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Als Paul Mautner von einer Italienreise nach Wien zurückkommt, ist sein noch ziemlich neues Leben als schwerreicher Dollarspekulant mit einem Schlag vorbei. Der Börsenkrach hat auch sein Vermögen hinweggefegt. Noch kann er sich mit dem Versetzen seiner goldenen Uhr und verschiedenen Verkäufen retten, danach bleibt nur noch die Straße. Auf einmal scheint alles, was vor wenigen Tagen noch fern von seiner Welt gelegen war, erlaubt: Einbruch, Diebstahl, Raub, Mord! Am besten wäre es, eine reiche Frau zu heiraten. Paul macht sich, einem Raubtier gleich, auf die Jagd – und hat Erfolg. Sonja Gordon: durch die Revolutionswirren Europas nach Wien gespült, immer in Begleitung ihrer jungen Tochter Jutta aus ihrer russischen Ehe, immer in Begleitung von Komtesse Magda Huttwitz (eine lesbische Verbindung, wie man munkelt), reich, attraktiv, einflussreich. Eine glänzende Partie! Doch Pauls Freund, der hochintelligente Kritiker Fritz Landau, warnt ihn. Die ziellose, unbeherrschte Frau ist unberechenbar – wie das vollkommen entgleiste Wien selbst. Als Paul es in der dann wirklich schrecklichen Zweckehe mit dieser Frau nicht mehr aushält, plant er einen raffinierten Mord. Auch in Band 2 seiner sechsbändigen Reihe über Wien und Österreich zwischen den Weltkriegen (ver)führt der Autor uns leicht und elegant durch ein genauso glanzvolles, lebensfreudiges wie düsteres und moralisch verkommenes Wien der zwanziger Jahre.-
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Seitenzahl: 180
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Hugo Bettauer
SAGA Egmont
Das entfesselte Wien
Copyright © 1924, 2018 Hugo Bettauer und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711503027
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Im nizza-express
Ein seltsames, banges Gefühl, eine Angst, die keine konkrete Erklärung fand, ein Grauen, das den Atem schwer macht und die Sinne trübe, kroch in Paul Mautner auf, als der „King Edward“ in den Hafen von Triest einfuhr.
Der schlanke, große, auffallend hübsche Mann mit dem dunklen Teint und der scharfen Hakennase, deren Energie im Gegensatz zu den weichen, fast verträumten Augen stand, war, als die Gepäckträger ihn umringten, so verwirrt, von Beklemmung so bedrückt, daß ihm klare Disposition, die ihn sonst nur selten verließ, abhanden kam und er willenlos mitansah, wie drei beutegierige Facchini sich seines Gepäckes bemächtigten.
Mühsam raffte er sich auf, riß sich zusammen und gab Auftrag, den Kajütenkoffer und das Handgepäck auf ein Autotaxi zu verladen. Ließ es geschehen, daß die Gepäckträger ihn zehnfach überhielten, fuhr im Dunkel des lauwarmen Abends zum Bahnhof, ohne zu wissen, ob er den Schnellzug nach Wien noch erreichen würde.
Er kam zurecht, hatte sogar nach Aufgabe des Gepäckes und Lösung der Fahrkarte noch eine Stunde Zeit. Wollte wieder ein Auto besteigen, um in die Stadt zu fahren und zu soupieren, unterließ es aber nach Musterung seiner Brieftasche.
Hellauf lachend stellte er fest, daß er kaum zehn Lire in Kupfer und Silber, zwanzig Dinare für das jugoslawische Visum und zwei Hunderttausendkronen-Scheine besaß. Die Beklemmung wich und machte heiterer Betrachtung Raum. Er konstatierte, daß er seit zehn Jahren, seit dem Tag, da er als Einjährig-Freiwilliger-Korporal in den Krieg gezogen war, nicht mehr so abgebrannt gewesen wie heute. Aber er stellte das nicht mit Unbehagen, hinter dem die Frage „Was nun?“ lauert, fest, sondern mit der Sicherheit des reichen Mannes, dem das Bewußtsein, kein Geld in der Tasche zu haben, prickelnder Witz ist.
Die zehn Lire wurden in ein Abendessen im Bahnhofrestaurant angelegt, dann sicherte sich Paul Mautner, der kein Bett im Schlafwagen bekommen konnte, einen Eckplatz in der ersten Klasse, und der Zug fuhr nordostwärts in die Nacht hinaus.
In schlaflosen Stunden, umgeben von schnarchenden, röchelnden, sägenden Menschen, kurbelte Paul Mautner seinen Lebensfilm zurück, sah sich als Knabe im wohlbehüteten Hause, als Gymnasiast mit glänzenden Zeugnissen, aber in steter Gefahr, wegen eines Streiches, einem „Nichtentsprechend“ in „Sitten“ relegiert zu werden, sah sich als Student auf der Rampe Fausthiebe in die unsäglich dummen, verschwommenen, wasserblauäugigen, wimmerlbesäten Gesichter bemützter Burschen austeilen. Und dann: Das Grauen der polnischen Schlachtfelder, Ruhr, Schußverletzung, Spital, neue Kämpfe, die erste, die zweite, die dritte Tapferkeitsmedaille, Tod des Vaters, dann der Mutter, Urlaubstage im fieberheißen Leben der Großstadt, die nicht wissen wollte, daß ihre Lieder ein Todesröcheln waren, Offensiven auf dem Balkan, endlose Bahnfahrten quer durch Mitteleuropa bis zu den Steinfeldern des Karstes, durch die jetzt der Zug brauste.
Und dann, mit einem Ruck, von heute auf morgen, ein anderes Bild, ein anderes Leben. Ade Krieg, ade Universität, die väterliche Erbschaft behoben, Sprung in das Erwerbsleben, die Felduniform mit dem Kontorrock des Bankbeamten getauscht.
Die jugoslawische Grenzrevision unterbrach den Erinnerungsfilm. Hinter Marburg versuchte Mautner zu schlafen, aber immer wieder flogen die Gedanken zurück. Leicht und mühelos war ihm das Leben nach dem Krieg geworden. Mit hellen klugen Augen hatte er, statt zu räsonieren und zu jammern, die Geschehnisse erfaßt und in ihrer Bedeutung erkannt. Sagte sich: „Dumm die Ratte, die das sinkende Schiff nicht verläßt“ und ergriff die Flucht. Nicht die Flucht aus der weichen, sinnlichen, auch in ihrer Verwahrlosung noch schönen und sympathischen Stadt, sondern die Flucht vor der Krone. Verwandelte das ererbte Geld in die neuen Tschechokronen, benützte die Erfahrung, die er als kleiner Bankbeamter sammeln konnte, um zu spekulieren, das jeweilige Modepapier zu kaufen, den Wegen seines Chefs nachzuschleichen, zu tun, was dieser tat.
Ein paar Nackenschläge, und er kam hinter eine wertvolle Wahrheit: Sich mit den großen Börsenpiraten gut stellen, sie naiv und scheinbar gutgläubig aushorchen und dann nie tun, was sie rieten. Weil sie alle logen, lügen mußten, um ihre Pläne nicht zu verraten, im trüben Wässerchen fischen zu können. Wenn einer von den Großen ihm auf die Schulter klopfte und zuflüsterte, er möge Staatsbahn kaufen, es aber um Himmels willen nicht verraten, sondern nur für sich, ganz bescheiden ein paar Schlüsse machen, so verdeutschte Paul Mautner den Börsenjargon:
„Ich will aus Staatsbahn aussteigen, werde also zehn Leuten, die an mich glauben, raten, zu kaufen und dabei um tiefste Diskretion bitten. Darauf wird jeder von den zehn kaufen und am andern Tag, damit der Kurs nicht stillsteht oder gar zurückgehe, mindestens zehn Freunden zuflüstern, sie mögen Staatsbahn kaufen, es gehe etwas vor. Ideales Schneeballensystem, während dessen Auswirkung ich mit meinen Paketen heraus kann.“
Paul Mautner aber, der die Geheimsprache kannte, reagierte auf den guten Rat des Großen, indem er entweder verkaufte oder zwei Tage wartete und dann à la Baisse spielte.
Logisches Denken, klare Beurteilung, führte Paul zu der Erkenntnis, daß es auf dieser Welt nur mehr einen Gott und eine Macht gab: den Dollar! Im Frühjahr 1922 riskierte er das ganze Vermögen, das er schon erspielt hatte, setzte alles, was er besaß, was er an Kredit auftreiben konnte, auf eine Karte: den Dollar. Und sein Vermögen verzehn-, verhundert-, vertausendfachte sich. Er trat aus der Bank aus, widmete seine ganze Nervenkraft dem Spiel, und als die Krone stabil war, ließ sich sein Vermögen nur mehr nach Milliarden berechnen.
Fürstliche Ausstattung seiner Junggesellenwohnung am Brahmsplatz, Auto, die schönste Geliebte, Geberlaunen eines Nabobs. Ungeheurer Verbrauch spornte ihn zu neuen Spekulationen an, erfolgreich ritt er Attacken gegen die Reichsmark, begann am Faschingsende eine brutale Offensive gegen den französischen Franc. Bis er nach hundert durchrechneten, im Fieber des Spieles erglühten Tagen und hundert durchzechten, durchtanzten, mit Frauen durchjubelten Nächten mit den Nerven fertig war, sich erinnerte, daß er sechs Jahre keine andere Luft als die weiche schlaffe Wiens geatmet, von neuralgischen Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit gepeinigt, über Nacht dem dringenden Rat des Arztes gefolgt und eine umfangreiche Italienreise angetreten hatte.
Energisch, wie er in allem war, nahm er auch die Reparatur seiner Nerven in Angriff. Ließ alles liegen und ruhen, gab seinen Bankiers nicht einmal die Postadresse, ließ sich keine Zeitungen nachschicken, fuhr ohne Aufenthalt nach Neapel und von dort nach dem göttlichen Capri.
Verlebte auf der paradiesischen Insel in milder Wärme köstliche Wochen der Ruhe, nur hie und da weise unterbrochen durch ein Abenteuer mit einer schönen Italienerin oder birkenschlanken Amerikanerin, wollte nichts wissen von Wien und der Börse, von Hausse und Baisse, von Franc und Poincaré. Bis die festgesetzte Zeit um war und er gesund, frisch, ein neuer Mensch, Capri verließ, um mit dem „King Edward“ von Neapel rund um die Halbinsel nach Triest zu fahren. Mit Absicht hatte er keinen Schnelldampfer, sondern ein langsames, mehr für Fracht als für Passagiere eingerichtetes Schiff gewählt, weil er nicht ohne Übergang in den Trubel einer Luxuswelt springen, sondern gemächlich Abschied vom Vergnügungsurlaub nehmen wollte.
So knapp war die Zeit zwischen Ankunft in Neapel und Abfahrt des „King Edward“ gewesen, daß er nicht einmal mehr Gelegenheit bekam, eine Zeitung zu kaufen. Mit den wenigen Passagieren des Dampfers, fast nur Männer, fand er keinen Berührungspunkt, suchte ihn auch nicht, und nun hatte er eben wieder gerade den Zug nach Wien erreichen können.
Krach!
In Graz gab Mautner eine dringende Depesche an seinen Diener auf, der ihn mit dem Auto am Bahnhof erwarten sollte, dann endlich schlief er ein. Schwere, dumpfe Träume quälten ihn. Er fuhr mit dem Auto in eine dunkle Schlucht, wurde aus dem Wagen geschleudert, kroch über Steine uud Felsblöcke, Menschen flohen vor ihm her, er rief um Hilfe, aber eine Hand preßte ihm die Kehle zu. Unsichtbare Arme streckten sich nach ihm aus, warfen ihn in eine Höhle, in der er tiefer und tiefer sank, ohne Grund erreichen zu können.
Jäh fuhr er aus dem Schlaf empor. Grauer Nebel kündigte den neuen Tag an, drei Stunden noch und er würde in Wien sein. Und nun wieder das beklemmende Gefühl, die Angst vor Unbekanntem, der Alpdruck, der sich ihm auf Brust und Schläfen legte.
In Gloggnitz wollte Paul Mautner eines der frisch aus Wien eingelangten Morgenblätter kaufen, kam aber zu spät, es waren alle schon vergriffen. Über die Schulter seines Nachbarn las er die Überschriften der ersten Seite: Eine neue Hetzrede in der französischen Kammer, Urteil gegen einen sächsischen Minister, Hitler-Prozeß, Erdrutsch in Amalfi, Riesenstreiks in London.
Könnte ein Blatt vom Vormonat, vom Vorjahr sein, dachte er gähnend und begann Gesicht und Hände mit Kölnisch Wasser zu waschen, um die häßliche, schmutzige Nacht zu verscheuchen. Ohne Verspätung sauste der Zug durch Wiener-Neustadt, Baden, Mödling, rauchende Schlote verkündeten die Nähe der Großstadt, über hundert Weichen polternd ging es in den Südbahnhof hinein.
Der Diener Eduard stand auf dem Perron bereit, begrüßte den Herrn mit respektvoller Freude, übernahm Gepäckschein und Handgepäck, führte Mautner hinunter zum offenen Fiatwagen, der erst im Winter angeschafft worden war. Auch der Chauffeur bemühte sich, Jubel zu zeigen, obwohl er mit Wehmut der vielen erträgnisreichen Schwarzfahrten der letzten Wochen gedachte.
Rasende Eile überkam Mautner. Kaum daß er sich Zeit nahm, das heiße Wasser aus der Brause über sich strömen zu lassen. Hastig frühstückte er, schenkte den Montagszeitungen keinen Blick, trieb den Chauffeur zur eiligen Fahrt nach der Renngasse an, in der sein Bankier das Kontor hatte.
Der große Raum, in dem die Beamten und Beamtinnen des Bankhauses saßen, war in Stille gehüllt. Erster Eindruck beim Betreten: Eine Trauerversammlung, bei der die Leidtragenden und die Gäste flüstern, gedämpft sprechen, auf den Fußspitzen gehen. Ein paar Herren, die Mautner flüchtig kannte, standen vor dem Schalter, nicht wie früher eifrig mit dem Börsendisponenten plaudernd, sondern allein, ratlos, unschlüssig. Irgendwie sahen sie zerklüftet, verstört aus.
Mautner fühlte, wie sich neugierige, forschende Blicke auf ihn richteten, kam sich, ohne zu wissen warum, wie ein ertappter Sünder, ein an den Pranger Gestellter vor.
Der Prokurist, Herr Rappaport, begrüßte ihn mit stummem Händedruck. Hob dann die Achseln hoch, machte eine heftige Geste mit den Händen, sprach gedämpft:
„Sie waren verreist, wir haben Sie vergebens gesucht! Das Unglück kam ganz unerwartet. Man darf nicht verzweifeln, es wird gesagt, daß die Großbanken eingreifen werden. Auch Sie werden sich noch erholen.“
Blitzartig kam Klarheit in Mautner. Er wußte das Wesentliche, ohne es gehört zu haben: Irgendeine Katastrophe hatte sich ereignet, ein Börsenkrach, vielleicht eine Riesendefraudation beim Bankhaus Kohorn, Selbstmord des Chefs. Es fröstelte ihn, aber er beherrschte sich, fragte nicht, sondern sagte mit gewaltsamer Ruhe:
„Es wird so schlimm nicht sein. Aber ich möchte jetzt Herrn Kohorn sprechen.“
Schon ging die Tür zum Chefzimmer auf, der weißhaarige kleine Herr Kohorn stand an der Schwelle, rief Mautner zu sich herein.
„Glauben Sie mir, der Tag, an dem ich Ihre Papiere auf den Markt werfen mußte, war der schmerzlichste meines Lebens. Es ging nicht anders, ich wäre sonst mitgerissen worden. Sie waren immer mein bester und angenehmster Kommittent, werden es sicher wieder werden. Und auf die dreihundert Millionen, die Sie eigentlich nach dem Verkaufe noch zuschießen müßten, kann ich warten.“
Dann erzählte er von dem plötzlichen, unerwarteten Steigen des Franc, dem unaufhörlichen Rückgang an der Wiener Börse, der plötzlich in eine Panik ausgeartet war.
„Alles stürmte auf uns herein, wir mußten verkaufen um jeden Preis.“
Schwere Schicksalsschläge wirken im ersten Ansturme weniger vehement als die üblichen Nadelstiche. Mautner saß bleich, bewegungslos, ohne mit der Wimper zu zucken, seinem Bankier, Herrn Israel Kohorn, gegenüber, ließ die Ziffern an sein Ohr rauschen, prüfte mit eiskaltem Blicke die Bücher und Bogen, und nur tiefinnerlich sprach sein zweites Ich höhnend und monoton die Worte:
„Ich bin ein Bettler, ich bin ein Bettler!“
Enorme Engagements in Franc, große Effektenbestände mit kaum vierzigprozentiger Deckung, die Berg und Hütten, die er knapp vor seiner Abreise gekauft hatte, ein Paket von hunderttausend Lombard- und Eskomptebank, die um die Hälfte gestürzt waren, kein Zweifel: er war fertig, total fertig.
Herr Kohorn stöhnte:
„Ich mußte Sie exekutieren, es blieb mir nichts anderes übrig, ich kann mich selbst nur mit Mühe und mit Hilfe von Verwandten aufrechthalten. Schließlich, Sie sind jung, haben wahrscheinlich zu Hause noch Effektenbestände und Dollars. Sie werden den Verlust verschmerzen. Ich aber, ich bin ein alter Mann und muß froh sein, wenn mir soviel bleibt, daß ich wie ein Schnorrer leben kann.“
Mautner bestieg sein Auto.
„Fahren Sie zur Börse — nein, nicht zur Börse. Nach Hause — nein, fahren Sie zum Autohaus auf dem Schwarzenbergplatz.“
Die Sonne leuchtete frühlingsmilde, die Menschen freuten sich ihrer, sahen fröhlich aus, die Mädchen schienen nach langem Winterschlafe zu neuer Schönheit erblüht zu sein.
Mautner sprach im Takte der Wagenschwingungen lautlos in sich hinein:
„Ich bin ein Bettler, ein Bettler bin ich!“ Und dann: „Herr Israel Kohorn glaubt, ich habe Effekten und Valuten zu Hause. Nichts habe ich, nichts! Nicht ein Papier und nicht einen Dollar! Alles ließ ich schwimmen, alles tummelte auf dem Markte, ich bin ein Bettler mit zweihunderttausend Kronen in der Brieftasche. Und etlichen hundert Millionen Börsenschulden, die ich nicht werde zahlen können.“
In der großen Automobilhalle riß sich Mautner zusammen, spielte den Gleichgültigen, Überlegenen.
„Ich werde auf längere Zeit ins Ausland gehen, möchte meinen Wagen nicht stehen lassen. Was können Sie bieten? Er ist fast neu, ich habe vor drei Monaten 300 Millionen für ihn gezahlt.“
Ein halbes Dutzend Autogeier versammelten sich um Mautner. Erzählten Erstaunliches von der Wirkung des Börsenkrachs. Hunderte konnten ihr Auto nicht mehr halten, boten zu jedem Preis aus. Von festem Angebot könne keine Rede sein, nur in Kommission wolle man den Wagen nehmen. Außer, der Herr würde sich zu exzeptionellem Preis entschließen.
Mit einem Scheck von 80 Millionen verließ Mautner die Halle, das Auto blieb gleich dort, dem verzweifelten Chauffeur sicherte er dreimonatige Abfertigung zu.
Frau sonja gordon
Im Parisien. Immer wenn die Jazzbande mit ihrem Höllenlärm begann, zuckten die Paare von ihren Sitzen auf, glitten in Verkrampfung einher, tanzten bis zum schrillen Schluß, blieben dann stehen, um durch Händeklatschen Fortsetzung zu erzwingen, tanzten weiter.
Die Gesellschaft der Frau Sonja Gordon aber tanzte nicht unten im Parterre, sondern hinter ihrer Loge. Neugierige Blicke flogen von allen Seiten Frau Sonja entgegen, die perlen- und diamantenübersät in halber Nacktheit an der Brüstung saß und sich den Hof machen ließ.
Irgendwoher, irgendwie hatte die europäische Revolutionswelle Frau Sonja Gordon nach Wien geschwemmt. Blendende Schönheit mit rabenschwarzem Haar, fabelhafter Reichtum, fürstliches Auftreten. Ihre russisch-tatarische Abstammung unverkennbar. Der gefallene oder ermordete oder hingerichtete Gatte war angeblich ein Kanadier gewesen, ihr jetzt achtzehnjähriges Töchterchen entstammte erster Ehe mit einem russischen Fürsten. So erzählte wenigstens Frau Sonja, die wenig von sich und ihrer Vergangenheit sprach. Nur betonte sie gerne, daß sie mit vierzehn geheiratet habe, also erst dreiunddreißig sei. Man konnte es glauben oder nicht. Die marmorweiße Schönheit ihres Körpers sprach dafür, die grauen Augen voll Leben und Erleben dagegen.
Die achtzehnjährige Tochter Jutta Oblonski, ein zartes, zierliches Mädchen, sah fein und schön wie ein Meißner-Porzellanpüppchen aus, schien von dem Glanze und dem lauten Treiben ringsumher geblendet und betäubt zu sein und tanzte bedächtig und emsig, als würde es sich um eine Schulaufgabe handeln. Es war das erstemal, daß ihre Mutter sie in ein Nachtlokal mitgenommen hatte.
Neben Frau Sonja saß ein mageres, blondes Mädchen von undefinierbarem Alter. Es konnte zwanzig oder auch dreißig sein. Komtesse Magda Huttwitz stammte aus Sachsen, lebte bei einer alten Tante, der Gräfin Eva Huttwitz, in Wien, man sagte ihr Reichtum und Geist nach. Und außerdem allerlei kleine Absonderlichkeiten. Zum Beispiel ihre fanatische Liebe zu Frau Sonja.
Ob sie erwidert wurde? Ganz Wien tuschelte und flüsterte über Frau Sonja, man erzählte von ihren seltsamen Neigungen, von nächtlichen Orgien, die in ihrer Villa in der Weimarerstraße veranstaltet wurden, aber wenn man den Gerüchten nachging, zerflatterten sie in nichts, wurden ungreifbar.
Ein hagerer Herr mit Habichtsnase, Baron Roch, jetzt nur mehr Herr Roch, Sektionsrat im Ministerium des Äußern, typischer Trottel aus der Monarchie, mit guter Erziehung, machte Frau Sonja eben auf Tod und Leben den Hof. Er war verschuldet und hätte die reiche Frau zu seiner Seelensanierung gut brauchen können. Komtesse Magda Huttwitz verfolgte seine Bemühungen spöttisch, wurde aber unruhig, als sich ein Insasse der Loge, ein hübscher, junger Bursch mit großen, treuherzigen Augen, über Frau Sonja beugte. Magda kannte das, sie ahnte, wie es über die Schultern ihrer Freundin rieselte, wußte, daß dies eine verlorene, qualvolle Nacht für sie bedeuten konnte.
Der wohlbeleibte Bankier Jakob Leier klopfte mit dem Ring auf das Champagnerglas den Takt zum neuesten Shimmy „O Katharina, ich kauf’ mir ein’ Kapuzina“, als eben Paul Mautner die Loge betrat. Frau Sonja wendete sich lebhaft zu ihm, streckte ihm die schneeweiße, langfingerige Hand zum Kuß entgegen, begrüßte ihn so freudig, daß Magda Huttwitz zusammenzuckte.
„Nett, daß Sie sich wieder zeigen! Man erzählt, daß Sie zu den Gerupften gehören?“
„Ist so schlimm nicht,“ erwiderte Paul müde lächelnd, Bankier Leier aber begehrte auf:
„Nicht so schlimm! Das sagt jeder, der, mit Respekt zu vermelden, die Hosen verloren hat! Warum nicht aufrichtig zugeben, was sich auf die Dauer nicht verbergen läßt? Schauen Sie mich an: ich erkläre laut und deutlich, daß ich pleite bin! Ein Glück, daß ich zu Hause in einer Schublade noch ein paar tausend Dollar entdeckt habe, sonst würde ich nicht hier im Parisien sitzen, sondern in einem Haustor fünf Deka Preßwurst essen. Also gestehen Sie, Mautnerchen, daß auch Sie kahl sind.“
Mautner, der seine Wunden zu schmerzhaft empfand, um über sie scherzen zu können, zuckte die Achseln.
„Natürlich, ich habe einen Teil meines Vermögens eingebüßt, aber immerhin, es ist zu ertragen!“
Gab dem Gespräch brüsk eine andere Wendung, ließ sich Jutta vorstellen, die eben brav mit dem hübschen jungen Mann getanzt hatte. Er gab seiner ehrlichen Verwunderung darüber Ausdruck, daß die schöne Frau Sonja eine so erwachsene Tochter habe. Als er die kleine, warme und doch trockene Hand Juttas drückte, entstand eine Welle von Sympathie zwischen ihm und dem jungen Ding, das leicht errötete und ihn halb scheu, halb bewundernd anblickte. Er erwiderte den Blick, erquickte sich an dem taufrischen Anblick dieser Knospe, und das Gesicht Magdas, das ganz finster geworden war, begann sich zu glätten.
Frau Sonja lehnte sich jetzt mit überschlagenen Beinen, deren köstliche Linie man fast bis zum Knie verfolgen konnte, zurück, blies aus einer exotischen Zigarette, die sie von dem türkischen Gesandten bekam, kunstvolle Ringe in die Luft und setzte das unterbrochene Gespräch fort.
„Ich staune, daß kluge Männer, wie Sie es sind, sich mit dem französischen Franc so verspekulieren konnten! Das kommt davon, weil Männer auf ihr Ziel loszugehen pflegen, wie Stiere auf das rote Tuch. Sie alle haben zu wenig Psychologie betrieben, wollen nur von Materie und nichts von Geist wissen. Ich habe auch in Franc spekuliert, aber à la Hausse. Als er in Zürich auf zwanzig stand, habe ich gekauft, so viel gekauft, als ich nur konnte. Warum? Weil ich weiß, wie die Franzosen, auch wenn sie in der Minderheit waren, gegen die Deutschen gekämpft haben, weil ich weiß, was französischer Patriotismus, Sie können es auch Größenwahnsinn nennen, imstande ist. Weil ich genau weiß, daß es in Frankreich keine Frankzerstörer gibt, keinen Stinnes, keinen Menschen, der es wagen würde, offen seinem Vaterland zu schaden. Und ich mir sagte, daß die Franzosen den Franc einfach nicht fallen lassen werden, ebensowenig wie sie Verdun fallen ließen.“
Die Männer schwiegen betroffen und Mautner dachte in sich hinein:
„Statt mit den albernen Kokotten und Theatergänsen hätte ich mit dieser Frau ein Verhältnis haben sollen, dann wäre mir heute wohler.“
Und im Bruchteil einer Sekunde spannen sich seine Gedanken fort, saugten sich an Frau Sonja fest, sahen in ihr die große Möglichkeit, die einzige Rettung. Aber seine Augen folgten nicht seinem Willen, glitten zu der kleinen Jutta hinüber, die ihn groß und fragend ansah. Fast mechanisch rückte er seinen Stuhl zurecht, so daß er dicht neben dem Mädchen saß und dessen weichen, weißen Kinderarm streifte.
Nach Mitternacht brach man auf. Frau Sonja bestieg mit ihrer Tochter und Magda den prachtvollen großen Benz-Wagen, nachdem sie der Freundin gleichmütig gesagt hatte, sie möge bei ihr übernachten. Paul war es, als würden die gelblichen, feuchten Augen der sächsischen Komtesse aufleuchten wie Katzenaugen. Ihn lud Sonja zum Tee für den nächsten Sonntag ein und er nahm gerne an. Der Sektionsrat krähte, daß er noch in die Sacher-Bar, die bis drei Uhr offen halte, gehen müsse und schleppte den jungen, hübschen Mann mit, Mautner und Bankier Leier schlenderten durch die Kärntnerstraße. Leier murmelte unvermittelt: „Der Teufel soll die Börse holen.“ Paul erwiderte ingrimmig: „Hat sie schon geholt.“ Dann verabschiedeten sie sich, jeder mit trüben Gedanken zu sehr beschäftigt, um noch sprechen zu können.
Als Paul Mautner allein war, blieb er stehen und verkrampfte die Hände, um nicht laut aufschreien zu müssen.
Er war fertig, total fertig! Heute hatte er zwei goldene Zigarettendosen und eine Platinuhr verkauft und die paar Millionen reichten gerade, um dringende Rechnungen zu begleichen. Weitere Verkäufe von Schmucksachen und Teppichen würden ihn noch ein paar Wochen über Wasser halten. Aber was dann? Seine schöne Wohnung verkaufen und mit einem möblierten Zimmer tauschen? Ekel und Grauen schnürten ihm die Kehle zu. Das wäre das Ende, der unaufhaltsame Zusammenbruch, das Eingeständnis der Verarmung. Nur das nicht, nur sich nicht zu den Deklassierten stellen, nur nicht bemitleidet werden! Heute konnte er noch lügen, den Menschen Sand in die Augen streuen, heute war er noch ein Herr, der am Brahmsplatz eine fürstliche Junggesellenwohnung besaß. Das mußte so bleiben. Bis zu einem neuen Anfang oder bis zum bitteren Ende.