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Die bezaubernde Geschichte einer unverhofften menschlichen Läuterung – ein erzählerisches Bravourstück des großen russischen Klassikers der Moderne
Farbiges Epochenbild und kunstvolle Charakterstudie eines «überflüssigen Menschen»
Zwei Temperamente, zwei Weltanschauungen, zwei Unversöhnlichkeiten. Hier der studierte Philosoph und Petersburger Bonvivant Iwan Andrejitsch Lajewski, dort der nüchterne Zoologe und unerbittliche Sozialdarwinist Nikolai Wassiljewitsch von Koren. Als ihre Feindseligkeiten eskalieren und von Koren dem Finanzbeamten Lajewski Pflichtvergessenheit vorwirft, fordert der eine den anderen gemäß dem traditionellen Ehrenkodex zum Duell. Im Angesicht des nahenden Todes überdenkt Lajewski in der Nacht davor sein liederliches Dasein, das auf Lüge, Pump, Betrug und Selbstbetrug gebaut ist. Seinerzeit hatte er einer verheirateten Frau falsche Versprechungen gemacht, um sie jetzt just in dem Augenblick sitzenzulassen, da sie Witwe geworden ist. Als er das Duell leicht verletzt überlebt, nutzt der Taugenichts diese Zäsur, um sein Leben von Grund auf zu ändern.
Die Novelle aus dem Jahr 1891 zeigt beispielhaft Tschechows Meisterschaft in stilistischer Prägnanz und Kürze.
PENGUIN EDITION. Zeitlos, kultig, bunt.
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Seitenzahl: 206
Große Emotionen, große Dramen, große Abenteuer – von Austen bis Fitzgerald, von Flaubert bis Zweig. Ein Bücherregal ohne Klassiker ist wie eine Welt ohne Farbe.
Anton Tschechow (1860–1904) studierte Medizin und arbeitete für kurze Zeit als Arzt, ehe er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine erste Erzählung wurde bereits 1879 gedruckt. Schon zu Lebzeiten erlangte er Ruhm mit atmosphärisch dichten und sprachlich feinen Erzählungen. Im Alter von nur vierundvierzig Jahren starb er an Tuberkulose. Er gilt heute als einer der größten Meister der Kurzgeschichte, und seine Dramen (Drei Schwestern, Der Kirschgarten und Onkel Wanja) gehören auch an deutschen Theatern zum festen Repertoire.
«Es gibt in der gesamten Weltliteratur wenige Novellen, die so stark auf mich gewirkt haben.»
Arthur Schnitzler
Anton Tschechow
DAS DUELL
Novelle
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Anne Bock
Die Originalausgabe der Novelle erschien 1891
unter dem Titel «Дуэль» in einer Literaturzeitschrift.
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
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Umschlaggestaltung: Regg Media in Adaption der traditionellen Penguin-Classics-TriBand-Optik aus England
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH
ISBN 978-3-641-30740-0V001
www.penguin-verlag.de
Es war acht Uhr morgens. Um diese Zeit pflegten Offiziere, Beamte und Kurgäste nach drückend heißer Nacht im Meer zu baden und anschließend im Pavillon ihren Kaffee oder Tee zu trinken. Iwan Andrejitsch Lajewski, ein junger Mann von etwa achtundzwanzig Jahren, blond, überschlank, die Mütze des Finanzministeriums auf dem Kopf, schlenderte in Pantoffeln zum Strand, wo er eine Menge Bekannter und auch seinen Freund, den Militärarzt Samoilenko, traf.
Mit glatt rasiertem, mächtigem Schädel, gewaltiger Nase und buschig schwarzen Brauen im roten, von grauem Backenbart umrahmten Gesicht, kurzhalsig, dick, das heißt eher aufgeschwemmt, und zu allem Überfluss mit heiserem Militärbass ausgestattet, wirkte dieser Samoilenko auf jeden Zugereisten zunächst einmal wie ein höchst unerfreulicher Rauf- und Saufbold, doch empfand jedermann schon nach zwei bis drei Tagen das außergewöhnlich Gütige, Liebenswerte und dadurch fast schön zu Nennende seines Gesichts. Bei all seiner Grobheit und schwerfälligen Art war er ein friedlicher, grenzenlos gutmütiger und hilfreicher Mensch. Er duzte das ganze Städtchen, pumpte jedermann Geld, kurierte, brachte Ehen zustande, versöhnte, je nachdem; auch veranstaltete er Picknicks, wobei er Schaschlik briet und eine besonders schmackhafte Suppe aus Meeräschen kochte. Immer setzte er sich für irgendwelche Schützlinge ein, immer fand er Grund, sich an etwas zu freuen. Man war sich einig: Dieser Mann konnte nicht die geringste Sünde tun. Nur zwei kleine Schwächen besaß er: Einmal schämte er sich seiner Gutmütigkeit und tat alles, sie unter recht grimmigem Blick und jäh aufbrausender Grobheit zu verbergen, und dann liebte er es, von Sanitätspersonal und Soldaten mit «Euer Exzellenz» angeredet zu werden, obwohl er nur Staatsrat war.1
«Alexander Davidytsch, du sollst mir eine Frage beantworten!», sagte Lajewski, sobald er und Samoilenko bis an die Schultern im Wasser standen. «Gesetzt den Fall, du verliebst dich in eine Frau, lebst mit ihr, sagen wir mal, mehr als zwei Jahre. Schließlich kriegst du sie satt, wie es so geht, und zuletzt ist sie dir ganz und gar fremd. Was tätest du?»
«Klarer Fall. Lauf, Liebchen! Wohin du willst! – Jedes weitere Wort überflüssig.»
«Leicht gesagt! Wenn sie aber nicht weiß, wohin? Wenn sie alleinstehend ist, keine Familie hat, und dazu keine Kopeke, und nichts gelernt?»
«Und …? Wirf ihr entweder fünfhundert auf einmal in den Rachen oder fünfundzwanzig monatlich! Aus! Ganz einfach.»
«Nehmen wir mal an, du hast fünfhundert auf einmal oder fünfundzwanzig monatlich. Aber die Frau, von der ich rede, ist klug und stolz. Kannst du so einer tatsächlich Geld anbieten? Und wie?»
Gerade wollte Samoilenko antworten, da schlug eine starke Welle über den beiden zusammen, brach sich am Ufer, rollte mächtig rauschend über den Kies zurück. Die Freunde gingen an Land und zogen sich an.
«Natürlich ist’s schwierig, mit einer Frau zu leben, wenn du sie nicht liebst …» Samoilenko schüttelte den Sand aus seinem Stiefel. «Aber, Wanja, du musst die Sache schließlich vom menschlichen Gesichtspunkt nehmen. Wenn mir so was passierte, ich würd’s ihr meiner Lebtag nicht zeigen, dass ich sie nicht mehr mag. Ich bliebe doch bei ihr. Bis zum Tod.»
Aber schon war ihm sein Ausspruch furchtbar peinlich, und er sagte nur noch: «Von mir aus braucht’s überhaupt keine Weiber! Zum Satan damit!»
Sie waren nun angekleidet, gingen zum Pavillon. Dort wurde Samoilenko als Stammgast auf eigens für ihn reserviertem Geschirr bedient. Jeden Morgen brachte man ihm auf hübschem Tablett eine Tasse Kaffee, ein hohes Kristallglas mit Wasser und Eiswürfeln und ein Glas Kognak; erst kippte er den Kognak, dann trank er den kochend heißen Kaffee und zuletzt das Eiswasser. Die Reihenfolge musste köstlich sein, denn unmittelbar darauf schwammen seine Augen in gleichsam öligem Glanz, und er streichelte mit beiden Händen seinen Backenbart. Dem Meer zugewandt sagte er: «Ganz überraschend prachtvoller Blick!»
In der langen Nacht, in der trübselig nutzlose Grübelei ihm den Schlaf geraubt und die dunkle Schwüle nur noch verdichtet hatte, fühlte Lajewski sich schlapp, zerschlagen. Weder vom Bad noch vom Kaffee war ihm besser geworden.
«Wir müssen unser Gespräch fortsetzen, Alexander Davidytsch», begann er. «Ich will dir nichts verheimlichen. Ich sage dir als meinem Freund ganz offen: Mein Verhältnis zu Nadjeshda Fjodorowna hat sich verschlechtert … ganz erheblich verschlechtert! Entschuldige, dass ich dich so in mein Privatleben einweihe, aber ich muss mich unbedingt aussprechen!»
Samoilenko ahnte bereits, worum es sich handeln würde. Gesenkten Blickes trommelte er mit den Fingern auf der Tischplatte.
«Zwei Jahre habe ich mit ihr gelebt, und jetzt liebe ich sie nicht mehr», sprach Lajewski weiter. «Richtiger gesagt: Jetzt begreife ich, dass es überhaupt nie Liebe war, sondern Selbstbetrug, zwei Jahre lang.»
Lajewski hatte die Gewohnheit, während er sprach, aufmerksam seine rosigen Handflächen zu betrachten, oder er kaute an seinen Fingernägeln oder zerknüllte seine Manschetten. Er tat es auch jetzt. «Ich weiß ja ganz genau, dass du mir nicht helfen kannst», fuhr er fort. «Aber ich rede trotzdem zu dir, weil für einen Pechvogel und im Grund überflüssigen Menschen2 wie mich das ganze Heil schließlich im Reden liegt. Ich muss jede meiner Handlungen verallgemeinern können; ich muss Erklärung und Rechtfertigung meines törichten Lebens in Theorien oder in literarischen Typen finden, zum Beispiel darin, dass wir Adligen tatsächlich degenerieren, und so weiter … Heute Nacht zum Beispiel hat mich immerzu der Gedanke getröstet: Wie recht hat doch Tolstoi!3 Wie unbarmherzig recht! – Mir wurde richtig leichter dabei. Wahrhaftig, mein Lieber, ein großer Dichter! Sag, was du willst …»
Samoilenko, der niemals Tolstoi gelesen hatte, sich indes täglich vornahm, es zu tun, bemerkte etwas verlegen: «Stimmt. Alle Dichter sonst schreiben aus der Phantasie, er aber direkt nach dem Leben …»
«Mein Gott!» Lajewski seufzte. «Zu welchem Grad hat uns doch die Zivilisation verkrüppelt! Ich habe mich in eine verheiratete Frau verliebt, sie sich in mich. Anfangs: nichts als Küsse, stille Abende, Schwüre, Lektüre von Spencer,4 Ideale, gemeinsame Interessen … Welche Verlogenheit! In Wirklichkeit sind wir ja nur ihrem Mann davongelaufen, und wir logen uns vor, wir liefen vor der Leere unseres intellektuellen Lebens davon. Wir haben uns die gemeinsame Zukunft ausgemalt: erst der Kaukasus.5 Solange wir Land und Leute kennenlernen, ziehe ich die Vizeuniform an und mache Dienst. Und dann kauft man sich in dem weiträumigen Land ein Stückchen Grund und Boden, bebaut es im Schweiße seines Angesichts,6 legt einen Weinberg an,7 pflügt einen Acker und so fort. Du an meiner Stelle oder auch dein Zoologe, dieser von Koren8, ihr hättet vermutlich dreißig Jahre lang mit Nadjeshda Fjodorowna gehaust und euren Erben einen reichen Weinberg samt tausend Desjatinen9 Mais hinterlassen. Während ich mich bankrott fühlte, vom ersten Tage an. Die Stadt – unerträglich heiß, fad, ausgestorben; draußen hast du das Gefühl, unter jedem Busch und Stein sind Tausendfüßler, Skorpione, Schlangen; noch weiter weg – nichts als Berge und Wildnis. Fremdes Volk, fremdes Land, die sogenannte Kultur bejammernswert – all das, mein Lieber, ist lange nicht so einfach wie mit Nadjeshda Fjodorowna Arm in Arm, im Pelzmantel, auf dem Njewskij10 flanieren und von heißen Ländern schwärmen. Hier ist Kampf, nicht nur ums Leben, sondern auf Tod und Leben – und was bin ich schon für ein Kämpfer? Ein erbärmlicher Neurastheniker, und ein Faulpelz obendrein. Vom ersten Tag an war mir klar: Mit tätigem Leben und Weinberg kann ich keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Und was die Liebe angeht, lass mich dir das eine sagen: «Mit einer Frau leben, die Spencer gelesen hat – und wenn sie für dich bis ans Ende der Welt geht! – ist genauso langweilig wie mit irgendeiner Anfissja oder Akulina. Riecht genauso nach Bügeleisen, Puder und Arznei. Genau dieselben Lockenwickel, jeden Morgen. Genau der gleiche Selbstbetrug …»
«Ohne Bügeleisen geht’s nun mal nicht im Haushalt.» Samoilenko war ganz rot geworden; schließlich kannte er ja die Dame, von der Lajewski dermaßen deutlich sprach. «Hör mal, Wanja, du bist heute einfach nicht in Stimmung. Nadjeshda Fjodorowna ist eine prächtige und gebildete Frau, und du bist ein hochbegabter Bursche. Und wenn ihr auch nicht verheiratet seid» – Samoilenko schielte zu den Nachbartischen –, «schließlich ist’s ja nicht eure Schuld, und außerdem … soll man keine Vorurteile haben, sondern mit der Zeit gehen! Persönlich bin ich für die bürgerliche Ehe, jawohl … aber, wenn man schon zusammenlebt, soll man’s auch tun bis zum Grab, meine ich …»
«Ohne Liebe?»11
«Ich will dir mal was sagen. Vor acht Jahren ungefähr war als Präsident hier ein alter Mann. Ganz ungemein gescheiter Mensch. Und der sagte immer: In der Ehe ist die Hauptsache – Geduld. – Hörst du, Wanja? Nicht Liebe. Geduld! Liebe dauert nun mal nicht allzu lange. Du hast zwei Jahre geliebt. Jetzt aber befindet sich dein Familienleben offenbar in dem Stadium, wo du deine ganze Geduld aufbieten musst, wenn du das Gleichgewicht aufrechterhalten willst, sozusagen …»
«Glaub du ruhig deinem alten Präsidenten. Für mich ist sein Rat einfach sinnlos. Dein alter Mann hat entweder geheuchelt, oder er hat sich tatsächlich in Geduld geübt, und der ungeliebte Partner war ihm für seine Übungen das unerlässliche Objekt. Aber so tief bin ich noch nicht gesunken. Wenn ich Geduldsübungen machen will, kaufe ich mir ein Paar Hanteln, oder ein Pferd mit Mucken; aber Menschen verschone ich.»
Samoilenko bestellte Weißwein mit Eis. Nach dem ersten Glas fragte Lajewski plötzlich: «Sag mal, was ist eigentlich Gehirnerweichung?»
«Ja, wie soll ich dir das erklären … eben eine Krankheit, die das Gehirn aufweicht, fast verflüssigt.»
«Heilbar?»
«O ja, wenn die Sache behandelt wird. Kalte Duschen, Blasenpflaster … und natürlich was zum Einnehmen.»
«Hm. – Du siehst also meine Lage. Ich kann nicht mehr mit ihr leben. Es übersteigt meine Kräfte. Da sitze ich, philosophiere mit dir, lächelnd; zu Hause aber bin ich vollkommen fertig. Derart elend … Ich glaube, wenn mir einer sagte, ich müsse auch nur noch einen Monat bei ihr bleiben – ich schösse mir eine Kugel vor den Kopf. Sitzen lassen kann ich sie aber auch nicht! Sie steht doch völlig allein, hat nichts gelernt und kein Geld, und ich hab auch keins … Wo soll sie hin? Zu wem? Es fällt und fällt mir nichts ein … Sag selber: Was soll ich tun?»
«Hm …», brummte Samoilenko nur. Auch er wusste keine Antwort mehr. «Liebt sie dich eigentlich?»
«Schon. Das heißt, sie liebt mich gerade so viel, als sie in ihrem Alter und bei ihrem Temperament einen Mann braucht. Sie würde mich ebenso ungern entbehren wie Puder und Lockenwickel. Ich gehöre sozusagen zum Inventar des Boudoirs.»
Samoilenko wurde die Sache peinlich. «Du bist heute wirklich nicht gut beieinander, Wanja», sagte er. «Hast sicher schlecht geschlafen.»
«Natürlich. Miserabel. Überhaupt ist mir hundeelend, mein Lieber. Der Kopf wie ausgehöhlt, das Herz tut nicht mit. Schlapp. Ich sollte eben weg!»
«Aber wohin denn?»
«Hinauf in den Norden. Wo’s Fichten gibt und Pilze, und Menschen, und Ideen … Das halbe Leben gäbe ich darum, könnt ich jetzt in einem Bach irgendwo im Gouvernement Moskau oder Tula tauchen, so kalt, weißt du, dass man sofort ’ne Gänsehaut kriegt, und nachher stundenlang mit einem Studentlein, meinetwegen von der erbärmlichsten Sorte, wandern und reden, reden, immerzu … Weißt du noch, wie Heu duftet? Und abends, wenn man im Garten herumschlendert, hört man von fern nur die Eisenbahn, und Klavierspiel vom Hause her …» Lajewski lachte vor freudiger Erinnerung, aber gleich wurden ihm die Augen feucht. Um es zu verbergen, drehte er sich zum Nachbartisch, nahm ein Zündholz.
«Achtzehn Jahre war ich nicht mehr in Russland», sagte Samoilenko. «Ich weiß schon fast nicht mehr, wie’s dort aussieht. Mir geht nun mal nichts über den Kaukasus.»
«Während ich an ein Gemälde von Wereschtschagin12 denken muss: Auf dem Grund einer ungeheuer tiefen Grube schmachten zum Tod Verurteilte. Genau wie diese Grube kommt mir dein herrlicher Kaukasus vor. Wenn ich die Wahl hätte: Kaminfeger in Petersburg oder hierzulande Fürst – für mich gäb’s nur den Kaminfeger.»
Lajewski verstummte. Samoilenko betrachtete ihn. Gekrümmte Gestalt, auf einen Punkt starrende Augen, blasses, schweißfeuchtes Gesicht, eingefallene Schläfen; zerbissene Fingernägel; ein Pantoffel hing so auf dem Fuß, dass man die Ferse und damit ein liederlich gestopftes Loch im Strumpf sah. Mitleid überkam Samoilenko. Vielleicht weil Lajewski ihn an ein hilfloses Kind erinnerte, fragte er plötzlich: «Lebt eigentlich deine Mutter noch?»
«Ja. Aber wir sind auseinander. Das Verhältnis hat sie mir nicht verzeihen können.»
Samoilenko liebte seinen Freund. Er sah in Lajewski den braven Kerl, den Studenten, mit dem man, hemdsärmelig, lachen und trinken und reden konnte, wie einem ums Herz war. Am Charakter seines Freundes missfiel ihm freilich etliches in hohem Maße. Lajewski trank viel und immer zur Unzeit, er spielte, war im Dienst nachlässig, lebte über seine Verhältnisse, gebrauchte häufig unflätige Ausdrücke; auch ging er in Pantoffeln aus und stritt sich öffentlich mit Nadjeshda Fjodorowna – all dies missbilligte Samoilenko durchaus. Andererseits hatte Lajewski einmal der philosophischen Fakultät angehört, und auch jetzt noch war er Abonnent von zwei dicken Zeitschriften, redete oft so überklug daher, dass ihn kaum jemand verstand, lebte mit einer gescheiten Frau zusammen – dies verstand Samoilenko zwar nicht, doch es imponierte ihm, und so blickte er mit gewisser Verehrung zu Lajewski als einem höheren Wesen auf.
Lajewski kam zu sich, warf den Kopf zurück. «Übrigens, noch etwas. Aber das bleibt unter uns. Bis jetzt habe ich Nadjeshda Fjodorowna nichts gesagt, also tu du’s nicht aus Versehen. Vorgestern bekam ich einen Brief, ihr Mann sei an Gehirnerweichung gestorben.»
«Der Herr schenke ihm die ewige Ruhe …» Samoilenko seufzte. «Warum sagst du’s ihr nicht?»
«Wenn ich ihr den Brief zeige, heißt es sofort: Links um – marsch! Richtung Kirche! Jetzt wird geheiratet! – Und wir müssen uns doch vorher erst über unsere weiteren Beziehungen klar sein! Wenn sie einsieht, dass wir tatsächlich nicht gemeinsam weiterleben können – dann zeige ich ihr den Brief, nicht vorher. Dann ist die Sache ungefährlich.»
«Weißt du was, Wanja?» Plötzlich wurde Samoilenkos Miene so traurig und flehentlich, als wolle er um etwas ganz Wunderbares bitten, fürchte aber eine Abfuhr. «Heirate sie doch, Täubchen!»
«Ja aber warum denn?»
«Erfülle deine Pflicht dieser prächtigen Frau gegenüber! Jetzt ist ihr Mann gestorben, also zeigt dir die Vorsehung selber, was du tun sollst!»
«Aber versteh doch, du komischer Kauz, dass es nicht geht! Heiraten ohne Liebe ist genauso niederträchtig und menschenunwürdig, als wenn ein Atheist die Messe liest!»
«Es ist aber doch deine Pflicht!»
«Wieso ist es meine Pflicht?», fragte Lajewski erbittert.
«Weil du sie ihrem Mann weggenommen hast. Damit trägst du ja auch die Verantwortung für sie.»
«Wenn ich dir doch unmissverständlich in russischer Sprache sage: Ich liebe sie nicht!»
«Von mir aus. Wenn keine Liebe mehr da ist, halte sie wenigstens in Ehren, sei gut zu ihr …»
«Halte sie in Ehren! Sei gut zu ihr!», höhnte Lajewski. «Du tust gerade, als sei sie eine Äbtissin. Du bist ein schlechter Psycholog und ein schlechter Physiolog, wenn du glaubst, man komme bei einer Frau, mit der man lebt, einzig mit In-Ehren-Halten und Gutsein aus. Weiber verlangen in erster Linie das Schlafzimmer!»
«Aber Wanja, Wanja …» Samoilenko war aufs Neue peinlichst berührt.
«Du bist ein alter Kindskopf und ein Theoretiker, und ich bin ein junger Greis und ein Praktiker, und deshalb können wir uns darin niemals verstehen. Komm, wir hören lieber auf. – Mustafa!» Lajewski rief den Kellner herbei. «Zahlen!»
«Aber nein!» Der Doktor fasste ganz erschrocken nach Lajewskis Arm. «Das ist doch meine Sache. Ich habe doch bestellt! – Auf meine Rechnung!», rief er Mustafa zu.
Die Freunde erhoben sich, und dann gingen sie schweigend die Strandpromenade entlang. Bei der Abzweigung des Boulevards blieben sie stehen, drückten einander zum Abschied die Hand.
«Sind schon grausam verwöhnt, die jungen Herrchen!», seufzte Samoilenko vor sich hin. «Da beschert ihm das Schicksal eine schöne, gebildete junge Frau, und er sagt Nein! Ich dagegen … Wenn mir der Herrgott wenigstens ein krummes altes Weiblein schicken möchte – bloß lieb und gut müsste sie sein –, wie wäre ich zufrieden! In meinem Weinberg würde ich mit ihr hausen, und …» – Samoilenko kam zu sich – «und dort könnte die alte Hexe mir den Samowar bedienen!»
Nachdem er sich von Lajewski getrennt hatte, ging er auf dem Boulevard weiter. Wie er so dahinschritt, wuchtig, majestätisch, mit strenger Miene, in schneeweißem Rock und blitzblank gewichsten Stiefeln, Brust heraus und darauf prangend der «Wladimir»13 am Band, gefiel er sich selber sehr gut, und ihm schien, die ganze Welt betrachte ihn mit Wohlgefallen. Ohne den Kopf zu wenden, spähte er nach rechts und links. Er fand diesen Boulevard ausgezeichnet angelegt und die jungen Zypressen und Eukalyptusbäume und selbst die kümmerlichen Palmen schön, auch war er überzeugt, sie würden mit der Zeit reichen Schatten spenden. Ihm schien sogar, die Tscherkessen seien ein ehrliches und gastfreundliches Volk.14 «Komisch, dass Lajewski den Kaukasus nicht mag», dachte er. «Zu komisch!»
Fünf Soldaten mit geschultertem Gewehr marschierten salutierend an ihm vorbei. Rechts drüben, auf dem Gehsteig, sah er die Frau eines Beamten mit ihrem Sohn, einem Gymnasiasten.
«Guten Morgen, Marja Konstantinowna!», rief er fröhlich. «Kommen gewiss schon vom Strand? … Meine Empfehlung an Nikodim Alexandrytsch!»
Und er schritt aus, immerzu glücklich vor sich hinlächelnd. Plötzlich sah er einen Sanitäter, der ihm entgegenkam. Sofort runzelte er die Stirn. Er blieb stehen. «Zugänge im Lazarett?»
«Keine, Euer Exzellenz.»
«Was?»
«Keine, Euer Exzellenz.»
«Na schön. Abtreten.»
Majestätisch segelte er zur Limonadenbude, wo hinter der Theke eine alte, vollbusige Jüdin saß, die sich als Georgierin ausgab. Laut, als gelte es einem Regiment, kommandierte er: «Ein Glas Sprudel, wenn’s beliebt!»
Dass Lajewskis Liebe zu Nadjeshda Fjodorowna erkaltet war, zeigte sich besonders daran, dass ihm alles, was sie tat und sagte, mehr oder weniger verlogen, und alles, was ihm an Lektüre gegen Frauen und Liebe unter die Finger kam, haargenau auf ihn, Nadjeshda Fjodorowna und ihren Mann abgepasst schien. Als er nach Hause kam, saß sie bereits angezogen und sorgfältig frisiert am Fenster, nippte mit bekümmerter Miene an ihrer Kaffeetasse und blätterte dabei in einem dicken Zeitschriftenband. Missmutig dachte er, Kaffeetrinken sei doch wohl keine so schwerwiegende Sache, dass man deshalb eine Leichenbittermiene aufsetzen müsse; außerdem vergeude sie ihre Zeit an modische Frisuren, da hier ja kein Mensch sei, dem sie damit hätte Eindruck machen können. Auch ihr Geblätter in dem dicken Band dünkte ihn unecht. Er dachte, sie frisiere und kleide sich eben nur, um hübsch auszusehen, und sie lese nur, um gescheit zu wirken.
«Hast du etwas dagegen, wenn ich heute baden gehe?», fragte sie.
«Warum soll ich? Ob du badest oder nicht, so welterschütternd wird das ja nicht sein!»
«Ich frage ja nur, weil der Doktor vielleicht nicht einverstanden ist.»
«Dann frag den Doktor. Ich bin keiner.»
Vor allem fand Lajewski heute das weiße Dekolleté abstoßend, ebenso Nadjeshda Fjodorownas Nackenlöckchen. Es fiel ihm ein, wie Anna Karenina, als sie ihren Mann zu lieben aufhörte, plötzlich den Anblick seiner Ohren nicht mehr ertrug,15 und er dachte: «Wie richtig beobachtet! Wie auffallend richtig!» – Ihm war elend, sein Kopf ganz leer. So ging er ins Studierzimmer, legte sich auf den Diwan und bedeckte sein Gesicht mit einem Taschentuch als Schutz gegen die Fliegen. Welke, schwarze Gedanken, über ein und dasselbe, zogen durch sein Gehirn, wie eine lange Karawane durch einen trostlosen Herbstabend, bis er, gequält, eindämmerte. Jetzt schien ihm, er habe sich an Nadjeshda Fjodorowna versündigt, ebenso an ihrem Mann, und sei schuld an dessen Tod. Auch an seinem eigenen Leben habe er sich versündigt, indem er es verdarb, und an der Welt hoher Ideen, an der Welt des Wissens und der Arbeit. Aber gerade sie lag für ihn an diesem Strand, wo hungrige Türken und faule Abchasen herumlungern, außerhalb jeder Möglichkeit. Sie gab es einzig dort oben, im Norden, bei Oper, Theater, Zeitungen, jeder Form geistiger Betätigung. Ehrenhaft, klug, überragend, sauber konnte man nur dort oben sein; nicht hier. Er warf sich vor, keine Ideale, kein Leitbild für sein Leben zu haben, obwohl er davon nur eine dunkle Vorstellung besaß. Zwei Jahre zuvor, da er sich in Nadjeshda Fjodorowna verliebt, hatte er geglaubt, schon das Zusammensein mit ihr, die gemeinsame Reise in den Kaukasus, bedeute seine Rettung aus leerem, schal gewordenem Leben. Und ebenso dünkte ihn jetzt, alles Notwendige würde ihm von selbst zufallen, hätte er nur Nadjeshda Fjodorowna vom Hals und könnte nach Petersburg fahren.
«Davonlaufen!», murmelte er, sich aufrichtend. Er biss an seinen Nägeln herum. «Davonlaufen!»
Die Phantasie gaukelte ihm Bilder vor … Er geht an Bord des Dampfers, frühstückt, trinkt kaltes Bier dazu; er plaudert mit den Damen an Deck; in Sewastopol steigt er in den Zug und fährt davon. Freiheit, ich grüße dich! Bahnhöfe fliegen vorbei, die Luft wird kälter, kräftiger, schon sieht er Birken und Tannen, und jetzt: Kursk … Moskau … Am Büfett gibt es Kohlsuppe, Hammelfleisch mit Grütze, Stör, Bier – kurz, hier ist Russland, das wirkliche Russland, weit weg vom rohen Asien. Die Mitreisenden unterhalten sich über Handelsprobleme, neue Sänger, franko-russische Sympathien16; überall pulst Leben, frisch, kultiviert, klug, gesund … Schnell weiter, schnell! Und jetzt, endlich, der Njewskij-Prospekt, Lange Strandstraße, hier auch die Kownoer Gasse, wo er als Student mit seinen Freunden hauste. Geliebter grauer Himmel, Sprühregen, durchnässte Droschkenkutscher …
«Iwan Andrejitsch!», rief draußen jemand. «Sind Sie zu Hause?»
«Hier!», erwiderte Lajewski. «Was gibt’s?»
«Unterschriften!»
Langsam erhob er sich. Ihm war schwindlig. Gähnend schlurfte er auf seinen Pantoffeln ins Nebenzimmer. Vor dem offenen Parterrefenster, außerhalb, stand einer seiner jungen Kollegen und breitete Akten auf dem inneren Fenstersims aus.
«Sofort, mein Guter!», sagte Lajewski milde und ging, das Tintenfass zu holen. Er trat wieder zum Fenster, unterschrieb die Akten, ungelesen. «Heiß!», bemerkte er.
«Und ob. Kommen Sie heute noch zum Dienst?»
«Kaum. Fühle mich schlecht. Hören Sie, mein Guter – sagen Sie Scheschkowski, ich komme gleich nach Tisch zu ihm.»
Der Kollege ging, und Lajewski legte sich wieder auf seinen Diwan und begann erneut zu grübeln. «Ich muss das Für und Wider sorgfältig gegeneinander abwägen und dann planen. Bevor ich abreise, muss ich meine Schulden zahlen. Schulden – etwa zweitausend Rubel. Geld habe ich aber keines. Übrigens ist das auch nicht so wichtig. Einen Teil zahle ich gleich, irgendwie klappt das schon. Und den Rest schicke ich von Petersburg. Hauptsache – Nadjeshda Fjodorowna. Zuallererst müssen unsere Beziehungen geklärt sein. Jawohl.»
Kurz darauf ging ihm durch den Sinn: «Wäre es nicht gescheiter, ich ließe mich von Samoilenko beraten? – Hingehen kann ich ja», dachte er. «Aber was kommt schon dabei heraus? Natürlich kriegt er wieder Zustände, wenn ich vom Boudoir rede, von Weibern, und was ehrenhaft oder unehrenhaft ist. Und was zum Teufel soll alles Geschwätz von ‹ehrenhaft› und ‹unehrenhaft›, wenn’s um mein Leben geht, wenn ich unter diesem Zwang ersticke und langsam aber sicher eingehe? Das muss einer doch begreifen, dass es gemein und grausam ist, so ein Leben weiterzuführen, und dass alles andere daneben verblasst und gering wird.» – «Davonlaufen!», murmelte er und setzte sich auf. «Davonlaufen!»
Öder Meeresstrand, Gluthitze, Monotonie der Berge in lilafarbenem Dunst – ewig gleich, ewig stumm und einsam, es machte ihn einfach schwermütig, betäubte ihn, beutete ihn aus. Wer weiß, vielleicht war er doch außergewöhnlich begabt und im Grunde ein anständiger Kerl?
Vielleicht, hätten ihn nicht Meer und Gebirge auf allen Seiten beengt, wäre aus ihm ein prächtiger Landwirt geworden oder ein Staatsmann, Redner, Publizist, Vorkämpfer einer guten Sache? Wer weiß! Und wäre es in diesem Fall nicht entsetzlich dumm zu fragen, ob es ehrenhaft oder unehrenhaft sei, wenn ein begabter und nützlicher Mensch, etwa ein Musiker oder sonst ein Künstler, seine Kerkermauern durchbricht, seine Wächter täuscht? In solch einer Lage ist alles ehrenhaft.
Um zwei Uhr setzten sich Lajewski und Nadjeshda Fjodorowna zu Tisch. Als die Köchin Reissuppe mit Tomaten auftrug, bemerkte Lajewski: «Immer dasselbe. Warum gibt’s nicht mal Kohlsuppe?»
«Hier wächst kein Kohl.»