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Ein smartes Ermittlerduo, auf das die Krimiwelt gewartet hat, und ein Twist, bei dem sich die Nackenhaare aufstellen … Ein Must-have für alle, die richtig gute Spannung lieben. Juha Korhonen und sein Kollege Lucas «Lux» Adisa vom LKA Hamburg werden zu einem Entführungsfall hinzugezogen. Schnell merkt Juha, dass der Fall frappierende Parallelen zu einem fast zwei Jahrzehnte zurückliegenden Verbrechen aufweist, einem seiner ersten Einsätze beim LKA, der ihn bis heute nicht loslässt. Damals wurde der vierzehnjährige Daniel Boysen in einer Kiste im Wald vergraben und konnte nur noch tot geborgen werden. Der Täter beging Suizid. Bei den Ermittlungen entdeckt Lux Unstimmigkeiten in der Akte Boysen. Warum hat der damalige Kommissar nach Abschluss des Falles weiterermittelt, bevor er kurz darauf starb? Juha und Lux folgen seinen Hinweisen immer tiefer ins Dickicht der Vergangenheit. Hat man sich seinerzeit vorschnell mit der falschen Lösung zufriedengegeben? Stück für Stück offenbart sich eine Tragödie, in der Opfer zu Tätern wurden und umgekehrt – und die ihren Schatten bis in die Gegenwart wirft …
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Seitenzahl: 394
Nikolas Kuhl • Stefan Sandrock
Juha und Lux vom LKA Hamburg ermitteln
Kriminalroman
Die Wahrheit lässt sich nicht begraben.
Juha Korhonen und sein Kollege Lucas «Lux» Adisa vom LKA Hamburg werden zu einem Entführungsfall hinzugezogen. Schnell merkt Juha, dass der Fall frappierende Parallelen zu einem fast zwei Jahrzehnte zurückliegenden Verbrechen aufweist, einem seiner ersten Einsätze beim LKA, der ihn bis heute nicht loslässt. Damals wurde der vierzehnjährige Daniel Boysen in einer Kiste im Wald vergraben und konnte nur noch tot geborgen werden. Der Täter beging Suizid.
Bei den Ermittlungen entdeckt Lux Unstimmigkeiten in der Akte Boysen. Warum hat der damalige Kommissar nach Abschluss des Falles weiterermittelt, bevor er kurz darauf starb? Juha und Lux folgen seinen Hinweisen immer tiefer ins Dickicht der Vergangenheit. Hat man sich seinerzeit vorschnell mit der falschen Lösung zufriedengegeben? Stück für Stück offenbart sich eine Tragödie, in der Opfer zu Tätern wurden und umgekehrt – und die ihren Schatten bis in die Gegenwart wirft …
Auf Juha und Lux hat die Krimiwelt gewartet!
Nikolas Kuhl (geb. 1986 in Münster) schreibt Drehbücher und ist Kopf der Rockband Giant Crow.
Stefan Sandrock (geb. 1976 in Bilbao) arbeitet für den NDR und kuratiert Ausstellungen.
Beide studierten an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Sie begegneten sich bei Ausstellungen und Filmscreenings, zelteten bei einem Filmfest zufällig nebeneinander im Wald – und begannen schließlich, gemeinsam Drehbücher zu schreiben und Kurzfilme zu drehen. Irgendwann fragte Sandrock: «Wollen wir nicht einen Krimi schreiben?» Kuhl antwortete: «Auf keinen Fall.» Zum Glück haben sie es doch getan.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung semper smile, München
Coverabbildung Alexander Schönberg/Ulrike Piringer/plainpicture; Shutterstock
ISBN 978-3-644-01965-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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für Annette
Er fährt für gewöhnlich immer selbst. Aber heute kann er nicht fahren, weswegen er den jungen Kriminalassistenten von seinem Schreibtisch aufgescheucht und ihn veranlasst hat, ihn zu kutschieren.
«Kannst du schnell fahren?», hat er den blonden jungen Mann gefragt. Der hat gesagt: «Ja.»
Er wollte auch deshalb nicht fahren, weil ihn der Blick auf die Straße in den Wahnsinn treiben würde. Die vor ihnen liegende Strecke würde sich in seinem Kopf mit jeder verstreichenden Sekunde verlängern, als liefe die Zeit verkehrt herum. Er, der alte Polizist, im Wettrennen gegen die Zeit, das Unvermeidliche am Ende der Straße. Er hätte Angst, nie anzukommen, wenn er selbst am Steuer säße. Obwohl ihm natürlich klar ist, dass es eigentlich nur die Angst davor ist, zu spät zu kommen.
Der junge Polizist fährt wirklich schnell. Gut.
Er schaut aus dem Seitenfenster und raucht. «Was haben Sie vorher gemacht?»
«Was meinen Sie?»
Jetzt wedelt er fahrig mit seiner Zigarette durch die Kabine, als würde die Geste die Frage konkretisieren, und schaut kurz zu dem jungen Mann hinüber. «Vorher. Vor der Polizei. Sie sind ja schon … dreißig oder so.» Dann wieder raus aus dem Fenster. Er zieht an der Zigarette und bläst den Rauch aus, wie eine abfallende Last.
«Ich war bei der Bundeswehr. Fernspäher, Präzisionsschütze.»
Jetzt nickt er heftig aus dem Fenster, Augen gegen den Qualm zusammengekniffen, als hätte das mit der Bundeswehr lediglich der Bestätigung bedurft. Im Seitenspiegel bemerkt er, dass die anderen Einsatzfahrzeuge kaum mithalten können. Er wirft einen kurzen Blick auf den jungen Polizisten neben ihm, der fährt, als wäre der Teufel hinter ihm her, dann wieder aus dem Fenster.
«Fernspäher, was macht man da?»
«Man begibt sich unbemerkt hinter feindliche Linien, sammelt Informationen und verschwindet wieder, ohne dass es jemand mitbekommt.»
Er nickt, langsam, nachdenklich: «Wozu braucht man da einen Präzisionsschützen?», und schiebt dann ganz schnell, wie in einem Anflug von Trotz, nach: «Musst nicht antworten.» Da hat er das «Sie» wieder vergessen, jetzt wird er einfach beim «Du» bleiben. Er wendet sich sofort wieder der vorbeiziehenden Landschaft zu, als würde die Antwort ihn gar nicht interessieren.
Der junge Polizist antwortet trotzdem. «Weil man sich nie ganz sicher sein kann, dass man wirklich unbemerkt bleibt.»
«Und? Nur Kaserne, saufen, rumrennen, Rucksack tragen, saufen, jaja. Was? Krieg?»
«In den 90ern wurden zwei von drei Fernspähkompanien aufgelöst, und viele von uns wurden ins neu gegründete Kommando Spezialkräfte versetzt.»
«Ach ja, Festnahmen von jugoslawischen Kriegsverbrechern und so, ne?»
«Ja, das waren die ersten bekannten Einsätze», präzisiert der junge Polizist trocken.
«Verstehe», sagt er, wieder in dieser leicht trotzigen Art, als ginge ihn die Sache nicht das Geringste an. «Warum dann nicht mehr Soldat?»
«Irgendwann fiel mir auf, dass ich eigentlich zu wenig Soldat bin, als dass die mich da gebrauchen könnten.»
«Zu wenig Soldat?» Jetzt schaut er den jungen Polizisten wieder an.
«Ich hatte damals die Verweigerung verbaselt und wurde eingezogen. Dann habe ich gemerkt, dass ich eigentlich ganz gerne draußen unterwegs bin, und gut schießen kann ich seit frühsten Kindertagen. Das reichte mir als Grund, erst mal zu bleiben, aber nicht, um in Afghanistan Menschen zu töten.»
«Wieso kannst du schießen, seit du ein Kind bist?»
«Ich bin in Finnland geboren und aufgewachsen, bis meine Mutter mit mir nach Deutschland gezogen ist. Und habe später meine Sommerferien dort verbracht. Mein Großvater …»
«Ach so, deswegen der ungewöhnliche Name», unterbricht er ihn ruppig und erstickt damit den autobiografischen Exkurs im Keim. So genau hat er das nicht wissen wollen.
Der junge Polizist fährt den Wagen so nah an den Waldrand wie möglich. Der alte Polizist hat seinen Gurt schon gelöst und springt aus dem Auto, noch bevor es ganz steht. Aus dem hinteren Fußraum holt er den Bolzenschneider, der dort schon seit dem Tag der Entführung bereitliegt. Für den Fall, dass; und jetzt ist es der Fall, dass er in seinem hellgrauen Anzug mit dem Bolzenschneider durch den Wald rennt. Die Sträucher reißen am Jackett, die hellen Schuhe versinken im nassen Laub, und die Feuchtigkeit kriecht die Hosenbeine hinauf und färbt sie dunkel.
Der junge Polizist ist hinter ihm und kann, obwohl er geübt darin sein müsste, sich in unwegsamem Gelände zu bewegen, kaum mithalten, während er selbst durch das Unterholz pflügt, als wäre es nichts.
Kurz bleibt er stehen, sein Atem geht schwer, aber er spürt, dass der Sauerstoff reicht, um ihn, wenn nötig, bis ans Ende des Waldes zu tragen. Sein Sauerstoff. Aber was ist mit dem Sauerstoff in der Kiste? Zwei Tage. Zwei Tage ist Daniel schon unter der Erde. Zwei verdammte Tage, in denen sie nicht wussten, ob genug Sauerstoff in seinem Gefängnis vorhanden ist, um ihn am Leben zu halten. Zwei Tage, deren letzte Minuten jetzt angebrochen sind.
Auf dem GPS-Gerät überprüft er die Position: nach links. Es sind nur noch 150, vielleicht 200 Meter. Er macht eine große Geste, um dem jungen Polizisten, der ihn jetzt fast eingeholt hat, die Richtung zu weisen. Dann stürmt er weiter. In der Ferne hört er die Hunde. Suchhunde. Keine Leichenspürhunde. Die brauchen sie nicht; nicht heute.
Er ist angekommen, hier muss es sein. Fieberhaft blickt er sich um, jede Sekunde, die verstreicht, ist ein schmerzender Stich. Überall Laub, eine dicke Schicht feuchter gelber Blätter bedeckt den Waldboden wie eine schwere Decke. Er geht auf und ab, dreht sich im Kreis, sucht, schaut den jungen Polizisten mit einem vorwurfsvollen Blick an, als könne der etwas dafür. Der junge Polizist läuft ebenfalls auf und ab und tritt Laub in die Luft, das in Explosionen auffliegt und in makabrer Gelassenheit auf den Waldboden zurückfällt.
Dann stolpert der alte Polizist, sein Fuß stößt gegen etwas Hartes. Er lässt den Bolzenschneider fallen und fegt mit den Händen das Laub von der Holzplatte, aus der das schmale Rohr wie ein Periskop ragt. Die zwei Riegel sind mit Vorhängeschlössern gesichert, er nimmt den Bolzenschneider und setzt an.
Nachdem er das Eisen durchschnitten hat, wuchtet er die Klappe auf, und es ist die letzte Kraft, die er aufbringen kann, und in gewisser Weise auch die letzte große Kraftanstrengung seines Lebens.
Hunderte Male hat er sich den Moment vorgestellt, wenn er die Kiste öffnet. Sich Hunderte Male vorgestellt, wie die Klappe aufgeht, der Junge nach oben schaut, die Augen vom Licht geblendet zusammenkneift, ihn ansieht. Er hat gebetet, dass es so sein würde. Und dann ist es nicht so.
Er macht die Klappe auf, und der Albtraum ist da. Keine Augen, kein Aufblicken, nur Grabesstille. Sein eigener Schrei ist ihm fremd, als käme er aus einem anderen Körper. Ein unmenschlicher Schrei, mehr das Brüllen eines großen Tieres, hallt durch den Wald. Er springt in die Kiste, durch seine Knie fährt ein stechender Schmerz. Jetzt ist sein Gesicht ganz nah vor dem des Jungen, so nah, dass er seinen Atem spüren würde, wenn da Atem wäre. Jemand schreit immer noch, aber er weiß nicht, ob er selbst es ist oder der junge Polizist, der oben am Loch steht. Er nimmt das Kind hoch, drückt es an sich und steigt die Sprossen empor, wankt. Er weiß, der Junge kann nicht viel wiegen, doch es kommt ihm vor, als hielte er die Last der ganzen Welt in seinen Armen. Das Gewicht lässt nach, als der junge Polizist den schmächtigen Jungen auf den Waldboden zieht. Ihre Blicke treffen sich, und er sieht seinen eigenen Schmerz im Gesicht von Juha Korhonen.
JUHA
Juha erwachte aus einem Traum, den er, als er die Augen öffnete, vergessen hatte. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war, spürte nur den kalten, harten Boden, auf dem er lag. Dann kam die Erinnerung an den vergangenen Abend zurück. Maria, der Streit, den sie gehabt hatten, die Fahrt aus der Stadt nach Overwerder. Auf dem dunklen, unwegsamen Gelände zwischen Parkplatz und Pfahlhaus war er nur mit Glück nicht gestolpert. Am Ende hatte er vor verschlossener Tür gestanden – während der Schlüssel zu Hause am Brett neben der Tür hing.
Sein Blick fiel auf die halb leere Flasche, das Fenster, die darunterliegenden Scherben und die scheußliche Keramik-Katze oder vielmehr das, was von ihr übrig war. Sicher, er hätte die Scheibe auch mit einem Stein oder dem Spaten einschlagen können. Aber nachdem er zweimal entnervt das Haus umrundet hatte, hatte sich seine Wut eben auf die Keramik-Katze neben der Tür entladen, unter der eigentlich der Zweitschlüssel hätte liegen sollen.
Im Frühjahr hatten sie das leer stehende Haus bei einer Radtour entdeckt und ein paar Tage später gekauft. Juha hatte sich immer gegen einen Schrebergarten gewehrt, aber mit dem Haus war er einverstanden gewesen. Mehr als das, er hatte sich bald regelrecht darin verliebt, nannte es ihr «mökki» – nach den urtypischen finnischen Ferienhäusern –, was schlicht und einfach «Hütte» bedeutete. Beim Kauf hatten sie sich fest vorgenommen, es zu renovieren und wohnlicher zu gestalten. Stattdessen hatten sie den heißen Sommer im schattigen Garten und am Ufer der Elbe verbracht und faul in ihren Liegestühlen gelegen. Nun war es bereits Herbst und das Haus noch im selben Zustand.
Juha versuchte, sich aufzurichten, doch sein Nacken war wie Beton. Er hatte das Gefühl, kaum geschlafen zu haben, und bereute, dass er gestern nicht doch die halbe Flasche Whisky geleert hatte, die von ihrer Einweihungsparty übrig geblieben war. War Alkohol zwar eigentlich kein probates Mittel für erholsamen Nachtschlaf, konnte er einem zumindest eine subjektive Unempfindlichkeit gegen Kälte und einen harten Boden vorgaukeln. So hatte er ständig an den Enden des zu kurzen Schlafsacks herumzupfen müssen, um entweder die rechte oder linke ausgekühlte Schulter wieder aufzuwärmen, hatte sich von der einen auf die andere Seite gerollt, um die in den kalten Boden abgegebene Körperwärme wenigstens gleichmäßig zu verschwenden. Jetzt fühlte er sich, als seien gleich mehrere Pferde letzte Nacht über ihn hinweggaloppiert.
Er wollte auf sein Handy sehen, doch der Akku war über Nacht zur Neige gegangen. Er würde ihn während der Autofahrt aufladen müssen, wenn er ins Präsidium fuhr. Die rosige Färbung jenseits der Fichten verriet ihm, dass es etwa halb sieben sein musste. Er überlegte kurz, ob er versuchen sollte, noch einmal einzuschlafen, entschied sich dann aber, die Müdigkeit mit einem morgendlichen Bad in der Elbe auszutreiben, der Kälte mit Überkompensation zu trotzen. Einen gebürtigen Finnen schreckte so leicht kein herbstliches Gewässer.
Sein Kopf fühlte sich immer noch matt an, seine Glieder taub, als er nach dem Schwimmen seinen Wagen über den Deich lenkte, der die kleine Gruppe Pfahlhäuser von der Straße trennte. Den Geruch herabgefallener Äpfel, die auf dem benachbarten Grundstück im Gras vor sich hin gärten, hatte Juha mit ins Auto genommen. Er öffnete das Fenster, der Geruch verflog, und der Fahrtwind tat gut.
Eine Handvoll Optimisten trieb auf dem Hohendeicher See. In den winzigen Übungsbooten und mit ihren Schwimmwesten sahen die Kinder aus wie eine Gruppe verschlafener Enten. Es waren Herbstferien.
Hundert Meter weiter die Straße runter lenkte Juha seinen Wagen auf den Parkplatz der Tankstelle und kaufte sich einen Kaffee und eine BiFi. Den Kaffee trank er im Stehen gegen die Motorhaube gelehnt, und er genoss eine ganze Weile die wohltuende Wärme der Sonne, die gerade über die Baumwipfel kroch. Ein Tag ohne Frühnebel, wie schön, dachte er. Frühnebel war auch schön, aber nicht heute. Waldgeruch hing in der Luft, und es kam wieder Leben in seinen Körper. Juha spürte sich im Licht der Sonne wachsen und atmete tief ein. Er würde gemächlich ins Präsidium nach Alsterdorf fahren – gemächlich, nicht trantütig – und sich mit einer positiven Aura umgeben, sodass die anderen dachten: Wow, was für ein ausgeglichener Typ. So wäre ich auch gern.
An der Sicherheitsschleuse in der Lobby des Präsidiums kam ihm Uwe entgegen und hob schon von Weitem vorwurfsvoll die Arme. Uwe war sein Chef und trug Bauch und Schnauzer mit Stolz vor sich her. Juha nahm gern Uwe als Maßstab, um sich mit seinem eigenen aufkommenden Bäuchlein besser arrangieren zu können. Die Sicherheitstür klickte und schwang auf. Noch bevor Juha zu einem «Guten Morgen» ansetzen konnte, rauschte Uwe schon an ihm vorbei.
Juha versuchte es dennoch. «Guten Morgen, Uwe?»
Uwe blieb stehen und drehte sich um. «Kannst du vielleicht mal dein Handy anmachen, Juha? Das geht nicht, dass ich dich nicht erreiche.»
Reflexartig griff sich Juha an die Brusttasche. Sein Handy war zwar mittlerweile geladen, aber noch immer abgeschaltet. Augenblicklich war es mit der Gemächlichkeit, die er sich vorgenommen hatte, dahin. «Scheiße, tut mir leid. Ich habe die Nacht in der Wildnis verbracht und hatte keine Steckdose.»
Uwe schien kurz zu überlegen, ob Juha einen Witz machte, und vergaß darüber seine Verärgerung. «Wir haben eine Kindesentführung.»
Juhas Magen zog sich zusammen. «Oh, Kacke.»
«Mechthild und die Neue, Selma Burg, sind jetzt an dem Fall dran; du warst ja nicht …»
«… zu erreichen; es tut mir wirklich leid. Aber die beiden werden das Kind schon schaukeln, was?»
«Ich sag dir was, wir fahren da jetzt hin.» Er drehte sich um und ging voraus, ohne Juhas Widerspruch Beachtung zu schenken.
Weißt du, wer Hideo Kobayashi ist?», fragte Uwe, überfuhr bereits die dritte Ampel bei Tomatengelb und entschied sich dann endlich, das Blaulicht einzuschalten. Der schwarze Audi glitt über die zweispurige Straße, die nach Süden zur Elbe führte. Die Autos vor ihnen wechselten, sofern es ihnen möglich war, auf die rechte Spur. Ab und an zog Uwe kurz auf die Gegenfahrbahn.
«Kobayashi? Nee, sagt mir nichts.» Juha drehte die Sitzheizung auf fünf, nicht weil ihm kalt war, sondern aus Wellness-Gründen.
«Ich sag dir was, der Kerl ist ein Stararchitekt. Hat mehrere Glasklötze in der Hafencity verbrochen. Seine Tochter wurde entführt. Charlotte Kobayashi.»
«Ach, der.» Juha wusste trotzdem nicht, weshalb Uwe es für nötig hielt, dass er einem anderen Team des gleichen LKA auf die Füße treten sollte. Man mischte sich nicht ungebeten in die Ermittlung der Kollegen ein. Für den Fall, dass eine Soko gebildet würde, könnte er sich immer noch einklinken. Außerdem gefiel es ihm gar nicht, ohne seinen Partner Lux zu einem Einsatz hinzugezogen zu werden.
Er schaltete sein Handy ein. Augenblicklich poppten die entgangenen Anrufe vom Präsidium und mehrere Nachrichten auf dem Display auf. Maria schrieb: Wo warst du? Etwa im mökki? Die anderen waren von Uwe. Juha schaute kurz zerknirscht zu ihm hinüber, der konterte mit einem strengen Seitenblick.
Dann rief er Google auf und gab «Charlotte Kobayashi» in die Suchmaske ein. Es gab ein paar Treffer, und Juha tippte auf ein Foto, das eine junge Asiatin von vielleicht fünfzehn Jahren zeigte. Das Bild war professionell ausgeleuchtet und vor einem dieser typischen, grau marmorierten Studiohintergründe aufgenommen. Juha musste an ein Jahrbuch von der Schule denken. Wenn der Fotograf kommt, will man sich schließlich wohlfühlen und so zeigen, wie die Mitschüler und Lehrer einen wahrnehmen sollen. Charlotte hatte lange, schwarze, glatte Haare und trug ein Make-up, das in Richtung Punk oder Gothic ging oder irgendwas dazwischen. Doch obwohl sie sich offenbar bemüht hatte, ernst und etwas düster zu wirken, konnten ihre Augen einen gewissen Schalk nicht verbergen. Das Mädchen war Juha auf Anhieb sympathisch.
Uwe schaute kurz auf das Foto, nickte und fuhr fort: «Hideo Kobayashi hat eine Lösegeldforderung über 100000 Euro erhalten. Die Anweisungen waren klar. Keine Polizei, keine Medien, Geldübergabe persönlich. Kobayashi hat sich sofort bereit erklärt, zu zahlen.»
«Kann man ihm nicht verübeln, trotzdem ärgerlich. Hat die Geldübergabe schon stattgefunden?» Juha registrierte die wohlige Wärme der Sitzheizung, die langsam durch sein Sakko drang. Erst jetzt fiel ihm auf, wie verkrampft er war, seit er im Auto saß. Er entspannte die Hand, mit der er seit Minuten den Türgriff umklammerte.
«Kobayashi sollte den Regionalzug nach Bremen nehmen und auf ein Lichtsignal hin das Geld in einer Sporttasche aus dem Zug werfen.»
Ein Gedanke huschte durch Juhas Kopf. Als er ihn nicht greifen konnte, tat er ihn als Déjà-vu ab und stellte stattdessen die naheliegendste Frage. «Die Metronomzüge haben doch nur diese winzigen Kippfenster, oder? Da kann man doch keine Sporttasche durchquetschen.»
Uwe nickte bereits seit dem Wort «Metronomzüge». «Ich sag dir was, die haben überhaupt keine Fenster mehr zum Aufmachen. Darum ist die Übergabe auch gescheitert. Aber das wurde Kobayashi erst klar, als er da im Zug stand.»
Uwe lenkte den Wagen auf die Gegenfahrbahn, überholte ein Dutzend Autos, die an einer roten Ampel warteten, bremste nur leicht ab, um sicherzugehen, dass die Kreuzung frei war, und gab wieder Gas.
Juha schüttelte argwöhnisch den Kopf. «Das ist doch komisch, oder? Wenn ich die Tochter eines Stararchitekten entführe, dann plane ich alles genauestens durch. Gerade die Geldübergabe, das ist doch der riskanteste Teil. Und ausgerechnet dabei passiert mir so ein Fehler? Diese alten Zugfenster zum Aufschieben gibt es doch schon ewig nicht mehr. Warum macht der das?»
«Schlecht kopiert?»
«Hä, was meinst du?»
Uwe atmete tief ein. «Ich dachte, du bist schon draufgekommen, warum ich gerade dich für den Fall haben wollte.»
Da war der Gedanke wieder, und diesmal hielt Juha ihn fest, von wegen Déjà-vu.
«Gleiche Zugstrecke, gleiche Lösegeldsumme, Lichtsignal», Uwe schnipste mit dem Finger, «Sporttasche aus dem Fenster werfen. Das erinnert doch auffällig an den Fall …»
«… Boysen.» Der Name löste bei Juha nach all den Jahren immer noch Unbehagen aus. Die Vorstellung, dass der vierzehnjährige Daniel Boysen in der Kiste hilflos erstickt war, hatte Juha für ein paar Wochen mit einer fast kindlichen Nachtangst erfüllt. Ein kleiner Junge – die ganze Zeit in der Hoffnung, man würde ihn retten, er würde es wieder nach Hause schaffen, bis zu dem Moment, in dem er begriffen haben musste, dass es eben nicht passieren würde. Welche Angst musste er gehabt haben …
Zu spüren, wie die Luft, die man einatmet, keinen Sauerstoff mehr beinhaltet und das Gehirn langsam aufhört zu arbeiten. Juha konnte sich gar nicht vorstellen, wie sich das anfühlte, und hatte sich, wenn er nachts wach lag, immer eingeredet, man würde einfach müde werden, irgendwann einschlafen und dann sanft, in Abwesenheit des eigenen Bewusstseins, in den Tod hinübergleiten. Er hatte sich nie getraut, den Rechtsmediziner zu fragen, wie es wirklich war, ob es sich nicht doch nach Ersticken anfühlte, wie beim Luftanhalten, wenn der Drang zu atmen übermächtig wurde.
Ob der Junge in den letzten Momenten seines Lebens gedacht hatte: Vielleicht geht jetzt doch noch die Klappe auf. Vielleicht jetzt. Vielleicht doch noch. Jetzt. Bitte.
«Uwe, hast du dich eigentlich mal gefragt, wie es sich anfühlt, in so einer Kiste zu ersticken?»
«Ja. Aber ich hab mir immer eingeredet, dass man einfach müde wird und irgendwann weg ist», sagte Uwe.
«So wird es wohl sein.»
Einen Moment schwiegen sie.
Dann ergriff Juha das Wort, weil er das Gefühl hatte, dass Uwe mehr in den Gedanken an Daniel festhing als er selbst. «Okay, wahrscheinlich hat sich da jemand inspirieren lassen.»
«Wahrscheinlich, ja. Aber es gibt auch noch die andere Möglichkeit.»
«Wir haben aber einen Täter im Boysen-Fall. Solange wir das Mädchen nicht in einer Kiste im Wald finden, bin ich vorsichtig, da einen Zusammenhang zu sehen.» Sofort fiel ihm auf, wie unpassend seine Aussage war. «Fuck, so meinte ich das nicht, ich meinte …»
«Ist schon klar, Juha.»
«Sorry.»
«Aber so daneben liegst du gar nicht.»
Juha sah Uwe gespannt von der Seite an, dessen Blick konzentriert auf der Straße lag.
«Bei dem Anruf sagte der Entführer, Charlotte befände sich unter der Erde.»
Juhas Körper sendete einen Adrenalinstoß aus, der von kurz unter dem Zwerchfell wie heißer Dampf in die Brust auffuhr und im Nacken zu Eis erstarrte.
«Jedenfalls, für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir damals den falschen Täter ermittelt haben – fragen konnten wir ihn ja schließlich nicht mehr – und das hier eine Fortsetzung ist: Du warst von allen damals am nächsten dran. Auch wenn es fast zwanzig Jahre zurückliegt.»
Juha nahm sein Handy und begann zu tippen. «Ich schreibe meinem Partner, der hat zwar heute noch frei, aber hier sollte er dabei sein.»
«Wie lange seid ihr jetzt zusammen? Vier Monate? Wie läuft es bei euch beiden?»
Juha tippte die Nachricht an Lux zu Ende, bevor er Uwe abwesend antwortete: «Gut.» Er drückte auf Senden und setzte zu einer erneuten Antwort an: «Doch, es läuft wirklich gut. Er ist schlau. Und ziemlich ambitioniert. Wenn Lux hiervon hört, ist er fünfzehn Minuten später im Archiv und nimmt sich die Boysen-Akte vor.»
Uwe grinste zufrieden: «Ich dachte mir schon, dass ihr ein gutes Team werdet.»
LUX
Als Lucas sich an seinen Schreibtisch setzte, zog ihm der Muskelkater durch die Oberschenkel. Vorgestern war er, von unerwarteter Energie ergriffen, dreimal um die Außenalster gelaufen, anstatt wie sonst zweimal. Der leichte Schmerz verlieh ihm immer noch ein Hochgefühl, aber schon als er nach dem Laufen unter der Dusche gestanden hatte, war ihm klar geworden, dass er aufpassen musste. Derartige Hochgefühle und Energieschübe waren Anzeichen dafür, dass möglicherweise eine Phase bevorstand, die seine Therapeutin als hypomanisch bezeichnen würde und die es im Keim zu ersticken galt. Rechtzeitig, bevor sie ihn fortreißen und vergessen lassen würde, wie destruktiv diese Phasen trotz Energie, Tatendrang und Euphorie sein konnten. So weit hatte er es, seit er im aktiven Polizeidienst war, nicht mehr kommen lassen, und auch die sich unweigerlich anschließenden, depressiven Episoden hatte er gut im Griff. Die festen Strukturen im Alltag, die er sich in den letzten Jahren geschaffen, und die Aufmerksamkeit, die er sich in Bezug auf sich selbst angewöhnt hatte, bewahrten ihn vor den extremen Gemütszuständen, die sein junges Erwachsenenalter bestimmt hatten. Dennoch durfte er sich nicht zu sicher fühlen, das wusste Lucas.
Juhas Nachricht hatte ihn auf dem Weg zum Einkaufen erreicht, und obwohl Juha wie immer kurz angebunden war, schwang in seinen Worten eine gewisse Dringlichkeit mit. Lucas war umgekehrt, ins Präsidium gefahren und hatte sich sofort die Akte zum Fall Daniel Boysen besorgt.
Er war mit seiner Beförderung zum Kriminaloberkommissar Juha Korhonens neuer Partner geworden und hatte sich vorgenommen, ihn zu beeindrucken. Juha war einer der wenigen Polizisten, die sich offenbar nie um eine Versetzung bemüht hatten. Die meisten Kollegen durchwanderten im Laufe ihrer Karriere mehrere Dezernate, doch Juha Korhonen war seit Beginn seiner Laufbahn im LKA 46 gewesen und galt damit als eine Art Urgestein. Im Flurgespräch hatte Lucas nebenbei fallen lassen, dass der Kollege Korhonen «ja schon recht lange hier» sei. Er hatte wissendes Kopfnicken als Antwort erhalten: «Juha? Hat Reliktstatus.» Doch alles in allem lief es ganz gut mit dem Kollegen.
Lucas schlug die Akte auf, und was anfangs nur eine Ahnung war, verfestigte sich, während er las, zur Gewissheit. Er erinnerte sich an den Fall, der 2006 für großes Aufsehen gesorgt hatte. Was man damals aus den Nachrichten erfahren hatte, war natürlich nur die dramatische Fassade eines schier undurchdringlichen kriminalistischen Komplexes. Um seine Erinnerung aufzufrischen, las Lucas die Abläufe der Tat quer.
Der vierzehnjährige Daniel Boysen war mutmaßlich am Vormittag des 16. Oktober 2006 im Wald nahe seines Elternhauses entführt worden, die Eltern riefen am Abend die Polizei, nachdem ihr Sohn nicht nach Hause gekommen war. Noch in der Nacht wurde der nahe Wald von Suchmannschaften durchkämmt, und sogar Hubschrauber der Bundeswehr mit Wärmebildkameras hatten das Gebiet überflogen. Der örtliche Feuerwehrverein stellte Verpflegung und beheizte Container für die Helfer zur Verfügung. Am nächsten Morgen ging bei Familie Boysen eine Lösegeldforderung per Telefon ein. Der Anruf konnte nicht zurückverfolgt werden, der Anrufer nutzte einen Stimmverzerrer. Er gab an, Daniel in einer Kiste im Wald eingesperrt zu haben, die zwar Sicherheit biete, ohne seine Hilfe aber nicht gefunden werden könne. Den Standort der Kiste werde er nur im Austausch gegen 100000 Euro preisgeben. Harm Boysen, der Vater von Daniel, führte die Übergabe persönlich durch, zwei Polizisten in Zivil hielten Sichtkontakt. Er hatte zunächst die Anweisung erhalten, das Geld am Abend in einem Regionalzug zu deponieren. Während die Polizei einen Zugriff im nächsten Bahnhof vorbereitete, erhielt Boysen jedoch einen weiteren Anruf mit der Aufforderung, die Tasche mit dem Geld auf ein Lichtsignal hin aus dem Zug zu werfen. Der Täter konnte mit dem Geld entkommen. Am folgenden Tag bekam der leitende Ermittler Werner Swoboda den Hinweis auf den Standort der Kiste. Er war als Erster am Tatort, konnte Daniel Boysen aber nur noch tot bergen.
Der Täter hatte eine unterirdische Holzkiste im Wald gebaut, 120 mal 120 mal 190 Zentimeter. Er hatte Licht und eine Art Abwassereinrichtung installiert, den Raum gegen Feuchtigkeit und Kälte gedämmt, ihn mit Wasser und Nahrung für mehrere Tage bestückt und sogar ein paar Bücher und einen MP3-Player mit Hörspielen hineingelegt. Die Belüftung bestand aus einem Rohrsystem, das einen permanenten Luftaustausch garantieren sollte. Er wollte dem Kind anscheinend so wenig Schaden zufügen wie möglich. Offenbar hatte das Belüftungssystem jedoch versagt, als feuchte Blätter die Rohre verstopften. Laut Obduktionsbericht hatte der Junge höchstens einige Stunden in der Kiste überlebt. Neben Hämatomen an Händen und Unterarmen, die wahrscheinlich daher rührten, dass der Junge an die Decke der Kiste geschlagen hatte, um sich zu befreien oder wenigstens bemerkbar zu machen, wurden bei dem Leichnam auch zwei gebrochene Rippen festgestellt, die post mortem zugefügt wurden.
Aus den folgenden Protokollen ging deutlich hervor, wie frustrierend ergebnislos die folgenden Wochen verstrichen waren, bevor sich plötzlich der Zufall lautstark zu Wort meldete. Penelope Johannsen, die Mutter des siebenunddreißigjährigen Christoph Johannsen, der zu Hause, mutmaßlich in suizidaler Absicht, an einer Gasvergiftung gestorben war, fand in den Habseligkeiten ihres Sohnes einen Kinderrucksack. Und Geld. Keine Unmengen, aber doch so viel, dass die Mutter stutzig wurde und es zur Polizei brachte. Dort konnte man es schnell dem Lösegeld im Fall Boysen zuordnen. Daraufhin stellte die Spurensicherung die ganze Wohnung auf den Kopf und fand auf einer Packdecke Haare von Daniel Boysen. Damit schloss man die Fallakte. Die Beweise waren eindeutig, der Tathergang schlüssig.
Lucas sog die wesentlichen Informationen im Eiltempo auf. Die Nüchternheit des Berichts lag in der Natur der Sache und verursachte trotzdem oder gerade deswegen einen anschwellenden Druck in Lucas’ Magen, den er erst registrierte, als er fertig war. Er atmete laut aus und schob die Akte von sich weg. Vierzehn Jahre. Er selbst war damals kaum älter gewesen und hatte von Polizeiautos noch nicht mehr als die Rückbank gekannt. Hätte Daniel Boysen überlebt, wären sie heute im gleichen Alter und würden sich vielleicht in einer Bar oder beim Sport begegnen. Stattdessen hatte Daniels Leben damals gewaltsam geendet, und Lucas war mit seinem umgegangen, als verstünde er nicht, welchen Wert es hatte.
Einen Moment blieb er so sitzen, dann nahm er den Ersatzschlüssel von Juhas Wagen aus dessen Schreibtisch und machte sich auf den Weg. Die Akte ließ er auf dem Tisch liegen.
JUHA
Die Kollegen hatten ihr Equipment in dem mit Panoramafenstern gesäumten Wohnzimmer der Kobayashi-Villa bereits aufgebaut.
Mechthild wirkte angespannt. Sie schaute kurz auf, als Juha und Uwe eintraten, wandte sich dann aber wieder Selma Burg zu, die gerade dabei war, Hideo Kobayashi auf das erwartete Telefonat mit dem Entführer vorzubereiten. Scheinbar unwillkürlich fasste Mechthild nach ihrem deutlich lichter gewordenen Haaransatz. Ein kleiner Tick, den Juha häufiger bei ihr beobachtete, seit sie die wesentlich jüngere Selma Burg unter ihre Fittiche genommen hatte.
Kobayashi trug eine antiquierte Jogginghose, ein St.-Pauli-Shirt von anno dazumal und grüne Laufschuhe. Trotz des lässigen Outfits strahlten seine Gestalt und Haltung eine bemerkenswerte Autorität aus. In einem Anzug hätte man ihn unweigerlich für den Chef der ganzen Aktion gehalten.
Selma Burg beendete das Briefing und suchte unauffällig Mechthilds Blick, die nickte in mentoraler Bestätigung. Zufrieden zog Selma Burg ihren üppigen Pferdeschwanz fester, wodurch ihre Augenbrauen noch ein Stück weiter die Stirn hinaufrutschten und ihrer ohnehin schon hellwachen Aura zusätzlich den Ausdruck permanenter Überraschung verliehen. Selma Burg. Pah! Juha hatte sie bereits bei ihrer ersten Begegnung als Streberin vorverurteilt, als sie sich beflissen jedem Einzelnen im LKA persönlich vorgestellt hatte.
Kobayashi wandte sich von den beiden Frauen ab und trat ans Panoramafenster. Er sah hinaus, während er seine Finger hinter seinem Rücken verknotete, beugte sich dann vor und hauchte gegen die Scheibe. In den trüben Fleck malte er ein Dreieck und beobachtete, wie es sich auflöste. Jetzt sah man ihm die Erschöpfung an. Aber als er Uwe und Juha bemerkte, kam er mit ausgestreckter Hand auf sie zu und stellte sich mit einer leichten Verbeugung vor.
Uwe nannte ebenfalls seinen Namen, Juha tat es ihm gleich. «Korhonen, Kriminalhauptkommissar LKA Hamburg.»
Kobayashi nickte.
Plötzlich stand Selma Burg vor Juha und grinste breit. «Na, haben sie dich doch noch gefunden? Uwe hätte heute Morgen ja fast ’ne Suchmeldung rausgegeben.»
Juha täuschte ein Lachen vor. «Sehr witzig, Selma Burg.»
«Was machst du hier eigentlich, wollt ihr uns das Ding abnehmen, oder was?» Ihr war die Aufregung, die so eine Situation mit sich brachte, zwar anzumerken, aber für ihr Alter war sie ziemlich cool, fand Juha.
«Nein, nein, keine Sorge. Sag mir einfach Bescheid, sobald ich helfen kann.» Er schaute zu Uwe und Mechthild, die gerade offensichtlich das gleiche Thema besprachen. Mechthild wirkte inzwischen wesentlich weniger irritiert. Sie nickte Juha zu, als sie bemerkte, dass er sie ansah. Er erwiderte den Gruß.
«Okay, Juha. Holt euch erst mal Kopfhörer», sagte Selma Burg.
«Alles klar, danke, Selma Burg.»
Ein Handy klingelte, und für wenige Sekunden geriet alles in Bewegung, und ein murmelndes Stimmengewirr schwoll an. Kobayashi nahm Platz, und jemand reichte ihm ein Headset. Wenige Augenblicke später war es totenstill im Zimmer, und der Aufruhr war gespannter Starre gewichen. Ein Beamter an einem Laptop vergewisserte sich mit einem Blick in die Runde, dass alle bereit waren, und drückte eine Taste.
«Hier spricht Kobayashi.» Seiner Sprachmelodie wohnte ein zarter japanischer Akzent inne, der die lange Zeit in Deutschland überdauert hatte.
Eine offenbar künstlich verfremdete Stimme antwortete. «Herr Kobayashi, Sie haben mich sehr enttäuscht.»
«Mich trifft keine Schuld. Der Zug hatte keine Fenster.»
«Was?»
«Der Zug hatte keine Fenster», wiederholte Kobayashi stoisch.
Stille.
«Sind Sie noch dran?», fragte Kobayashi. «Ich wollte Sie nicht …»
«Hat aufgelegt», sagte der Beamte am Laptop.
Kobayashi schaute erschrocken zu Mechthild. Die hob beschwichtigend die Hände und sagte: «Cool bleiben. Der ruft wieder an», während sie den Blick durch die Runde schweifen ließ. Bei Uwe blieb er hängen und verriet Juha, dass sie überraschter war, als sie tat. War der Typ wirklich so ein Amateur? War ihm tatsächlich nicht bewusst gewesen, dass der Zug keine Fenster hatte und die Lösegeldübergabe deswegen scheitern musste? Oder war er einfach unzurechnungsfähig? Dann mussten sie besonders vorsichtig sein.
Das erneute Klingeln erlöste alle aus ihrer Starre. Die Beamten setzten ihre Kopfhörer wieder auf, rückten näher an ihre Laptops. Einvernehmliches Nicken.
Diesmal meldete sich Kobayashi mit einem schlichten: «Ja.»
«Der Preis hat sich erhöht. 300000 Euro.»
«Bedeutung hat für mich nur das Wohl meiner Tochter. Aber wenn Sie sagen, der Preis erhöht sich, meinen Sie dann auf 300000 Euro oder um 300000 Euro?»
Juha schlug sich innerlich gegen die Stirn. Am Ende der Leitung blieb es einen Moment still. Dann kam erneut die blecherne Stimme: «Ich rufe wieder an.»
«Aufgelegt.» Kobayashi ließ den Hörer sinken.
Kollektives Stirnrunzeln machte sich breit.
Selma Burg ergriff das Wort. «Kommt es euch nicht auch komisch vor, dass er offenbar unschlüssig ist, ob er nun 300000 oder 400000 Euro will?»
Mechthild nickte. «Ja, das ist tatsächlich auffällig. Wie interpretierst du das?»
«Eine Möglichkeit: Er ist nicht alleine. Vielleicht muss er sich mit einem Partner abstimmen.»
«Okay, das ist möglich.»
Das Telefon klingelte.
«Sie machen das wirklich gut», ermutigte Mechthild Kobayashi, bevor das Gespräch angenommen wurde.
«Die 300000 kommen obendrauf.»
«Sie bekommen das Geld. Ich habe mich an Ihre Regeln gehalten. Kann ich jetzt bitte mit meiner Tochter sprechen?»
«Du hast dich an die Regeln gehalten? Denkst du, ich weiß nicht, dass die Bullen längst mithören?»
Juha fiel auf, dass der Entführer zum «Du» übergegangen war.
«Ich verstehe nicht, was Sie meinen.» Stille. «Bitte legen Sie nicht wieder auf. Lassen Sie uns das in Ruhe klären.»
«In Ruhe? Meinst du, damit die Bullen mich in Ruhe tracken können, oder was? Denkst du, ich bin behindert?»
Kobayashi sah Hilfe suchend zu Mechthild, die ihm nickend eine Hand entgegenstreckte.
«Ich gebe Sie weiter», sagte Kobayashi stockend, bevor er Mechthild das Headset gab.
«Kriminalhauptkommissarin Schön, LKA Hamburg.»
«Ach was, ’ne Bullenschlampe.»
Mechthild überging die Beleidigung. «Haben Sie einen Namen? Wie soll ich Sie nennen?»
«Hieronymus.» Das kam wie aus der Pistole geschossen.
«Also, Hieronymus: Wir sind mit einem weiteren Übergabeversuch einverstanden. Allerdings können wir der Summe nicht zustimmen. Wir schlagen Ihnen 150000 Euro vor, unter der Bedingung, dass wir einen Lebensbeweis erhalten. Wir müssen sichergehen, dass es Charlotte gut geht.»
«Was haltet ihr davon: Ich schicke euch einen Finger von der, und das Lösegeld erhöht sich auf eine Million.»
«Ich bitte Sie, Charlotte nichts anzutun. Wenn Sie uns einen Beweis übermitteln, dass es Charlotte gut geht, überdenken wir unser Angebot. Können wir mit Charlotte sprechen? Ist sie in diesem Moment bei Ihnen?»
Plötzlich war durch die summende Trägerfrequenz etwas zu hören, das wie ein leidendes Seufzen klang.
«Hat der gerade geseufzt?», flüsterte Juha.
«Klang irgendwie so, ne?», sagte Uwe leise.
«Ist das ein Problem, Hieronymus? Wo ist Charlotte?»
«Sie ist nicht hier.»
In dem Moment reckte einer der Techniker den Arm hoch, Selma Burg huschte zu ihm hinüber. Mechthild hatte es aus dem Augenwinkel wahrgenommen, blieb jedoch vollkommen konzentriert und ließ sich nichts anmerken.
Selma Burg malte eine Markierung auf eine Karte. Dann noch eine zweite darüber und eine dritte. Daneben schrieb sie jeweils die Zahlen eins bis drei.
«Die sind ja alle in einer Linie», murmelte Juha.
Uwe schwieg einen Moment und sagte dann: «Er bewegt sich. Das ist die Bahnstrecke. Darum ändert sich der Funkmast dauernd.»
«Aber dann ist er ja gleich am Hauptbahnhof.»
Uwe nickte. Den gleichen Dialog führten der Techniker, Mechthild und Selma Burg, nur mit Blicken.
Selma Burg kam zu Uwe und Juha herüber, um nicht zu laut sprechen zu müssen. «Was meint ihr? Schicken wir vier Einheiten hin, die sich in der Nähe befinden, plus die, die ohnehin am Bahnhof unterwegs sind.»
Uwe nickte. «Aber kein Blaulicht, kein Einsatzgehabe. Einfach Routinestreife am Bahnhof. Er soll nicht denken, dass wir wissen, wo er ist. Die sollen aufmerksam sein und nach Personen suchen, die grob ins Profil passen: männlich, über achtzehn, allein unterwegs, kein Reisegepäck. Wenn einer wegrennt, können sie ja hinterherrennen. Ansonsten Füße stillhalten.»
Selma Burg nickte, zückte ihr Telefon und ging nach nebenan.
Juha gefiel die Strategie. Jetzt mit zwei MEKs den Bahnsteig besetzen – was sollte das bringen, falls sie überhaupt rechtzeitig dort waren? Man konnte schließlich nicht Hunderte Fahrgäste fragen, ob sie der Entführer waren.
Gar nicht so blöd, die Idee mit dem Zug, fand Juha. In gewissen Punkten bewies der Kerl wirklich Köpfchen, doch diese ganze Aktion schwankte auffällig zwischen clever und naiv, zwischen geplantem Vorgehen und unbedarfter Improvisation. Was war das nur für ein Typ?
«Wo ist Charlotte, wenn sie nicht bei Ihnen ist, Hieronymus?», fragte Mechthild.
«An einem sicheren Ort.»
«Gut. Was können Sie uns als Lebensbeweis liefern?»
Hieronymus überlegte offenbar am anderen Ende der Leitung. «Ich kann Ihnen ein Video schicken.»
«Das reicht uns leider nicht. Das Video könnte ja auch von gestern sein. Sie verstehen, was ich meine.»
Wieder dieses Seufzen. Da stimmt doch irgendwas nicht, dachte Juha. Was für eine Farce war das hier? Wenn man so wenig Ahnung von Entführungen hatte, sollte man es gefälligst lassen. Selbst Juha fielen auf Anhieb drei Möglichkeiten ein, einen sicheren Lebensbeweis zu liefern.
«Okay, ich habe eine Idee. Sie machen das mit dem Video, und Charlotte soll sagen: ‹Ein grünes Auto fährt nach Sylt.›»
Hieronymus brauchte einen Moment, um zu verstehen. «Okay.»
«Wie lange brauchen Sie ungefähr für das Video?»
Seufzen. «Halbe Stunde oder so.»
«Alles klar. Ich finde, das läuft doch gut mit uns beiden, oder?»
Hieronymus legte wortlos auf.
Nun wurde es hektisch im Raum, eine halbe Stunde war zwar viel Zeit, um nachzudenken und die nächsten Schritte vorzubereiten, doch zu wenig, um wirklich aktiv zu werden und zum Beispiel eine Suchaktion zu starten.
Juha bemerkte, dass Kobayashi nicht wusste, wohin mit sich, und befand, dass dies der richtige Zeitpunkt war, ihn zu einem Gespräch zu bitten.
«Wollen wir kurz nach nebenan gehen und uns unterhalten? Ich glaube, hier können wir gerade nicht viel tun.»
«Sicher», antwortete Kobayashi dankbar und dirigierte Juha zur Tür, die ins Arbeitszimmer führte.
Drei der Wände waren bis unter die hohe Decke mit Büchern gefüllt, ein für einen Architekten überraschend kleiner Schreibtisch stand am Fenster. Schöner Ausblick beim Arbeiten, dachte Juha. Im Garten standen zwei große Buchen, an einer hing eine Schaukel. Ein Trampolin, auf dem sich die Blätter mindestens eines vergangenen Herbstes angesammelt hatten, lugte halb hinter einem der Stämme hervor.
Als Kobayashi die Tür schloss, wurde der Raum von einer meditativen Stille erfüllt, als wären die Wände schallgedämmt. Nur durch das geschlossene Fenster drang hin und wieder ein Geräusch von einem vorbeifahrenden Auto, einem Vogel, einem Windstoß, der durch die Blätter fuhr. Geräusche, die jedoch augenblicklich wieder verstummten, wie Juha es aus den winterlichen Wäldern in Finnland kannte, wo der Schnee jeden Laut verschluckte und eine Stille hinterließ, die unwirklich, ja, unirdisch anmutete. Es roch nach Holz und Büchern, und der Boden knarrte, als Kobayashi sich erschöpft auf einen Stuhl neben den Regalen sinken ließ.
Mit einem kurzen Nicken bat er Juha, ebenfalls Platz zu nehmen. Es fiel Juha nicht leicht, die Ruhe, die dieser Raum ausstrahlte, mit Worten zu füllen.
«Ich bin sicher, Sie haben meinen Kollegen bereits alles gesagt, was wichtig ist. Jede Information, die dabei helfen kann, Ihre Tochter gesund nach Hause zu holen, haben meine Kollegen von Ihnen bekommen, Herr Kobayashi.»
«Wenn es hilft, erzähle ich es sehr gern noch einmal.»
Juha war sich nicht sicher, wie er beginnen sollte, dann redete er einfach drauflos. «Ich bin nur indirekt mit dem Fall Ihrer Tochter beschäftigt, der bei meinen beiden Kolleginnen in den besten Händen ist. Ich befinde mich, so könnte man es sagen, auf alternativen Ermittlungspfaden. Mir geht es um einen älteren Fall. Und bitte erschrecken Sie nicht, denn es gibt wahrscheinlich keinen Zusammenhang. Bei dem Fall starb ein entführtes Kind. Der Entführer hatte das nicht geplant. Es war, wenn Sie so wollen, ein Unfall. Vielleicht haben Sie davon gehört, es ist schon eine Weile her. Daniel Boysen hieß der Junge.»
Kobayashi nickte. «Ich erinnere mich daran. Der Fall hat viel Aufmerksamkeit erlangt. Ich war damals gerade nach Deutschland gekommen. Eine sehr traurige Geschichte.»
«Wir ziehen die Möglichkeit in Betracht, dass der Entführer Ihrer Tochter sich in gewissen Details von dem Fall Boysen hat inspirieren lassen.» Juha zögerte, und es missfiel ihm, um den heißen Brei herumzureden. «Wenn dem so ist, können wir vielleicht Schritte des Entführers vorausahnen, ihn besser einschätzen.»
Kobayashi sah Juha streng in die Augen. «Inspirieren lassen? Oder meinen Sie, dass es derselbe Täter ist?»
Juha war um eine Antwort bemüht, die die Bedrohlichkeit dieser These mildern könnte. «Wir würden das gerne ausschließen.»
Kobayashi nickte. «Wie kann ich helfen?»
«Erzählen Sie mir, was passiert ist, bevor Sie die Polizei alarmiert haben. Die Kollegen haben mich ins Bild gesetzt, aber ich würde es gerne noch einmal von Ihnen hören.»
Wieder nickte der Japaner und richtete sich auf. «Ich kam am Freitag müde nach Hause. Meine Frau ist zurzeit in Lissabon.»
Juha fragte sich, weshalb er sich über die Abwesenheit von Kobayashis Frau noch nicht gewundert hatte. Er hatte einfach nicht daran gedacht. «Wann wird sie hier sein?»
Kobayashis Blick flackerte kurz durch den Raum, und er wirkte beschämt. «Ich habe sie erst heute Morgen angerufen. Ich muss zugeben, dass ich den Ernst der Lage erst so richtig begriffen habe, als plötzlich das ganze Haus voller Polizei war.»
«Ich verstehe», sagte Juha, obwohl er das nicht tat. «Also, Sie kamen nach Hause, waren müde.»
«Meine Tochter ist sechzehn und oft unterwegs, hat viele Freunde. Freitagabends sitzen sie häufiger am Elbstrand, trinken Bier, rauchen Gras.»
«Das beunruhigt sie nicht?»
«Würde es Sie beunruhigen, Herr Korhonen?»
«Eigentlich nicht.»
«Ihre schulischen Leistungen sind gut, sie interessiert sich für Musik, übt E-Bass und schreibt an einem eigenen Theaterstück. Recht finster, glaube ich.»
«Haben Sie es gelesen?»
«Es geht wohl um Selbstmord.»
«Und auch das beunruhigt Sie nicht?»
«Ich denke, das sind jugendlich melancholische Fantasiespiele. Sicherlich ganz normal in dem Alter.»
Juha nickte. Zwar hatte Kobayashi damit irgendwie recht, allerdings fand Juha, dass die besorgte Reaktion der Eltern ebenso normal gewesen wäre.
«Sie meinen, als Sie am Freitagabend nach Hause kamen, war Charlotte nicht hier. Aber Sie haben sich keine Sorgen gemacht.»
«So war es. Ich habe mir einen Film angesehen.»
«Welchen Film?»
«Spielt das eine Rolle?»
«Nein.»
«Lethal Weapon 2. Dann war es elf, und ich bin zu Bett gegangen. Normalerweise kommt Charlotte gegen ein Uhr nach Hause – so ist die Abmachung. Ich werde dann meistens kurz wach. Als ich gegen zwei Uhr wach wurde, merkte ich, dass sie immer noch nicht da war. Ich versuchte es auf ihrem Handy. Es war abgeschaltet. Also zog ich mich an und ging zum Strand hinunter. Da waren ein paar Jugendliche, die ich schon einmal gesehen hatte. Ich erfuhr, dass Charlotte den ganzen Abend nicht dort gewesen war. Sie sei wahrscheinlich mit Boschi unterwegs.»
«Boschi? Sagt Ihnen das etwas?»
«Ich weiß, dass es einen Jungen gibt, mit dem sie häufiger zusammen ist. Meine Frau hat eine gute Gesprächsbasis gefunden, um mit Charlotte über so etwas zu sprechen, Verhütung, solche Dinge. Ich habe mich da eher zurückgehalten, traue Charlotte aber ein verantwortungsvolles Handeln zu. Ich hoffte, wir würden den jungen Mann – Boschi – bald kennenlernen.»
So wie Kobayashi es aussprach, klang Boschi wie der Name eines Samurai. Dabei hieß Boschi vermutlich einfach Bosch mit Nachnamen.
«So wie ich das verstanden habe, versuchen Ihre Kollegen bereits den jungen Mann zu finden.»
«Okay», fuhr Juha fort. «Was haben Sie dann gemacht?»
«Ich habe es natürlich weiter auf Charlottes Handy probiert, aber das war aus. Wirklich Sorgen habe ich mir nicht gemacht, ich habe fest damit gerechnet, dass ich spätestens am nächsten Tag von ihr hören würde.»
«Haben Sie aber nicht.»
«Nein, stattdessen bekam ich den Anruf. Die gleiche Roboterstimme, die Sie eben gehört haben. Der Anrufer habe Charlotte entführt, und sie befinde sich an einem Ort unter der Erde. Mit Wasser für ein paar Tage. Es sei unmöglich, sie ohne seine Hilfe zu finden. Keine Polizei, 100000 Euro in kleinen Scheinen. Andernfalls würde er untertauchen und Charlotte in ihrem Verlies lassen.»
Juha rückte etwas weiter in Richtung Sesselkante. «Der genaue Wortlaut ist wichtig, Herr Kobayashi. Unter der Erde? Verlies? Hat er das so gesagt?»
Kobayashi überlegte kurz, obwohl er sich ganz offensichtlich bereits sicher war. «Ja, das waren seine Worte.» Er stützte die Ellenbogen auf die Knie. «Natürlich dachte ich daran, die Polizei zu verständigen, aber …» Zum ersten Mal stockte Kobayashi, seine ansteckende Ruhe bekam Risse, und sein Blick wurde glasig, suchte nach irgendeinem Fixpunkt. Er bekam eine kleine Vase auf dem Tisch zu fassen und wog sie prüfend in seinen Händen. Atmete tief ein. «Ich dachte, ich kann das bezahlen, und dann ist sie in Sicherheit. Wenn der Mann bekommt, was er will, ist die Sache schnell vorbei. Ich dachte, die Polizei kann ich danach immer noch involvieren. Oder auch nicht. Ich wollte mich selbst darum kümmern. Auch meine Frau nicht beunruhigen.»
Kobayashi stellte die Vase kopfüber wieder an ihren Platz, und die kleine Spielerei schien ihm einen Hauch von Freude zu bereiten.
«Haben Sie sich gefragt, warum der Erpresser nur 100000 Euro verlangt hat? Sie hätten auch mehr bezahlen können, oder?»
«Ja, hätte ich. Vielleicht nicht sofort in bar, aber prinzipiell, ja, hätte ich auch mehr bezahlt. Jeden Preis. Aber darüber habe ich nicht nachgedacht, in dem Moment.»
«Natürlich nicht, blöde Frage.»
Es klopfte an der Tür, und Uwe steckte den Kopf herein. «Wir haben das Video bekommen.»
Hideo Kobayashi sprang auf und eilte Richtung Tür, schien Juha von einem Moment auf den anderen vergessen zu haben. Ganz so stoisch war er dann doch nicht, dachte Juha und folgte ihm.
Der Bildschirm von Kobayashis Handy wurde auf einen Monitor gespiegelt, sodass alle mitschauen konnten. Juha sah zu Kobayashi und bemerkte, dass er Angst hatte.
Der Bildschirm zeigte das Gesicht einer jungen Frau, die nach oben blickte, als würde sich die Kamera über ihr befinden. Wie in einer Kiste, dachte Juha. Die Qualität war schlecht, aber es handelte sich eindeutig um Charlotte, soweit Juha das anhand des Fotos beurteilen konnte, das er während der Fahrt im Internet gefunden hatte. Die Kamera, vermutlich eine Handykamera, war dicht vor ihrem Gesicht, vielleicht in einem halben Meter Abstand. Das Blitzlicht war eingeschaltet und blendete sie. Ihr Gesicht war schneeweiß, hinter ihr nur Dunkelheit – keine Hinweise auf den Raum, in dem sie sich befand. Ihr Kajal, der jugendlich inflationär die Augen umrahmte, war verlaufen und verlieh ihrem Gesicht die morbide Anmutung eines Totenschädels. Zwischen Nase und Mund war ein glänzender Film zu erkennen, in dem sich das Licht der Kameralampe spiegelte.
«Ein … grünes Auto fährt … nach Sylt», stammelte Charlotte mit gebrochener Stimme. Dann verzog sich ihr Gesicht. «Hideo, hilf mir. Bit…!»