bestehend aus vielen Schriften mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Demgegenüber hat die Erforschung des Alten Testaments mit den Mitteln der historischen Kritik die Unterschiedlichkeit und das Gewordensein der alttestamentlichen Schriften zu beschreiben versucht. Seit fast zweihundert Jahren bemüht sich z. B. die Quellenkritik, die Vorbestandteile vor allem des Pentateuchs, also der sogenannten fünf Bücher Mose, zu eruieren. Die Forschung trifft dabei auf wesentlich schwierigere Probleme als bei der Erforschung des Neuen Testaments, denn dem Pentateuch liegt eine viel längere Überlieferungsgeschichte zugrunde.
Klar ist auf alle Fälle, dass das Bild von der ältesten Zeit Israels ein Konstrukt späterer Zeiten ist, oft sehr viel späterer Zeiten, und dass vieles, was uns aus dem Religionsunterricht noch geläufig ist, sich so nicht abgespielt hat. Die folgenden Abschnitte versuchen auf der Basis der alttestamentlichen Forschungsergebnisse, also keineswegs aus der Sicht des Autors, die grundlegenden Unterschiede der biblischen Darstellung und der historisch-kritischen Forschung aufzuzeigen.
Die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob, die ja im Alten Testament genealogisch verbunden sind, waren ursprünglich wohl drei unterschiedliche Stammespatriarchen, die vermutlich nichts miteinander zu tun hatten. Ob sie überhaupt historisch sind, ist durchaus ungewiss. Es gibt „keinen Anhaltspunkt mehr, über Ort und Zeit, über Voraussetzungen und Umstände des Lebens der menschlichen Gestalten der Erzväter geschichtlich etwas Sicheres auszusagen“ – so der Alttestamentler Martin Noth in seiner berühmten Geschichte Israels. Jede Gruppe verehrte offenbar einen oder mehrere unterschiedliche Götter, die sogenannten Vätergötter, von denen Reste noch in Bezeichnungen wie „der Gott Abrahams“ oder der „Gott Isaaks“ (Gen 31,42) oder „der Starke Jakobs“ (Gen 49,24) vorhanden sind (vgl. den Klassiker zum Thema von Albrecht Alt, Der Gott der Väter, 1929). Als Nomaden oder Halbnomaden zogen diese Gruppen an den Rändern des Kulturlands umher. Als später diese Stämme sich mit anderen Stämmen verbanden und sesshaft wurden, mussten auch die Erzvätertraditionen irgendwie vereinigt werden. Und man tat dies, indem man die Väter in eine genealogische Reihe brachte. Isaak wurde nun der Sohn Abrahams und Jakob der Sohn Isaaks. Auch die Gottesvorstellungen wurden allmählich angeglichen.
Jakob hatte in der Überlieferung zwölf Söhne. Aus diesen sind dann aber nicht die zwölf Stämme geworden, wie das Alte Testament konstruiert, sondern umgekehrt: Die Stämme muss man bereits voraussetzen, dann erst wurden sie auf einen Erzvater zurückgeführt. Spätere Zeiten haben jedenfalls die Erzvätertraditionen bearbeitet und versucht, einen gemeinsamen Ursprung des Volkes Israel zu konstruieren, der für jedes Volk immer irgendwie im Dunkeln ist. Auch die biblischen Geschichten können den Anschein des Schematischen nicht verbergen. Die Urgeschichte Israels ist also eine Geschichtskonstruktion, mehr Dichtung als Wahrheit.
Im Kulturland kamen also mehrere Gruppen zusammen, die autonom waren. Man traf sich an zentralen Kultorten, z. B. Baumheiligtümern oder heiligen Bergen, und kam sich kulturell und sicher auch menschlich näher. Zu diesen Stammesgruppen gehörte wohl auch jene, die die Exodustradition mitbrachte (vgl. den Artikel Exodusmotiv in der Theologischen Realenzyklopädie TRE Bd. 10, 733–736 von S. Hermann). Aus abhängigem Frondienst unter den Ägyptern, vielleicht zur Zeit Ramses II. (ca. 1298–1213 v. Chr.), hat diese Gruppe sich aus einem halbsklavischen Zustand befreien können und dann dieses Geschehen als von (ihrem!) Gott bewirkt verstanden. Die ausgeschmückten Wunder, die damit in Zusammenhang gebracht wurden, sind spätere Erfindungen. Und wohlgemerkt: Es war nicht das ganze Volk Israel, welches in Ägypten war und geflohen ist, sondern vermutlich nur eine recht kleine Teilgruppe. Auch sie tauchte an den damals bekannten Heiligtümern auf, die ja nicht exklusiv der Verehrung durch nur eine Gruppe dienten. Eine spätere Sicht der Dinge hat dann die schon genealogisch aufgereihte Erzvätertradition mit der Exodustradition in Verbindung gebracht. Nach dieser war es zunächst Joseph, ein Sohn von Jakob, der nach Ägypten kam, später folgten dann seine Verwandten. Und so entsteht dann das Bild, wie es die Bibel vermittelt und wie es viele im Religionsunterricht noch gelernt haben, nämlich dass das ganze Volk Israel bei diesem Exodus beteiligt war. Es wurde auf das Volksganze übertragen, was ursprünglich nur Tradition einer Teilgruppe war.
Ein weiterer Baustein israelitischer Geschichtskonstruktion war die Sinaitradition. Wo dieser Berg liegt, ist bis heute nicht genau feststellbar. Jedenfalls liegt er nicht auf der Sinai-Halbinsel, wo sich heute das Katharinenkloster befindet. Diese Ortstradition gibt es erst seit dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert. Eher spricht einiges dafür, dass der Berg Sinai sich im Norden der arabischen Halbinsel befand, vermutlich im Gebiet der Midianiter. Jedenfalls müssen wir auch hier einen heiligen Ort, einen Kultberg für nomadisierende und bereits sesshafte Gruppen annehmen. Hier nun hat wohl eine andere Stammesgruppe eine irgendwie geartete Gottesoffenbarung gehabt. Diese hat sie dann ihrerseits ins palästinische Kulturland mitgebracht und sie zum gemeinsamen Überlieferungsbestand beigesteuert. Auch die Sinaitradition wurde nun zu etwas, was das ganze Volk erlebt zu haben glaubte, was aber wohl nur eine Gruppe erlebt hat.
Die Ergebnisse der historischen Forschung ergeben somit ein anderes Bild als das, welches das Alte Testament vermittelt. Dass es verschiedene Erzvätertraditionen mit der Verehrung von vielleicht unterschiedlichen Göttern gab, erscheint klar. Unklar ist, wie die Erzväter hießen und was sie im Einzelnen erlebt haben. Manche Erzählungen werden von mehreren Erzvätern als Dubletten erzählt. Jedenfalls hatten diese Erzväter anfangs nichts miteinander zu tun, sondern wurden erst im Prozess der Sesshaftwerdung in eine genealogische Relation zueinander gebracht. Einen Exodus des Gesamtvolkes Israel (welches damals als Volk sich noch gar nicht konstituiert hatte) hat es nicht gegeben, wohl aber die Exodustradition einer Teilgruppe, die dann in einer späteren Gesamtschau auf das gesamte Volk übertragen wurde. Auch die Sinaitradition war ursprünglich selbstständig. Sie hatte weder etwas mit den Erzvätertraditionen noch mit der Exodustradition zu tun. Wir haben also anstelle eines biblisch-linearen Überlieferungsstrangs die fortlaufende Integration von Einzeltraditionen zu einer Gesamtüberlieferung.
Welche Stellung hatte dann aber eine Person wie Mose, der doch in mehreren Traditionen eine Rolle spielt? Ist er derjenige, der Israel aus Ägypten hinausführt? Oder war er ursprünglich nur mit der Sinaitradition verbunden, gar ein Priester dort? Es gab nicht wenige Forscher, die die Person Mose insgesamt für unhistorisch hielten. Für sie war er nur eine späte künstliche Klammer zur Integration der unterschiedlichen Traditionen. Jedenfalls aber wächst seine Bedeutung im Laufe der Überlieferung stark an, was eher für seine Historizität spricht, von der heute auch die allermeisten Exegeten ausgehen. Und dann wäre Mose wohl eher in der Sinaitradition zu verorten, denn die Exodustradition wird auch überliefert ohne die Mosefigur (vgl. das sogenannte Kleine geschichtliche Credo Dtn 26,5–10).
Israel hat die sogenannte Landnahme später stark heroisiert und idealisiert. Das palästinische Kulturland, das Land, wo Milch und Honig fließen, war im Wesentlichen besiedelt mit voneinander unabhängigen kanaanäischen Stadtstaaten. Die Landnahme, die ja im Alten Testament als im Wesentlichen kriegerischer Akt dargestellt wird, hat so gar nicht stattgefunden. Denn es war ja nicht ein Großvolk Israel, welches aus Ägypten auf dem Weg durch die Wüste schließlich an den Grenzen Palästinas eintraf. Grenzen des Landes dürfte es bei einer Stadtstaatenstruktur ohnehin nicht wirklich gegeben haben. Es waren einzelne Gruppen, die aus unterschiedlichen Richtungen sich zusammenfanden und langsam versuchten Fuß zu fassen, sicherlich ohne Plan und deshalb auch ohne einen Josua als zentralen Befehlshaber. Zu einem Eroberungskrieg ist dieses Geschehen erst später stilisiert worden. Weitgehend friedlich stellen sich heutige Historiker die Landnahme vor, sie war vermutlich ein langsames Einsickern nomadischer und halbnomadischer Gruppen in einen von Stadtkönigtümern geprägten Kulturbereich. Ein Vorgang, wie er sich auch andernorts wiederholt hat. Noch über Jahrhunderte hat man nebeneinander gewohnt, was aber natürlich auch kriegerische Auseinandersetzungen nicht ausschloss. Doch Jericho haben die Israeliten nicht erobert, es war damals bereits zerstört, wie die Archäologie nachgewiesen hat. Und auch die Zerstörung von Ai (Jos 7–8) hat nicht stattgefunden, jedenfalls nicht durch die Israeliten. Denn von dieser Stadt kannte man nicht einmal mehr den Namen; Ai heißt übersetzt Trümmerstätte.
Viel harmloser also muss man sich die Frühgeschichte Israels vorstellen, groß gemacht und heroisiert erst durch eine spätere Geschichtsschreibung. Die Israeliten hatten gar nicht die Möglichkeit zu einer stärkeren Expansion, selbst das Großreichs Davids war vergleichsweise klein, er war eher ein Provinzfürst denn ein Großkönig, sein kleines Land dazu noch über weite Teile von Wüsten bedeckt. Wenn es existiert hat (ägyptische und mesopotamische Quellen erwähnen es nicht!), dann hatte es seinen Bestand einer zeitweiligen Schwäche sowohl der ägyptischen Großmacht als auch der mesopotamischen Völker zu verdanken. Vielleicht ist sogar König David eine historische Fiktion, ähnlich wie König Arthus bei den alten Briten. Überwiegend geht die Forschung aber von seiner Historizität aus. Und auf alle Fälle wurde seine Bedeutsamkeit später stark gesteigert und übertrieben.
Das Alte Testament bietet dem Leser ein Geschichtsbild, welches ein verschriftlichtes Spätstadium einer über mehrere Jahrhunderte dauernden Entwicklung darstellt. Einzeltraditionen sind zu einem Gesamtbild zusammengesetzt worden, deren Bruchkanten man noch mehr oder weniger gut erkennen kann. Und es ist ein idealisiertes Bild, das uns das Alte Testament liefert, wer hätte auch etwas anderes erwartet. Auch andere Völker haben sich ihre Ursprungsgeschichte zurechtgebastelt. Gesetze und Ordnungen werden zurückdatiert und möglichst einem Gott oder zumindest charismatischen Volksgründer zugeschrieben.
Die religiöse Rechtsordnung, die durch Gottesworte vorgeblich begründet wurde, besteht bei der Schaffung der Gottesworte bereits und ist ihr Spiegel. Durch die Gottesrede spricht nicht Gott zu seinem auserwählten Volk, sondern eine religiöse Führungsschicht zum religiösen Fußvolk. Die Kultanweisungen, direkt oder über den Mittler Mose dem Volk mitgeteilt, sind nur eine Inanspruchnahme göttlicher Autorität zur besseren Regelung und Begründung der kultischen Abläufe. Jahwe selbst wird als Gewährsmann für die Richtigkeit priesterlichen Handelns von eben dieser Priesterschaft vereinnahmt. Auch dies hat sich in der Religionsgeschichte tausendfach so abgespielt. Wer war aber nun dieser Jahwe selbst? Wo kam er her? Was war er, bevor Israel ihn als Gott erwählt hat? Hat auch er eine Geschichte?
Natürlich hat er die! Sogar eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte. Ja man wird sagen können, dieser Gott Jahwe ist einer der weltgeschichtlich erfolgreichsten Götter überhaupt. Und das Geheimnis seines Erfolgs liegt in seiner großen Wandlungsfähigkeit, dem Vermögen, eine Kernkontinuität selbst bei deutlich unterschiedlichen Erscheinungsformen zu beanspruchen oder zumindest zu behaupten. Und sein Erfolg resultiert natürlich auch aus geschichtlichen Zufällen, der Zufälligkeit, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.
Doch auch er hat einmal klein angefangen. Die Anfänge der Jahweverehrung waren unspektakulär und lagen fast außerhalb Palästinas. Jahwe taucht als Gottesname JHW zuerst in ägyptischen Ortsnamenslisten aus der Zeit Amenhotep II. um das Jahr 1350 v. Chr. auf. Die Rede ist dort vom Land der „Jahwe-Beduinen“. Jahwe meint dabei sowohl den Gottesnamen als auch einen Berg, auf dem dieser Gott verehrt wurde. Jahwe wäre demnach eine Art Berggott gewesen, der von Beduinengruppen im südlichen Palästina verehrt worden ist. Forscher bringen diese Beduinen mit den Midianitern in Verbindung, einem kriegerischen Reitervolk von Wüstennomaden, die östlich des Golfs von Akaba lebten. Diese Herkunft mag auf Gläubige befremdlich wirken, doch mit Israel hatte dieser Gott anfänglich überhaupt nichts zu tun. Wir befinden uns ja noch in vorstaatlicher Zeit. Und noch ist er einer von vielen Lokalgöttern, gebunden an einen bestimmten Ort, den Gottesberg.
Und hier kommt nun die Sinaitradition ins Spiel. Nach dem Alten Testament hat hier die entscheidende Gottesoffenbarung stattgefunden, die Selbstoffenbarung seines Namens. Ein Teil der später das Volk Israel bildenden Stämme hat dies als zentrales Ereignis erfahren. Später fand es Eingang in die Gesamtüberlieferung Israels. Es haben sich im Alten Testament noch Hinweise erhalten, dass der Sinai nicht auf der Sinaihalbinsel lokalisiert war, sondern im Gebiet der Midianiter. Jahwe wird geradezu als der (Gott) vom Sinai (Ps 68,9) beschrieben, und der Sinai wird in Richtung auf das Gebirge Seir und das Land Edom lokalisiert (Dt 33,2; Ri 5,4 und öfter), was in das Gebiet der Midianiter weist. Ein Beleg dafür könnte auch sein, dass Mose in Ex 3,1 als Schwiegersohn des Jethro bezeichnet wird, des „Priesters von Midian“. Die Jahweverehrung hätten dann also vorisraelitische Stämme mit ins palästinische Kulturland gebracht, evtl. vermittelt durch Mose, der jedenfalls am ehesten in der Sinaitradition vorstellbar ist.
An welchen Gott aber haben nun die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob geglaubt? Haben sie überhaupt an ein und denselben Gott geglaubt, wo sie doch ursprünglich Exponenten unabhängiger Stämme waren? Klar scheint nur, dass es wohl nicht der Gott Jahwe gewesen sein kann, denn dessen Offenbarung fand ja, Historizität überhaupt vorausgesetzt, um 1200–1000 v. Chr. statt. Abraham und auch die anderen Erzväter müssen aber wohl in Zusammenhang mit der sogenannten Aramäischen Wanderung gesehen werden (1500–1200 v. Chr.). Zudem wird als Abrahams Herkunftsort (immer unter dem Vorbehalt, dass die Angaben überhaupt glaubwürdig sind!) Ur in Caldäa angegeben, eine Stadt im Süden des heutigen Irak. Von dort sei er nach Haran gewandert, das etwa an der heutigen türkisch-syrischen Grenze gelegen hat. Die Jahweoffenbarung ist aber mit dem Norden der arabischen Halbinsel ganz woanders lokalisiert. Weder Ort noch Zeit stimmen also überein. Man stößt also auf den religionsgeschichtlich ziemlich klaren, aber für fromme Christen (und Juden) verwirrenden Tatbestand, dass die Erzväter noch gar nicht an Jahwe glaubten. Besonders im Hinblick auf Abraham ist dies bemerkenswert, da dieser ja später sowohl in christlicher als auch jüdischer Tradition geradezu als Vorbild des Glaubens herausgestellt wird. Und dieser Abraham soll noch an fremde Götter geglaubt haben?
Im Alten Testament ist die Erinnerung daran, dass die Jahweverehrung noch jung ist, aber sogar noch vorhanden.
Gott redete mit Mose und sprach zu ihm: Ich bin Jahwe. Ich bin Abraham, Isaak und Jakob als El-Schaddai erschienen, aber unter meinem Namen Jahwe habe ich mich ihnen nicht zu erkennen gegeben. (Ex 6,2–3)
Die El-Gottheiten hatten ursprünglich nichts mit der Jahweverehrung zu tun. Und es ist unklar, ob sie ursprünglich mit den Vätergöttern in Verbindung standen oder wir es hier mit einer dritten Gottesform zu tun haben. In diesen Versen jedenfalls haben wir eine klassische Harmonisierung im Gottesbild vor uns. Die ursprünglich unterschiedlichen Götter der verschiedenen Überlieferungstraditionen werden unter dem Jahwenamen quasi eingemeindet nach dem Motto: Das war doch immer schon derselbe Gott. Und diese Harmonisierung wird, damit sie auch wirklich greift, Jahwe in den Mund gelegt. So wie die Erzväter genealogisch verbunden wurden und damit in keiner Konkurrenz mehr standen, so wurden auch jetzt die Gottesvorstellungen (und vor allem die Namen) vereinheitlicht. Und beides war unvermeidlich, wenn die unterschiedlichen Stammesgruppen im Kulturland zusammenleben wollten, oder andersherum, wenn das Zusammenleben so weit gediehen war, dass eine Vereinheitlichung notwendig erschien.