Das Erbe der Schokoladenfabrik - Katja Segin - E-Book
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Das Erbe der Schokoladenfabrik E-Book

Katja Segin

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Beschreibung

Ein gestohlenes Erbstück und die Geheimnisse einer alten Schokoladendynastie
Das mitreißende Familiengeheimnis über Liebe, Schuld und neue Chancen

Als Charlie kurz nach der Beerdigung ihres Großvaters auf dem Dachboden ein sorgfältiges verstecktes Collier findet, könnten die Geldprobleme ihrer Großmutter mit einem Schlag gelöst sein. Doch dafür muss sie erst einmal herausfinden, was es mit dem wertvollen Schmuckstück auf sich hat. Ihr einziger Anhaltspunkt ist ein altes Bild ihres Großvaters, auf dem er eine fremde, schwangere Frau umarmt und der Name Lambert, der auf dessen Rückseite steht. Auf ihrer Suche stößt sie auf die Schokoladendynastie Lambert und deren charmanten Sohn Phil, der sich ebenfalls mit der Geschichte des Colliers beschäftigt. Es dauert nicht lange bis sie gemeinsam auf ein dunkles Geheimnis stoßen, das ihre Familien auf tragische Weise verbindet …

Erste Leser:innenstimmen
„Eine wundervolle Mischung aus Spannung, Romantik, Drama und Familiengeschichte.“
„Mitreißender Familienroman, der eine spannende Geschichte mit emotionalen Wendungen und einer aufregenden Schatzsuche kombiniert.“
„Die Beschreibung der Villa und der Schokoladendynastie entführt den Leser in eine glamouröse Welt voller Geheimnisse und Intrigen. Ein wahrer Pageturner!“
„Bewegende Geschichte über Liebe und Vergebung, klare Leseempfehlung.“

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Seitenzahl: 470

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Über dieses E-Book

Als Charlie kurz nach der Beerdigung ihres Großvater auf dem Dachboden ein sorgfältiges verstecktes Collier findet, könnten die Geldprobleme ihrer Großmutter mit einem Schlag gelöst sein. Doch dafür muss sie erst einmal herausfinden, was es mit dem wertvollen Schmuckstück auf sich hat. Ihr einziger Anhaltspunkt ist ein altes Bild ihres Großvaters, auf dem er eine fremde, schwangere Frau umarmt und der Name Lambert, der auf dessen Rückseite steht. Auf ihrer Suche stößt sie auf die Schokoladendynastie Lambert und deren charmanten Sohn Phil, der sich ebenfalls mit der Geschichte des Colliers beschäftigt. Es dauert nicht lange bis sie gemeinsam auf ein dunkles Geheimnis stoßen, das ihre Familien auf tragische Weise verbindet …

Impressum

Erstausgabe November 2023

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-386-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-400-2

Covergestaltung: ArtC.ore-Design / Wildly & Slow Photography unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Falko Göthel, © kabir, © Ayesha, © Farantsa Lektorat: Astrid Rahlfs

E-Book-Version 11.04.2024, 10:03:52.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Das Erbe der Schokoladenfabrik

Für Margot.

So war es in Wahrheit vermutlich nicht. Aber lass uns noch mal auf dem Dachboden suchen.

Kapitel 1

Charlotte starrte aus dem Fenster und ließ die Landschaft an sich vorbeirauschen. Bäume, Strommasten, Windkrafträder. Ab und zu ein Bauernhaus. Ihre Finger drehten den Goldring an ihrem Ringfinger. Doch sie nahm all das nur am Rande wahr. Mit den Gedanken war sie ganz woanders.

Dass er das nicht für dich tut.

Sie rauschten durch einen Tunnel, und unvermittelt sah sie statt der Landschaft in ihr eigenes blasses Gesicht. Kein Lächeln, doch das wäre dem Anlass ja auch nicht angemessen. Schließlich verlangsamte der Zug sein Tempo, und sie fuhren in den nächsten Bahnhof ein. Sie versuchte, die vorbeisausenden Schilder zu entziffern. Immer noch nicht ihrer. Noch lange nicht.

Charlie sah auf die Uhr und seufzte. Rechtzeitig käme sie auch nicht an. Unmöglich, dass der Zug diese Verspätung noch aufholte. Es nützte nichts. Sie musste ihren Vater anrufen. Sonst stand er gleich am Bahnhof und wartete völlig umsonst auf sie. Was er sagen würde, war klar: Warum bist du nicht früher gefahren, wie ich es dir vorgeschlagen hatte? Warum wohnst du überhaupt so weit weg? Eine Kanzlei kann man auch bei uns eröffnen. Als wolltest du vor deiner Familie fliehen!

In ihrer Kehle grollte es. Zum Glück saß niemand neben ihr, der sich hätte gestört fühlen können.

Sie sollte den Anruf schnell erledigen, solange sie im Bahnhof standen. Bei dem Gewusel der ein- und aussteigenden Leute, die sich gegenseitig anrempelten und anmotzten, fiele eine weitere Stimme gar nicht auf. Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche. Dabei streiften ihre Fingerspitzen die Praline, eingewickelt in golden schimmernder Folie. Ihre Lieblingssorte, sie hatte sie vorhin auf dem Weg nach draußen noch schnell eingesteckt. Ab und zu musste man sich einfach etwas gönnen. War es schon so weit? Pralinenzeit?

Vielleicht nach dem Anruf. Sie entsperrte ihr Telefon und öffnete das Menü der häufig gewählten Nummern. Sie musste ziemlich weit herunterscrollen, bis sie die Festnetznummer ihrer Eltern entdeckte. Möglicherweise hatte ihr Vater nicht ganz Unrecht. Sie meldete sich nicht allzu oft. Doch war das wirklich eine Flucht?

Und wenn, dann nicht ohne Grund.

Ein tiefer Atemzug, dann drückte sie auf den grünen Hörer. Es dauerte einen Moment, bis sich die Verbindung aufbaute. Dann erschien das Bild ihrer Eltern auf dem Display. Sie hatten die Arme beieinander untergehakt und strahlten in die Kamera.

Eine alte Aufnahme.

Es klingelte lange. Erst, als der Zug sich bereits wieder in Bewegung setzte, knackte es im Lautsprecher. Charlie hielt die Luft an und wappnete sich gegen was auch immer sie zu erwarten hatte.

»Wiel.«

»Hallo, Papa. Ich bin es.«

»Charlotte? Was ist los? Bist du etwa noch nicht unterwegs?«, erklang die Stimme ihres Vaters in dem Knopf in ihrem Ohr.

Eine typische Begrüßung. Kein Hallo, kein Wie geht es dir. Direkt in medias res.

Er ist gestresst. Das wärst du auch in seiner Situation.

Was Unsinn war. Denn sie war ja in der Tat selbst gestresst. Es war schließlich ihr Großvater, für den sie zurück in die Heimat fuhr.

»Doch, ich bin auf dem Weg.« Eigentlich müsste er das doch hören.

»Dann ist gut. Ich wollte gerade losfahren, um dich abzuholen. Wir müssen dann auch gleich weiter. Du bist doch passend angezogen?«

Instinktiv sah Charlie an sich hinab. Sie trug ein etwas spießiges schwarzes Kleid und elegante gleichfarbige Stiefel. Mit spießiger Kleidung in gedeckten Farben konnte sie dienen. Immer ordentlich. Obwohl das im Augenblick wirklich nicht das Wichtigste sein sollte. Mit den Fingerspitzen der freien Hand zupfte sie ein langes blondes Haar von der Brust, bevor sie antwortete. Das hätte Christoph wieder wahnsinnig gemacht. So gesehen gut, dass er nicht dabei war.

»Ja, bin ich«, erwiderte sie. Ihre Finger spielten mit dem knisternden Pralinenpapier. »Aber …«

»Charlotte, wenn ich jetzt nicht losfahre, kommen wir zu spät. Der Weg zum Bahnhof ist schon ein ganz schöner Umweg.«

Sie zuckte zusammen. Ganz ohne Spitze ging es wohl einfach nicht. Oder lag es an ihr? War ihre Beziehung einfach so belastet, dass sie jedes Wort auf die Goldwaage legte und das Gewicht der Kritik abmaß? Auf die Kritikwaage ihretwegen? Vielleicht meinte er es nicht so.

Doch, das tut er. Und das weißt du auch genau.

»Du musst mich nicht abholen, Papa. Fahrt ihr ruhig direkt zum Friedhof.« Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Sie versuchte, zu schlucken. Vergeblich, er steckte fest, und ihre Wasserflasche war unerreichbar in der Gepäckablage.

»Ach, nicht?« Der Tonfall ihres Vaters hatte sich geändert. Es klang, als hätte er sich hingesetzt. Vor Charlies innerem Auge sah sie ihn auf der Holzbank neben dem Telefonapparat im Flur sitzen, mit geradem Rücken, Knie und Füße in einer direkten Linie. Bestimmt hundertmal hatte sie ihn früher genauso dasitzen sehen. Nur der Bezug des Sitzkissens hatte mit der Zeit mal seine Farbe geändert. Sogar nachdem sie, viel später als alle anderen, zu einem schnurlosen Telefon gewechselt waren, telefonierte ihr Vater nur dort, im Flur, auf dieser Bank. Bloß nicht die Gewohnheiten ändern. Und immer Haltung bewahren.

»Ich komme allein zum Friedhof«, sagte Charlie und presste die Kiefer zusammen. Klar käme sie da irgendwie hin, und wenn sie Geld für ein Taxi ausgeben musste. Die Frage war nur, wann.

»Aha.«

Stille. Oder hörte sie, wie seine Zähne aufeinanderrieben? »Hat er dir doch das Auto gegeben?«

Als wäre das sein Auto und nicht ihr gemeinsames. Doch Christoph sah es vermutlich genauso wie ihr Vater.

»Nein, hat er nicht …«, presste Charlie hervor. Sie hasste es, dass sie dabei wieder wie die Jugendliche klang, die sich vor ihrem Vater rechtfertigte. Änderten sich manche Dinge eigentlich nie? Wann wäre sie endlich alt genug, um von ihm als Erwachsene wahrgenommen zu werden?

Mit zweiunddreißig offensichtlich noch nicht.

Lass dich jetzt nicht zu einem Streit hinreißen. Nicht heute! Das hast du dir geschworen!

Streit vermeiden konnte sie richtig gut, seit sie mit Christoph verheiratet war.

»Ist er doch mitgekommen?« Die Stimme ihres Vaters klang nicht so, als hielte er das für sonderlich wahrscheinlich. War es auch nicht. Vielleicht hatte er Christoph immer schon am besten eingeschätzt.

»Nein. Ich sitze im Zug. Aber …«

»Aber du kommst zu spät.«

Er betonte es nicht wie eine Frage. Natürlich nicht, er kannte sie ja bereits gut genug, um zu wissen, worauf das hinauslief. Charlotte, die Chaosqueen. Charlotte, die nichts zu einem guten Ende brachte. Charlotte, auf die man sich besser nicht verließ.

Sie drehte die Praline in der Hand. Die glänzende Verpackung reflektierte das Licht und warf ein warmes Muster an die Decke des Abteils. Ein kleines Mädchen im gegenüberliegenden Vierer hatte es entdeckt und starrte es mit offenem Mund an. Wie schön, wenn man von so etwas noch fasziniert war.

Darüber war sie leider hinaus. Und ihr Vater schon längst. Also, raus mit der Wahrheit.

»Der Zug hat Verspätung.«

Ein Seufzen am anderen Ende. »Natürlich.«

Charlie wartete. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es nicht darauf beruhen lassen würde.

Allzu lange musste sie nicht warten. »Charlotte. Wie oft haben deine Mutter und ich dir früher schon gesagt, dass du …« Er unterbrach sich und setzte erneut an. »Pünktlichkeit ist …« Wieder eine Pause. »Und die Deutsche Bahn … da muss man einfach früher fahren. Das weiß man doch!«

»Ja, ich weiß.« Charlie konnte über die noch viel zu große Entfernung hinweg spüren, wie es in ihm brodelte. Es würde nichts bringen, ihm zu sagen, dass sie bis vorhin noch in Christophs Vorzimmer gesessen und einen wichtigen Mandanten empfangen hatte. Das war schließlich ihr Job. Sie konnte nicht einfach alles stehen und liegen lassen.

»Es ist die Beerdigung meines Vaters!«

»Ja. Weiß ich.«

»Deines Großvaters!« Vermutlich war ihm gerade erst eingefallen, dass Charlie ebenfalls eine verwandtschaftliche Beziehung zu dem Verstorbenen hatte. Wenigstens das, das ließ sich wohl nicht leugnen.

»Ja. Es tut mir leid.«

Was sollte sie auch anderes sagen? Der Zug war abgefahren. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie beschleunigten bereits, und das Geräusch der Räder auf den Schienen übertönte ihre Worte beinahe. Metall kreischte, als sie sich in eine Kurve legten.

»Charlotte, also wirklich! Von Tut mir leid kann ich mir jetzt auch nichts kaufen!«

Wieso ihr Vater dauernd alles in eine Währung umrechnen musste, würde Charlie wohl nie verstehen. »Nein. Kannst du nicht.«

»Was soll ich denn sagen, wo du bist? Im Zug?«

Als wäre das so schlimm. »Ist ja so, Papa.« Charlie bemühte sich, nicht genervt zu klingen, doch es fiel ihr immer schwerer.

»Andere Leute in deinem Alter haben ein Auto. Und kommen pünktlich zur Beerdigung ihrer Verwandtschaft.«

Wenn sie nicht aufpasste, redete er sich noch weiter in Rage. »Normalerweise brauchen wir nur ein Auto.« Das war der Vorteil, wenn man mit seinem Ehemann zusammenarbeitete. Und kein anderweitiges Leben hatte.

»Charlotte! Wie das wieder aussieht.«

»Ja.« Sie war erneut die Schande der ganzen Familie. Gleich fing er sicher mit den Nachbarn an.

»Und was die Nachbarn wohl sag …«

»Papa, wir fahren gerade in einen Tunnel. Ich komme so schnell, wie ich kann. Wir sehen uns.« Mit diesen Worten drückte sie einfach auf den roten Hörer. Ein für diese Situation viel zu fröhliches Piepen ertönte in ihrem Ohr, dann folgte Stille. Was blieb, war das Geräusch des Zuges.

Charlie warf die Praline zurück in ihre Tasche. Ihr war der Appetit vergangen. Sicher war das Teil inzwischen längst zu einem Klumpen verschmolzen. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie brannten, jedoch nicht vor Trauer um ihren Großvater. Auch nicht aus Scham, weil sie sich in den Augen ihrer Eltern schon wieder danebenbenahm. Nicht mal aus Ärger über Christoph, dessen Arbeit mal wieder wichtiger gewesen war als alles andere. Es war irgendwie alles. Alles zusammen.

Warum konnte es nicht endlich mal wieder gut laufen?

Beinahe eine Stunde, nachdem die Beerdigung anfangen sollte, stieg Charlie in ihrer alten Heimat Paderborn aus dem Zug. Neunzig Minuten Verspätung. Wenigstens bekäme sie einen Teil des Geldes zurück. Jedenfalls, wenn sie es schaffte, dieses Formular auszufüllen.

Christoph würde sich freuen.

Kaum war sie draußen, piepte ihr Handy. So viel zum WLAN im Zug. Es war eine Nachricht von ihrer Freundin Bea.

Ich denk an dich. Du packst das.

Ein warmes Gefühl machte sich in ihr breit, das sie gut gebrauchen konnte.

Sie scrollte durch die Liste ihrer Chats, doch von Christoph war nichts gekommen. Sie klickte den Chat mit ihm an. Er war online. Wem er wohl schrieb? Sicher hatte er wieder was mit Katrin zu besprechen, der Anwältin, die ihre Kanzlei unter ihrer hatte.

Kurz erwog sie, ihm eine Nachricht zu schicken, dass sie gut angekommen war, verwarf das jedoch wieder. Sie hatte es schließlich eilig. Und wenn es ihn interessierte, konnte er ja fragen.

Du willst nur, dass er bemerkt, wie verletzt du bist.

Doch für den ein Herz umarmenden Smiley für Bea war noch Zeit. Musste, sie hatte immerhin auch an sie gedacht.

Mit ihrer eleganten Reisetasche über der Schulter lief Charlie den Bahnsteig entlang. Immer repräsentativ auszusehen, das war ihr inzwischen ins Blut übergegangen. Ihr Blick fiel auf den Fahrplan im Schaukasten. Einen Augenblick lang erwog sie, einfach direkt wieder zurückzufahren. Musste sie sich den Ärger wirklich noch antun? Doch dann würde ihre Fahrkarte verfallen, die sie bereits gekauft hatte, kaum dass sie von dem Termin der Beerdigung gewusst hatte. Und, wie Christoph nicht müde wurde, zu betonen, er arbeitete hart für ihr Geld. Da sie bei ihm angestellt war, musste er das Geld, das sie verdiente, selbst erst erarbeiten. Er schaffte es immer, ihr das Gefühl zu geben, dadurch weiter darüber entscheiden zu können. Als sei sie völlig von seiner Gunst abhängig. Und er hasste es, wenn sie unnötige Ausgaben machte.

Außerdem war sie ja nicht wegen der Beerdigung hier. Nicht wirklich jedenfalls. Ihr Großvater würde nichts davon mitbekommen. Sie war hier, um Beistand zu leisten, wie es ihr Vater vermutlich nicht schaffen würde. Und das konnte sie auch nach der Feier noch tun. Viel besser vermutlich.

Sie verließ den Bahnhof durch einen Seitenausgang. Vor ihr lagen Taxistände und Busspuren. Menschen eilten hin und her. Ein Pärchen fiel sich in die Arme, als hätte es sich seit Monaten nicht gesehen. Der Mann drückte die Frau an sich, und es hatte den Anschein, als wollte er sie nie wieder gehen lassen. Ein Penner kauerte in einer Ecke eines der Bushäuschen und starrte vor sich hin. Es roch nach Abgasen und in der Sonne trocknendem Urin.

Charlie ließ den Blick schweifen. Ein Taxi? Wäre sie nur knapp zu spät, würde sie das Geld dafür vielleicht investieren, egal, was Christoph sagen würde. Doch jetzt kam es längst nicht mehr auf ein paar Minuten an. Da konnte sie auch den Bus nehmen. Die Linie sechs fuhr direkt zum Ostfriedhof, jedenfalls war das früher so gewesen.

Sie lief zu der Spur, die durch ein Schild mit einer großen Sechs darauf gekennzeichnet war. Auf dem Weg dahin kramte sie fünfzig Cent aus der Hosentasche, die sie für einen möglichen Toilettengang eingesteckt und nicht gebraucht hatte, und legte sie dem Obdachlosen in seinen Becher. Ein kleines Figürchen aus Papier hockte daneben, doch sie konnte nicht erkennen, was es darstellte. Der Mann hob nicht einmal den Blick.

Schon klar, warum du das tust. Du willst dir selbst verdeutlichen, dass es immer noch Menschen gibt, die schlechter dran sind als du.

Als sie gerade vor dem Fahrscheinautomaten stand, fuhr ein Bus der richtigen Linie auf den Platz und navigierte geschickt durch die Inseln aus Stein, auf denen Menschen auf im Boden einbetonierten Bänken saßen und warteten.

Schnell warf Charlie Kleingeld ein.

Als sie am Ende ihrer Münzen angelangt war, zeigte das Display des Automaten dummerweise immer noch einen fehlenden Betrag an.

Fünfzig Cents.

Sie wühlte sich durch alle ihre Taschen. Nichts. Instinktiv huschte ihr Blick zu dem Obdachlosen mit seinem Becher. Ernsthaft, Karma?

Vielleicht soll es so sein. Vielleicht sollst du niemals bei dieser Beerdigung ankommen. Steig einfach in den Zug und hau wieder dahin ab, von wo du gekommen bist. Zurück in dein wohlgeordnetes Leben.

Hinter ihr zischten die Türen des Busses. Menschen stiegen ein, andere aus. Achtlos liefen sie um Charlie herum, während sie panisch nach Münzen suchte. Ihr Blick fiel auf den Schlitz für die Scheine. Fünfer, Zehner, Zwanziger. In ihrem Scheinfach steckte nur ein Fünfziger. Natürlich war das so.

»Wie sieht’s aus, junge Frau? Mitfahren oder nicht?«, ertönte eine Stimme in ihrem Rücken.

Charlie fuhr herum. Der Fahrer lehnte sich auf seinen Wechselgeldautomaten und grinste sie an. Dann tippte er auf sein bloßes Handgelenk. »Muss den Fahrplan einhalten.«

Charlies Herz raste. Wie konnte so eine dumme Situation sie nur so stressen? Am liebsten hätte sie tatsächlich aufgegeben. Doch eine Chance hatte sie noch. »Mitfahren. Auf jeden Fall mitfahren!« Sie wedelte mit dem Fünfziger. »Aber mir fehlen exakt fünfzig Cent. Können Sie den vielleicht wechseln?«

Der Fahrer hob die Brauen. »Seh ich vielleicht aus wie eine Bank? Nee, das geht nicht. Tut mir leid.« Sein Zeigefinger tippte auf ein verblichenes Schild, auf dem verschiedene Scheine abgebildet waren. Alles über zwanzig war durchgestrichen. Natürlich. So ein Mist.

Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Sobald sie sich umdrehte, waberte ein Schwall üblen Geruchs in ihr Gesicht. Eine Mischung aus schlechtem Atem, ungewaschener Kleidung und Schweiß. Vor ihr stand der Obdachlose, der eben noch in der Ecke gekauert hatte. Er wirkte auf einmal gar nicht mehr so teilnahmslos. Aus wachen, recht freundlichen Augen blickte er sie an. Unter den struppigen Haaren und ungleichmäßigen Bartstoppeln schien sich ein nettes Gesicht zu verbergen.

Doch beinahe sofort machte der Mann einen Schritt rückwärts und duckte sich weg, als hätte sie ausgeholt, um ihn zu schlagen. Sein Blick huschte über den Boden wie ein aufgescheuchtes Tier. Dann streckte er einen Arm in Charlies Richtung. Ganz langsam, als hätte er Angst, sie könnte sich gegen ihn wehren. Zwischen seinen schmutzigen Fingern hielt er einen kleinen flachen Gegenstand.

Charlie starrte darauf. Es war das Fünfzigcentstück, das sie ihm gerade in den Becher geworfen hatte. Oder irgendein anderes. Aber auf jeden Fall war es genau das, was sie jetzt brauchte.

Jemand rempelte sie unsanft an, und eine alte Frau warf erst ihr und dann dem Mann einen abschätzigen Blick zu. Sie sah aus, als wollte sie ihnen am liebsten vor die Füße spucken.

Charlie ignorierte sie. »Ähm …«, entfuhr es ihr.

»Du brauchst das gerade dringender als ich«, murmelte der Mann vor ihr und entblößte dabei eine große Zahnlücke im Unterkiefer.

Charlie zögerte. »Aber …« Das konnte sie doch nicht machen! Das war ja wie einem Baby den Schnuller zu klauen.

»Wird das jetzt was oder nicht?«, rief der Busfahrer. In dem Moment spürte Charlie den Blick aller anderen Fahrgäste auf sich. Sie brauchte sich dafür nicht einmal umzudrehen.

»Jetzt nehmen Sie schon«, erklang es gedämpft irgendwo hinter ihr.

Charlie merkte, wie ihr die Hitze aus dem Kragen heraufstieg und ihre Wangen erreichte. Sie musste regelrecht glühen. Alles in ihr schrie Nein. Sie wollte das Geldstück nicht nehmen. Wie sähe das denn aus?

Was würden die Nachbarn denken?

Der Mann sah sie ganz kurz scheu von unten herauf an und sofort wieder weg. Dann machte er einen schnellen Schritt vor und steckte das Geldstück in den Schlitz.

Der Automat spuckte das Ticket sofort aus. Jemand applaudierte. Charlie griff danach. Doch als sie sich wieder zu dem Mann umdrehte, hatte er sich bereits umgewandt und ging wieder in Richtung seiner Sachen, die immer noch in dem Wartehäuschen lagen. Sicher musste er nicht befürchten, dass sich jemand daran vergreifen würde. Er war ein Unberührbarer.

»Ich geb Ihnen noch zehn Sekunden!«, rief der Busfahrer. »Neun, acht, sieben …«

Schnell streckte Charlie die Hand nach dem Mann aus, packte ihn an der Schulter und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die bärtige Wange. Hoffentlich empfand er das nicht als allzu übergriffig. »Vielen Dank!«

Dann lief sie, so schnell es die Stiefel erlaubten, zum Bus, sprang die Stufen hoch und schob das Ticket in den Schlitz des Entwerters.

Die Blicke aller anderen Fahrgäste ignorierend, zog Charlie sich in die letzte Reihe zurück. Ihr Gesicht brannte. So etwas hatte sie noch nie getan. Was war nur in sie gefahren?

Der Bus fuhr mit einem Ruck an. Langsam verließ er die Busstation.

Auf der Warteinsel der Linie sechs stand immer noch der Obdachlose und hielt sich die Wange. Charlies Augen folgten der traurig aussehenden Gestalt, solange es möglich war. Bevor der Bus abbog und der Mann aus ihrem Blickfeld verschwand, erhaschte sie noch einen Blick auf sein Gesicht.

Es sah überhaupt nicht unglücklich aus.

Kapitel 2

Theodora

Köln, Januar 1960

Dora lief aufgeregt in ihr Schlafzimmer, dicht gefolgt von ihrer Schwester Viktoria.

»Du hast was vor?«, keuchte diese und strich sich über die sorgfältig frisierten roten Haare. Ihre runden Wangen hatten jetzt vor Anstrengung beinahe die gleiche Farbe. Wie immer sah sie ein bisschen aus wie Rita Hayworth, doch in ihrer pummeligen Phase. Die Treppenstufen brachten sie immer so außer Atem, dass Vicky schon plante, in ihrem eigenen Haus später ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss einzurichten. Dora konnte darüber nur lachen. Von einem eigenen Haus träumte sie nie. Da gab es andere Sachen.

»Ich gehe in die Kammerspiele zu dem Vorsprechen für das neue Stück!«

»Die Kammerspiele? Ein richtiges Theater?« Viktoria schnaubte. »Das werden dir Mama und Papa nie erlauben. Denk mal an die ewigen Diskussionen zum Schultheater.«

Dora hielt inne. Das stimmte allerdings. Sie zuckte mit den Schultern. »Tja, ich hatte nicht vor, es ihnen zu sagen. Und dich möchte ich bitten, es auch nicht zu tun.«

»Ach, Dora …« Viktoria ließ sich seufzend auf das Bett sinken. »Das werden sie doch bemerken. Und du wirst Vaters Unterschrift brauchen, meinst du nicht? Du bist erst zwanzig.«

»Seine …« Dora überlegte. »Auch schon für das Vorsprechen, meinst du?«

Damit mochte Vicky richtig liegen. Ihre Großjährigkeit trat erst im nächsten Jahr ein. Dann holte sie Heft und Bleistift aus der Schublade ihres Pults.

»Wenn ich seine Unterschrift für das Vorsprechen brauche, dann muss ich sie eben irgendwie auf das Formular bekommen.«

Sie setzte den Stift an und versuchte, sich die Schrift ihres Vaters ins Gedächtnis zu rufen. Das L hatte oben eine Schleife und unten zwei, das war am schwersten. Doch die übrigen Buchstaben endeten ohnehin nur in einem langen Schlenker. Lambert. Sie übte ein paarmal und nickte zufrieden, dann drehte sie den Block zu ihrer Schwester.

Die schlug die Hand vor den Mund. »Theodora! Du willst doch nicht ernsthaft die Unterschrift des Vaters nachmachen!«

Wenn Viktoria sie bei ihrem vollen Namen nannte, war es ernst. Doch Dora zuckte mit den Achseln. »Warum nicht? Die kennen sie ja nicht. Niemals merken die, dass es nicht wirklich seine ist.«

»Aber darum geht es doch gar nicht!«

Das war Dora wohl bewusst, doch sie verdrängte den Gedanken. »Viktoria, ich werde die Rolle ohnehin nicht bekommen. Dann wird es niemand bemerken, doch ich habe eine wichtige Erfahrung gewonnen. Vielleicht falle ich positiv auf, und sie nehmen mich nächstes Jahr. Und falls ich sie doch bekomme, sage ich es den Eltern, sobald es offiziell ist. Einem Erfolg konnte diese Familie noch nie widerstehen.«

Ihre Schwester überlegte. »Vielleicht findet Vater einen Weg, um es als Werbung für das Produkt zu nutzen.«

»Genau!« Da war Dora sich eigentlich nicht so sicher. Vor allem, weil ihr nicht ganz klar war, wie ihr Vater das bewerkstelligen würde. Ein unanständiges Theaterstück taugte nur bedingt dafür, Schokolade an den Mann zu bringen. Doch der Fall würde schon nicht eintreten. Und die Hauptsache war es doch jetzt, ihre Schwester zu beruhigen. Außerdem … wer wusste schon, ob nicht doch ein Wunder geschah und Vater es erlaubte.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie sich ihren Namen auf dem Plakat vorstellte. Theodora Lambert in der Rolle der … tja, welche Rolle auch immer sie bekommen würde, sie würde sie nehmen. Wenn es die Eltern nur zuließen. Sie zog die flache Holzkiste mit dem Vorhängeschloss unter dem Bett hervor und holte den kleinen Schlüssel aus dem Ausschnitt, wo er sicher an einer langen Kette hing.

»Es mag ja sein, dass Vater nach außen hin so tun würde, als sei alles geplant gewesen und das Vorsprechen mit seinem Einverständnis abgelaufen. Aber Dora, kannst du dir vorstellen, was hier zu Hause los wäre?«

Tatsächlich schien Viktoria bei dem Gedanken ein wenig blass um die Nase zu werden. Sie war einfach zu brav und fügte sich in alles.

Doch Dora winkte ab. »Ach was. Damit werde ich schon fertig. Marilyn hat auch nicht alles in den Schoß geworfen bekommen. Manchmal muss man eben Opfer bringen für das, was man liebt.« Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Dann stemmte sie den Deckel hoch. Ein Bündel aus festem dunkelblauem Stoff lag in der Kiste, und sie nahm es heraus und entfaltete es. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Die willst du zum Vorsprechen tragen?« Viktoria beäugte die Hose mit kritischem Blick.

Dora kannte diesen Blick. Viktoria würde im Leben keine Hose tragen, wenn man sie nicht dazu zwang. Und das würde in diesem Haus wohl niemals geschehen.

»Ja, das habe ich vor.« Dora sah sich schon, in dieser dunkelblauen Hose und einer weißen Bluse, mit einem Band im Haar und den Schuhen mit den höchsten Absätzen, die sie besaß, auf die Bühne schreiten. Ihre Haare würde sie wie immer in Wellen legen, und einen roten Lippenstift, der zu ihrer blassen Haut passte, hatte sie sich auch zusammengespart. Sie würde aussehen wie eine dunkelhaarige Marilyn. Mit weniger üppigen Rundungen wohlgemerkt, doch das machte ja nichts. Die Kurven hatte eben Vicky abbekommen.

»Aber passt das zum Stück? Für was willst du überhaupt vorsprechen?«

»Nein, passt es nicht. Aber das macht nichts. Das Vorsprechen ist ja nicht mit Kostüm, und Edith hat gesagt, es wirkt unprofessionell, wenn man schon so tut, als hätte man die Rolle bereits.«

»Ach, die Edith. Die ist ja mal wieder die große Expertin, was?«

»Sie arbeitet immerhin im Theater.« Dora wusste, dass Viktoria ihre Freundin Edith nicht leiden konnte. Vermutlich fühlte sie sich durch sie bedroht. Früher war sie schließlich Doras engste Vertraute gewesen. Zwei Schwestern, die durch dick und dünn gingen. Doch wenn Dora es recht betrachtete, hatten sie nie echte Widerstände zu meistern gehabt. Und jetzt, wo es wirklich auf Viktorias Unterstützung ankäme …

»Und? Wirst du sagen, wer du bist? Wer Vater ist?«

Schnell schüttelte Dora den Kopf. Das fehlte noch, dass sie sich dort so aufspielte, als sei sie etwas Besonderes.

»Warum sollte ich? In dem Stück geht es ja nicht um Schokolade.«

Sie seufzte. Ihre Schwester würde sie wohl nicht verpfeifen. Doch mehr hatte sie vermutlich nicht zu erwarten. Sie packte die Hose in eine Tasche und schob die Kiste wieder unter das Bett. Die würde sie lieber bei Edith aufbewahren. Dort würde sie sich schließlich auch vorbereiten und umziehen.

»Falls jemand fragt, ich bin bei der Edith und lerne.«

Viktoria stöhnte auf. »Das ist ja nicht einmal gelogen, schätze ich.«

»Nein. Ich möchte doch nicht, dass du für mich lügen musst, Schwesterherz.« Dora war schon auf dem Weg zur Tür. Ihr Blut rauschte mit Macht durch ihren Körper. Kräftiger als je zuvor.

»Das ist nett von dir.« Viktoria drehte sich zu ihr um. »Aber jetzt sag mir wenigstens noch, für welches Stück du vorsprichst.«

Innerlich stöhnte jetzt Dora auf. Sie hatte die Antwort auf diese Frage vorhin bewusst vermieden. Doch nun würde sie wohl nicht mehr drum herum kommen. »Endstation Sehnsucht«, sagte sie leise.

»Theodora!« Viktoria sprang auf, Dora sah es in den Augenwinkeln. Doch auch so hätte sie die Erschütterung wohl gespürt. Dora musste sich nicht umdrehen, um sich den entrüsteten Gesichtsausdruck ihrer Schwester vorstellen zu können.

»Der Autor hat einen Pulitzer-Preis mit dem Stück gewonnen«, sagte sie und kam sich selbst schwach vor.

»Darin wird jemand vergewaltigt, Theodora! Die eine Frau hat eine Affäre mit einem Jungen!« Viktoria schien nach Luft zu schnappen. »Du sprichst doch nicht etwa für die Rolle dieser Frau …«

»Die ist doch viel zu alt.« Was nicht hieß, dass sie sie nicht liebend gern spielen würde, wenn sie die Chance dazu bekäme. »Nein, ich spreche für Stella vor. Ihre Schwester.«

Und mit den Worten verschwand sie, bevor Viktoria weitere Bedenken vorbringen konnte. Denn es wäre nichts darunter, was ihr nicht auch bereits durch den Kopf gegangen wäre.

Kapitel 3

Der Bus entließ Charlie am hinteren Eingang des Friedhofs. Durch die Bäume und über die Hecke hinweg erhaschte sie einen Blick auf das Türmchen der Kapelle.

Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass Opa nicht weit davon entfernt seine letzte Ruhe finden würde. Ein rascher Blick sagte ihr, dass keiner der Trauergäste mehr anwesend war. Sicherlich saßen die längst beim traditionellen Leichenschmaus beisammen. Trockener Streuselkuchen und belegte Brötchenhälften mit einer labberigen sauren Gurke darauf. Und jede Menge alter Leute, die irgendwelche Floskeln von sich gaben. Er war so ein netter Mann. Irgendwann müssen wir alle gehen.Er hatte doch ein schönes Leben.Wenn du was brauchst, sag einfach nur Bescheid. Und später gingen sie dann nach Hause und waren einfach nur froh, dass es nicht einer der ihren war, den es erwischt hatte. Dieses Mal nicht, Glück gehabt.

Was hatte ihre Mutter gesagt? Wo fand der Leichenschmaus noch gleich statt? In der muffigen alten Kneipe um die Ecke, wenn sie sich richtig erinnerte. Doch wenn sie jetzt dort auftauchte, wären alle Blicke sofort auf sie gerichtet. Nein, so dringend zog es sie da nicht hin.

Charlie drückte die Klinke des Metalltürchens hinab und betrat den Friedhof. Stille empfing sie, eine Atmosphäre der Ruhe und des Friedens. Selbst das Licht schien sich verändert zu haben, war sanfter und ruhiger geworden. Sie schritt zwischen den Gräberreihen hindurch und ließ den Blick über die Namen und Daten schweifen. Im Kopf überschlug sie, wie alt die jeweiligen Personen geworden waren. Vierundfünfzig. Achtundneunzig. Sieben, wie traurig. Die armen Eltern, das musste schrecklich sein.

Eine scheußliche Engelsstatue breitete die Schwingen über das Grab einer Frau, in den nächsten Stein war das Bild einer Katze eingraviert worden. In stillem Gedenken – Jan, Marie und Mitzi, stand darunter.

Charlie bog an der Kapelle links ab und hielt Ausschau nach einem frischen Grab. Keine Urne, einen Sarg hatte ihr Opa sich gewünscht. Etwas altmodisch, so war er halt. Doch in diesem Gang standen nur verwitterte Steine aus einer längst vergangenen Zeit. Bei einem konnte man nicht einmal mehr die Jahreszahl lesen. Wer sich wohl darum kümmerte? Eine ältere Dame in brauner Barbour-Jacke und mit einer eleganten Hochsteckfrisur trug eine Gießkanne durch den Gang, der ihren kreuzte. Sie wirkte entspannt, so, als sei die Grabpflege ein geliebtes Hobby und keine lästige Pflicht. Vielleicht war es für manche so, und sie übernahmen freiwillig die Pflege alter Gräber, die unter irgendeinem Bestandsschutz standen.

Dann entdeckte Charlie durch die Lücke in der Hecke, die die einzelnen Grabreihen trennte, ein neu aussehendes Holzkreuz. Könnte es das sein?

Ihre Schritte beschleunigten sich. Sie eilte den Kiesweg entlang, bog einmal ab, dann noch einmal. Da war das Grab, das sie entdeckt hatte. Ein schlichtes Kreuz, das sicher nur vorübergehend dort stand, bis die Steinmetze mit dem eigentlichen Stein fertig waren.

Dann nahm sie die Gestalt wahr, die davor stand. Der Stamm der Eiche, die auf der freien Fläche zwischen den Gräbern wuchs und Schatten spendete, hatte sie erst verdeckt. Eine kleine Person in dunkler Kleidung, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet. Sie stand völlig reglos da.

Charlie näherte sich langsam. Erst als sie nur noch ein paar Meter entfernt war, erkannte sie, um wen es sich handelte. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen. Bisher hatte sie noch nicht geweint, seit sie von dem Tod ihres Opas erfahren hatte. Doch dieser Anblick schmerzte in ihrem Herzen.

Sie räusperte sich.

»Oma?«, fragte sie leise und war überrascht, wie brüchig ihre Stimme klang.

Die alte Frau mit den kurzen grauen Locken drehte sich langsam zu Charlie um. Ihre Augen waren gerötet, doch sie lächelte. Nicht nur mit dem Mund, sondern mit dem ganzen Gesicht. Das war fast noch schmerzhafter anzusehen.

Wann hat dich zuletzt jemand so angelächelt?

»Mein Liebes!« Ihre Großmutter breitete die Arme aus.

Es war keine bewusste Entscheidung, die wenigen Schritte bis zu ihr zu machen. Doch schon im nächsten Moment lag Charlie in den Armen der rundlichen, viel kleineren Frau und wurde mit der erstaunlichen Kraft, die nur Großmütter besaßen, gegen ihre weichen Brüste gepresst. War ihre Oma wirklich schon über achtzig?

Der Damm brach. »Es tut mir so leid!« Tränen benetzten das Kopftuch ihrer Oma und hinterließen dunklere Flecken auf dem ohnehin schon dunklen Stoff.

Die alte Dame rieb ihr den Rücken. »Ach Liebes, ist schon gut.« Dann fasst sie Charlies Schultern und drückte sie von sich. »Was ist es, das dir leidtut?«

Ein Schluchzer schüttelte Charlies Körper. Er schmerzte überall. »Dass ich nicht für dich da war!«

Sofort zog ihre Oma sie wieder an sich. »Ach, was redest du denn da?«, murmelte sie so leise, dass Charlie es so gerade eben noch verstand. »Das hat dir dein Vater eingeredet, richtig?«

Ein Kloß versperrte Charlies Hals, also nickte sie nur.

»Das vergisst du mal schön wieder. Du bist jetzt da, das ist alles, was für mich zählt.« Sie begann, sich zu wiegen wie damals, als Charlie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war. Nur, dass sie jetzt zu groß war für ihren Schoß. Sie hätte eher ihre Oma auf den Schoß nehmen können.

»Aber … die Trauerfeier …«

»Schsch. Alles gut. Du hast wirklich nichts verpasst.« Ihre Oma wandte sich halb von Charlie ab, ließ jedoch ihren Arm um ihre Hüfte geschlungen. So konnten sie beide in Richtung des Grabes blicken. Bernhard Wiel stand dort auf dem Holzkreuz. »Die Schützen haben den Sarg getragen und ein riesiges Buhei veranstaltet. Als wäre dein Großvater jemals auf einem Schützenfest gewesen. Er war dort nur Mitglied, weil man das eben so macht. Stell dir mal vor, die haben sich ernsthaft vor mir von ihm verabschiedet!«

Jetzt tupfte Oma sich doch mit einem Taschentuch die Augen. Charlie kuschelte sich enger an sie und sog den Duft ihrer Oma ein, der irgendwie immer gleich war. Der Geruch von Lavendelseife und frisch gebackenen Plätzchen. Ganz egal, ob sie gerade Plätzchen gebacken hatte oder nicht, sie duftete immer danach. Das war schon vor dreißig Jahren so gewesen und würde sich wohl nicht mehr ändern.

»Und warum bist du nicht beim Leichenschmaus?«

Oma hob die Schultern. »Ach, weißt du, ich hatte irgendwie noch keine Gelegenheit, mich richtig von ihm zu verabschieden. Seit dem Herzinfarkt war immer jemand um mich herum: im Krankenhaus, dann zu Hause, bei den Vorbereitungen für die Beerdigung, abends …« Sie seufzte. »Als hätten die Leute Angst, ich käme nicht zurecht ohne einen Mann.«

»Papa?«

Ihre Oma strich über Charlies Arm. »Der hat mich wahnsinnig gemacht.«

Sie sahen einander an, und als die Mundwinkel ihrer Großmutter zu zucken begannen, musste auch Charlie lächeln. »Ja, das kann er.« Nur zu gut.

»Er hat viel von deinem Großvater, Liebes. Aber nicht die guten Dinge. Er hat wohl versucht, seine Achtung zu erringen, weil er doch nicht Bernhards leiblicher Sohn war. Dabei kann er gar nichts dafür.«

Richtig, das hatte Charlie ja völlig vergessen. Ihr Vater war Omas Kind aus erster Ehe. Trotzdem würde sie bezüglich dessen, was er sich angeeignet hatte, sogar noch weiter gehen, sprach es aber nicht aus. Immerhin war ihr Vater der Sohn dieser Frau, die sie liebte. Doch Opa war nichts gewesen im Vergleich zu ihrem Vater. Man konnte Opas liebevolle Besorgnis nicht gleichsetzen mit dem Terror, den ihr Vater veranstaltet hatte, wenn ihm ihr Rock zu kurz erschienen war. Und ihm waren alle Röcke zu kurz erschienen.

Oma sah wieder auf das Kreuz. »So eine Heuchelei. Wir waren bei deiner Konfirmation das letzte Mal in einer Kirche.«

Charlie überlegte kurz, dann nickte sie. »Ja, kommt hin.«

Ihre Oma gab ein seltsames Geräusch von sich. Erst als Charlie ihr einen schnellen Blick zuwarf, erkannte sie, dass es ein Kichern war.

Eine Weile standen sie noch schweigend vorm Grab, dann klopfte Oma auf Charlies Arm. »Na komm. Lassen wir uns beim Leichenschmaus blicken, bevor dein Vater eine Suchmannschaft nach mir ausschickt.«

Charlies Körper versteifte sich. Alles in ihr wehrte sich. Sie konnte den Blick ihres Vaters schon beinahe sehen. Eine Mischung aus Enttäuschung und der Erkenntnis, dass von ihr nichts Besseres zu erwarten war. Ein Mann, den er nicht mochte, ein abgebrochenes Studium, und Enkel waren auch nicht in Sicht. Instinktiv strich Charlie sich über ihren flachen Bauch. Sie hörte schon das Getuschel: Keine Kinder? Sie wird auch nicht jünger! Das war doch Mist. Dennoch nickte sie, während ein Seufzer in ihrer Brust aufstieg.

Ihre Oma griff nach ihrer Hand. »Das wird schon. Du bist eine erwachsene Frau und musst dich nicht rechtfertigen. Und außerdem bist du ja nicht allein. Bleib einfach bei mir.«

***

Stickige Luft umgab Charlie, als sie die Tür zur Schankstube aufstieß und ihre Oma eintreten ließ. Dann folgte sie ihr. In einer Ecke saßen drei Männer in karierten Hemden und Cordhosen und spielten Karten. Eine junge Frau mit einem runden Tablett in der Hand musterte sie kurz von oben bis unten und deutete dann auf eine Tür am anderen Ende des Raumes. »Zur Beerdigung da entlang.«

Oma nickte und marschierte los. Resolut wie immer. Früher hatte Charlie sich selbst auch vorgenommen, so zu werden. Wenn sie nur wüsste, wie genau das ging. Es kam ihr so vor, als hätte sie dafür irgendwann die falsche Richtung eingeschlagen.

»Danke«, murmelte Charlie im Vorbeigehen und lächelte. Die Frau lächelte zurück. Immer nett sein zum Servicepersonal. Schließlich war sie während ihres Studiums selbst lange genug eine von ihnen gewesen.

Charlie wollte ihrer Oma auch die nächste Tür aufhalten, doch die alte Frau war schneller. Sie straffte die Schultern, atmete tief ein und stemmte sich dann gegen den Drücker. Charlie hielt sich dicht hinter ihr. Stimmengewirr empfing sie. Gedämpftes Gemurmel, ein kurzes Lachen. Klar, es war ja der passende Anlass für Witze.

Ihr habt selbst eben noch gelacht, Charlie. Du und die Frau, deren Mann heute begraben wurde. Dann dürfen andere das auch.

Die Stimmen verstummten, und Charlie duckte sich instinktiv hinter den Rücken der viel kleineren Frau vor sich. Trotzdem überragte sie ihre Oma noch um einen guten Kopf. Wie sie das hasste. Alle schienen sie anzustarren, doch natürlich sahen sie in Wahrheit ihre Großmutter an.

Oma hob die Hand. »Bitte, redet ruhig weiter. Charlie und ich hatten auch gerade ein schönes langes Gespräch über ihren Großvater. Deswegen sind wir doch alle hier: um seiner zu gedenken.«

Der eine oder die andere schauten betreten, doch die meisten lächelten und nickten. Oma drehte sich halb zu Charlie um und deutete auf den leeren Stuhl am Kopfende der Tafel. Links davon saß ihr Vater, die grauen Haare nach hinten gekämmt, daneben Mama mit ihrer strengen Hochsteckfrisur. Rechts davon saß der Pastor und schob sich eine Gabel voll Kuchen in den Mund. Er schloss die Augen und kaute genüsslich.

»Wollen wir uns da hinsetzen? Was meinst du?«

Charlie sah die versteinerte Miene ihres Vaters und musste schlucken. »Da ist kein Platz für mich, Oma. Ist kein Problem.«

Sie ließ den Blick schweifen, auf der Suche nach einem freien Stuhl. Gesprächsfetzen wehten vorbei. »… sah der Bernie aus wie ein Filmstar! Wie dieser, wie hieß er noch …?«

Zwischen den Handarbeitsfreundinnen ihrer Oma entdeckte Charlie einen. Sie kannte keine von ihnen, doch die Frauen lächelten sanft, und alle hatten Strickzeug oder Häkelsachen vor sich liegen. Ja, da würde sie jetzt tausendmal lieber sitzen als in der Reichweite ihres Vaters. Oder besser in Hörweite.

»Ach was.« Ihre Großmutter durchkreuzte Charlies Pläne, indem sie beherzt nach ihrem Handgelenk griff. »Lass mich mal machen, Liebes.«

Mit Charlie im Schlepp marschierte sie auf den freien Platz zu. Als sie hinter ihrem Sohn – Charlies Vater – ankam, klopfte sie ihm auf die Schulter. Er fuhr herum. Sein Gesicht wirkte ausdruckslos.

»Wo wart ihr denn?«, fragte er. »Alle warten auf dich, Mutter.« Der Vorwurf in seiner Stimme war nur schwer zu überhören.

»Elmar, sei doch so gut und mach mal Platz für deine Tochter. Ich möchte mich noch ein bisschen mit ihr unterhalten, wenn es dir recht ist.«

Charlie starrte die alte Frau an. Wenn es ihr doch auch nur gelänge, die mehr oder weniger unterschwelligen Botschaften ihres Vaters so auszublenden. Aber ihre Oma hatte ihn schließlich aufgezogen. Vermutlich machte sie das gegen ihn immun.

»Wie bitte?« Charlies Vater wirkte so perplex, dass er sich tatsächlich aus dem Stuhl erhob. Ihre Oma packte ihn am Arm und zeigte auf den freien Platz bei ihren Freundinnen. »Die Helga hat sich erst neulich nach dir erkundigt. Du weißt schon, das ist die, die dir früher immer deine Hose geflickt hat, wenn du wieder hingefallen bist. Bei der es immer den leckeren Apfelkuchen gab.«

Charlies Vater nickte mit unnatürlich roten Wangen. Dann schob er den Stuhl zurück und richtete sich vollends auf. Bevor er sich zu seinem neuen Sitzplatz aufmachte, warf er Charlie jedoch noch einen kurzen Blick zu. Sie sah ihm nachdenklich nach. Wann hatte sich seine Statur eigentlich in die eines alten Mannes verwandelt?

Das werden sicher tolle sechs Tage in deinem alten Kinderzimmer, Charlie. Aber wenigstens hast du elegante Klamotten mit, um dir selbst einzureden, eine Erwachsene zu sein.

Kurz überlegte sie, sich ein Hotel zu nehmen. Doch das hätte sie erst mit Christoph besprechen müssen, und wie der reagierte, konnte sie sich schon vorstellen. Sie schluckte, dann setzte sie sich. Ihre Mutter räusperte sich und sah betreten auf das Tischtuch. Ihre Hände strichen immer wieder über den Stoff, als versuchte sie, nicht existierende Falten herauszustreichen.

»Schön, dass du da bist«, sagte sie schließlich. Dann ließ sie ihren Blick ein wenig zu auffällig über Charlies Kleidung schweifen und runzelte die Stirn.

Natürlich hatte sie etwas auszusetzen. Das war ja immer so. Charlie richtete sich auf. So fühlte sie sich gegen den unweigerlich folgenden Kommentar einigermaßen gewappnet. Doch der kam nicht. Jedenfalls noch nicht. Vermutlich sammelte ihre Mutter im Geiste schon die Kritikpunkte, um sie Charlie alle auf einmal an den Kopf zu werfen. Wie eine Kritikbombe.

Da werden doch Kindheitserinnerungen wach.

»Ach ja! Fräulein Wiel! Schön, dass Sie auch gekommen sind!« Der Pfarrer stieß mit einer Gabel voller Kuchen in Charlies Richtung. Ein paar Krümel rieselten herab und landeten auf der Tischdecke. »Ich glaube, ich habe Sie nicht mehr gesehen, seit … ja, das müsste bei Ihrer Konfirmation gewesen sein. Stimmt das?«

Charlie wiegte den Kopf und tat so, als überlegte sie. Dabei wusste sie es ganz sicher. »Ja, schon möglich.«

»Ach ja, ist das lange her …« Er betrachtete sie mit gehobenen Brauen, als versuchte er, ihr Alter einzuschätzen.

Den Gefallen, ihm dabei zu helfen, tat sie ihm nicht. Es reichte, dass er ihr Gesicht nach Falten absuchte. »Eine Ewigkeit«, sagte sie nur und fühlte sich uralt dabei.

»Ach ja, genau.« Der Mann lächelte und schob sich den Kuchen in den Mund. Er schluckte beinahe, ohne zu kauen. Wie ein Reptil. »Sie sind ja auch früh weggezogen, nicht wahr? Nach Heidelberg, zum Studium, richtig?« Er wartete keine Antwort ab. »Ach ja, was für eine tolle Zeit, das Studium. Jeder muss sich mal richtig austoben. Die Zeit der Besinnung kommt dann später.« Er zwinkerte ihr zu, als wüsste er genau, dass er sie eines Tages wieder in seiner Herde begrüßen würde.

Unwahrscheinlich.

»Ja, ich bin direkt nach dem Abitur weggegangen.«

Geflohen, wie ihr Vater sagen würde.

Charlie griff nach der silbernen Thermoskanne auf dem Tisch und schüttelte sie. Nur noch eine kleine Pfütze schwappte darin hin und her. Sie beugte sich zu ihrer Oma und ließ den letzten Rest Kaffee in deren Tasse tröpfeln. Gerade mal halb voll.

»Ach ja, Sie waren auf dem Goerdeler-Gymnasium, richtig? Für welches Fach haben Sie sich denn entschieden?«

Der Mann war eindeutig zu fröhlich für den Anlass – und viel zu interessiert an Charlies Leben. Dieses ständige Ach ja machte sie fast ein bisschen aggressiv.

Nicht nur sie, wie es schien. Ihre Mutter neben ihr schnaubte und bearbeitete die Tischdecke ein bisschen heftiger.

»Genau«, antwortete Charlie, wohlwissend, dass sie seine Frage damit nicht beantwortete.

»Und jetzt sind Sie glücklich ver…«

Sie rückte ihren Stuhl zurück, bevor der Mann die Frage beenden konnte. »Ich frage mal eben nach neuem Kaffee«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.

Die Art und Weise, wie sie aus dem Raum eilte, fühlte sich nicht nur nach Flucht an, es musste auch genauso ausgesehen haben.

Im Vorzimmer vor der Küche hielt sie kurz inne und lehnte sich gegen die Wand. Nur ein paar Sekunden tief durchatmen. Das war ja anstrengender als eine vierstündige Mandantenbesprechung. Und das, obwohl sie da auch hauptsächlich für den Kaffee zuständig war. Und dafür, betrogene Ehefrauen zu trösten.

Eine Kellnerin in weißer Bluse und schwarzer Hose hätte sie beinahe umgerannt. »Oh! Was machen Sie denn hier?«

Charlie hob die Kanne. »Haben Sie vielleicht Nachschub?«

Die Frau runzelte die Stirn. »Ich wollte gerade nachfragen.« Sie griff nach dem chromglänzenden Behälter und seufzte, als sei es eine Zumutung, jetzt mit einer einzelnen Kanne zurück in die Küche zu gehen. Charlie lächelte ihr aufmunternd zu, wie sie es mit den Frauen in der Kanzlei machte, die zu ihnen kamen und eigentlich reden wollten. Es funktionierte, die Runzeln der Frau glätteten sich.

Charlie atmete ein paarmal tief durch. Schließlich fühlte sie sich gewappnet, in die Höhle des Löwen zurückzukehren. Es ließ sich ja ohnehin nicht vermeiden.

Sie kam kurz vor der Kellnerin wieder an ihrem Platz an. War sie so langsam, oder war die Frau so schnell gewesen? Zum Glück war der Pfarrer ins Gespräch mit seiner Sitznachbarin vertieft. Ihre Mutter hatte jedoch alle Kapazitäten frei.

»War es wirklich zu viel verlangt, pünktlich zu sein?«, fragte sie, ohne Charlie dabei anzusehen.

Kälte erfasste Charlies Körper. Doch dann spürte sie die warme Hand ihrer Oma auf ihrer. »Mein Zug hatte Verspätung«, sagte sie, obwohl sie genau wusste, dass es ihre Mutter nicht kümmerte.

Damit gab sich ihre Mutter nicht zufrieden. »Die Frage nach deinem Studium, die hättest du auch ruhig mal beantworten können. So richtig habe ich nämlich noch nicht verstanden, welche Art Ausbildung wir dir drei Jahre lang finanziert haben, und was genau du in deinem Job jetzt davon hast. Wir sind auch nicht reich, Charlie!«

Natürlich. Geld. Immer drehte sich alles nur ums Geld. Wenigstens dabei waren sich Christoph und ihre Eltern einig.

Die Kellnerin stellte die Kanne in die Mitte, ohne ihnen einzuschenken. Dann sammelte sie die übrigen ein.

Oma räusperte sich. »Ich habe ja gar keine Ausbildung und habe dennoch mein Leben lang hart gearbeitet.« Sie warf Charlie einen sanften Blick zu. »Und du siehst aus, als würdest du auch zu viel arbeiten. Du könntest ein wenig Erholung gebrauchen, Liebes.«

Mama verzog die Lippen und griff nach dem Henkel. »Na ja, da können wir dann später noch drüber sprechen.«

Charlie seufzte und versuchte, zu lächeln. Auf keinen Fall würde sie jetzt einen Streit vom Zaun brechen. »Ja. Natürlich.«

Was gäbe es da noch zu besprechen? Ihre Eltern waren wütend und würden es sie spüren lassen. Eine Woche lang. Eine Woche, die sie nur hier verbrachte, damit sie endlich nicht mehr behaupteten, sie würde sich rarmachen.

»Charlie und ich hatten überlegt, dass sie mir ein wenig Gesellschaft leistet«, warf ihre Großmutter ein und drückte Charlies Hand ganz leicht. Dann schob sie ihre Tasse und die ihrer Enkelin näher zu Charlies Mutter. »Schenk uns doch bitte auch etwas ein, Hilde.«

Charlie konnte sehen, wie ihre Mutter schluckte. Dann goss sie Kaffee in die Tassen. Charlie ließ Milch und Zucker folgen. Sie hatten überlegt, dass sie bei ihrer Oma blieb? So so. Daran konnte sie sich gar nicht mehr erinnern. Doch der Gedanke beruhigte sie, auch wenn das kleine Häuschen, in dem sie wohnte, heruntergekommen war und nur ein Badezimmer hatte.

»Tja, dann …«, sagte ihre Mutter und führte die Tasse zum Mund.

Und damit war das Thema offensichtlich erledigt.

Kapitel 4

Theodora

»Keine Panik.« Edith strich Dora beruhigend über den Rücken. Ihr blonder Pferdeschwanz schwang dabei hin und her. »Du siehst toll aus. Du kennst die Rolle, du hast den Text im Kopf und deine Mimik bei der einen Stelle … einfach toll!«

»Hm.« Mehr brachte sie nicht hervor.

»Und vergiss, was die gute Vicky sagt.« Edith nannte Doras Schwester immer bei ihrem Spitznamen. Wenn die das wüsste, würde sie von Doras bester Freundin noch weniger halten als ohnehin schon. »Du bist nicht nur auf der Welt, um einen Erben für die Fabrik zu produzieren. Das kann schön deine Schwester machen.«

Als ob die das täte. »Und wenn es schiefgeht, weil ich gemogelt habe?« Herrje, seit wann war sie denn so abergläubisch? Diese Theaterleute machten sie noch ganz verrückt!

»Ach was!« Edith winkte ab. Die resolute Geste passte gut zu ihrer kompakten Statur. »Du brauchtest ja nicht einmal eine Unterschrift. Es ist also alles in Butter. Es soll so sein.« Sie spuckte dreimal über die Schulter.

Dora nickte, doch sie merkte selbst, wie sehr sie zitterte. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so nervös gewesen. Und zu allem Überfluss war das Mädchen, das vor ihr dran war, eine Wucht.

Sie zuckte zusammen, als der Scheinwerfer ausging. Eine erhitzt aussehende Schauspielerin lief leichtfüßig an ihr vorüber. Dora sah an sich hinab und überlegte, ihre Schuhe auszuziehen. Wirkten sie nicht ohnehin lächerlich zu diesem Outfit? Wirkte nicht das ganze Outfit lächerlich? Sie war doch nicht Marilyn, ihre Schuhe waren nicht die von Marilyn, und ihre Kurven auch nicht.

»Los, jetzt geh schon!« Edith gab ihr einen kleinen Schubs Richtung Bühne. »Du wurdest aufgerufen.«

»Was?« Wie aus einem Traum erwacht, sah Dora ihre Freundin an. »Wirklich?« Sie hatte nichts gehört. Doch sie war auch völlig in ihren Selbstzweifeln gefangen gewesen.

»Natürlich! Hau sie um, Süße!« Edith zwinkerte. »Und Hals und Beinbruch!«

Dora musste schwer schlucken, dann betrat sie die Bühne. Kaum geriet sie in Sicht des Publikums, stolperte sie prompt. Zum Glück fing sie sich wieder, sonst hätte sie Ediths gut gemeinten Wunsch wohl zur Wahrheit werden lassen. Ihre Absätze klackerten laut auf dem Parkett. Sie blinzelte gegen das Licht ins Publikum, konnte jedoch nichts erkennen. Doch sie wusste, dass lediglich drei Leute im Zuschauerraum saßen: der Regisseur, der Produzent und die Bühnenbildnerin. Und irgendwo über allem schwebte derjenige, der ihr jetzt den Scheinwerfer auf das Gesicht richtete.

Es war so hell, dass sie am liebsten die Augen mit der Hand abgeschirmt hätte, doch sie konnte sich gerade noch zurückhalten. Es sollte nicht so wirken, als sei sie zum ersten Mal auf einer Bühne. Denn das war nicht der Fall, wenngleich man die Bühne in der Aula der Kaiserin-Augusta-Schule nicht mit dieser hier vergleichen konnte.

Dora blieb auf der Markierung stehen und räusperte sich. »Theodora Lambert für die Rolle der Stella Kowalski«, sagte sie, so laut sie konnte.

»Bitte«, erklang eine gesichtslose Stimme im Zuschauerraum. »Fangen Sie an, Fräulein Lambert.«

Dora spulte ihren Text hinunter. An einer Stelle stolperte sie, doch im Großen und Ganzen kam es ihr ganz gut vor. Am Ende ihres Vortrages hielt sie inne und blinzelte ins Licht. Sollte sie sich verbeugen? Knicksen? Einfach gehen? Sie hatte nicht darauf geachtet, wie die anderen es gemacht hatten.

»Danke. Sie können jetzt gehen.« Diesmal war es eine andere Stimme.

Instinktiv machte sie einen kleinen Knicks, ärgerte sich aber sogleich über sich selbst. So schnell ihre furchtbaren, viel zu plumpen Schuhe es zuließen, verließ sie die Bühne und lief Edith geradezu in die Arme.

»Und? Wie war es?«, fragte sie atemlos.

Edith strahlte. »Super! Bis auf diese eine Stelle … aber das wird schon nicht so arg gewesen sein.«

Doch Dora war nicht beruhigt. »Und konntest du sehen, was sie gemacht haben? Konntest du ihre Gesichter erkennen?«

Edith war die Aufgabe zugefallen, die drei Theaterleute im Auditorium zu beobachten. Von der Seite war das einigermaßen möglich. Doch sie hob nur eine Schulter. »Ich weiß nicht. Sie haben sich was notiert. Ihre Gesichter konnte ich nicht so recht erkennen.« Sie packte Dora am Arm. »Komm, wir gehen nach draußen und warten da auf die Entscheidung. Es spricht nur noch eine vor, dann beraten sie sich, und wenn wir Glück haben, erfahren wir das Ergebnis noch heute Nachmittag. Bei dem Darsteller für Stanley war es gestern so.«

Gemeinsam liefen sie zum Hintereingang, der direkt hinter die Bühne und zu den Garderoben führte. Dort saßen schon einige Mädchen, vielleicht zehn oder elf. Manche plauderten leise miteinander, doch die meisten hockten nur da und starrten vor sich hin. Edith und Dora setzten sich etwas abseits auf ein Mäuerchen. Ein Stück von ihnen entfernt saß diejenige, die vor Dora dran gewesen war.

Dora nickte ihr zu. »Du warst echt gut eben.«

Das Mädchen, oder besser die junge Frau, denn sie war sicher schon ein paar Jahre älter als sie und Edith, drehte nur den Kopf weg und verdrehte die Augen.

So viel zum kollegialen Miteinander.

Edith stieß Dora in die Seite und prustete. »So ein arrogantes …«

Dora hieb ihr die Hacke auf die Zehen, was dank des Absatzes sicher einigermaßen schmerzhaft war. »Schsch.«

Noch hatte sie schließlich Hoffnung auf die Rolle und wollte es sich mit ihren Kolleginnen nicht verscherzen. Es war ohnehin immer gut, wenn man sich nichts vorzuwerfen hatte.

Kurze Zeit später öffnete sich die Tür zum Bühneneingang, und die Köpfe aller fuhren herum. Jegliches Gespräch verstummte, und Adrenalin flutete durch Doras Adern. Doch es war nur ein einzelner junger Mann, der hindurchkam, die Tür hinter sich zufallen ließ und sich daneben an die Wand lehnte. Er stemmte einen Fuß gegen die Mauer und zog lässig eine Zigarette hinter dem Ohr hervor. Diese landete zwischen seinen Lippen, wo er sie mit einem Zip-Feuerzeug entflammte. Er nahm einen tiefen Zug und sah dabei in seinem karierten Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln aus wie James Dean. Sogar die Frisur passte. Seine hellblauen Augen blickten zu Boden, aber einer seiner Mundwinkel zuckte leicht, als sei er sich der Blicke der Mädchen sehr wohl bewusst.

Dora senkte den Blick. Sie wollte doch keine von denen sein, die einen jungen Mann anstarrten. Egal, wie gut er aussehen mochte. Außerdem machte sie sich gar nichts aus Männern. Sie interessierte sich nur für ihre Karriere. Fürs Schauspiel und sonst nichts.

Edith stieß sie in die Seite. »Sieht der nicht toll aus?«, raunte die Freundin ihr zu.

Wie ohne ihr Zutun wanderte Doras Blick doch wieder zu ihm. Genau in dem Moment sah er zu ihr. Ihre Blicke trafen sich, und ein heißer Stich durchfuhr ihren Leib. So schnell sie konnte, sah sie weg, merkte aber gerade noch, wie sich sein Mundwinkel hob. Die Zigarette, die an seiner Unterlippe zu kleben schien, wackelte auf und ab.

Sie verdrehte die Augen. Der sollte sich bloß nichts einbilden.

»Wer ist das denn?«, flüsterte sie in Ediths Richtung.

»Das ist Bernd, unser Beleuchter.« Wie immer klang Edith stolz, wenn sie ihre Anstellung am Theater ins Spiel bringen konnte, auch wenn sie nur an der Nähmaschine saß und Kostüme flickte. »Den himmeln alle an.«

»Das scheint er auch zu wissen«, murmelte Dora. Den Umgang mit so einem Kerl würde ihr Vater ihr niemals erlauben.

»O ja! Auf jeden Fall. Doch er lässt sie alle abblitzen.«

»Ach ja?« Dora versuchte, desinteressiert zu wirken, doch ein vorsichtiger Blick in Bernds Richtung zeigte ihr, dass er sie tatsächlich immer noch ansah. Schnell ließ sie den Blick weiterschweifen, damit er nicht merkte, dass sie zurückgesehen hatte.

Als ob er es nicht wüsste.

»Dich scheint er ja ganz schön im Blick zu haben, Dora.« Ediths Stimme klang zum Glück amüsiert. Sie schien es nicht selbst auf ihn abgesehen zu haben. Doch ein paar der anderen Mädchen warfen ihr bereits missgünstige Blicke zu.

Dora rutschte auf der Mauer hin und her. Es wurde wirklich Zeit, dass das Ergebnis bekannt gegeben wurde. Sie musste heute unbedingt rechtzeitig zum Essen zu Hause sein.

Sie sah auf die Uhr. Eine Stunde hatte sie noch. Sie würde ein Weilchen abwarten und hoffen, dass sie nicht die Erste wäre, die ging. Das würde sich so nach Aufgeben anfühlen.

In dem Moment, in dem sie diesen Entschluss gefasst hatte, öffnete sich die Tür erneut. Die Bühnenbildnerin trat hinaus. In ihrer Hand hielt sie ein Klemmbrett. Sie rückte ihre Brille zurecht und sah darauf. Dann hob sie den Blick.

Die Gesamtheit der versammelten Damen schien den Atem anzuhalten.

Dora bemerkte, dass es ihr auch so ging. Sie senkte den Kopf und atmete ein paarmal tief ein und aus. Sie versuchte, so die Aufregung niederzukämpfen. Es gelang ihr nur bedingt. Und der Blick von Bernd, den sie auffing, als sie wieder aufsah, machte es nicht besser.

»So, die Damen. Die Entscheidung ist gefallen. Die Rolle der Stella Kowalski geht an …« Sie runzelte die Stirn, und Dora war sicher nicht die Einzige, die ihr liebend gern das Klemmbrett entrissen und selbst nachgesehen hätte. »… Fräulein Rosi Bergheimer.«

Eine der jungen Frauen sprang auf und wurde sofort von Blicken erdolcht. Enttäuschung lag in der Luft wie Watte und machte es schwer, die Szenerie zu überblicken.

»Na toll …«, murmelte Dora in Ediths Richtung. »Ich muss dann nach Haus. Wir sehen uns …«

Doch Ediths Hand schloss sich um Doras Handgelenk. »Warte«, zischte sie ihr zu. »Es geht doch noch weiter.«