Das Erbe der Bildhauerin - Katja Segin - E-Book
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Das Erbe der Bildhauerin E-Book

Katja Segin

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Beschreibung

Die talentierte Bildhauerin Branca stößt im Nachlass ihrer Oma auf ein lange gehütetes Geheimnis: Ihre Urgroßmutter Anna hat ein Tagebuch hinterlassen, in dem sich Hinweise auf etwas Wertvolles in ihrer ehemaligen Heimat finden. Diesen kostbaren Besitz hat Anna in Schlesien vergraben, bevor sie nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertrieben wurde. Warum hat sie ihn versteckt?

Branca ist fest entschlossen, das Geheimnis aufzudecken und reist in Annas einstige Heimat, ins heutige Polen. Dort begegnet sie dem gutaussehenden Polizisten Paul, der jedoch auch in diesen Fall verstrickt zu sein scheint. Doch Anna hatte mehr Geheimnisse als auf den ersten Blick ersichtlich - und je näher sie dem Schatz kommen, desto mehr stoßen sie auf Widerstand ...

Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

Leseprobe

 

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Über dieses Buch

Die talentierte Bildhauerin Branca stößt im Nachlass ihrer Oma auf ein lange gehütetes Geheimnis: Ihre Urgroßmutter Anna hat ein Tagebuch hinterlassen, in dem sich Hinweise auf etwas Wertvolles in ihrer ehemaligen Heimat finden. Diesen kostbaren Besitz hat Anna in Schlesien vergraben, bevor sie nach dem Zweiten Weltkrieg von dort vertrieben wurde. Warum hat sie ihn versteckt? Branca ist fest entschlossen, das Geheimnis aufzudecken und reist in Annas einstige Heimat, ins heutige Polen. Dort begegnet sie dem gutaussehenden Polizisten Paul, der jedoch auch in diesen Fall verstrickt zu sein scheint. Doch Anna hatte mehr Geheimnisse als auf den ersten Blick ersichtlich – und je näher sie dem Schatz kommen, desto mehr stoßen sie auf Widerstand …

Katja Segin

 

Für ErnaDanke für all die Servierplatten.Schade, dass wir nicht den gleichen Nachnamen haben.

Prolog

Rogelwitz, 07. August 1946Die Nacht vor der Vertreibung

Anna stieß wieder und wieder die Schaufel in die Erde, bis ihre Hände schmerzten. Ihr straff geflochtener dunkler Zopf schwang hin und her. Im Garten, wo sie die Milchkannen mit dem Bettzeug und das gute Geschirr vergraben hatten, war der Boden durch die verfrühte Kartoffelernte noch locker gewesen, doch hier am Waldrand war sicher noch nie gegraben worden.

»Beeil dich, Anna. Wir müssen packen.« Gertruds helle Stimme schien zu beben. »Wie tief denn noch?«

Anna richtete sich auf, presste die Hände in den Rücken und beugte sich nach hinten, bis die Wirbel knackten. Sie sah ihre jüngere Schwester an, die das mit Leinen umwickelte Stoffbündel umklammerte und trotz der warmen Nacht zitterte.

Dann warf sie einen Blick in das Loch. »Noch ein paar Zentimeter tiefer.« Sie wischte ihre feuchten Hände an der Hose ab, die sie sich von ihrem Vater geliehen hatte. Die Spuren, die sie auf dem Stoff hinterließen, waren zu dunkel für Schweiß.

»Denkst du nicht, dass es reicht?«

Anna schüttelte den Kopf. »Es muss ganz sicher sein. Niemand darf es finden, Gerti.« Im fahlen Mondlicht untersuchte sie ihre Handflächen. Einige der Blasen, die sich den Tag über gebildet hatten, waren geplatzt und hatten rohes Fleisch freigelegt. Blutstropfen quollen daraus hervor.

Gertrud trat neben sie und drückte ihr das Bündel in den Arm. »Gib mir die Schüppe.«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, Gerti, ich mache das, ich bin größer und kräftiger als du. Pack du unsere Sachen zusammen. Du weißt, was ich mitnehmen will.« Was sie mitnehmen durfte. Vierzig Kilo Gepäck reichten bei Weitem nicht für das, was sie mitnehmen wollte.

Geschickt entwand Gertrud ihr die Schaufel. »Auf keinen Fall. Du hast eine Pause nötig, Schwesterlein.«

Sie griff in ihre Hosentasche und förderte ein paar getrocknete Blaubeeren zutage, die sie in Annas Hand gleiten ließ. Danach stellte sie das Schaufelblatt auf den Boden, setzte den Fuß auf die Kante und versenkte es im Erdreich. Mit dem ganzen Gewicht lehnte sie sich auf den Stiel und hebelte einen großen Brocken heraus. Dabei entfuhr ihr ein Keuchen. »Wenn hier nur nicht so viele Wurzeln wären.«

Anna warf sich die Beeren in den Mund, sank auf einen abgesägten Stumpf und klopfte sich Blätter und Dreck von der Kleidung. »Danke, Gerti. Ohne dich würde ich es niemals rechtzeitig schaffen«, sagte sie kauend.

Gertrud hebelte wieder. »Uff … Dir fällt wirklich kein besseres Versteck ein?«

Anna warf einen Blick hinunter ins Dorf. Der Glaseinsatz im Dach des größten Hauses war hell erleuchtet. Hermiles Atelier. Ob sie nicht schlafen konnte? Ob sie gerade an etwas arbeitete? Sie plagte sich jedenfalls nicht mit den Problemen der einfachen Leute, mit der Sorge, was ins Gepäck passte und was anderweitig sicher verstaut werden musste. Nicht mehr zumindest. Hermile würde hierbleiben. Hier bei ihm, in seinem Schutz. Bei Oskar.

»Nein.«

Wieder trat Gertrud die Schaufel in den Boden. »Hast du nicht viele deiner Sachen bei Her…?«

»Nein!«, fiel Anna ihr ins Wort und drückte das Bündel an sich. Es stimmte, sie hatte vieles bei Hermile gelassen. Doch das ging jetzt nicht mehr, nicht seit dem vergangenen Abend. Etwas kitzelte ihre Wange bis hinunter zum Kinn, und ein kleiner nasser Fleck entstand auf der Brusttasche ihres Hemdes. Sie wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

Gertrud grub schweigend weiter. Nach ein paar Minuten trat sie einen Schritt zurück. »Ist das gut?«

Anna erhob sich und nickte. Wann war ihre kleine Schwester so stark geworden? Sie fiel auf die Knie und bettete das Bündel in sein dunkles Grab. Mit bloßen Händen schob sie das, was sie zuvor ausgehoben hatten, darauf. Gertrud hockte sich auf die andere Seite des Lochs und half ihr. Danach stapften sie die Erde fest.

»Was denkst du, wie viel Zeit uns noch bleibt?«, fragte Gerti und warf trockene Blätter und Zweige auf die Stelle.

Anna schritt inzwischen zu der großen Eiche und zählte. »Keinen Schimmer. Bis Sonnenaufgang sollten wir jedenfalls bereit sein.« Fünf große Schritte von der Eiche nach Westen. Ihr Vater sagte immer, selbst wenn alle Bäume gefällt würden, diese Eiche würde für immer bleiben. Sie hatte die letzten zweihundert Jahre überdauert und würde auch die nächsten zweihundert Jahre überdauern. Doch so lange würde sie sicher nicht brauchen.

»Bestimmt ist Alfi noch da und hilft der Mama und dem Papa beim Einpacken.«

Der gute Alfi. »Hoffentlich vergisst er nicht, dass er auch eine eigene Familie hat.«

»Die haben ja noch einen Sohn.«

»Du magst den Alfi, nicht?«

Gertrud zog eine Schulter hoch bis zum Ohr. Ein schmutziger Streifen zog sich über ihre Stirn. »Das tut nichts zur Sache. Er ist nicht meinetwegen da.«

»Du weißt, dass ich mich nicht für ihn interessiere, Gerti. Er ist viel zu jung für mich.« Das war einer der Gründe, und den zweiten kannte ihre Schwester ebenfalls. Den Grund, der zwischen ihnen unausgesprochen blieb. Ihr Blick wurde wieder von dem Haus mit dem Glasdach angezogen, das vor dem Krieg die Oberförsterei beheimatet hatte und in dem nun ihre große Liebe lebte.

Ein Rascheln im Gebüsch ließ sie herumfahren. Ein Ast knackte. Auch Gertrud blickte um sich.

»Was war das?«, flüsterte Anna.

Gertrud zuckte die Achseln. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Atem ging schnell. »Können wir jetzt gehen, Anna? Lass uns endlich gehen!«

»Ja. Sofort.« Anna hielt den Atem an.

Sie standen dicht beieinander und lauschten in die Dunkelheit. Der Laut wiederholte sich nicht.

»Vielleicht ein Tier?« Anna schüttelte sich, dann zog sie ihr Tagebuch hinten aus dem Bund der viel zu weiten Hose und notierte eine Beschreibung der Stelle. Das Papier riss sie heraus und stopfte es in ihre Hemdtasche.

»Du glaubst, hierher zurückzukehren?« Gertruds Augen glänzten feucht. Genau wie alle anderen wollte sie nicht gehen. Doch sie hatten keine Wahl. Schon bald würde dies hier nicht mehr ihre Heimat sein, auch wenn ihnen das Herz brach.

»Ich muss zurückkehren, Gerti.« Ein letztes Mal starrte sie zu Hermiles und Oskars Zuhause hinüber, dann wandte sie sich ihrem eigenen Hof und ihrer unausweichlichen Zukunft zu. »Ich muss einfach.«

Eins

Branca starrte die Urne an, die vor den Stuhlreihen auf einem niedrigen Tischchen stand. Drum herum waren Kränze und Blumensträuße aufgebaut. Kaum zu glauben, dass dieses kleine Gefäß alles beinhalten sollte, was von ihrer Großmutter noch übrig war. Das goldverzierte Ungetüm verschwamm vor ihren Augen. Zum Glück ahnte niemand, dass nicht Omas Tod dafür verantwortlich war.

»Ich dachte, Omi wollte was ganz Einfaches«, raunte sie ihrer Mutter zu. Sie sah eine Kopfbewegung in den Augenwinkeln, ein sachtes Nicken. »Wer hat den Kitsch dann ausgesucht?« Oma Elisa war ein naturverbundener Mensch gewesen. Sie hätte sich sicher etwas Schlichtes aus Holz gewünscht.

Mama legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Pst, nicht so laut.« Ihr Blick huschte zu Onkel Werner, der mit seiner Frau Greta auf der anderen Seite des Mittelgangs saß. »Wer wohl?«

Der Organist beendete das Musikstück, und der Pastor durchschritt den Gang. Die Bestatterin trug die Urne mit unbeweglicher Miene hinter ihm her. Noch bevor Branca ihren Stuhl zur Seite stellen konnte, damit ihr Vater Mamas Rollstuhl auf den Gang schieben konnte, war Onkel Werner aufgesprungen und drängelte sich an ihnen vorbei. Branca zog die Brauen zusammen, sagte jedoch nichts. Ihre Mutter zwinkerte ihr aus rotgeränderten Augen zu. Schon in Ordnung.

Alle anderen Trauergäste warteten, bis sie so weit waren, und folgten dann in angemessenem Abstand.

Das Grab war winzig, doch viel Platz brauchte so eine Urne ja auch nicht. Es dauerte ewig, bis die Reihe der Verwandten, Bekannten und Nachbarn an ihnen vorbeigezogen war. Sie schüttelte Hände und nickte, doch in Gedanken war sie ganz woanders.

An welchem Punkt war es schief gegangen? Hätte sie es verhindern können?

Irgendwann landeten sie in der benachbarten Gaststätte beim Leichenschmaus. Die lange Tafel war so bestuhlt, dass der Platz am Kopfende für Mamas Rollstuhl frei gelassen worden war. Papa schob Mama an den Tisch und setzte sich dann eins weiter neben Branca. Wollten ihre Eltern sie absichtlich in die Mitte nehmen, wie das Küken, das ins Nest zurückgekehrt war?

Mit säuerlicher Miene setzte sich Onkel Werner auf den nächsten Platz, Branca gegenüber. Er griff nach der silbernen Isolierkanne und goss sich Kaffee ein. Dann stellte er sie wieder zurück in die Mitte des Tisches.

»Und, Branca? Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Du lässt dich nicht oft blicken.«

Branca nickte und füllte ihrer Mutter, ihrem Vater und sich die Tassen. Dann reichte sie den Kuchenteller herum. Ein paar Plätze weiter gab die Nachbarin ihrer Oma eine Anekdote mit einer Katze und einem Teller Kartoffelklöße zum Besten und erntete einige Lacher. Oma Elisa war beliebt gewesen. Warum nur konnte sie nicht um sie trauern? Sogar das machte Daniel ihr kaputt.

»Ich hatte viel zu tun.«

Ihr Onkel stach ein winziges Stück Butterkuchen ab und schob es sich in den Mund. Er kaute unnötig lange, dann sagte er: »Ach, hast du inzwischen einen richtigen Job gefunden? Das freut mich.«

Ihre Kiefermuskeln spannten sich an, und sie zwang ihre Mundwinkel nach oben. »Ich arbeite immer noch als Bildhauerin, wenn du das meinst.«

»Bringt das denn mittlerweile was ein?«

Die Hand ihrer Mutter tastete sich auf ihren Oberschenkel und drückte ihn beruhigend.

»Hin und wieder.« Drei Verkäufe bei Etsy im vergangenen Jahr als hin und wieder zu bezeichnen, fühlte sich allerdings wie Hochstapelei an.

Kein Wunder, dass Daniel die Nase voll hat.

»Du hättest wenigstens eine Ausbildung als Steinmetz machen sollen. Dann könntest du Grabsteine bearbeiten.«

Branca starrte auf ihren Teller und biss sich auf die Unterlippe. »Das wär ja ein Traum.«

»Gestorben wird immer«, warf Tante Greta ein, und Branca zuckte zusammen. Einige Köpfe weiter unten am Tisch drehten sich in ihre Richtung.

Mama rieb sich mit der freien Hand über die Stirn. »Branca hat uns eine wunderschöne Skulptur von einer Frau mit Kind mitgebracht. Sie ist aus einem rosafarbenen Stein und …«

»Ach, ist was Kleines unterwegs?«, unterbrach Tante Greta sie. »Wenn man sich um ein Kind kümmert, hat man keine Zeit für richtige Arbeit, Werner. Das solltest du doch wissen.« Greta hatte in ihrem ganzen Leben vermutlich noch keinen einzigen Euro verdient.

»Es ist nichts Klei… Ich bin nicht schwanger.« Was für eine bescheuerte Formulierung. Brancas Backenzähne mahlten, und die Hand ihrer Mutter drückte etwas fester.

»Wo ist denn dein Freund, dieser Daniel?«, fragte Werner. »Kommt er nach?«

Innerlich stöhnte Branca auf. »Nein, er kommt nicht nach.« Könnte bitte jemand das Thema wechseln? Bitte!

»Ihr habt euch doch nicht etwa getrennt, Schätzchen, oder?« Greta schob die Unterlippe vor. »Er ist so ein gut aussehender Kerl. So jemanden muss eine Frau sich warmhalten, solange die Haare noch kastanienbraun sind und nicht mausgrau.« Sie sah schnell von Branca zu ihrer Mutter und wieder zurück. Branca widerstand dem Drang, sich über die Frisur zu streichen. Bestimmt hatten sich schon einige widerspenstige Strähnen aus dem strengen Knoten gelöst. Doch grau waren die sicher nicht. »Unsere Regina ist übrigens verlobt«, fügte ihre Tante noch hinzu.

»Ja, ich weiß. Herzlichen Glückwunsch«, presste Branca durch die Zähne. Sie nahm einen Schluck Kaffee und kleckerte prompt auf ihr Top. Mit der Serviette wischte sie es ab. Zum Glück sah man die Flecken auf schwarz so gut wie gar nicht.

»Und wie lange willst du dich noch mit dieser brotlosen Kunst abgeben, Branca?«, fragte Onkel Werner. »Du bist doch nicht dumm. Du könntest etwas Richtiges lernen. Es ist noch nicht zu spät dafür. Wie alt bist du jetzt, fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig?«

»Vierundzwanzig.« Die Muskulatur ihres Kiefers protestierte.

Ihre Mutter kniff zu, und Branca unterdrückte einen Schmerzenslaut. Greta schien es nicht zu bemerken.

»Ach ja. Wie die Regina. Die ist sehr glücklich im Büro ihres Mannes. Der ist nämlich Anwalt.«

»Schön. Das freut mich.« Branca versuchte, die Finger auf ihrem Bein zu lockern, doch fünf Jahre Rollstuhlfahren hatte den Griff ihrer Mutter gestärkt. Keine Chance.

»Wo ist Regina denn überhaupt?«, fragte Mama und rührte in ihrer Tasse, obwohl sie weder Milch noch Zucker nahm. Sie wollte noch etwas sagen, doch Branca quetschte ihr die Finger zusammen. Ihr Vater zu ihrer anderen Seite schnaubte, gewann jedoch sofort die Fassung zurück.

»Die Kanzlei ist gerade in einem wichtigen Fall.« Gretas Stimme klang höher als eben.

»Nicht jeder kann jederzeit alles stehen und liegen lassen. In manchen Berufen geht das eben nicht.« Was Werner damit eigentlich sagen wollte, war klar. Manche sind halt wichtiger als andere. Man musste Prioritäten setzen.

»Das tut mir aber sehr leid für Regi, dass sie ausgerechnet so einen Job erwischt hat.« Branca sprach den Namen »Redschi« aus, wie damals, als sie noch mit ihrer Cousine um die Häuser gezogen war. Ihr Onkel hatte das immer gehasst. »Ich hätte sie so gerne mal wiedergesehen.«

»Hättet ihr die Trauerfeier auf einen Samstag legen können, wäre sie gekommen«, piepste Greta. »Nur ihr Mann nicht, der hat eine Siebzig-Stunden-Woche.«

»Na hoffentlich kann eure Beerdigung an einem Samstag stattfinden.« Fingernägel gruben sich so tief in ihr Fleisch, wie die Hose und Mamas praktische Maniküre es zuließen, doch Branca konnte die nächsten Worte nicht mehr aufhalten. »Aber keine Sorge. Ich komm auch unter der Woche.«

Neben ihr schnaubte es erneut. Onkel Werner legte die Serviette hin. »Wir müssen jetzt auch langsam los. Ich habe morgen eine Präsentation und muss dafür etwas vorbereiten.« Er erhob sich, obwohl Greta noch ein halbes Stück Kuchen auf dem Teller liegen hatte. Sie ließ die Gabel sinken. Werner klopfte auf den Tisch, sah nickend in die Runde und ging zur Tür. Greta sprang auf und folgte ihm. Jedes Gespräch im Raum war verstummt.

Als die Tür sich hinter ihnen schloss, sagte Brancas Mutter: »Magen-Darm«, und zuckte die Schultern.

Das Hintergrundsummen der anderen Gäste schwoll wieder an. Branca verbarg ihr Gesicht in den Händen. So ein Mist.

»Tut mir echt leid.«

Ihr Vater rieb ihr den Rücken. »Ach was, Liebes. Du kannst doch nichts dafür, dass der Bruder deiner Mutter so ein Ar…«

»Rüdiger!« An Mamas Stimme erkannte Branca, dass sie versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Stimmt doch«, murmelte Papa.

Klar stimmte das. Aber sie hätte ihn auf der Beerdigung seiner eigenen Mutter nicht so reizen müssen.

»Das Gute ist, dass wir ihn vermutlich nie wiedersehen. Gibt ja jetzt, wo Elisa tot ist, keinen Grund mehr.«

Branca ließ die Hände sinken. »Ach, hatte Oma kein Testament, das sein zukünftiger Schwiegersohn anfechten könnte?«

»Branca!« Endlich ließ Mama ihr Bein los. »Das ist immer noch mein Bruder, von dem ihr da sprecht.« Sie knetete ihre Finger, bevor sie hinzufügte: »Nein. Hatte sie nicht. Das ist der Vorteil, wenn man wenig besitzt. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir die Wohnung auflösen und dafür alles behalten, was wir haben wollen.«

»Soll heißen, er hat keinen Bock, sich um irgendwas zu kümmern.«

Ihr Vater schnaubte wieder. »Immerhin hat er Elisa ganze zwei Mal im Hospiz besucht. Beim zweiten Besuch lag sie aber schon im Koma.«

Zwei Mal in fünf Monaten? Dann war sie selbst ja öfter bei ihr gewesen, und das trotz der langen Fahrt in die westfälische Provinz. So viel zu ›du lässt dich nicht oft blicken‹. »Also ist es echt in Ordnung, dass ich mich vorerst in Omis Wohnung einquartiere?«

Ihre Eltern nickten synchron, und Branca seufzte. Völlige Einigkeit trotz aller Unterschiede. War es das, was wahre Liebe ausmachte?

»Und wenn du so weit bist zu erzählen, was passiert ist …«

Ihre Mutter ließ den Satz in der Luft hängen, und Branca schüttelte schnell den Kopf. Zu früh.

Viel zu früh.

In Brancas Tasche vibrierte es, und sie kramte nach ihrem Handy. Daniels Gesicht lächelte ihr vom Display entgegen. Wann hatte das Original sie zuletzt auf diese Weise angelächelt? Es war zu lange her, als dass sie sich daran erinnern könnte. Sie schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Ihre Eltern starrten sie an.

»Bitte entschuldigt. Ich muss da ran.«

Sie stand auf und verließ den Saal. Bei der Treppe, die zu den Toiletten hinunterführte, blieb sie stehen. Onkel Werner hatte das Café ausgesucht. Sicher war ihm entfallen, auf Barrierefreiheit zu achten.

Sie atmete tief ein und drückte den grünen Hörer. »Ja?«

»Ich bin’s«, sagte Daniel, als ob sie das nicht wüsste.

»Ja.«

»Weißt du inzwischen, wann du das Zeug holen kannst?«

»Hör zu, ich bin gerade … Es ist im Moment echt schlecht.« Hatte sie ihm nicht mitgeteilt, wann die Beerdigung war?

Klar hast du das. Es ist ihm nur egal.

»Ja. Verstehe. Aber es ist so … Ich brauch das Zimmer.«

Wofür brauchte er so schnell das Zimmer? Bisher hatte er es doch auch nicht benutzt. »Ich kann das alles jederzeit holen.«

»Hast du das Geld?«

Branca schluckte. »Nein.« Das wusste er doch genau. Wo sollte sie so schnell fünftausend Euro her haben? Ihre Beine fühlten sich schwach an, und sie ließ sich auf der obersten Treppenstufe nieder.

»Hast du deine Eltern gefragt?«

»Nein, ich hab meine Eltern nicht gefragt.« Auf keinen Fall würde sie ihre Eltern um Geld bitten. Sie war alt genug, ihre Probleme selbst zu lösen. Mal abgesehen davon, dass sie es ohnehin nicht hatten und sich schlecht fühlen würden, weil sie ihr nicht helfen konnten.

In der Leitung herrschte Schweigen. Es dauerte so lange, dass Branca das Telefon vom Ohr nahm und auf dem Display nachsah, ob das Gespräch abgebrochen worden war.

Schließlich sagte Daniel: »Wenn du es nicht abholst, lagere ich alles in so einer Lagerbox oder wie das heißt ein. Dann kommt die Miete für dich noch obendrauf.«

Branca lehnte den Kopf gegen die Wand. Der Putz war rau und kühl. »Daniel. Bitte tu das nicht. Du weißt, ich brauche die Sachen.«

»Dann bezahl deine Schulden.«

»Das kann ich erst, wenn du mir die Skulpturen gibst. Die Ausstellung ist in einem Monat. Wenn ich genug verkaufe, bekommst du …«

»Du hast noch nie was verkauft. Warum sollte es dieses Mal anders sein?«

Seine Worte schnitten ihr ins Fleisch. Er hätte auch gleich ein Messer dafür nehmen können. Früher war er doch auch nicht so gewesen. Da hatte er wenigstens so getan, als glaubte er an sie und ihr Talent. »Diesmal habe ich extra für das Thema der …«

»Branca«, unterbrach er sie erneut. »Warum kannst du es nicht endlich gut sein lassen? Du wirst keine bekannte Künstlerin wie Niki de Saint-irgendwas. Niemand wird heutzutage berühmt mit so was. Niemand kann davon leben. Warum sollte es dir anders gehen?«

Sie biss die Zähne zusammen und schwieg.

Vielleicht hat er ja recht.

»Also gut. Morgen ist Freitag. Ab da gebe ich dir noch zwei Wochen. Dann schaffe ich den Krempel aus meiner Wohnung.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden.

Von seiner Wohnung hatte er gesprochen. Nicht von unserer. Sie presste die Lider zusammen. Tränen quollen dazwischen hervor. Weinte sie um ihre Beziehung oder aus Wut darüber, wie der Mann, mit dem sie noch vor ein paar Wochen den Rest ihres Lebens hatte verbringen wollen, sie nun behandelte?

Man ist nicht wütend darüber, wie andere Menschen sich verhalten, sondern über sich selbst, weil man etwas anderes erwartet hat.

Das mochte stimmen, half ihr in ihrer Situation allerdings auch nicht weiter. Wenn wenigstens Corinne hier wäre. Doch seit ihre beste Freundin in Neuseeland lebte, schafften sie es wegen der Zeitverschiebung nicht einmal, miteinander zu telefonieren. Außerdem hatte sie Daniel nie leiden können.

Hinter Branca räusperte sich jemand, und sie fuhr herum. Der Rollstuhl ihrer Mutter stand ein paar Meter hinter ihr, ohne dass sie ihn hatte kommen hören. Sie wischte sich die Augen. Wenigstens stellte auf einer Beerdigung niemand dumme Fragen, wenn man weinte.

»Musst du aufs Klo? Papa und ich können dich sicher runtertragen.«

Mama schüttelte den Kopf. »Das war Daniel, oder?«

Branca nickte. Wie viel hatte ihre Mutter von dem Gespräch gehört?

»Greta hat ins Schwarze getroffen. Ihr habt euch getrennt«, stellte ihre Mutter fest und beantwortete damit die Frage.

Wieder nickte sie, ohne nach hinten zu sehen.

Ihre Mutter rollte näher. »Was sind das für Skulpturen, von denen du gesprochen hast?«

Branca lehnte wieder ihren Kopf an. Dieses Gespräch wollte sie jetzt eigentlich nicht führen. »In Daniels Wohnung sind noch Arbeiten von mir.« Genaugenommen alle bis auf die, die sie ihren Eltern mitgebracht hatte.

»Und warum kannst du sie nicht holen? Du könntest sie die nächsten Wochen in Omas Wohnung lagern. Oder bei uns im Keller, wenn wir Papas Modellbahn zur Seite räumen.«

»Weil Daniel sie nicht rausrückt.« Ihr wurde ganz schlecht bei dem Gedanken.

»Aber sie gehören doch dir.«

»Nein. Nicht so richtig.« Branca seufzte. »Du weißt doch, die letzten Jahre hab ich nie viel verdient.«

»Wirklich nicht? Wie kann das sein? Dein Vater und ich haben jeden Zeitungsartikel aufgehoben, in dem deine Werke besprochen wurden. Der aus der Kunst von Heute hängt sogar über dem Esstisch.«

»Gute Kritiken nutzen mir nichts, wenn hinterher keiner was kauft.« Hätte sie mit ihren Eltern darüber sprechen sollen? Dann hätten sie sich doch nur unnötig Sorgen gemacht.

»Und was ist mit diesem Shop im Internet, in dem man selbst gemachte Kunstwerke verkaufen kann?«

»Es gibt nicht viele Menschen, die bereit sind, einen angemessenen Preis für eine Statue oder so zu bezahlen. Und wenn doch, sind ihnen die Lieferkosten zu hoch. Außerdem hab ich ja die meiste Zeit für Ausstellungen gefertigt.«

»Ja und? Deswegen gehören die Sachen trotzdem dir.«

Mit den Fingerspitzen fuhr Branca die Risse im Putz der Wand nach. »Für all das Material und die Miete und Essen musste ich mir von Daniel Geld leihen. Wir haben das immer schriftlich festgehalten und sogar rausgerechnet, wie viel ich von der Hausarbeit übernommen habe.« Es war ein faires System gewesen, gar keine Frage. Anders hätte sie es auch gar nicht gewollt. Schließlich war es sogar ihre Idee gewesen, in einer Zeit, als Daniel noch der Mann gewesen war, in den sie sich verliebt hatte.

»Oh, Liebes.« Ihre Mutter rollte bis an die Kante und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wie viel schuldest du ihm?«

Branca schluckte. »Fünftausend.«

Neben ihrem Ohr ließ Mama zischend die Luft entweichen. »So eine Scheiße.« Flüche hörte man nicht oft aus ihrem Mund. »Oh, Verzeihung.«

Gegen ihren Willen musste Branca lächeln und legte ihre Hand auf die ihrer Mutter. »Ja. Echt Scheiße.«

»So viel haben wir nicht, Liebes, tut mir leid. Wir bezahlen immer noch das dumme Auto mit dem Handgas ab. Was die Versicherung dazugegeben hat, war ein schlechter Scherz.«

Branca schüttelte die Hand ab und stand auf. »Das würde ich auch niemals von euch annehmen.«

Sie trat hinter den Rollstuhl und schob ihn in Richtung des Festsaals. Plötzlich blockierten die Räder, und Branca wäre beinahe vornüber gestürzt. Die Hand noch an der Bremse, drehte ihre Mutter sich zu ihr um.

»Du, Branca, vielleicht entdecken wir unter Omas Sachen ja etwas, was wir zu Geld machen können. Bestimmt können wir einiges auf dem Flohmarkt verkaufen oder im Internet. Und es gibt da diese Fernsehsendung, in der Menschen Fundstücke schätzen lassen, da sind manchmal richtig wertvolle Teile dabei. Das wäre doch der Hammer, wenn wir zwischen all dem Zeug einen richtigen Schatz finden würden!«

Zwei

Branca hockte inmitten unzähliger Stapel Geschirr. Kein Service war noch vollständig. »Wir sollten nicht damit rechnen, hierfür besonders viel Geld zu bekommen.«

Mit ihrem Handy machte sie ein Bild von dem Dekor und notierte den Bestand auf einem Block. Hier fünf Tassen, sechs Untertassen, aber nur drei Teller. Bei dem nächsten acht Teller, aber nur fünf Tassen. Jedes Design war auf seine eigene Art altmodisch.

Regen prasselte ans Fenster und schuf genau die richtige Atmosphäre für diese Art Tätigkeit.

Ihre Mutter rollte an den Esstisch und begutachtete ein Paket verschnörkelter Serviettenringe. »Die hier habe ich immer gemocht.«

»Dann behalt sie doch.«

»Ich weiß nicht.« Sie legte sie zurück in den Karton. »Vermutlich würde ich sie nie benutzen. Und ich will nicht, dass du irgendwann noch mal durch die gleichen Sachen gehen musst, wenn es bei mir so weit ist.«

Branca blickte vom Boden hoch. Mama sah auf ein altes Gemälde, doch es machte nicht den Eindruck, als ob sie es wahrnähme. Ihr Blick schien direkt hindurchzugehen.

»Fällt es dir sehr schwer?«

Ein Schauer lief über Mamas Körper. »Was? Ach so. Nein, wie gesagt, ich brauche die ganzen Sachen ja nicht.«

»Das meinte ich nicht, Mam.«

Der Rollstuhl drehte sich in ihre Richtung. »Es geht, Liebes. Ich hatte fast sechs Monate Zeit, um Abschied zu nehmen. Am Anfang war es schwer. Als sie aus der Wohnung musste. Jetzt nicht mehr so sehr.«

Die Stimme ihres Vaters ertönte aus dem Schlafzimmer. »Bea? Was ist mit diesem Ungetüm von Pelzmantel? Verkaufen? Spenden?«

Ihre Mutter sah sie an, und Branca schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Auf den Shitstorm hab ich keine Lust. Wenn man so etwas im Internet verkauft, wird man hingestellt, als wäre man ein Psychopath. Auch wenn man dazuschreibt, dass es aus einem Nachlass stammt.«

»Ach, wirklich? Ist doch besser, als wenn die Leute einen neuen Pelz kaufen würden.«

»Tja.«

»Rüdiger? Der Pelz wird gespendet«, rief ihre Mutter.

»Und die Bettdecken?«

Mama seufzte und rollte zur Tür. »Dein Vater braucht mich wohl mehr als du.«

»Ja, das dachte ich schon, als ich ausgezogen bin.«

Brancas Mundwinkel hoben sich ein klein wenig. Sie zog sich den Stapel Zeitungspapier heran und begann, Teller darin einzuwickeln und in Kartons zu verstauen. Wenn sie sich hier so umsah, wären sie niemals innerhalb eines Monats fertig. Doch das hieße, dass ihre Eltern noch einen Monat Miete zahlen müssten. Sie sollte sich besser ranhalten.

Sie öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Für diese Arbeit brauchte ihr Gehirn Sauerstoff. Auf allen vieren krabbelte sie wieder zu dem Vitrinenschrank, in dem ihre Oma das Geschirr aufbewahrt hatte. Als Nächstes sollte sie wohl Sektgläser katalogisieren. Oder erst Servierplatten? Wer um alles in der Welt brauchte so viele Servierplatten, und warum klebte bei fast allen ein Namensschild auf der Unterseite? Vorsichtig zog sie den ganzen Stapel hervor. Darunter befand sich eine flache Pappschachtel mit Deckel. Sie zeigte das Logo eines Geschirrherstellers. Vermutlich noch mehr Platten.

Es klingelte an der Tür.

»Ich rolle schon«, rief ihre Mutter.

Branca fotografierte die erste Platte, dann die zweite. Vielleicht sollte sie die Dinger ausmessen, für die Beschreibung. Irgendwo hatte sie ein Maßband gesehen.

Sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Eine Frauenstimme drang in die Wohnung. »… schon gelesen?«

Papier raschelte, dann rief Mama: »Ach, das gibt’s ja gar nicht! Rüdiger, komm, das musst du dir ansehen!« Im nächsten Moment kam sie zurück ins Esszimmer, eine ältere Frau im Schlepptau. Es war die Nachbarin, die Branca schon auf der Beerdigung aufgefallen war. Sie nickten einander zu.

»Guten Morgen. Ich hab also richtig gehört, dass hier die letzten Tage jemand herumgekramt hat. Die Wände sind ja so dünn.« Die Frau sah sich um, und die Fältchen um ihre Augen vertieften sich. »Da haben Sie aber noch einiges vor.«

»Wollen Sie sich ein Andenken aussuchen?«, fragte Branca. »Wie wär’s mit einer Servierplatte?«

Die Frau lachte auf. »Ich glaube, im Wohnzimmerschrank hat Elisa auch noch welche.« Ihr Blick wurde wehmütig.

»O nein. Sagen Sie doch so etwas nicht.«

»Jetzt guckt doch mal, was Frau Gruber entdeckt hat«, sagte ihre Mutter und breitete die Zeitung aus, die auf ihrem Schoß lag. Es war die Ausgabe vom Vortag. »Rüdiger, komm schon her.«

Papa betrat den Raum, ein hautfarbenes Unterkleid über die Schulter geworfen. Er nickte Frau Gruber zu. »Hallo. Was gibt’s denn?«

»Einen Artikel über meine Mutter. Passt auf:« Mama räusperte sich. »Nach langer Krankheit musste die Gemeinschaft der Vertriebenen unseres kleinen Ortes Abschied nehmen von Elisa Bogner. Sie war die Tochter von Alfred Winkler und seiner Frau Anna, geb. Ludwig, und eins der ersten Kinder, das nach der Vertreibung in der neuen Heimat geboren wurde. Zeit ihres Lebens hat sie sich im Frauenverein der Vertriebenen engagiert und zahlreiche Treffen und Zusammenführungen organisiert.« Ihre Mutter ließ die Zeitung sinken. »Ich wusste überhaupt nicht, dass die so einen Nachruf planen.« Ihre Augen glänzten.

»Und ich wusste nicht, dass Omi so engagiert war.«

»Oh, Ihre Großmutter war eine echte Stütze der Gemeinschaft. Und das, obwohl sie selbst ja gar nicht in Schlesien geboren wurde. Ich glaube, sie hat es stellvertretend für ihre Mutter Anna getan, weil die es nicht mehr konnte.«

Branca nickte, ohne zu wissen, wovon die Frau redete. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie überhaupt nichts über die Geschichte ihrer Familie wusste. Schlesien? Vertriebene? Omi hatte das sicher mal erwähnt, allerdings hatte sie nie so richtig zugehört.

Jetzt ist es zu spät.

Frau Gruber wandte sich zum Gehen. »Ich will nicht länger stören. Wenn Sie wollen, lege ich Ihnen alte Zeitungen vor die Tür, als Einwickelpapier. Und den Artikel behalten Sie bitte auch.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Sie wird mir fehlen, die Elisa. Es war immer lustig mit ihr. Jetzt ist bald niemand mehr übrig.« Dann verschwand sie durch die Tür.

»Entschuldigt mich einen Moment«, murmelte Mama und rollte ins Bad. Zum Glück war es geräumig, und sie konnte sich ohne Hilfe darin bewegen. Obwohl Branca bezweifelte, dass sie zur Toilette musste.

»Was meinte Frau Gruber damit, dass Oma sich wegen ihrer Mutter so engagiert hat? Kanntest du sie?«

Papa setzte sich auf einen Stuhl und strich mit den Händen über die Tischdecke. »Anna? Nein, ich kannte sie nicht. Niemand kannte sie. Ich meine, Elisas Vater, der Alfred, der kannte sie natürlich schon, aber er hat nie über sie geredet. Sie starb bei Elisas Geburt. Deshalb hat deine Oma immer geglaubt, sie müsse sie ersetzen. Als wäre sie schuld an ihrem Tod oder so.«

»Omi ist ohne Mutter aufgewachsen?« Das hatte sie ebenfalls nicht gewusst, doch es erklärte einige ihrer Verhaltensweisen. »Wie furchtbar. Und warum hat Uropa nie über seine Frau geredet?«

»Ich weiß nicht genau. Er starb, kurz nachdem ich Bea kennengelernt habe. Die paar Male, die ich ihn getroffen habe, wirkte er immer sehr traurig. Wahrscheinlich konnte er ihren Tod einfach nicht verkraften. Ich meine, stell dir das mal vor, du überlebst den Krieg, dann wirst du aus deiner Heimat verjagt, musst in einem völlig fremden Dorf Fuß fassen, und nachdem du all das bewältigt hast, stirbt deine Frau.«

»Schrecklich.« Wie diese Anna wohl ausgesehen hatte? Sie sollte nach Fotos Ausschau halten. Im Wohnzimmer hatte sie einige Alben gesehen, die würde sie sich gleich heute Abend vornehmen. Omas Fernseher war ohnehin so winzig, dass ihr die Augen schmerzten.

Die Klospülung rauschte, und Branca bückte sich und angelte nach der Pappschachtel. Sie war auf einen gewichtigen Inhalt gefasst gewesen, doch der Karton war viel leichter als erwartet. Servierplatten waren das nicht.

Sie stellte die Schachtel auf den Tisch und hob den Deckel. Ein in Leder gebundenes Buch lag darin.

»Was ist das denn? Hat Omi Tagebuch geführt?« Der Einband war fleckig und die Seitenränder vergilbt. Ein muffiger Geruch ging davon aus.

Ihr Vater erhob sich. »Nicht, dass ich wüsste.« Er stellte sich hinter sie und sah ihr über die Schulter. »Schlag es mal auf, Liebes.«

Branca tat es. Auf der ersten Seite stand in verblasster Druckschrift Anna Ludwig und darunter Rogelwitz, 1941.

»Anna Ludwig, das ist doch Omis Mutter gewesen, oder nicht? Ihr Mädchenname.«

Ihr Vater nickte, sie fühlte, wie sein Kinn dabei über ihr Haar strich. »Und Rogelwitz ist der Ort in Schlesien, wo sie früher gewohnt hat. Vor der Vertreibung. Keine Ahnung, wie der jetzt heißt.«

»Wie der jetzt heißt?«

»Na ja, das ist ja jetzt in Polen, da kann er einen ganz anderen Namen haben. Aber ist schon witzig, dass deine Uroma uns nun zum zweiten Mal in so kurzer Zeit unterkommt. Mal abwarten, was wir noch von ihr entdecken.«

Solange es kein wertvoller Schmuck war, brachte es Branca allerdings leider nicht voran. Sie blätterte weiter, doch die Seiten waren allesamt mit einer völlig unleserlichen Schrift bedeckt. »Was ist das denn für eine Sauklaue?«

Papa beugte sich weiter vor und lachte leise. »Das ist Sütterlin, Liebes. Eine alte deutsche Schrift. Als ich klein war, hab ich das noch in der Schule gelernt, im dritten Schuljahr oder so. Aber nicht, um es zu schreiben, sondern nur, damit wir wissen, wie die Buchstaben aussehen. Hab ich ewig nicht mehr vor Augen gehabt.«

»Du kannst das lesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht einfach so. Vielleicht, wenn ich mich richtig drauf konzentriere. Es gibt Alphabete, mit denen man solche Texte übertragen kann.« Er ging zur Tür. »Aber jetzt muss ich mich wieder Elisas Nachthemden widmen, sonst bekomme ich Ärger mit der Chefin.«

Branca nickte abwesend, während sie weiterblätterte. Auf manchen Seiten waren detaillierte Bleistiftzeichnungen von Pflanzen und Vögeln. Sogar ein Frauengesicht war zu sehen, doch den Namen darunter konnte sie nicht entziffern. Brancas Uroma war ohne Zweifel sehr talentiert gewesen. Eine richtige Künstlerin.

Branca überflog die Seiten nach bekannten Formen. Erst auf den letzten Seiten wurde sie fündig. Da lag ein Zettel zwischen den Seiten, und auf dem wechselte die Schrift zu Druckbuchstaben, mit Bleistift geschrieben. Wenn sie sich nicht irrte, war das die Schrift von Oma Elisa. Ob sie diesen Abschnitt des Tagebuchs übersetzt hatte? Vielleicht, weil ihr die Worte etwas bedeuteten? Neugierig las Branca, was ihre Oma geschrieben hatte.

So muss ich es jetzt verlassen, mein Rogelwitz. Es ist mein Heimatort, und das ist immer der schönste Ort. Da, wo man groß geworden ist, auch wenn es nur ein winzig kleines Dorf ist. Ich blicke zurück auf die alte Oberförsterei, die Villa mit der Sommerlaube aus Glas am Giebel. Sie ist der Mittelpunkt des Ortes, und war so lange der Mittelpunkt meiner ganzen Welt, und meiner ganzen Liebe.

In Brancas Hals hatte sich ein Kloß gebildet, und sie schluckte ihn herunter. Ganz hinten, direkt beim Buchdeckel, steckte ein weiteres loses Blatt. Bevor sie es herausziehen konnte, ging die Tür auf, und ihre Mutter rollte hinein. Ihre Augen waren gerötet, doch sie wirkte gefasst.

»Uh, das ist aber frisch hier drin. Machst du mal das Fenster zu?«

»Das Einzige, das hier frisch ist, ist die Luft.« Dennoch stand sie auf und schloss das Fenster. Dann setzte sie sich wieder vor das Buch.

»Was hast du da, Liebes?«

»Das Tagebuch von Anna, deiner Oma.« Hoffentlich verlor ihre Mutter nicht gleich wieder die Fassung.

Doch sie wirkte eher interessiert als gerührt. »Zeig mal.« Sie fuhr an den Tisch und zog es zu sich heran. Dann ließ sie die Seiten durch die Finger gleiten. Bei einer der Zeichnungen stoppte sie. »Schau mal.« Sie zeigte darauf. Ein kleines Mädchen, das auf einer Wiese lag und in den Himmel sah. »Jetzt wissen wir endlich, woher du dein künstlerisches Talent hast.«

Drei

Rogelwitz, 12. Mai 1944

Anna lag im Gras und sah in den Himmel. Wolkenfetzen trieben in irrsinniger Geschwindigkeit über den blauen Hintergrund. In ihren Gedanken nahm sie die weiße Masse in die Finger und formte daraus Figuren. Es entstand ein Häschen, das einer Karotte hinterherhüpfte. Doch der Wind zog das Häschen in die Länge, und es wurde zu einem Flugzeug. Keins, mit dem reiche Leute in den Urlaub flogen, sondern eins, wie sie es in den letzten Jahren zur Genüge über sich hatten hinwegdonnern sehen.

Anna richtete sich auf. Neben ihr lag Hermile im Gras und schnarchte leise. Ein Stück weiter saß die Mutti mit Tante Liesel auf einem großen Findling und biss von ihrem Butterbrot ab. Noch machten sie keine Anstalten, wieder aufzustehen. Vermutlich hatten sie an diesem herrlichen Tag genauso wenig Lust, Kartoffeln zu stecken, wie sie selbst. So wie die Sonne strahlte, konnte man die Schrecken der letzten Zeit fast vergessen.

Gertrud und Alfred rannten über die Wiese, die ans Feld grenzte. Immer wieder bückten sie sich und hoben irgendwas aus dem Gras auf. Schließlich kamen sie zu ihnen herüber.

Gertrud hatte die Schürze voller Angeblümlein. Sogar in ihren dunkelblonden Zöpfen steckten einige Blüten. Sie kniete sich hin und begann, sie zu einem feinen Kranz zu flechten. Auch Alfred hatte Blumen gepflückt. Er blieb in einiger Entfernung stehen und bohrte mit seinem schlechten Fuß in einem Maulwurfshügel herum. Den Strauß hielt er in seinen schmutzigen Fingern.

Anna lächelte ihn an. Er war etwa ein Jahr älter als Gertrud und damit eigentlich viel zu alt, um mit ihr Blümlein zu sammeln. Allerdings hatte sie gehört, wie seine Mutter hinter vorgehaltener Hand erzählte, dass er etwas langsamer sei als die anderen Jungen in seinem Alter, und damit meinte sie nicht die Tatsache, dass er das linke Bein nachzog beim Laufen. Das immerhin bewahrte ihn bislang noch vor der Front, und er war immer höflich und half mit, wo er konnte.

»Schaut mal, Hermiles Schuh«, sagte Gertrud kichernd und zeigte auf das Loch an der Spitze.

Gut, dass Hermile schlief, sie hätte sich sonst sehr geschämt. Nicht für ihre Schuhe, sondern für ihren Vater, der die Kleiderbezugskarten der Familie gegen Schnaps eingetauscht hatte. »Na und? Nicht jeder hat so viel Glück wie du, dass die liebe große Schwester gut auf ihre Schuhe achtgibt und sie aussehen wie neu.«

»Dafür müffeln ihre bestimmt nicht so wie meine, mit dem riesigen Lüftungsloch.« Gertrud schnippte den Zeigefinger gegen Hermiles großen Zeh. Diese erwachte mit einem Grunzen, und Gertrud lachte auf. Verwirrt blickte ihre Freundin um sich.

»Was? Bin ich eingenickt? Wie spät ist es denn?« Sie streckte sich und rieb die Augen.

Anna beugte sich zu ihr und zupfte ein paar Grashalme aus ihren dunklen Locken, die sich mal wieder nicht vom Kopftuch bändigen ließen. »Pst. Noch können wir ein bisschen ausruhen, aber beschwör es nicht herauf!« Sie nickte zu den älteren Frauen hinüber, die ihre Gesichter inzwischen in die Frühlingssonne hielten, die Lider geschlossen.

Hermile setzte sich auf. »Und was hast du so zu lachen, du kleine Kröte?« Mit dem Zeigefinger pikste sie Gertrud in die Seite.

Diese quietschte, und der Blumenkranz rutschte ihr vom Kopf. »Kröte, musst du gerade sagen!« Sie schob sich von Hermile weg und brachte sich in Sicherheit vor deren Fingern. Dann zeigte sie auf Alfred. »Alfi hat jemandem Blumen gepflückt. Alfi, willst du sie nicht deiner Liebsten geben?«

Alfreds Gesicht verfärbte sich rötlich. Anna ahnte bereits, worauf das hinauslief, und senkte den Blick. Sie wollte den Jungen nicht verletzen, ihn aber auch nicht in seiner Schwärmerei bestärken. Immerhin war sie gut fünf Jahre älter als er. Zu Gertrud passte er vom Alter her viel besser.

Doch Alfred bückte sich zu ihr herunter und drückte ihr und nicht Gertrud den Strauß in die Hände. »Für dich, Anna.«

Anna nickte ihm zu. »Vielen Dank, die sind sehr hübsch.«

Sie teilte die Blumen auf drei Sträuße auf und gab einen Hermile und einen Gertrud. »Viel zu schön für einen einzelnen Menschen!«

Ausgerechnet in dem Augenblick bogen Robert und zwei seiner Freunde um die Ecke. Richtig, sie waren für zwanzig Tage auf Fronturlaub, was natürlich nicht hieß, dass sie Freizeit hatten. Sicherlich waren sie auf dem Weg, um im Wald zu arbeiten, und durften nicht zu spät kommen. Sie näherten sich rasch. Hermile stöhnte auf, und auch Gertrud legte die Stirn in Falten.

Hoffentlich gingen sie einfach vorbei.

»Ach nein, wen haben wir denn da?«, rief Robert zu ihnen herüber.

Anna zwang ihre Mundwinkel nach oben und hob die Hand. »Hallo, Robert.« Wenigstens konnte er sich vor ihrer Mutter und der Schwester ihres Vaters nicht allzu sehr danebenbenehmen. Hermile und Gertrud winkten ebenfalls kurz und sahen sofort wieder weg. Hermile nahm eine Handvoll dunkler Erde in die Hände und drückte sie zusammen. Alfred hob nicht einmal den Kopf. Er ahnte wohl, was nun folgen würde.

Robert war auf dem Feldweg stehen geblieben. »Was macht der Simpel denn bei euch? Hilft er euch bei der Frauenarbeit? Oder nein, nicht einmal das. Er pflückt Blümlein, wie es sich für ein nettes Mädel gehört!«

Seine Freunde lachten, doch einer von ihnen, die anderen nannten ihn Ewi, blickte immer wieder zu den älteren Frauen auf dem Stein.

Robert schien sie gar nicht zu bemerken. »Himmelt er dich wieder an, Anna? Sag Bescheid, wenn du lieber von einem richtigen Mann beschenkt werden willst!«

Tante Liesel und die Mutti hatten die Augen geöffnet. Liesel stand auf und strich sich den Kittel glatt. Sie war eine stattliche Erscheinung mit Unterarmen wie ein Holzfäller. Ewi packte Robert am Arm und zog ihn weiter.

»Der Alfi hat wenigstens Manieren!«, schrie Gertrud Robert hinterher. Als dieser sich losriss und einen großen Schritt in ihre Richtung machte, sprang sie aus dem Gras auf.

Die Mutti räusperte sich. »Genug jetzt. Wir haben alle zu tun.« Sie wandte sich an die drei jungen Männer. »Ihr sicher auch. Oder soll ich eure Mütter bitten, euch weitere Aufgaben zuzuteilen, damit ihr nicht auf Dummheiten kommt?«

Robert tippte sich an die Mütze. »Zu Befehl, die Damen.«

Anna sah ins Gras und sagte nichts, bis Robert verschwunden war. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie hatte gehofft, dass er sie vergessen würde, während er an der Front war, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein. Inzwischen biederte er sich sogar bei ihren Eltern an. Kein Wunder, hatte er es doch garantiert mehr auf den Hof abgesehen als auf sie. Hoffentlich wurde er bald wieder zurückbeordert. Im gleichen Moment schämte sie sich für diesen Wunsch. Es konnte sein Todesurteil bedeuten.

Tante Liesel näherte sich ihnen. »So, Mädels, genug gefaulenzt. Die Kartoffeln stecken sich nicht von allein. Wir wollen heute noch mindestens zwei Furchen schaffen.«

»Und dann? Sind wir dann fertig für dieses Jahr?«, fragte Gertrud und hob ihren Blumenkranz auf.

»Nein, Gerti, dann machen wir bei dem Feld in Buchengrund weiter.« Die Mama bückte sich nach der Hacke. »Auf, auf. Du natürlich auch, Alfi. Wir können deine Hilfe wirklich gut gebrauchen.«

Armer Alfred.

Alle erhoben sich und gingen wieder aufs Feld. Anna blickte zurück zu der Stelle, an der sie gesessen hatten. Auf dem plattgedrückten Gras hockte eine winzige Figur aus gepresster Erde und blickte hinter ihnen her. Es war ein Häschen. Sie sah zu ihrer Freundin hinüber. Unter Hermiles Nägeln klebte noch feuchter Dreck.

Vier

Branca klebte den letzten Karton mit Geschirr zu und beschriftete ihn. Auf dem Tisch lagen mehrere dicht beschriebene Seiten, und ihr Handy gab eine Fehlermeldung wegen mangelnden Speicherplatzes von sich. Je schneller sie alles in irgendwelchen Kleinanzeigen hochlud, desto besser.

Ihr Vater schleppte einen weiteren Müllbeutel voller Kleidung aus dem Schlafzimmer. Ein Stück Fell guckte oben heraus. »Das ist noch einer für die Kleidersammlung.« Er stellte ihn in den Flur neben die anderen. »Und du willst wirklich nicht im Bett schlafen, Liebes? Wir können es ganz fix frisch beziehen.«

Branca schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Das kommt mir irgendwie seltsam vor. Ich bleibe auf dem Sofa, wie die letzten drei Nächte auch schon.«

Sie drückte sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Hier hatten sie noch gar nicht angefangen, die Schränke auszuräumen. Hoffentlich behielt die nette Nachbarin nicht recht mit den Servierplatten. Sie legte das Tagebuch ihrer Urgroßmutter auf den Couchtisch, damit sie es sich am Abend genauer ansehen konnte. Dann schob sie ihre Reisetaschen in die Ecke neben dem Sofa, streckte die Arme in die Luft und gähnte.

Auch ihr Vater riss die Kiefer auseinander und kniff die Augen zusammen. »Ja, ist schon gut. Du könntest auch einfach sagen, dass wir gehen sollen.« Sein Magen gab ein Grummeln von sich. »Kommst du noch mit zu uns, zum Essen?«

»Nein, danke. Ich bestelle was und mache es mir gemütlich.« Aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis, allein zu sein. Es gab viel, worüber sie nachdenken musste. Sie schaltete die Stehlampe neben dem Sofa ein, um das trübe Licht des Regentages zu verscheuchen. Die Lampe versagte dabei, ihr fahles Licht machte den Raum nur noch trüber. Bestimmt hatte die sparsame Oma Elisa wieder die billigste Energiesparbirne eingeschraubt. Es nervte sie seit Tagen, doch Branca vergaß es immer wieder, sie auszuwechseln.

»Vielleicht erstelle ich schon mal ein paar Verkaufsangebote. Dann hab ich es hinter mir.«

Was machte sie sich vor? Auf keinen Fall würden Omas Sachen ihre Schulden bei Daniel decken. Doch vielleicht ließ er sich zu einer Ratenzahlung überreden, wenn sie wenigstens einen Teil bezahlen konnte. Oder er rückte in dem Fall auch nur einen Teil der Skulpturen heraus. Wenigstens hätte sie dann ein paar Werke, die sie ausstellen könnte. Sie hatte ein wirklich gutes Gefühl dieses Mal. Wenn sie zwei oder drei Stücke verkaufte, hätte sie genug Geld, um den Rest auszulösen.

Dafür muss Daniel erst mal mitspielen.

Wie dem auch sei, es war müßig, darüber nachzudenken. Dieses Problem ließ sich nur durch Taten lösen. Sie rieb sich die Stirn, dann öffnete sie den Schrank unter dem Fernseher. Ein Stapel Gesellschaftsspiele in zerfledderten Kartons rutschte ihr entgegen.

Ihr Vater sah ihr kopfschüttelnd zu. »Oje. Ich bring schon mal ein paar Säcke zum Auto. Sag Mama, ich komme gleich wieder und hole sie. Ich will nicht, dass sie allein in diesem klapprigen Fahrstuhl fährt.«

»Nimm den Schirm mit, Paps.«

»Ja, ja. Ich bin ja nicht aus Zucker.« Schon war er verschwunden.

»Was hat er gesagt?«, rief Mama aus der Küche. »Ich bin schon hundert Mal ohne ihn mit dem Lift gefahren. Der ist völlig in Ordnung. Sag das Papa.«

»Ja, Mam.« Ihre Mutter war verrückt. Um nichts in der Welt würde Branca in dieses Ding steigen. Lieber lief sie die sechs Stockwerke zu Fuß. »Ich sag’s ihm. Falls er jemals wiederkommt.«

Es klingelte an der Tür. So viel dazu.

»Machst du ihm auf, Liebes? Bestimmt hat er wieder den Autoschlüssel vergessen. Der muss hier irgendwo liegen.«

Die Reifen von Mamas Rollstuhl quietschten über das Linoleum. Branca quetschte die Spiele zurück in den Schrank, erhob sich und ging zur Tür.

Sie öffnete. »Die Autoschlüssel sind in der …« Die Worte blieben irgendwo auf dem Weg zwischen Gehirn und Mund hängen. Ein junger Mann stand vor ihr, die langen Haare feucht. Dunkle Flecken breiteten sich auf den Schultern seiner Jeansjacke aus. Er lächelte sie an.

»Sie sind nicht mein Vater«, sagte sie.

Na klasse. Eine fantastische Geistesleistung, die sie da vollbracht hatte.

Er schüttelte den Kopf und schleuderte Tropfen davon. Einer traf Brancas Lippe, und sie wischte ihn weg.

»Oh, Verzeihung. Nein, bin ich wohl nicht. Tut mir … Ich weiß gar nicht, ob ich hier richtig bin. Ich bin Sven.«

Aller Wahrscheinlichkeit nach war er hier nicht richtig. Oder es gab noch mehr, das sie nicht über ihre Oma wusste.

»Zu wem wolltest du denn?«

»Zu wem … Das ist eine gute Frage. Eigentlich weiß ich das gar nicht.« Er zog etwas aus der Jackentasche. Es war ein Ausschnitt aus einer Zeitung, und er hielt ihn Branca unter die Nase. Sie blickte auf den Artikel über ihre Oma, den Frau Gruber vorbeigebracht hatte.

»Ist das hier die Wohnung von Elise Bogner?«, fragte er und zeigte auf den Namen.

»Elisa«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Ja, das ist sie. Oder besser gesagt war sie das.«

Svens Brauen zogen sich zusammen. »O verdammt, ich Trottel. Du bist natürlich eine Verwandte. Ich möchte dir gerne mein Beileid aussprechen.« Er sah auf seine Füße, die in schweren Boots steckten und die er vor und zurück bewegte, als ob er in Zeitlupe einen Fußabtreter benutzte.

»Danke. Schon gut. Warum willst du das wissen?«

Obwohl er größer war als Branca, grinste er sie von unten herauf an. »Ich bin wirklich nicht gut in so etwas. Wahrscheinlich hätte ich lieber noch ein paar Tage warten sollen. Aber ich hatte Angst, dass ich die Spur dann wieder verliere.«

Branca atmete tief. Sie hatte wirklich zu viel zu tun und war zu müde, um hier die Zeit zu vertrödeln mit irgendeinem Kerl, der nicht zur Sache kam.

Einem Kerl, der dir unter anderen Umständen gefallen würde.

Andererseits konnten Kerle ihr zurzeit wirklich gestohlen bleiben. »Welche Spur?«, versuchte sie ihr Unterbewusstsein mit Worten zu übertönen.

Hinter ihrem Rücken polterte es, als ihre Mutter die Küchentür aufstieß. »Oh. Hallo. Sie sind nicht mein Mann.«

Sven zog einen Mundwinkel hoch. »Heute scheine ich alle Frauen, die mir begegnen, zu enttäuschen.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Mama. »Können wir Ihnen irgendwie weiterhelfen? Waren Sie ein Bekannter meiner Mutter?«

»Ihrer … Mein herzliches Beileid.« Er räusperte sich. »Nein. Ich kannte Ihre Mutter nicht. Bis gestern wusste ich nicht einmal, dass es sie gibt. Gab.« Verlegen fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. »Ich hätte wirklich nicht so hereinplatzen dürfen, auch noch an einem Sonntag.« Er wandte sich zum Gehen.

Branca seufzte. »Bist du ja schon. Dann kannst du auch eben sagen, warum.«

Willst du etwa nicht, dass er geht?

»Eigentlich wollte ich nur wissen … Also, mein Uropa ist kürzlich verstorben. Und in der Zeit vor seinem Tod war er etwas durch den Wind.«

»Durch den Wind?«, fragte Mama.

Sven nickte. »Verwirrt. Hat immer so Zeug von früher erzählt und so getan, als würde er sich mit jemandem unterhalten. Und eine dieser Personen, mit denen er gesprochen hat, hieß Anna. Anna Ludwig. Und als ich gestern zufällig den Artikel in der Zeitung gelesen hab, da dachte ich, das kann doch nicht diese Anna gewesen sein?«

Ihre Mutter rollte neben Branca. »Möglich wäre das schon. Kam Ihr Urgroßvater aus Schlesien?«

Erneut nickte Sven. »Ja, aus einem ganz kleinen Ka… Örtchen. Moment, ich hab mir den Namen notiert.« Aus der Tasche seiner Jacke förderte er ein paar Fitzelchen Papier zutage, bei denen es sich hauptsächlich um Kassenbons handelte. Geschickt wie ein Kartenspieler sortierte er sie von einer Hand in die andere, bis er bei einem hängenblieb.

»Ah, hier ist es.« Er kniff die Augen zusammen. »Rugefwitz, glaub ich. O Mann, ich kann meine eigene Sauklaue nicht entziffern.« Wieder grinste er dieses schiefe Grinsen.