Das Echo von Schuld und Leben - Maren Thunert - E-Book

Das Echo von Schuld und Leben E-Book

Maren Thunert

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Beschreibung

Spätsommer 1945: Karl kehrt nach Berlin zurück, doch seine Wohnung wird nun von Ruth, einer jungen Jüdin, bewohnt. Notgedrungen teilen sie sich den engen Raum, zwei Fremde gezeichnet von der Vergangenheit. Vorsichtige Annäherung und brüchiges Vertrauen entstehen. Dann sehen sie im Kino Bilder aus Auschwitz, die Ruths schmerzhafte Erinnerungen wecken. Zweifel und unausgesprochene Fragen stehen zwischen ihnen: Was hat Karl während des Krieges getan? Ruths Vertrauen zerbricht, und eine unumkehrbare Entscheidung wird getroffen. Während draußen der Frühling beginnt, nimmt das Drama seinen unausweichlichen Lauf. Eine eindringliche Novelle über Schuld, Misstrauen und die zerstörerische Kraft der Vergangenheit.

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Seitenzahl: 69

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Acht

Das Echo von Schuld und Leben

Maren Thunert, Berlin

Buchbeschreibung

Nach dem Krieg kehrt Karl heim – doch in seiner Wohnung lebt nun Ruth, eine junge Jüdin, die alles verlor. Notgedrungen teilen sie sich den engen Raum, zwei Fremde, beide gezeichnet von der Vergangenheit.

Zögerlich entsteht eine fragile Verbindung, doch als Ruth im Kino Bilder aus Auschwitz sieht, kehren ihre Erinnerungen mit erschreckender Wucht zurück. Zweifel und unausgesprochene Fragen stehen zwischen ihnen. Was ist geschehen? Was hat Karl während des Krieges getan?

Eine ergreifende Novelle über Schuld, Misstrauen und die Unmöglichkeit, der Vergangenheit zu entkommen.

Über die Autorin

Maren Thunert, geboren 1966 in Lübeck, lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Liebt Kaffee, Literatur, Theater und das Meer.

Das Echo von Schuld und Leben

Maren Thunert, Berlin

[email protected]

1. Auflage. Auflage, veröffentlicht 2025.

© Maren Thunert, Berlin – alle Rechte vorbehalten.

Maren Thunert

c/o WirFinden.Es

Naß und Hellie GbR

Kirchgasse 19

65817 Eppstein

Druck:

Neopubli GmbH

Köpenicker Straße 154a

10997 Berlin

Coverdesign:

Jennifer Laue, Books.of.Art.Buchcover

Für meine Grundschullehrerin, Eva Lüder, die mir beibrachte, Geschichten zu schreiben.

Für meinen Mentor, Fritz Winterling, der mir beibrachte, Geschichten zu erzählen.

Für Dr. Littelmann, der mir beibrachte,

auf meine innere Stimme zu vertrauen.

Danke.

Für meinen Mann Michael, der mir jeden Tag das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein.

Für die Geduld und die Liebe meiner Freunde, die an mich glaubten, wenn ich es selbst nicht konnte.

Für meine Kinder.

Nie wieder ist jetzt.

Eins

Zeit bedeutete ihm nichts. Nicht mehr. Manchmal stellte er sich vor, er würde im oberen Glas einer Sanduhr sitzen, und sein Körper würde unendlich langsam durch diese winzige Öffnung fließen. Zuerst glaubte er, alle Zeit der Welt zu haben. Und dann, eines Tages, würde er spüren, wie die Zeit schneller wurde. Ein Tag war ein Nichts, ein Monat war vorbei, dann zwei, und plötzlich wurde der Sog schnell und schneller, der ihn in die Unendlichkeit zog. Zuerst machte ihm diese Vorstellung Angst. Er hatte Albträume, wachte schreiend auf, und minutenlang noch sah er, trotz offener Augen, wie sein Kopf sich auflöste und durch die Mitte in das untere Glas rann und schließlich in Millionen von Sandkörnern zerfiel. Alles Wehren half nichts. Und dann begriff er, dass ein Sich-Wehren alles nur noch viel schlimmer machen würde. Sein gestammeltes, leises, dann immer lauteres Schluchzen wurde abgelöst, überdeckt von einem hysterischen Lachen, das höhnisch von den kahlen Wänden zurückprallte, und er glaubte zu ersticken. Die Tränen blieben aus. Als Ruth den muffigen, kleinen Kellerverschlag betrat, war er so ruhig wie immer, wenn sie kam.

Er hatte kein Zeitgefühl mehr. Er lag auf diesem zerschlissenen, durchgelegenen Sofa und konnte sich nur noch mühsam bewegen. Seine Muskeln gehorchten immer weniger. Er sah von seinem Sofa schräg durch ein Kellerfenster. Es war ein kleines Fenster, vielleicht 30 × 30 cm groß, mit feuchtem, morschem Holzrahmen und zerkratzten Scheiben. Er konnte durch das Kellerfenster nur einen Teil der Häuserfassade gegenübersehen, die ständig an Farbe verlor. Und er sah ein winziges Stückchen Himmel. Blauen, grauen oder tiefschwarzen Himmel, manchmal einen Stern. Er nahm den Wechsel der Jahreszeit nur über die Veränderung des Lichts und des Sonnenstandes wahr. Wenn die Sonne am Morgen sehr tief stand, für wenige Minuten in seinen Kellerverschlag schien. Dann hielt er den Atem an und beobachtete, wie durch diesen winzigen Sonnenstrahl sein Gefängnis etwas mehr Licht bekam, wie das Licht wanderte, von links nach rechts, beinahe die Hälfte des Raumes durchwanderte. Dann wurden die Sonnenstrahlen wieder kürzer, immer, bevor sie ihn erreichen konnten.

Er war immer gern im Freien gewesen, wusste genau, wie die Luft draußen war. Da war das frühe, weiche Licht des Sommers, das mochte er am liebsten. Und ab und zu die drohenden, aufgetürmten Wolken, die die schwüle, dicke Luft zum Bersten brachten. Dann kam der schwermütige, dunkle Herbst, in dem die Wolken so niedrig lagen, dass die Menschen instinktiv den Kopf einzogen beim Gehen. Die Erinnerung an den Winter machte seinen Keller noch dunkler und enger. Und dann waren da die leichten Wolkenfetzen, die im Frühling dahinflogen und in weichen Tönen L e b e n s l u s t riefen, Lebenslust, Lebenslust …

Es war für ihn längst ohne Bedeutung. Er hätte niemandem das Wort erklären können, schon lange nicht mehr. Sein wachsbleicher, ausgemergelter Körper hing in Handschellen, die ihn an die Kellerwand dieses Wohnhauses fesselten. Er nahm das Kribbeln in seinen Händen kaum noch wahr. Waren es Tage, Wochen, Monate? Gar Jahre? Er hatte sie nicht gezählt. Es interessierte ihn nicht mehr.

In den Ecken des Kellers hatten sich Spinnen eingenistet. Sie webten ihre Netze ungestört, krabbelten durch den Raum, als hätten sie sich in seinem Gefängnis ebenso heimisch eingerichtet wie er. Die dunklen Gestalten mit ihren langen Beinen waren allgegenwärtig.

Manchmal beobachtete er sie, wie sie sich über den Boden bewegten oder in den Ecken verharrten, so, als wollten sie ihm Gesellschaft leisten. Die Spinnweben glitzerten im spärlichen Licht, stumme Zeugen seiner endlosen Gefangenschaft.

Erst war er nur Erntehelfer, dann saß er plötzlich auf einem Transporter auf dem Weg nach Thüringen. Sie hatten ihn geholt, wie sie alle holten — jeden, der noch irgendwie stehen konnte. Die Wehrmacht ließ keinen zurück, nicht einmal jene, die eigentlich als zu schwach galten. Sein Asthma, das ihn seit der Kindheit quälte, hatte ihn bisher vor der Front bewahrt. Doch als die Luftangriffe zunahmen und die Soldaten knapp wurden, war auch seine Zeit gekommen. Flakhelfer. Ein Platz für die, die nie kämpfen sollten und doch geopfert wurden.

Der Ruf des Führers ist unser heiliger Befehl, hatten sie gesagt. Heilig war gar nichts, dachte Karl, als er die Soldaten beobachtete, die in die Lastwagen kletterten. Sie packten ihre Sachen, marschierten, folgten dem Befehl ohne ein Wort, ohne eine Frage. Er aber blieb zurück, unter den verächtlichen Blicken seiner Kameraden. Er wusste, dass sein Körper ihn verraten würde, sobald es ernst wurde. Doch der Krieg ließ niemanden unberührt. Sie holten ihn doch, als Flakhelfer taugte selbst er.

Die letzten Apriltage zogen sich wie endlose Stunden. Der Himmel war grau, die Erde feucht und schwer von Regen. Karl war mit drei Kameraden in Thüringen, ihre Uniformen zerknittert und ihre Gesichter ausgehungert. Sie hatten nichts mehr — kein Ziel, kein Befehl, nur die Gewissheit, dass sie nicht gewinnen konnten. Als sie auf eine amerikanische Einheit trafen, hoben sie die Hände, die Haut trocken und rissig, die Finger steif vom Schmutz und der Kälte. Niemand sprach.

Die Amerikaner musterten sie, sahen nicht Feinde, sondern junge Männer, die zu lange gelaufen waren, zu lange im Dreck gelegen hatten.

Er spürte keine Erleichterung, als sie ihm bedeuteten, sich zu setzen. Nur Leere. Sein Blick haftete auf den Stiefeln des Soldaten vor ihm, der sein Gewehr locker hielt — nicht mehr als Waffe, sondern als Werkzeug einer anderen Ordnung. Der Krieg hatte ihn durchgeschüttelt und ausgespuckt, und nun saß er hier, den Rücken gebeugt, den Kopf leer. Er war müde, unendlich müde.

Die Kriegsgefangenschaft währte kurz. Sie wurden verpflegt, zwar knapp, aber ausreichend. Mit ihnen, den Jungen, hatten sie wohl Mitleid. Nach vier Monaten durften sie nach Hause. Als sie gefangen genommen wurden, war das Gras noch grau. Jetzt färbten sich bereits die Wälder. Das wird ein harter Winter, sagten die Bauern, das ist die Strafe, sagten sie.

Er schloss sich den durchs Land ziehenden Kolonnen von Menschen an. Wie in Zeitlupe ging es nur vorwärts.

Ein grauer Wurm zog dahin, endlos. Alles war grau. Das schimmelige Brot. Die Kleidung, die Gesichter. Die Kinder sahen aus wie Alte.

Dann, im September, war er heimgekommen, nur mit Mühe heimgekommen. Er wanderte durch die zerstörten Straßen. Er fand am Wegesrand einen vergammelten Koffer, mit einem alten Anzug. Er war ihm viel zu groß, gerissen, gestopft, die Knöpfe, das Innenfutter fehlten. Egal, denkt Karl, besser als die schäbigen Reste seiner Uniform, die er endlich in seinen Rucksack stopfen konnte.

Er hungerte.

Er stellte sich das Gesicht seiner Mutter vor, wenn er klopft und sie ihm ahnungslos öffnet. Das Gesicht seiner Mutter ließ ihn durchhalten, denn tagelang dauerte sein Marsch durch diese Kraterlandschaft, die einst Berlin gewesen war.