Jesus ohne Kitsch - Heinz-Werner Kubitza - E-Book

Jesus ohne Kitsch E-Book

Heinz-Werner Kubitza

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Beschreibung

Jesus von Nazareth wird von Gläubigen, aber auch der Kirche Fernstehenden als ein Ideal betrachtet – als Vorbild, guter Mensch und Menschenfreund, dessen Lehre auch heute noch für uns von Bedeutung ist. Die Faszination ist ungebrochen und zeigt sich in einer wahren Flut von verherrlichenden Büchern. Da ist es mehr als angebracht, auch auf die negativen Seiten dieses galiläischen Wanderpredigers aufmerksam zu machen und das bei Gläubigen wie Religionsfreien völlig verkitschte Bild zurechtzurücken. Genau dies will Heinz-Werner Kubitza leisten: ein Jesusbuch ohne Kitsch und unter Berücksichtigung auch derjenigen Bibelstellen, die von den Kirchen meist verschwiegen werden. Kubitza zeigt einen Jesus, der gefangen ist in seinen Irrtümern, Übertreibungen und gedanklichen Abstrusitäten. Täter und Opfer seines religiösen Extremismus, der ihn schließlich sogar das Leben gekostet hat. Spannend, sachkundig und mit einem Schuss Ironie vermittelt Kubitza eine ganz neue und sehr kritische Sicht auf Jesus.

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Seitenzahl: 349

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Heinz-Werner Kubitza

Jesus ohne Kitsch

Heinz-Werner Kubitza

Jesus ohne Kitsch

Irrtümer und Widersprücheeines Gottessohns

Tectum Verlag

Heinz-Werner Kubitza

Jesus ohne Kitsch

Irrtümer und Widersprüche eines Gottessohns

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019

E-Pub 978-3-8288-7288-2

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4339-4 im Tectum Verlag erschienen.)

 

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung des Bildes#762646288 von Portographer|www.shutterstock.com

 

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Besuchen Sie uns imInternet:www.tectum-verlag.de

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeAngaben sind imInternet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Ein Gottesreich, das nie gekommen ist

Ein apokalyptischer Schwärmer

Hat Jesus überhaupt je gelebt?

Der Wahn Jesu vom Reich Gottes

Jesus als Schüler eines Extremisten

Johannes der Täufer und seine finstere Predigt

Ein ungebildeter Prophet

Missglückte Schriftauslegung Jesu

Jesus als Mann der Rhetorik

Jesus und seine Wunder

Antike Wundertäter neben Jesus

Jesus als Exorzist

Jesus als Magier

Wie die Wunder erfunden wurden

Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus

Das Verdoppeln und Kopieren von Wundern

Die Auferweckung von Toten

Erfundene Summarien

Kuriose Wunder Jesu

Zwischenruf: Schweigende Götter – miserable Offenbarungen

Die Forderungen Jesu

Gott als zweifelhafter Adressat der Ethik

Liebe deinen Nächsten

Vom Unsinn der Nächstenliebe

Dem Bösen keinen Widerstand leisten?

Kitschige Erwartungen von Gläubigen

Der ausländerfeindliche Jesus

Die Wiederentdeckung von Jesus als gläubiger Jude

Jesus als Vertreter von Gesetz und Partikularismus

Die zwölf Jünger und der Virus vom Gottesreich

Schätze erwerben: Egoismus als Triebfeder der Ethik

Die Drohungen Jesu mit dem Gericht

Fragwürdiges Menschenbild und simple Schwarz-Weiß-Ethik

Der radikale Jesus und seine absurden Forderungen

Die Weltfremdheit Jesu: Ehe und Scheidung

Jesus und die Frauen

Defizite der Lehre Jesu

Widersprüchlichkeiten: Jesus als schlechtes Vorbild

Der zornige Jesus

Aufforderung zum Hass statt zur Liebe

Die Armen: Anteilnahme und Gleichgültigkeit

Jesus als unmoralischer Held

Jesus-Kitsch

Seligpreisungen und Vertröstung

Gebetserhörungen

Sorget nicht, seht die Vögel im Himmel

Weisheit und Jesus-Kitsch

Wahnideen Jesu und der frühen Kirche

Geburtslegendenkitsch

Für wen hat sich Jesus gehalten?

War Jesus verrückt?

Nachfolgewahn

Die Aussendung der Jünger

Nachfolge Jesu als Lebensfehlorientierung

Martyriumskitsch

War Jesus politisch?

Das Kreuz als Strafe für Aufrührer

Verurteilung als König der Juden?

Der gewalttätige Jesus: Tempelreinigung

Jesus als Zerstörer des Tempels

Jesus und die Gewalt

Vom dogmatischen Kitsch zur kitschigen Projektionsfläche – ein Fazit

Anmerkungen

Vorwort

Kitsch und Religion scheinen zusammenzugehören wie Hokus und Pokus. Wenn sich Menschen einbilden, dass sie unter den Tausenden von Göttern den einzig wahren erkannt haben, und wenn sie dann noch davon überzeugt sind, dass dieser Gott sich ausgerechnet ihnen im Gebet offenbaren will und großzügig bereit ist, sich um ihre kleinen Probleme zu kümmern – dann kann man zwar von „Gottvertrauen“ sprechen. Aber handelt es sich nicht eher um religiöse Überheblichkeit?

Wenn Gläubige den Koran oder die Bibel oder andere heilige Schriften für einen direkten Ausfluss göttlicher Weisheit halten, wo doch bereits die Wortwahl, die Grammatik, vor allem aber die Inhalte solcher hochgelobter „heiliger“ Schriften eher mäßig begabte Autoren vermuten lassen – dann kann man das mit der Unwissenheit von Gläubigen entschuldigen. Verstehen lässt sich der unbedingte Wille, etwas zu sehen, wo nichts ist, allerdings auch als eine Form der Wirklichkeitsflucht.

Und wenn Kranke und Gesunde weite Reisen auf sich nehmen, um an fernen Orten Steine auf imaginäre Teufel zu werfen oder auf Knien rutschend aus einer Quelle zu trinken, an der einst eine „Mutter Gottes“ sich offenbart hat, dann liegt diesem Handeln vielleicht ein wirklich ehrlich gemeintes religiöses Gefühl zugrunde. Nur hat es sich bei solchen Erscheinungsformen offensichtlich gänzlich in religiösen Kitsch verwandelt. Und es erklingt eine religiöse Volksmusik, die selbst vielen Theologen unangenehm in den Ohren tönt.

Vielleicht ist es ja dieser peinliche Kitsch, der allzu gerne mit der Religion Hand in Hand geht, der Gebildete und Nichtreligiöse mehr abschreckt als inhaltliche Fragen nach der Wahrheit einer Religion. Herauf- und herabsteigende Götter, die sterben und auferstehen, exhibitionistisch gemarterte Heilige, das bunte Volk der Erzengel, Engel und Teufel, der kleinen Dämonen und Hexen, fliegende oder über das Wasser wandelnde Propheten, Wundertäter und Exorzisten, Stimmen aus dem Himmel und aus Gräbern, Rosenkranzandachten und Prozessionen, Paradies und Hölle und Jüngstes Gericht, inbrünstige Gebete und Gebetserhörungen, Endzeitkämpfe und apokalyptische Reiter, Götter, die auf Thronen sitzen: der religiöse Glaube hat sich eine schrille Gegenwelt erschaffen, aus der er lebt und an der er sich berauscht.

Es gehört zur geheimen Macht des Kitsches, dass diejenigen, die er fest im Griff hat, weit von sich weisen, dass dem so ist. Niemand möchte sich Kitsch zuschreiben lassen, alle geben vor, um Niveau bemüht zu sein. Doch von einem anspruchsvolleren Gottesbild scheinen die meisten Gläubigen weit entfernt.

Gläubige neigen zur Übertreibung, wenn es um ihre eigene Religion geht. Die Unzulänglichkeiten und Aporien der anderen werden deutlich wahrgenommen, die eigene Religion zu hinterfragen kommt hingegen nicht in den Sinn. Dabei ist nicht nur der eigene Gott der „wahre“ Gott, auch seine Gebote, sein Kult, seine Heiligen und seine heilige Schrift werden aus durchaus irdischen religionsgeschichtlichen Kontexten in eine Sphäre von Übergeschichtlichkeit und ewig währender Bedeutsamkeit transponiert. Alles erfährt eine Aufwertung, Banales gibt es nicht. Jedes Bibelwort oder Koranzitat, und mag es nüchtern betrachtet noch so zeitbedingt und so erledigt sein wie ein zehn Jahre alter Wetterbericht, wird mit dem Nimbus der Bedeutsamkeit aufgeladen und dient für Jahrhunderte als Quelle göttlicher Weisheit und Gegenstand frommer Betrachtung.

Religiöse Schwärmerei findet sich überall, ob sie sich nun unbedarft als Volksfrömmigkeit outet mit starken Anleihen bei der Esoterik oder ob sie sich distinguiert und scheinbar anspruchsvoll als universitäre Theologie verstanden wissen will. Ob sie sich überwältigt vom Gefühl zeigt und auch noch stolz darauf ist oder ob sie die Vernunft als ihren Gewährsmann gewinnen will. Ob sie unter Rückgriff auf Konzile, die 1000 Jahre und länger zurückliegen, von einer Weltkirche feierlich in Rom dogmatisch definiert wird oder ob sie nur der Pups allerjüngster Konventikelbildung charismatischer Gruppen auf der schwäbischen Alb ist – die Übertreibung, und damit auch der religiöse Kitsch, sind immer dabei.

Jesus von Nazareth ist ohne Kitsch für die allermeisten Menschen gar nicht zu denken. Als Kulminationspunkt der aktuell größten Weltreligion, als vermeintliche Stifterfigur, als Wundertäter und Charismatiker, als Prophet, Messias, als Welterlöser, ja schließlich sogar als Gott und Teil einer Trinität ist er zweifellos die am meisten überschätzte Figur der Weltgeschichte. Als ein von einem bloßen Menschen zu einem Gott hochgeglaubten Erlöser ist er das schillerndste Beispiel für die Kraft der religiösen Imagination, ein Gott, überzeitlich und vor Anbeginn der Welt bereits da und der Mittelpunkt aller Geschichte, ein Herr über Diesseits und Jenseits und bis in alle Ewigkeit. Mehr geht nun wirklich nicht: Gegenüber diesem Gott Christus, diesem Ergebnis geronnener Theologie der Alten Kirche, wirken ein Mohammed oder auch gar ein Buddha fast wie Statisten.

Der Einfluss dieses Jesus von Nazareth, oder besser des Bildes, das Kirche und Gläubige von ihm entworfen haben, ist enorm. Kaum einer kann sich ihm entziehen. Durch christliche Sozialisation war der Gottmensch Jesus dogmatisch über Jahrhunderte präsent und quasi ein Axiom der abendländischen Gesellschaft, und er blieb es bis zur Aufklärung. Dabei war der kirchlich-dogmatische Christus, also der wahre Gott und wahre Mensch, die zweite Person der Trinität, der Gott, der am Kreuz für unsere Sünden gestorben ist und der uns losgekauft hat von Hölle und Teufel, eine spezifische Form der Übertreibung, war dogmatischer Kitsch. Mögen die Eckpunkte dieses Dogmatismus zu Feiertagen von den Kirchen noch verbal aufrechterhalten werden, so können doch selbst die meisten Gläubigen heute nichts mehr mit einem Gott anfangen, der seinen Sohn blutig geopfert haben soll, um die Menschen in einer solch obskuren Weise zu erlösen. Nur sehr konservative oder einfältige Katholiken oder im protestantischen Bereich evangelikale Gruppen beharren heute noch auf einem solchen dogmatischen Kunstprodukt. Aber für viele Evangelikale – schon längst trifft dies nicht mehr auf alle zu – wurde die Welt ja auch in sechs Tagen erschaffen und ist nicht einmal 10000 Jahre alt.

Als der Gottmensch der Dogmatik musste Jesus fast zwangsläufig alle nur denkbaren positiven Eigenschaften auf sich vereinen. Er musste absolut sündlos, gerecht, weise, allwissend und sanftmütig sein. Seine Worte, seine Ethik mussten überzeitliche Gültigkeit haben und unbedingte Relevanz beanspruchen. Heute ist der dogmatische Christus weitgehend verschwunden, seine Überhöhung und Idealisierung als vortrefflicher Mensch und Menschenfreund, als liebender Hirte und wahrer Philosoph mit einer zeitlos gültigen Ethik – und damit eben auch viel Kitsch – spukt allerdings immer noch in den Köpfen herum.

Der Theologe Schleiermacher hat sich im 19. Jahrhundert bewusst vom dogmatisch überhöhten Christus abgewandt. Die Trinitätslehre, seit der Antike fester Bestandteil der Theologie, findet sich bei ihm nur noch im Anhang. Dennoch bleibt Jesus auch bei ihm geradezu einzigartig. Denn in Christus habe sich, so Schleiermacher, das ewige Sein Gottes in besonderer und einzigartiger Weise gespiegelt. Jesus war für Schleiermacher ausgestattet mit einer „stetigen Kräftigkeit des Gottesbewusstseins“, er war das Urbild des Glaubens. Man beachte: Der Gottmensch der Kirche mutierte zu einem (bloßen) Vorbild, zum Urheber und Urbild des Glaubens. Das war schon ein Abstieg. Aber um diese Degradation zu überdecken, bedachte man Jesus weiterhin mit allerlei Superlativen und tut dies bis heute. Für den Theologen Paul Tillich war Jesus ein Mensch, „wie er sein sollte“. Für Wilfried Härle repräsentiert Jesus die „Selbstoffenbarung Gottes“ und die „bedingungslose Liebe.“ Der Theologe Trillhaas sprach von Jesus als einem „Anfänger einer neuen Menschheit“ und einem „zweiten Adam“. Und die Theologin Dorothee Sölle hielt Jesus für den „glücklichsten Menschen, der je gelebt hat.“

Auf Superlative möchte auch eine (halb) aufgeklärte Theologie bei der Beschreibung Jesu also keineswegs verzichten. Dass Theologen auf Kanzeln und Kathedern Jesus in den höchsten Tönen rühmen, verwundert nicht. Das gehört zu ihrer Stellenbeschreibung. Wirklich bemerkenswert ist, dass auch Menschen, die mit der Kirche eigentlich überhaupt nichts mehr zu tun haben und zu tun haben wollen, in diesen Lobgesang einstimmen. Immanuel Kant beispielsweise sah in Jesus „das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit, mithin einer moralischen Vollkommenheit.“ Auch Ernst Bloch betont das angeblich Einzigartige des Nazareners: „Ein Mensch wirkte hier als schlechthin gut, das kam noch nicht vor.“1 Solche Zitate belegen, dass es selbst ausgewiesenen Kritikern der Kirche und gestandenen Philosophen nicht ganz gelingen will, die rosarote Brille, die die Kirche und die christliche Sozialisation auch ihnen aufgesetzt hat, wieder abzusetzen. Hatte doch schon Reimarus, einer der ersten großen Kritiker am dogmatischen Bild Christi, diesen selbst in den höchsten Tönen gelobt. Immerhin, „bei Jesus findet Reimarus Demut, Sanftmut, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit, Versöhnlichkeit, Mildtätigkeit, Dienstfertigkeit, Aufrichtigkeit, wahre Liebe und Vertrauen zu Gott, Gebet, Ablegung alles Hasses, auch sogar wider die Feinde, Vermeidung böser Lust und unnützer Reden, Verleugnung seiner selbst.“2

Natürlich zuerst für die Kirchen und ihre Gläubigen, aber eben auch für säkulare Menschen, ja sogar Atheisten und Religionskritiker, dazu für die wohlwollenden Vertreter anderer Religionen, des Buddhismus und des Islam, dazu auch für Esoteriker, Anarchisten, Revolutionäre und Schwärmer: für alle wird dieser Jesus irgendwie zu einem bemerkenswerten Menschen, einer Vorbildfigur, einem „Eingeweihten“ oder einem Propheten. Und jedes Jahr erscheinen weltweit Hunderte von Büchern, die solche illusionären und enthusiastischen Schwärmereien reproduzieren und allein schon durch ihre schiere Menge die Illusion erzeugen, als bewege man sich nicht in Kitsch-Kategorien, sondern geradezu in Selbstverständlichkeiten.

Dies verwundert umso mehr, als wir im Neuen Testament eine ganze Reihe von Stellen finden, die diesen Jesus von Nazareth in einem doch eher fragwürdigen Licht erscheinen lassen: Ein grundlegender Irrtum hat sein Leben bestimmt, seine Ethik zeichnet sich unerwartet stark durch Fragwürdigkeit und durch Widersprüche aus, durch radikale Vorgaben, an die er sich vielfach nicht einmal selbst hält. Sein Menschenbild ist ein wenig plakativ, zuweilen primitiv, und in vielem, was er sagt und tut, ragt der später als Gott oder zumindest als vollkommener Mensch Verehrte kaum über den Tellerrand seiner Umwelt hinaus. Und seine Lehre, auch dies wird man feststellen müssen, weist sogar in ihren Spitzensätzen einen gehörigen Grad an Plattheit, Schwärmerei und religiösem Kitsch auf.

Gläubige sehen solche Peinlichkeiten, Schwächen und Inkonsequenzen ihres Herrn und ihrer heiligen Schriften naturgemäß nicht. Fromme Bibelleser überblättern sie, Priester und Pfarrer predigen um sie herum. Umso mehr scheint es geboten, der oft oberflächlich-enthusiastischen Sicht auf dieses „Urbild der Vollkommenheit“ einen nüchternen Blick auf Jesus von Nazareth, auf einen Jesus ohne Kitsch entgegenzuhalten. Dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten. Es stellt sich damit in Opposition zu 99 Prozent der permanent erscheinenden und reichlich unkritischen „Jesusbücher“. Es wird vermutlich schon deshalb bei vielen Lesern Aha-Effekte auslösen, weil es gerade diejenigen Punkte zur Diskussion bringt, die im Mainstream der feierlichen Ergüsse bewusst oder unbewusst verschwiegen oder übergangen werden. Wo angebracht, werden dabei auch die Erkenntnisse der neutestamentlichen Forschung zum „historischen Jesus“ und der Religionsgeschichte zur frühen Kirche rekapituliert, die äußerst aufschlussreich, einfachen Gläubigen oder Bibellesern aber meist unbekannt sind. Man versteht vieles besser, wenn man erkennt, wie es einst entstand und zu welchem Zweck es einst dienen sollte.

Lobeshymnen über Jesus gibt es wahrlich genug. Es ist der breite Weg, und viele sind es, die auf ihm wandeln. Der schmale Weg der Kritik kennt wenige, die ihn nutzen. Also treten wir sie an, die Reise, die uns zu den fragwürdigen Stellen und Widersprüchen dieses Jesus von Nazareth führt, zu seinen Irrtümern und Unzulänglichkeiten, seinen Vorurteilen, seinen Banalitäten und Übertreibungen. Und wie von jeder Reise werden wir vielleicht ein Stück weit desillusionierter, aber auch klüger und vielleicht sogar weiser zurückkehren.

Ein Gottesreich, das nie gekommen ist

Wenn man eine Umfrage machen würde, was denn die zentrale Lehre Jesu gewesen sei, würden wohl die meisten Menschen spontan die „Liebe“, die „Nächstenliebe“ oder die „Feindesliebe“ nennen. Nachdem die Kirche in früheren Jahrhunderten gerne auch die Schrecken und den Zorn Gottes beschworen und dabei auch viel von Hölle und Gericht gepredigt hat, ist heute ein Satz wie „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 16) zum Hauptinhalt christlicher Predigt avanciert. Für moderne Christen muss Gott ein liebender Gott sein. „Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er den einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,16). Wie sollte also Jesus etwas anderes verkündet haben als die Liebe?

Doch hier ist man bereits einem klaren Irrtum aufgesessen. Der Hauptinhalt der Verkündigung Jesu war keineswegs die Liebe, sondern das „Reich Gottes“. Auf die „Liebe“ werden wir später noch zu sprechen kommen, doch in der neutestamentlichen Forschung hat man lange schon erkannt, dass es Jesu vordringlichstes Anliegen war, zu verkünden, dass das Reich Gottes nun unmittelbar bevorstehe. Bald würde es für alle sichtbar anbrechen. Doch was meint „Reich Gottes“? Anders als mit der „Liebe“ können Gläubige wie Ungläubige damit erst einmal gar nichts anfangen.

Die Vorstellung vom „Reich Gottes“ führt uns in eine fremde und ferne Welt. Es ist die Welt der Apokalyptik, einer wirren Zusammenstellung von Endzeitspekulationen im Frühjudentum. Fromme Kreise, vielfach aber auch die einfache Volksfrömmigkeit erwartete das unmittelbare Eingreifen Gottes in die Geschichte. Gott würde bald sein Reich auf Erden errichten und für Israel Freiheit und Gerechtigkeit bringen. Die Aufrichtung der Herrschaft Gottes würde mit kosmischen Zeichen und Katastrophen einhergehen, mit Kriegen und Verwüstung, mit einer Vernichtung der Feinde Israels oder ihrer Bekehrung zum wahren Gott, mit einem Gericht, einer himmlischen oder irdischen Richterfigur, einem Messias oder Menschensohn, oder auch ohne sie, jedoch auf alle Fälle mit der dann folgenden unumschränkten Herrschaft Gottes. Die Zeit gärte. Viele waren überzeugt, dass dieser große Wendepunkt der Geschichte bevorstand, es konnte nun nicht mehr lange dauern. Die Spekulationen schossen ins Kraut und brachten eine ganz neue Literaturgattung hervor, die sogenannten Apokalypsen (Offenbarungen), die den Fortgang und das Ende der Geschichte bis ins Detail beschrieben. Oft waren sie angefüllt mit perversen Vernichtungs- und Gewaltvorstellungen gegen die „Ungläubigen“, gegen andere Völker, aber auch gegen die „Lauen“ im eigenen Volk. Mit Seuchen, Feuer und Krieg sollte ein Großteil der Menschheit dahingerafft, der Endkampf zwischen Gut und Böse ausgefochten und oft erst durch ein Meer von Blut letztlich das Gottesreich errichtet werden. Eine dieser Apokalypsen, die Offenbarung des Johannes, hat es sogar ins Neue Testament geschafft. Sie war wohl einst eine jüdische Schrift, die dann christlich umgedeutet wurde. Noch heute meinen Fromme, aus den nebulösen Andeutungen der unbekannten Autoren mit allzu gewagten Interpretationen so etwas wie einen Endzeitfahrplan ablesen zu können. Manche sind so in diesen Gedanken vernarrt, dass ihnen gar nicht auffällt, dass die grausame Vernichtung des überwiegenden Teils der Menschheit sich denkbar schlecht mit dem „liebenden Gott“ verträgt, an den sie doch sonst tagein, tagaus glauben.

Wie das Weltende oder der Weltwandel nun aussehen sollte, dazu hatte jeder dieser unbekannten Entzeitphantasten seine eigenen Vorstellungen. Dass das Ende aber käme und dass es bald käme, darin stimmten sie überein. Heutige Christen denken bei „Reich Gottes“ am ehesten noch an das Paradies, das Christen nach dem Tod für sich erwarten. Doch die frühjüdische Reich-Gottes-Vorstellung war anders. Man dachte nicht an ein jenseitiges Eden, sondern an ein Reich auf der Erde. Man stellte sich vor, dass es sich entweder auf die Erde herabsenken würde oder die irdischen Verhältnisse irgendwie, vor allem aber radikal umgewandelt würden. Gott höchstpersönlich würde aus dem Himmel und von seinem himmlischen Thron herabsteigen und die Herrschaft in seinem Reich übernehmen. Selbst würde er Recht und Gerechtigkeit aufrichten und über sein auserwähltes Volk herrschen. Für andere Herrscher, zum Beispiel für die Römer, war da natürlich kein Platz mehr. Deshalb war die Forderung oder Erwartung eines Reiches Gottes nie unpolitisch – anders als beim jenseitigen Paradies der späteren Christen. Wer das Reich Gottes propagierte und herbeibeschwor, der musste den Römern von vornherein verdächtig sein.

Jesus nun war vom baldigen Beginn dieser Gottesherrschaft so überzeugt, dass er sein Reden und Handeln ganz in ihren Dienst stellte. Die Exegeten sind sich darin einig, dass das Markusevangelium (Mk 1,14–15) den Inhalt der Verkündigung Jesu ziemlich genau trifft:

Nachdem man Johannes gefangen genommen hatte, kam Jesus nach Galiläa und verkündigte das Evangelium Gottes: Erfüllt ist die Zeit, und nahe gekommen ist das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!

Etwa im Jahr 30 also tritt Jesus öffentlich auf und verkündet, dass es nicht mehr lange dauern könne; das Reich Gottes stehe quasi vor der Tür. Das „Evangelium“ (= gute Botschaft), an das man glauben soll, ist nicht etwa der Glaube an ihn – Gläubige verwechseln das gerne –, sondern daran, dass nun die Gottesherrschaft kommt. Der Begriff „Reich Gottes“ ist zentral in den alten Evangelien. Er kommt bei Markus vierzehnmal vor, bei Matthäus findet er sich gleich fünfundzwanzigmal. Viele der Gleichnisse Jesu haben das Gottesreich zum Thema, erzählen bildhaft von seinem plötzlichen und unabwendbaren Hereinbrechen. Seinen Jüngern macht Jesus unablässig klar, dass kaum noch Zeit bleibt, und auf seinen Wanderreisen durch Galiläa ist das kurz bevorstehende Reich Gottes sein Predigtthema. Im Vaterunser, dass in wesentlichen Teilen auf Jesus selbst zurückgeht (u.a. weil dort Jesus selbst gar nicht vorkommt), heißt es (Mt 6,10):

Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

In jedem Gottesdienst wird diese Bitte wiederholt, doch heutige Christen denken dabei wieder an das Jenseits oder ein phantasiertes Reich in weit entfernter Zukunft. Damit verfehlen sie die Absicht Jesu komplett. Denn dieser dachte bei „Reich Gottes“ nicht an den Sankt-Nimmerleins-Tag, in seinem Glauben war es vielmehr etwas unfassbar Nahes. Etwas, dass er wie selbstverständlich selbst noch zu erleben gedachte. Laut Markus (Mk 13,30) verkündet er feierlich:

Amen, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bevor dies alles geschieht.

Und an anderer Stelle (Mk 9,1) heißt es:

Amen, ich sage euch: Einige von denen, die hier stehen, werden den Tod nicht schmecken, bevor sie das Reich Gottes sehen, wenn es gekommen ist mit Macht.

Seine Jünger sendet Jesus aus, in den Dörfern und Städten der Umgebung die Ankunft des Gottesreiches zu verkünden, und er drängt sie zur Eile:

Wenn sie euch in der einen Stadt verfolgen, dann flieht in die andere. Denn, amen, ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bevor der Menschensohn kommt. (Mt 10,23)3

Selbst noch kurz vor seinem Tod rechnet Jesus damit, selbst das Reich Gottes zu erleben:

Denn ich sage euch: Von jetzt an werde ich von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken, bis das Reich Gottes kommt. (Lk 22,18)

Es ist gewissermaßen ein Enthaltsamkeitsgelübde, das Jesus hier ablegt. „Wenn Jesus sich den Weingenuß versagt, bis die Königsherrschaft Gottes kommt, dann muß dieses Kommen in greifbarer Nähe sein.“4

Ein apokalyptischer Schwärmer

Nun ist es für das Verständnis und die geistesgeschichtliche Einordnung dieses Jesus von Nazareth ungemein wichtig, sich klarzumachen, dass sich Jesus, dem die Kirche später unter anderem Allwissenheit zuschreiben wird, sich schlicht und einfach geirrt hat. Denn das von ihm erwartete Reich Gottes ist nie gekommen. Kein Gott stieg vom Himmel herab, keine Feinde wurden vertrieben, kein Reich der Gerechtigkeit ausgerufen. Wie andere religiöse Phantasten ist auch Jesus einem damals weit verbreiteten Aberglauben aufgesessen, und offenbar war dieser Aberglaube bei ihm besonders stark ausgeprägt. Sein Wahn vom „Reich Gottes“ hat ihn möglicherweise sogar später den Kopf gekostet.

Man muss Jesus wohl in erster Linie nicht als großen Menschenfreund, sondern als apokalyptischen Schwärmer verstehen. Mit seiner naiv-religiösen Phantastik, seinem starren Glauben, den Fortgang der Geschichte erkannt zu haben, ist er Träger eines Wahns, den er mit vielen anderen vermeintlichen Propheten teilt, religiösen wie politischen.

Verständlicherweise wollte man lange in Theologie und Kirche nicht zugestehen, dass sich Jesus geirrt hat. Sein „Reich Gottes“ wurde meist als jenseitiges Reich interpretiert, oder es wurde subjektivistisch ins Innere der Gläubigen verlegt.5 Der Kulturprotestantismus brachte es im 19. Jahrhundert mit Bildung, Gewissen und ethischem Handeln in Verbindung, „in dem die sittliche Mitarbeit zu seiner allmählichen Durchsetzung führt. Sie stellte sich aus späterer Sicht darum als bürgerliche Aussöhnung mit dem fremd gewordenen Jesus dar.“6

Durch die für die Theologie epochemachende Schrift von Johannes Weiß „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ (1892) realisierte die theologische Forschung dann aber schlagartig, wie fremd und illusionär die Verkündigung Jesu vom Gottesreich eigentlich gewesen ist. Nun sprachen es auch Theologen deutlich aus: „Es bedarf keines Wortes, dass sich Jesus in der Erwartung des nahen Weltendes getäuscht hat.“7 Ein bloß subjektivistisches oder symbolisches Verständnis war damit ausgeschlossen. Denn dann müsste man annehmen, „dass er seine Jünger komplett getäuscht hat; denn sie fuhren fort, ein Königreich zu erwarten.“8 2000 Jahre sind seitdem vergangen. Kein Reich Gottes ist gekommen. Jesus ist mit seiner „illusionären Eschatologie“ (Albert Schweitzer) schlichtweg gescheitert.

Ein wenig erinnert dieser Jesus mit seinem Aberglauben an die „Zeugen Jehovas“ oder andere radikale christliche Gruppen, die mit dramatisch-kitschigen Worten vom Reich Gottes reden und die „Wiederkunft des Herrn“ alle paar Jahre neu erwarten oder reichlich albern versichern, dass es nun nicht mehr lange dauern könne. Der Gott und Erlöser Jesus kann sich, so sind sie überzeugt, unmöglich geirrt haben. Zum Umkehrschluss, dass er ja unmöglich ein Gott sein kann, wenn er sich so geirrt hat, dazu sind sie freilich nicht fähig. Aber auch derjenige, der Jesus nicht in den verstaubten Kategorien antiker Dogmatik sehen will, der ihn vielmehr als idealen Menschen und Bringer überzeitlicher Weisheit verstehen möchte, muss sich fragen, welche Wahrheiten ein Mensch für uns heute bereithalten könnte, dem es offenbar nicht möglich gewesen ist, sich vom zeitgenössischen Volksaberglauben zu befreien. Welche richtigen Erkenntnisse darf man in Nebendingen von ihm erwarten, wenn er sich schon auf seinem Hauptgebiet so hat irren können? Wir werden noch sehen, dass Jesus auch in anderen Fragen weit weniger originell und richtungsweisend war, als ihm gewöhnlich unterstellt wird, hat doch sein Aberglaube vom Reich Gottes auch seine andere Wortverkündigung immer wieder kontaminiert und diskreditiert.

Hat Jesus überhaupt je gelebt?

Immer wieder zweifeln Menschen daran, dass Jesus überhaupt gelebt hat.9 Ist er nicht vielmehr eine rein literarische Figur, die an einem antiken Schreibpult erst entstanden ist und geformt wurde? Ist es nicht einfach die kirchliche Gebundenheit der Neutestamentler, die verhindert, dass dies deutlich ausgesprochen wird? Für Religionskritiker wäre es allerdings am einfachsten, könnten sie darauf verweisen, dass Jesus als historische Person überhaupt nur eine Erfindung ist, wie es große Teile seiner angeblichen Lehre zweifellos sind.

Was dieser Annahme jedoch entgegensteht, sind Ecken und Kanten der Überlieferung, die man sich nur schwer als literarische Schöpfungen vorstellen kann. Warum kommt dieser Jesus aus dem völlig unbedeutenden Dorf Nazareth? Warum hätte man sich so etwas ausdenken sollen? Warum unterzieht er sich, der doch frei von Sünde ist, der Sündertaufe durch Johannes den Täufer? Die ersten Christen haben mit dieser Taufe große Probleme gehabt. Warum endet Jesus ausgerechnet auf so schändliche Weise am Kreuz? So etwas war für den Messias, für den die Christen ihren Herrn ja hielten, nirgendwo vorgesehen und widersprach aller Erwartung. Alle diese Fragen haben den ersten Christen mächtig zugesetzt und erhebliche Schwierigkeiten bereitet, und sie mühten sich sichtlich an ihnen ab, versuchten die peinlichen Fakten – Taufe, Kreuzigung, Verrat durch einen selbst ausgewählten Jünger, Irrtum Jesu – abzumildern oder aus der Welt zu schaffen. Ein Schriftsteller hätte diese Anstößigkeiten und Widersprüchlichkeiten wohl schwerlich erfinden können. Deshalb ist es aus Sicht der historischen Forschung die bessere Erklärung, dass sie tatsächlich auf missliebigen Fakten beruhen und nicht nur auf literarische Erfindungen zurückgehen.

Man erkennt dies auch daran, wie bestimmte Anschauungen und Begriffe sich wandeln. So haben der Reich-Gottes-Begriff und die Naherwartung für Jesus unverkennbar eine zentrale Rolle gespielt. Doch für die späteren Gläubigen war beides vernachlässigbar, ja sogar fragwürdig geworden, schließlich ist das erwartete Reich Gottes ja nicht gekommen. Bei Paulus spielt das „Reich Gottes“ keinerlei Rolle mehr, und auch im Johannesevangelium, dem jüngsten der vier Evangelien, kommt es praktisch nicht vor. Zudem hatte Jesus noch auf das Kommen Gottes gewartet, die frühe Gemeinde wartete hingegen auf den wiederkehrenden Jesus. Sie machte aus dem Verkündiger einen Verkündigten. Warum hätte ein späterer Literat einen Jesus erfinden sollen, den seine Gemeinde dann erst mühsam korrigieren und der eigenen Situation anpassen muss? Solche Widersprüche erklären sich am besten aus der Geschichte selbst, nicht bloß aus der Literaturgeschichte. Sogar das Johannesevangelium, das ja anerkanntermaßen fast vollständig eine Erfindung des Evangelisten oder seiner Schule ist, kommt an bestimmten Eckdaten des Lebens Jesu offenbar nicht vorbei. Zwar eliminiert es die anstößige Taufe Jesu durch Johannes, aber sein Tod am Kreuz ließ sich einfach nicht verschweigen (nur uminterpretieren), ebenso wie die Existenz seiner Mütter und Brüder, obwohl der Prolog des Johannes mit dem berühmten Satz „Am Anfang war das Wort …“ im Grunde davon ausging, dass Jesus schon von Anbeginn der Welt existierte – Mutter und Verwandte hätte es da keine gebraucht.

Der Wahn Jesu vom Reich Gottes

Dass Jesus der festen Überzeugung war, das Reich Gottes stünde unmittelbar bevor, und er alles daran setzte, auch sein Umfeld von diesem Aberglauben zu überzeugen, zeigt ihn uns, nüchtern betrachtet, als einen religiös verwirrten Menschen. Wie würde man heute auf einen Prediger reagieren, der ruft: „Das Ende ist nah“, und verspricht, keinen Alkohol mehr zu trinken, bis es angekommen ist? Wäre dies schon ausreichend, um eine religiöse Neurose zu diagnostizieren? Oder kann es noch als harmloser Spleen gewertet werden? Zugegeben, irren ist menschlich. Man darf aber nicht vergessen, dass es vermutlich diese partielle Bewusstlosigkeit (Theologen sprechen an dieser Stelle lieber von „Selbstbewusstsein“) war, die das Todesurteil gegen Jesus befördert hat. Weniger die Römer, sondern mehr sein religiöser (Aber-)Glaube hat ihn umgebracht. Ein solches Ende aus einer Tendenz zur Selbstgefährdung heraus spräche nun allerdings schon für eine Neurose.

Viele glaubten Ähnliches wie Jesus, ohne dass es für sie in der Katastrophe geendet hätte. Aber Jesus belässt es eben nicht beim passiven Glauben, sondern sammelt Schüler und verkündet aktiv das Reich Gottes. Dabei hat er trotz aller Übernahmen aus der Umwelt auch einen eigenen Akzent gesetzt. Denn offenbar war er nicht nur der Meinung, dass das Reich Gottes bald kommen würde (das glaubten viele), sondern dass es bereits dabei war, sich zu verwirklichen. Auf die Frage des Täufers, wer er denn sei, antwortet Jesus:

Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, und Tote werden auferweckt, und Armen wird das Evangelium verkündigt. (Lk 7,22)

Das Wort enthält Anspielungen auf Weissagungen Jesajas. „Gott hatte durch diesen Propheten mitgeteilt, in der künftigen Heilszeit würden Blinde ihr Augenlicht wiedererlangen, Lahme ihr Gehvermögen, Ertaubte ihr Gehör, Verstorbene würden auferstehen und Arme frohe Kunde empfangen.“10 Offenbar ist Jesus der Meinung, dass dies alles sich jetzt verwirkliche, und bringt es mit seinem Auftreten als Exorzist und Wundertäter in Verbindung. In der Forschung wird diesem Jesuswort eine hohe Authentizität zugesprochen. Nicht das Bevorstehen, sondern schon die Gegenwärtigkeit des Gottesreiches hatte bisher noch keiner verkündet. Der Spruch lässt sich auch nicht aus der späteren Gemeinde oder dem Judentum ableiten, weshalb man davon ausgeht, dass wir es hier mit einem echten Jesuswort zu tun haben.

In die gleiche Richtung geht ein Wort Jesu, dass Historiker ebenfalls zumeist für authentisch halten.11 Es spricht noch urtümlicher von den Exorzismen Jesu und der Ankunft des Gottesreiches:

Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes zu euch gelangt. (Lk 11,20)

Der „Finger Gottes“12 steht dabei als Teil für das Ganze, das heißt, Jesus treibt mit Gott die Dämonen aus, und das versteht er als ein Zeichen, dass das Reich Gottes sich bereits verwirklicht.

Und noch ein drittes Wort sei genannt, dass die Neutestamentler fast einhellig für ein echt halten, wenngleich es für Bibelleser etwas kryptisch daherkommt:

Da sagte er [Jesus] zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. (Lk 10,18)

Im Denken Jesu und seiner Zeitgenossen war der Teufel eine feste Größe. Offenbar glaubte auch Jesus der mythologischen Vorstellung von einem endzeitlichen Himmelskampf. „Der Satan (als Anführer des himmlischen Heeres) wurde beim Himmelskampf besiegt und aus dem Himmel gestoßen.“13 Die Macht des Teufels ist damit gebrochen. Eben deshalb war im Denken Jesu der Kampf gegen die Dämonen so erfolgreich, weil der Herrscher über die Dämonen bereits selbst seine Macht verloren hatte. Im Himmel (den Jesus noch ganz mythisch als Aufenthaltsort Gottes und seiner Engel verstanden hat) war das schon Realität. Über ein Kurzes musste es sich auch auf der Erde zeigen. Dann würde Gott für alle sichtbar die Herrschaft übernehmen. In der Offenbarung des Johannes (12,7–10) finden wir übrigens ein ähnliches Geschehen. Hier stehen sich der gute Erzengel Michael und der Satan mit ihren Heeren gegenüber. Im anschließenden Hymnus wird diese Konfrontation als Anbruch der Gottesherrschaft interpretiert.

War Jesus nun aber der Meinung, das Reich Gottes sei bereits da oder verwirkliche sich gerade, dann müsste man seinen religiösen Geisteszustand noch kritischer beurteilen. Denn ein präsentisches Reich Gottes ist noch irrealer als ein rein futurisch gedachtes Reich. Was würde man heute von einem Menschen halten, der behauptet: „Das Reich Gottes ist schon da, ihr könnt es doch an meinem Wirken sehen. Warum begreift ihr das denn nicht?“ Begegnet man in der Stadt einem solchen Prediger, kann es durchaus angeraten sein, die Straßenseite zu wechseln.

Die Neutestamentler haben sich natürlich gefragt, was genau Jesus da nun gesehen haben will. Denn der Satz „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ scheint ja auf eine einmalige Erfahrung hinzudeuten. Manche wollen hier gar das Schlüsselerlebnis im Leben Jesu erkennen. „Das Ende der Herrschaft des Teufels ist die tragende Glaubensüberzeugung des religiösen Lebens Jesu“, meint etwa Gerd Lüdemann.14 Aber was hat Jesus gesehen? Ein besonders eindrucksvolles Gewitter? Eine beeindruckende Sternschnuppe in einer klaren Nacht in Galiläa? Der Theologe Ebner vermutet einen Meteor, den Jesus erblickt und in apokalyptischem Sinne interpretiert hat.15 Das bleibt natürlich Spekulation. Aber denkbar wäre es schon, dass Jesus, der ja das Gottesreich ganz konkret vom Himmel her kommend erwartete und sicherlich oft gebannt nach oben schaute, ein natürliches Himmelsphänomen in apokalyptischem Sinne interpretiert hat. Wen wundert’s: Glaube ist ja vor allem die Kraft zur Einbildung, und wer krampfhaft nach himmlischen Zeichen sucht, der wird schon welche finden. Aber vielleicht war es doch kein handgreifliches Erlebnis, sondern nur ein Traum oder eine Vision. Wir werden es nie erfahren.

Jesus als Schüler eines Extremisten

„War also zuletzt die ganze angebliche Heilsökonomie Gottes eine peinliche Illusion?“, fragt der Theologe Gräßer.16 Man wird antworten müssen: Ja, sie war es zweifellos, wie auch immer Jesus das Reich Gottes verstanden haben mag. Wie gewöhnlich nimmt die Wirklichkeit keinerlei Rücksicht auf selbsternannte Propheten und Rechthaber, die vorgeben zu wissen, wo es langgeht. Mit seiner lächerlichen Naherwartung hat Jesus seinen späteren Anhängern freilich ein Ei ins Nest gelegt, an dem sie lange zu brüten hatten. Als das Reich Gottes sich zu Jesu Lebzeiten partout nicht einstellen wollte, warteten die Anhänger der jüdischen Sekte, die man später Christen nannte, auf den wiederkehrenden Jesus. Aber auch der ließ auf sich warten. Inständig beteten die Christen das „Maranatha“, das „Unser Herr, komm!“. Doch immer mehr Anhänger starben, ohne dass der Herr sich zeigte. Kommt er denn überhaupt noch?, fragten die Gläubigen zunehmend verunsichert. Man erkennt ihre religiöse Not daran, dass an vielen Stellen im Neuen Testament eindringlich davor gewarnt wird, ja nicht zu verzagen – der Herr komme bestimmt, man könne sich darauf verlassen. Selbst Jesus werden solche Warnungen in den Mund gelegt. Und das einst ganz irdisch und materiell gedachte Reich Gottes wurde immer mehr spiritualisiert und schließlich ganz ins Jenseits abgeschoben. Dort schien es auch vor Kritikern einigermaßen sicher zu sein.

Zur Entlastung Jesu kann geltend machen, dass er selbst ein verführter Verführer war. Denn offenbar hat ihm sein Meister, hat ihm Johannes der Täufer den Floh mit dem angeblich bevorstehenden Gottesreich ins Ohr gesetzt. Von Johannes hat er diese leere Lehre übernommen, schon der Täufer hatte sich darin geirrt.

Wir müssen etwas ausholen. Das Bild, das das Neue Testament von Johannes dem Täufer zeichnet, ist bereits durch und durch verchristlicht, zurechtgefeilt von den allerersten Installateuren einer sich ausbildenden christlichen Dogmatik. Keineswegs ist Johannes der Täufer so etwas wie der Vorläufer Jesu gewesen. Erst die christliche Überlieferung hat ihn dazu gemacht. Die neutestamentliche Forschung hat dies längst und einhellig erkannt. Es scheint mehr als wahrscheinlich, dass Jesus von Johannes entscheidende Lehrstücke übernommen hat, weil er vermutlich einige Zeit selbst sein Jünger gewesen ist.

Johannes der Täufer findet, anders als Jesus, beim jüdischen Historiker Josephus vergleichsweise breite Erwähnung. Weil die Kommunität von Qumran nur zwölf Kilometer von seiner Wirkungsstätte entfernt lag und weil es auch einige inhaltliche Überschneidungen gibt, wird immer wieder diskutiert, ob Johannes ein Qumran-Essener war oder doch nur ein Teil der syrisch-palästinischen Taufbewegung, die seit 150 v. Chr. nachweisbar ist. Josephus möchte ihn als Philosophen sehen (so wie er auch Pharisäer und Sadduzäer euphemistisch als Philosophenschulen verstanden wissen will), als Tugendlehrer, „der die Juden anhielt, nach Vollkommenheit zu streben, indem er sie ermahnte, Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegen Gott zu üben und so zur Taufe zu kommen.“17 Nun, philosophisches Gedankengut finden wir bei Johannes nicht. Sein Denken war eher von religiösem Fanatismus geprägt. Denn auch er wartete schon auf ein Reich, das nicht gekommen ist.

In jenen Tagen aber trat Johannes der Täufer auf und verkündete in der judäischen Wüste: Kehrt um! Denn nahe gekommen ist das Himmelreich. Er ist es, von dem durch den Propheten Jesaja gesagt ist: Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Straßen! Schlangenbrut! Wer machte euch glauben, dass ihr dem kommenden Zorn entgehen werdet? Bringt also Frucht, die der Umkehr entspricht! … Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt: Jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird gefällt und ins Feuer geworfen. (Mt 3,1–3.8.10)

Johannes war zweifellos ein übler Gerichtsprediger, einer, der seinen Mitmenschen ihre angebliche Gottlosigkeit vorhielt und ihnen drohte mit Feuer und Gewalt. Einer von denen, die es besser zu wissen meinen, die sich für reiner halten als das gemeine Volk. Sein Extremismus zeigte sich offenbar schon in seiner Kleidung und Nahrung.

Er aber, Johannes, trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften; seine Nahrung waren Heuschrecken und wilder Honig. (Mt 3,4)

Weltfremder Asketismus und Drohbotschaften: Er muss schon für damalige Verhältnisse ein sehr finsterer Geselle gewesen sein. Doch solche Fanatiker ziehen Menschen offenbar automatisch an, weil ihr deviantes Verhalten gern als prophetischer Impetus und Ausweis höherer Einsicht missverstanden wird. Zudem hielt Johannes mit der Taufe gleich eine Art Sakrament bereit, um vor dem kommenden Zorngericht Gottes zu schützen. Die Johannestaufe war etwas Neues. „Eine befriedigende religionsgeschichtliche Ableitung der Johannestaufe [ist] … bisher noch nicht gefunden. Am nächsten liegt es, an essenische Einflüsse zu denken.“18 Das Judentum kannte zwar Reinigungsriten, die Taufe des Johannes aber war wohl als einmaliger Reinigungsakt gedacht, der auf das anstehende Gottesreich vorbereiten sollte. Es war offenbar eine Art Schutzritus, durch die die Bußfertigen vor dem drohenden Gottesgericht bewahrt werden konnten.19

Für die Kirchen ist der Extremist Johannes ein Heiliger geworden, weil er angeblich Jesus angekündigt hat. Doch dies nimmt heute kein ernst zu nehmender Wissenschaftler mehr an. Nicht auszuschließen ist, dass sich Johannes selbst als eine Art „neuer Elia“ stilisiert hat (mit ledernem Gürtel und Wüstennahrung), wie er für die Endzeit erwartet wurde. Er wartete auf Gott höchstpersönlich. Denn sein Jesaja-Zitat (Jes 40,3) „Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Straßen!“ spricht eben von Gott selbst, der kommen wird, und also nicht von einer Mittlergestalt oder einem Messias, und natürlich erst recht nicht von einem Wanderprediger aus Galiläa. Johannes hat auf Gott selbst gewartet, wie es Jesus auch getan hat.

Die Christen haben Johannes vereinnahmt und ideologisch ausgeschlachtet. Der Evangelist Lukas entfaltet eine eigene Geburtslegende – Johannes habe bereits vor seiner Geburt im Leib seiner Mutter Jesus als dem Größeren gehuldigt –, und die Evangelien werden nicht müde, immer wieder zu betonen, dass Jesus der Bedeutendere ist und Johannes es nicht einmal wert sei, seine Sandalen zu tragen (Mt 3,11).

Johannes der Täufer und seine finstere Predigt

Die Evangelien beschäftigen sich deshalb so intensiv mit dem Täufer, weil Jesus einst selbst ein Jünger des Johannes war. Die spätere Dogmatik der Kirche und auch bereits die Evangelien geben Jesus den Vorrang, historisch jedoch war Johannes der Lehrer Jesu. Indem Jesus sein Jünger wurde, begann offenbar sein öffentliches Wirken. Für die Christen ist dieser Gedanke gewöhnungsbedürftig, in der neutestamentlichen Forschung aber längst allgemein akzeptiert. Jesus „hat vermutlich eine Zeitlang zu den Johannesjüngern gehört“, so der Theologe Vielhauer in einem Lexikonartikel des Standardwerks „Religion in Geschichte und Gegenwart“.20 Auch für den Theologen Schröter ist klar, dass Jesus „zunächst zum Jüngerkreis Johannes des Täufers gehörte.“21 Jesus war „der ehemalige Schüler des Rabbi Johannes.“22 Der Theologe Ebner meint: „Wir sehen ein Doppelgespann vor uns, in dem Jesus als Junior, der Täufer dagegen als Senior fungiert. … Jesus lässt sich von der Botschaft des Täufers treffen, er ordnet sich seiner führenden Rolle als Täufer unter, er bekennt seine eigenen Sünden usw.“23 Es ist Johannes, dem Jesus seine „theologische und spirituelle Formation“ verdankt.

Der Täufer hat sich nicht als Vorläufer einer weiteren Person, eines Propheten oder des Messias gesehen. Er war offenbar davon überzeugt, dass er der letzte Prophet sei und nach ihm nur noch Gott selbst kommen werde. Sein Bild, dass die „Axt schon an die Wurzel der Bäume gelegt ist“, lässt für einen weiteren Vermittler keinen Platz. Der „Stärkere“, den Johannes erwartet, ist vielmehr Gott selbst.

Offenbar ist Jesus einer der vielen gewesen, die zu Johannes gezogen sind, um sich seiner Sündertaufe zu unterziehen. Die Taufe Jesu durch Johannes darf als gesichertes Faktum im Leben Jesu gelten, denn sie stellte später eine Anstößigkeit dar. Jesus – noch gänzlich in Unkenntnis der späteren Dogmatik, die ihn zu einem Sündlosen erklärte – bekennt seine Sünden und unterzieht sich der Sündertaufe. Das konnte die frühe Kirche so unmöglich stehen lassen. In den Evangelien lässt sich schön verfolgen, wie versucht wurde, diese Peinlichkeit zu eliminieren oder abzuschwächen, wie man den Täufer von einem Lehrer zu einem Schüler machte und feststellte, die Taufe habe eigentlich gegen den Willen des Johannes und nur auf ausdrücklichen Wunsch Jesu stattgefunden (so bei Matthäus); der Evangelist Johannes schließlich hat sie einfach verschwiegen. Ein nettes Beispiel, wie gläubige Menschen mit missliebigen Fakten umgehen. Historische Wahrheit oder Wahrhaftigkeit hat keine Chance, wo sie mit der Dogmatik und dem Wunschbild von Gläubigen kollidiert. Das ist kein Fehler des Christentums allein, sondern ein Grundgesetz der Religionsgeschichte überhaupt.

Von seinem Lehrer Johannes dürfte Jesus also die fixe Idee übernommen haben, das Reich Gottes stehe unmittelbar bevor. Jesu Predigt von der Gottesherrschaft, sprich sein Gotteswahn, hätte wohl „ohne die Begegnung mit Johannes gar nicht diejenige Gestalt gewonnen[, wie sie uns] in den Evangelien entgegentritt.“24 Man mag es als Entschuldigung werten, dass der Lebensirrtum Jesu, dass seine Naherwartung gar nicht sein eigenes Erzeugnis war. Jedoch muss man dann auch einräumen, dass Jesus offenbar nicht die Kraft gehabt hat, sich grundlegend von seinem Herrn und Meister Johannes zu distanzieren.

Jesus muss von Johannes fasziniert gewesen sein. Wenn die Evangelisten auch versuchen, die Bedeutung des Täufers herunterzuspielen, so stehen dem Worte Jesu entgegen, die den Täufer in höchsten Tönen rühmen und die Verbundenheit Jesu mit seinem Lehrer belegen. Halten die Menschen Johannes für einen Propheten, dann legt Jesus enthusiastisch noch eins oben drauf:

Ja, ich sage euch, mehr als einen Propheten habt ihr gesehen! (Mt 11,9)

Amen, ich sage euch: Unter denen, die von einer Frau geboren wurden, ist keiner aufgetreten, der grösser wäre als Johannes der Täufer. Doch noch der Geringste im Himmelreich ist grösser als er. (Mt 11,11)25

Jesus hat den Täufer offenbar permanent überschätzt. Hätte ihm die christliche Verkündigung nicht ein Andenken, wenn auch ein verfälschtes Andenken gesetzt, er wäre heute völlig unbekannt. Ohne die positive Meinung, die Jesus von ihm hatte, wäre er nur eine Randnotiz der Geschichte. Dem seinen Meister verherrlichenden Schüler fehlte sichtlich die Distanz. Der Neutestamentler Schröter stellt fest, dass sich „in der Jesusüberlieferung nicht der geringste Anhalt dafür findet, dass Jesus seine eigene Wirksamkeit als Kontrast zu derjenigen des Johannes beurteilt hätte.“26 Als braver Schüler ist Jesus seinem Meister gefolgt, auch und gerade in seinen Absurditäten.