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Die Kapazität unseres Gehirns ist begrenzt. Jeder kennt das Gefühl, dass es nach einem langen Tag schwer ist, sich zu konzentrieren, schwierige Entscheidungen zu treffen oder sich in andere hineinzuversetzen – wir leben in einer chronisch erschöpften Gesellschaft. Seit Jahren schrumpft die Kapazität unseres mentalen Akkus. Bewegungsmangel, falsche Ernährung, schädliche Stoffe in der Umwelt, fehlende oder schädliche soziale Interaktion, digitale Dauerbeschallung: Wir leben nicht unserer Natur entsprechend, was dazu führt, dass die Leistung unseres Gehirns immer weiter abnimmt.
Dr. med. Michael Nehls begibt sich auf die Suche nach der Quelle unserer mentalen Energie – und er wird fündig. So kann er erstmals zeigen, wo unser „Hirn-Akku“ sitzt, welche Funktion ihm innerhalb unseres Gehirns zukommt und was das für unser Denken bedeutet. Dr. Nehls beschreibt, welche fatalen Folgen ein schrumpfender mentaler Akku für uns, unsere Gesellschaft und zukünftige Generationen haben kann – und wie wir dem entgegenwirken können.
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Seitenzahl: 530
Über dieses Buch:
Jeder kennt das Gefühl: Im Laufe eines Tages fühlen wir uns zunehmend geistig erschöpft und energielos. Doch woran liegt das? Dr. med. Michael Nehls begibt sich auf die Suche nach unserem mentalen Akku – und er wird fündig. So kann er erstmals zeigen, woraus unsere mentale Energie besteht und wo sie gespeichert ist. Und er macht noch eine weitere, beunruhigende Entdeckung: Seit Jahren schrumpft die Kapazität des mentalen Akkus bei den meisten Menschen. Die Folgen sind fatal, denn wenn die geistige Energie für Reflexion und durchdachte Entscheidungen schwindet, dominieren einfache Denkmuster, stereotypes Handeln und angstgeleitetes Verhalten.
Dr. Nehls erklärt, was der chronische Kapazitätsverlust des mentalen Akkus für uns, unsere Gesellschaft und zukünftige Generationen bedeutet und wie wir dieser katastrophalen Entwicklung entgegenwirken können.
Über den Autor:
Der Arzt und habilitierte Molekulargenetiker Dr. med. Michael Nehls entschlüsselte die Ursachen verschiedener Erbkrankheiten an nationalen und internationalen Forschungszentren. Aufgrund seiner richtungsweisenden wissenschaftlichen Entdeckungen, insbesondere im Bereich der Immunologie sowie Neurobiologie (u.a. gemeinsam mit zwei Nobelpreisträgern), wurde er leitender Genomforscher einer US-Firma und führte später ein deutsches Biotechnologie-Unternehmen. Heute arbeitet Michael Nehls als selbstständiger medizinischer Wissenschaftsautor und Privatdozent. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Ursachen von Zivilisationskrankheiten allgemein verständlich zu erklären, und hält Vorträge an Universitäten und auf Kongressen. Bei Heyne erschienen seine Bestseller Die Alzheimer-Lüge, Alzheimer ist heilbar und Die Formel gegen Alzheimer.
Dr. med. Michael Nehls
Das erschöpfte Gehirn
Der Ursprung unserer mentalen Energie – und warum sie schwindet
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Originalausgabe 2022Copyright © 2022 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München.Redaktion: Sophie DahmenBildredaktion: Tanja ZielezniakCovergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © SEAN GLADWELL / Getty ImagesE-Book Produktion und Satz: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-27299-9V005
www.heyne.de
Für Sabine, Sebastian, Sarah und Nadja – mein Kleeblatt
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1: Die Exekutivzentrale des menschlichen Gehirns
Die Macht der menschlichen Fantasie
Das Frontalhirn – was uns zum Menschen macht
Frontalhirnsyndrom oder Frontalhirnschwäche
Kapitel 2: Ego Depletion – akuter Verlust an Geisteskraft
Akute mentale Erschöpfung und ihre Konsequenzen
Schnelles und langsames Denken
Denken und Handeln in Vorurteilen
Gute Ratschläge sind nicht die Lösung
Kapitel 3: Die Suche nach dem Frontalhirn-Akku
Die süße Illusion
Sechs Grundeigenschaften des Frontalhirn-Akkus
Intellegere – Das Entscheiden aufgrund von Erinnerungen
Der hippocampale Gedankenspeicher
Zerebraler Informations-Highway
Limit des hippocampalen Gedankenspeichers
Der Hippocampus speichert nur Erinnerungswürdiges
Der Hippocampus kann seinen Speicher regenerieren
Motivation und Wille auf Basis hippocampalen Erinnerns
Information, eine besondere Art von Energie
Kapitel 4: Die Natur der mentalen Energie
Mentale Kapazitätsgrenzen
Schritt 1 – Upload der hippocampalen Speicherinhalte
Schritt 2 – Weisheit durch Schlaf
Schritt 3 – Wiederherstellung des Erinnerungspotenzials
Schritt 4 – Wachstum des Frontalhirn-Akkus
Kapitel 5: Wachsen und Schrumpfen des Frontalhirn-Akkus
Die lebenslange Evolution der Individualität
Die adulte Neurogenese hält jung und steigert die Kapazität des Frontalhirn-Akkus
Was wachsen kann, kann auch schrumpfen
Unnatürlicher Kapazitätsverlust des Frontalhirn-Akkus
Chronische Frontalhirnschwäche
Kapitel 6: Folgen eines schrumpfenden Frontalhirn-Akkus
Alles ist Veränderung
Der Frontalhirn-Akku, mehr als nur ein Datenspeicher
Psychische Widerstandsfähigkeit
Natürliche Neugier
Selbstwert und Zufriedenheit
Kreativität und Schaffenskraft
Geistige Flexibilität
Depression pandemischen Ausmaßes
Pandemie chronischer Erschöpfung
Long COVID – eine hippocampale Wachstumsstörung?
Pandemie der Selbstzerstörung – Alzheimer-Demenz
Teufelskreis Frontalhirnschwäche
Konsequenzen gestörten hippocampalen Wachstums für die kindliche Entwicklung
Depression bei Kindern und Jugendlichen
Verlust an Empathiefähigkeit
Schizophrenie
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung
Autismus – dauerhafte Unreife
Drogensucht
Mentale Gesundheit in allen Lebensphasen
Kapitel 7: Evolution des menschlichen Geistes
Gesetz des Minimums und des Maximums
Die Entstehung der menschlichen Art
Selektion mentaler Überlegenheit
Artgerecht: Die Formel für einen starken Frontalhirn-Akku
The GOOD, the BAD and the UGLY
Kapitel 8: Vom Sinn des Lebens
Sinnfindung
Die Sinnfrage aus evolutionsbiologischer Sicht
Let (not only) the children play ... (Santana)
Natürlicher Lebenssinn im Alter
Minimum und Maximum der Sinnhaftigkeit
Überlebenssinn
Lebenssinn steuert Erbgutprogramm
Kapitel 9: Der soziale Mensch
Die erste soziale Erfahrung
Die Känguru-Mutter oder die Macht des Berührens
Hormon der Treue
Spiegelneurone und Kindchenschema
Soziale Isolation
Vom Minimum des Sozialen
Vom Maximum des Sozialen
Kapitel 10: Warum wir schlafen
Schlaftrunkenheit
Der Frontalhirn-Akku wächst nur im Tiefschlaf
Die übermüdete Gesellschaft
Schlafhygiene
Von Eulen und Lerchen
Schlafmangel fördert stereotypes Denken und Rassismus
Genügend Schlaf für alle!
Kapitel 11: Essen mit Sinn für den Verstand
Kultur der Fehlernährung
Dicker Bauch, kleineres Gehirn
Fasten für die Fitness
Mangelentwicklung durch Nahrungsmangel
Kuhmilchwahn
Artgerechte Ernährung in modernen Zeiten
Der Menschheit geht der Fisch aus
Die Algenöl-Revolution
Mit Algenöl zum vollständigen Fischersatz
Die Darm-Hirn-Achse
Man ist, was man isst
Kapitel 12: Bewegungstier Mensch
Beweglich zu Fuß – beweglich im Kopf
Kreativität ist Bewegung im Denken
Es ist nie zu spät für eine bewegte Kindheit
Sitzen ist das neue Rauchen
Dem Alter davonlaufen ...
Kapitel 13: Unser täglich Gift
Kein Recht auf saubere Luft
Flucht vor der Realität
Chemie in Lebensmitteln
Eine Welt aus Plastik
Hirnschädliche Medikamente
Digitaler Detox
Kapitel 14: Zombie-Apokalypse – letztes Kapitel?
Globale Konsequenzen der globalen Frontalhirnschwächung
Der Zombie in uns
Verlust an Akku-Kapazität – Verlust an Empathie
Schwaches Ich sucht starkes Wir
Von der Idiokratie zur Infokratie
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Dank
Buchtipps
Anmerkungen
Bildnachweis
Register
Alles, was wir sind, ist das Resultat dessen,
was wir gedacht haben.
Buddha
Einleitung
Alles Leben ist Problemlösen, so der Titel eines Buches des österreichisch-britischen Philosophen Sir Karl R. Popper (1902–1994).1 Das klingt einleuchtend, denn schließlich geht unserem Tun wie auch unserem Nichtstun stets eine Entscheidung voraus – sprich die Antwort, ob bewusst oder unbewusst, auf die Frage, was man als Nächstes unternehmen wird. Nichts, was wir tun, geschieht rein zufällig. Das gilt auch für die von uns verursachte Umweltzerstörung, die Verseuchung der Weltmeere, die Schadstoffbelastung unserer Atemluft oder das immer rascher voranschreitende Artensterben, dem ein Großteil der Menschheit über kurz oder lang selbst zum Opfer fallen wird. Unser Untergang wäre somit ebenfalls eine Konsequenz aus menschlichen Entscheidungen.
»Alles Leben ist Problemschaffen«, wäre daher ein Alternativtitel für Poppers Buch gewesen. Doch wieso verhalten wir uns derart wider die menschliche Natur? Schließlich sollten wir alle doch das existenzielle Ziel verfolgen, unseren Nachkommen den Weg in eine gesunde Zukunft zu bahnen, anstatt ihre Lebensgrundlage zu zerstören. Oft wird behauptet, diese katastrophalen Entwicklungen seien Folge des Werks geldgieriger Wirtschaftslenker und korrupter Politiker – ganz so, als würden diese der Menschheit ihren selbstzerstörerischen Lebensstil aufzwingen. Auch wird gerne das kapitalistische System als Ursache angegeben – ganz so, als wären andere Wirtschaftssysteme tatsächliche Alternativen. Aber im Grunde genommen dienen solche Erklärungen nur dazu, uns der persönlichen Verantwortung zu entledigen. Denn schließlich sind es wir, also die große Mehrheit der »normalen« Menschen, die entscheiden, was wir kaufen, was wir essen oder wen wir wählen und wem wir politische Macht über uns verleihen.
Wenn ich im weiteren Verlauf das Wort »wir« benutze oder über »uns« schreibe, meine ich bezogen auf das jeweilige Verhalten oder den jeweiligen Umstand zumindest eine entscheidende Mehrheit. Ich selbst bin übrigens keine Ausnahme von diesem »Wir«, wie Sie aus so manchen, den Kapiteln vorangestellten Anekdoten aus meinem Leben ersehen können. Doch ich versuche beharrlich, zu verstehen, aus welchen Gründen auch ich immer wieder falsche Entscheidungen traf, wenn auch nur, um in Zukunft bessere treffen zu können – sehr wahrscheinlich gibt es nur deshalb dieses Buch. Es ist mein Versuch, eine grundlegende Antwort auf die Frage zu finden, weshalb mir und damit vermutlich auch uns, also einem Großteil der Menschheit, notwendige Veränderungen im Lebensstil so schwerfallen, wir gute Vorsätze immer wieder über den Haufen werfen oder eben schlichtweg zu selten die richtigen Entscheidungen treffen.
Eine zentrale Frage, die es zu beantworten gilt, lautet deshalb: »Wären Sie dazu bereit, Ihre derzeitige Lebensweise zu ändern, wenn sich herausstellen würde, dass diese auf Dauer (nicht sofort, da wäre die Antwort einfach) Ihr eigenes Leben und auch das Ihrer Kinder gefährdet?« Bei vielen Menschen wäre die Antwort auf diese Frage eher ein Nein (oder noch öfter ein Ja, das aber nie ernsthaft umgesetzt würde). Dass es sich insgesamt tatsächlich um die Mehrheit der Menschen handeln muss, sieht man im medizinischen Bereich. Schließlich ist nicht nur die Zerstörung unserer Umwelt und damit unserer Lebensgrundlage Folge menschlichen Verhaltens, sondern auch nahezu alle sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Arteriosklerose mit Schlaganfall oder Herzinfarkt, Alzheimer und viele Arten von Krebs sind es. Doch obwohl die meisten Menschen an diesen an sich vermeidbaren Krankheiten leiden und letztendlich sterben werden, weil es für sie keine heilenden Medikamente gibt, sind die wenigsten dazu bereit, das Entstehen dieser Krankheiten durch rechtzeitige Änderung des Lebensstils zu verhindern. Offensichtlich sind also nicht einmal chronische Krankheit und verfrühter Tod Anreiz genug, lieb gewonnene, doch auf Dauer leidbringende Gewohnheiten aufzugeben. Bei einer derart selbstzerstörerischen Grundhaltung ist es nicht überraschend, dass auch keine Änderung der Lebensweise zu erwarten ist, wenn es um so generelle und abstrakte Dinge geht wie ökologisches Gleichgewicht oder faire Zukunftschancen für alle (!) Kinder dieser Erde. Warum ist das so? Haben die meisten Menschen ihre persönlichen Gründe dafür, sodass es nur ein Zufall ist, dass sich nahezu alle gleichförmig verhalten, oder findet sich eine eher grundlegende Erklärung dafür?
Änderung erfordert auf Sachkenntnis basierendes, alternatives Denken und Handeln. Doch bei immer mehr Menschen herrscht geradezu eine Angst vor Neuem und damit auch vor Veränderung, selbst wenn sie eigentlich dringend erforderlich wäre. Womöglich fehlt es auch an Kreativität und Vorstellungskraft, um sich eine alternative Lebensweise ausmalen zu können. Und selbst wenn die Notwendigkeit zur Änderung als unabdingbar erkannt wird, mangelt es dann an Willensstärke bei der Umsetzung. Die Angst zu überwinden und Neues zu wagen benötigt mentale Energie, die offensichtlich viel zu viele Menschen nicht aufbringen können. Um was für eine Energie mag es sich dabei handeln? In diesem Zusammenhang wurde ich einmal gefragt, ob unser Gehirn tatsächlich ermüden könne bzw. ob unsere Konzentration nachlasse, wenn wir geistig aktiv sind. Im ersten Moment war ich etwas perplex ob der Trivialität dieser Frage, schließlich müsste der Fragensteller, wenn es sich nicht um einen Außerirdischen handelt, dies selbst tagtäglich erleben. Doch ich antwortete einfach nur höflich, dass mentale Arbeit Energie benötigt, was der Grund dafür ist, dass wir uns auch immer wieder ausruhen und uns erholen müssen.
Aber etwas an der Frage nagte an mir, denn schließlich gilt diese Antwort nicht für das gesamte Gehirn. So reguliert beispielsweise ein Bereich unseres Gehirns die Atmung – ohne Unterbrechung und dennoch ohne dabei zu ermatten. Würde dieser Teil des Gehirns dieselbe mentale Energie benötigen, die unser Denken und Handeln braucht, drohte immer die Gefahr, dass wir aus Erschöpfung ersticken. Weshalb also, so die etwas spezifischere Frage, ermüdet unsere Entscheidungszentrale, die sich direkt hinter unserer »Denkerstirn« im sogenannten Frontalhirn befindet? Was für eine Energie verbraucht es, ohne die andere Bereiche des Gehirns, die ständig aktiv sein können, anscheinend mühelos auskommen?
In den letzten Jahrzehnten hat die psychologische Forschung herausgefunden, dass die unserem Frontalhirn zur Verfügung stehende mentale Energie tatsächlich limitiert ist. Dieses Limit beeinflusst unser Denken, Entscheiden und Handeln. Ist unser mentaler Energiespeicher leer, hat das nicht nur einen quantitativen Effekt, so wie bei einem Muskel, der, wenn es ihm an Energie mangelt, einfach weniger Last bewegen kann. Es hat auch qualitative Auswirkungen: Man ist weniger bereit, über den Tellerrand zu schauen. Stattdessen neigt man zu stereotypem Denken, ist in Routinen gefangen und verliert dabei eine Fähigkeit, die uns Menschen eigentlich auszeichnet, nämlich sich sinnvoll an sich verändernde Situationen anpassen zu können. Kreativität, Vorstellungskraft und Willensstärke sind vermindert, und sogar das Selbstwertgefühl leidet. Wissenschaftlich wird dieser Zustand als »Ego Depletion« bezeichnet, was nichts anders als »mentale Erschöpfung« bedeutet. Für den Beitrag dieser Erkenntnisse aus der psychologischen Forschung insbesondere zur Wirtschaftswissenschaft bezüglich »Beurteilungen und Entscheidungen bei Unsicherheit«, teilten sich im Jahr 2002 der israelisch-US-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman und der US-amerikanische Ökonom Vernon L. Smith den Wirtschaftsnobelpreis. Unbeantwortet ließen die beiden jedoch die Frage, welcher Art diese mentale Energie ist, die unser Frontalhirn beim Entscheiden, aber eben auch für Kreativität, langfristiges Planen und Willenskraft zur Umsetzung von Zielen benötigt. Selbst nach ausführlichen Recherchen ist fast zwanzig Jahre später (Stand Januar 2022) diese entscheidende Frage immer noch offen, ebenso wie die Frage danach, wo in unserem Gehirn diese mentale Energie gespeichert wird.
Um diesen bisher noch unbekannten »Frontalhirn-Akku«, wie ich den Speicherort dieser mentalen Energie nennen möchte, zu identifizieren, nutzte ich alle bisher bekannten Funktionen dieser Energie als eine Art Kompass – und wurde tatsächlich fündig! Es gibt einen Ort in unserem Gehirn, der alle diese funktionellen Kriterien erfüllt. Dabei zeigt sich: Diese mentale Energie hat eine physische Präsenz. Durch die hier erstmals vorgestellte Entdeckung des sogenannten Frontalhirn-Akkus kennen wir somit nicht nur den Speicherort unserer mentalen Energie, die unser Frontalhirn benötigt, sondern wissen auch, welcher Natur sie ist. Wir können nun erklären, wie sich der Frontalhirn-Akku durch Denken »entlädt« und was passiert, wenn er sich im Schlaf wieder »auflädt«. Nicht zuletzt wissen wir nun auch, was seine Speicherkapazität limitiert, also weshalb unser Ego depletieren kann.
Unzählige Studien zeigen, dass wir das genetische Potenzial besitzen, die Speicherkapazität des Frontalhirn-Akkus lebenslang zu steigern. Diese Erkenntnis ist von weitreichender Bedeutung, sowohl für uns als Individuen als auch für die Menschheit als Ganzes. Schließlich würde unser Frontalhirn mit stärkerem Frontalhirn-Akku über mehr mentale Energie verfügen. Dies würde uns geistig flexibler machen und dabei helfen, häufiger die für uns besseren Lebensentscheidungen zu treffen und diese dann auch mit mehr Selbstbewusstsein und Willensstärke umzusetzen. Wie sich zeigt, basiert die Aktivierung dieses »Kapazitätssteigerungsprogramms« auf einer evolutionsgeschichtlichen Logik. Unter den Lebensbedingungen in einer sehr langen altsteinzeitlichen Phase entwickelte das Gehirn des Homo sapiens sapiens (doppelt deshalb, weil er weiß, dass er weiß; sich seines Denkens also bewusst ist), also des weisen und klugen Menschen, seine höchste Leistungsfähigkeit. Dabei kam es durch Selektionsdruck zur genetischen Anpassung an diese den Geist fördernden Lebensumstände. Damit wurden diese zu Notwendigkeiten und somit zu Bedingungen, die auch heute noch erfüllt sein müssen, damit sich unser Frontalhirn-Akku optimal entwickeln und dann sogar lebenslang weiter seine Kapazität steigern kann. Diese Bedingungen definieren in ihrer Summe ein artgerechtes Leben. Um »artgerecht« zu leben, genügt es völlig, diese natürlichen Bedürfnisse unseres Gehirns zu kennen und zu stillen, ohne dass wir wie in der Altsteinzeit leben müssten. Sind wir dazu bereit, dann können wir mit sehr einfachen Maßnahmen ...
die natürliche Entwicklung unserer Kinder unterstützen, sodass sie ihr geistiges Potenzial voll entfalten können,Kreativität, Selbstbewusstsein, Willenskraft und Durchhaltevermögen in allen Lebensphasen steigern,das Erinnerungsvermögen verbessern,die emotionale und soziale Intelligenz erhöhen,das rationale Denken fördern,die psychische Resilienz (Widerstandsfähigkeit) stärken,das natürliche Interesse an neuen Erfahrungen und die Lebensfreude steigern,Dinge bewusster wahrnehmen,und nicht zuletzt uns nachhaltig vor Burn-out, Depression und sogar der Alzheimer-Demenz schützen.Das sind die guten Nachrichten. Es gibt aber auch eine schlechte. Aufgrund dessen, dass unsere moderne Lebensweise in sehr vielen Bereichen in erheblichem Maß von dem abweicht, was unser Gehirn zur Entfaltung und Aufrechterhaltung dieser Funktionen benötigt, erreicht der Frontalhirn-Akku schon in der Kindheit nicht mehr seine genetisch mögliche Kapazität. Infolge unserer mittlerweile nahezu völlig artfremden Lebensweise wird auch sein natürliches Potenzial, seine Kapazität lebenslang immer weiter zu steigern, nicht genutzt. Vielmehr verliert der Frontalhirn-Akku beim »normalen«, also durchschnittlichen, Erwachsenen sogar kontinuierlich an Speichervermögen. Eine von vornherein unterentwickelte und sich im Laufe des Lebens immer weiter abbauende Speicherkapazität des Frontalhirn-Akkus ist Ursache einer chronischen Ego Depletion, also einer chronischen Schwächung der Frontalhirnfunktionen, wovon ein großer Teil der Menschheit betroffen ist. Dies ist höchst problematisch und erklärt unter anderem ...
den Zuwachs an Angstsymptomatiken und Depressionen, auch schon bei Kindern,die Abnahme an emotionaler und sozialer Intelligenz sowie an Empathiefähigkeit in der breiten Gesellschaft,die Zunahme an kollektivem Narzissmus mit dem Hang zu stereotypem Denken und Handeln,den zutiefst beunruhigenden Umstand, dass wir trotz drohendem Kollaps unserer Lebensgrundlage so weitermachen wie bisher.Die »Pandemie der Frontalhirnschwächung« infolge einer chronischen Kapazitätsminderung des Frontalhirn-Akkus liefert somit eine neurobiologische Erklärung für viele dramatische Entwicklungen, die weltweit zu beobachten sind. Dazu gehört unter anderem leider auch die offensichtliche Unfähigkeit der Menschheit, die Zerstörung ihres begrenzten Lebensraums zu beenden. Ebenso lässt sich so begründen, weshalb so viele Menschen daran scheitern, ihre Lebensweise zu ändern, selbst wenn sie wissen, dass dies für ihre eigene Gesundheit und die Zukunft ihrer Kinder lebenswichtig wäre. So befindet sich ein beträchtlicher Teil der Menschheit in einem Teufelskreis der Frontalhirnschwächung, der womöglich nur durch Anwendung der hier aufgezeigten Erkenntnisse durchbrochen werden kann. Gelingt dies nicht, ist der selbstzerstörerische Prozess auf individueller wie auch auf globaler Ebene sehr wahrscheinlich unaufhaltsam.
Kapitel 1:
Die Exekutivzentrale des menschlichen Gehirns
Das Hirn ist weiter als der Himmel Denn legst du beides Seit an Seit Nimmt es ihn auf in sich mit Leichtigkeit und Dich noch nebenbei Das Hirn ist tiefer als das Meer
Denn legst du beide aneinander – Blau an Blau – Nimmt es dieses in sich auf
Wie es Schwämme, Eimer tun Das Hirn hat das Gewicht von Gott Denn hebst du beide an, Gramm für Gramm Der Unterschied – falls es ihn gibt – Wäre wie der zwischen Silbe und Klang
Emily Dickinson (1830–1886)
Die Macht der menschlichen Fantasie
Als kleiner Junge war ich begeistert von Robin Hood. Ich liebte es, Bogen zu basteln und Pfeile zu schnitzen und dann auf Entenjagd in den nahe gelegenen Wald zu gehen. Schließlich aßen meine Eltern gerne Geflügel, und ich wollte als kleiner Robin meinen Beitrag zur Ernährung der Familie leisten. Um meine Chance auf Jagdglück zu verbessern, watete ich durch das flache Bett eines kleinen Baches, an dessen Ufern sich Enten tummelten. Natürlich war meine Ausrüstung viel zu primitiv, um bei der Jagd jemals erfolgreich sein zu können. Aber das wusste ich damals nicht, und darauf kam es auch gar nicht an. Alles, was zählte, waren die Idee und der Versuch, meine Idee umzusetzen, gepaart mit dem Gefühl des Ungestörtseins in der Natur, ganz allein mit meinen Gedanken. Eine Frage beschäftigte mich bei einem meiner Streifzüge, vielleicht war sie meinem ständigen Jagdpech geschuldet: Hat mein Tun irgendeine Bedeutung, wenn ich die schier unendlich erscheinende Weite der Welt um mich herum betrachtete? Ich weiß heute noch, wo ich gerade entlangstiefelte, als mir diese Frage durch den Kopf ging und mir zum ersten Mal eine Antwort in den Sinn kam, die mir auch heute noch plausibel erscheint. Damals wurde mir auf wundersame Weise klar, dass in der Natur alles mit allem verbunden ist und dadurch auch alles, was ich tue, egal wie unbedeutend es erscheinen mag, irgendwelche Konsequenzen haben muss. Selbst wenn ich nur einen Stein auf dem Boden wegkickte (was ich dann auch tat), war die Welt eine etwas andere als zuvor. Etwa zwei Jahrzehnte später las ich James Gleicks Buch über die Chaos-Theorie2 – und es war mir von der ersten bis zur letzten Seite nicht fremd: Jedes Wesen ist wie ein Schmetterling, der bekanntlich nur durch einen Flügelschlag jederzeit einen Orkan auslösen könnte.
Kreativität ist eine Kombination aus Fantasie, Vorstellungsvermögen und Schaffenskraft und laut einer wissenschaftlichen Definition letztendlich die Fähigkeit, originelle, ungewöhnliche, flexible und wertvolle Ideen oder Verhaltensweisen hervorzubringen, die eine etablierte Gewohnheit außer Kraft setzen.3 Tatsächlich haben wir die Fähigkeit, zu begreifen, dass alles, was ist und geschieht, auch völlig anders sein oder sich anders entwickeln könnte. Unser Gehirn kann sich sogar Dinge ausmalen, die überhaupt nicht existieren – und oft erst dadurch zu existieren beginnen. Das macht unser Gehirn, wie das eingangs zitierte Gedicht von Emily Dickinson es so wunderbar ausdrückt, zu einem kreativen Schöpfer, größer als das Universum und vielleicht sogar noch etwas größer als Gott. Denn schließlich könnte es sein, dass unser erfinderischer Geist Gott in den vielen kulturellen und individuell gedachten Varianten ebenfalls erschaffen hat. So heißt es zwar in der Bibel »Am Anfang war das Wort« (Joh 1,1–3), aber es könnte auch sein, dass es eher heißen müsste: »Am Anfang war die Idee, der Gedanke, die Vorstellung – oder einfach nur die menschliche Fantasie.«
Fantasie ist der Motor des sozialen Fortschritts. Für Albert Einstein (1879–1955) war Fantasie sogar wichtiger als Wissen.4 Das ergibt durchaus Sinn, denn schließlich ist Wissen begrenzt, Fantasie jedoch nicht. Doch wenn bekanntlich Wissen Macht bedeutet – wie viel mächtiger muss dann erst die menschliche Fantasie sein? Und wenn Macht zu haben Verantwortung mit sich bringt, welch hohe Verantwortung haben wir durch unsere Fantasie? Was wir im Rahmen unserer »fantastischen« Möglichkeiten täglich tun oder auch nicht tun, also sowohl die großen als auch die kleinen Entscheidungen, die wir treffen oder auch nicht treffen, bestimmt neben vielen anderen Faktoren, die außerhalb unserer Kontrolle liegen, was für ein Leben wir selbst führen, aber auch, wie das Leben vieler anderer Menschen verläuft. Auch wenn vieles sich außerhalb unseres Einflussbereichs zu befinden scheint, so tragen wir doch eine enorme Verantwortung, auch wenn wir uns ihrer nicht immer bewusst sind. Diese Gedanken werfen vielfältige Fragen auf. Wie wir sie beantworten wird den Weg, den die Menschheit einschlägt, wie kaum etwas anderes bestimmen: Warum hat das menschliche Gehirn einerseits das Potenzial zu kulturellen Höchstleistungen und andererseits zu fremd- und selbstzerstörerischen Verhaltensweisen? Wie kann es sein, dass seine außergewöhnliche Kreativität und soziale Intelligenz es dem Homo sapiens ermöglicht hat, die Erde zu dominieren, nur um sie nach und nach so radikal zu zerstören, dass schon jetzt seine Lebensgrundlage und die seiner tierischen Mitbewohner immer ernster bedroht und teilweise sogar schon unwiederbringlich zerstört ist? Wie kann unser Gehirn von Natur aus um das persönliche Wohl unserer Nachkommen bemüht sein und wiederum ein »Nach-mir-die-Sintflut-Verhalten« an den Tag legen? Wie kann unser Verhalten von planerischer Weitsicht geprägt und dann wieder auf sofortige Triebbefriedigung ausgerichtet sein, selbst wenn wir dadurch uns selbst oder anderen Lebewesen Schaden zufügen? Tatsächlich stehen viele Entscheidungen unseres Gehirns immer wieder im Widerspruch zum eigenen Überlebensinstinkt. Aber auch zum Fortpflanzungsinstinkt, aufgrund dessen jeder Mensch das natürliche Bestreben hat, zumindest für den eigenen Nachwuchs immer das Beste zu wollen. Es ist daher von existenzieller Bedeutung, herauszufinden, wie die sogenannte Exekutivzentrale unseres Gehirns ihre Entscheidungen trifft.
Das Frontalhirn – was uns zum Menschen macht
Wegbereiter für die Entdeckung und Erforschung der Exekutivzentrale des menschlichen Gehirns war – wie so oft in der Geschichte der Medizin, wenn man zu völlig neuen Erkenntnissen kam – eine menschliche Tragödie.
Am 13. September 1848 füllte Phineas Gage (1823–1860), Vorarbeiter einer Truppe von Eisenbahnbauern in Vermont, wie gewohnt Sprengstoff in ein Bohrloch. Vielleicht war er bei dieser für ihn routinemäßigen Tätigkeit nicht ganz bei der Sache. Jedenfalls vergaß er, isolierenden Sand nachzufüllen, bevor er mit einer etwa einen Meter langen und drei Zentimeter dicken Eisenstange begann, das Pulver im Bohrloch zu verdichten. Zwangsläufig explodierte dabei die Ladung, und die Stange wurde zum Geschoss. Sie durchbohrte seinen linken Wangenknochen, dann den hinteren Teil seiner linken Augenhöhle und zuletzt seinen Schädel, wie die folgende historische Zeichnung illustriert.5 Auf diesem Weg zerstörte sie den vorderen Teil seines Großhirns, den sogenannten Frontallappen. Kurioserweise blieb Gage nicht nur während des Unfalls bei vollem Bewusstsein, er überlebte ihn sogar. Nach Aussage seines Arztes John Martyn Harlow war er schon nach wenigen Wochen körperlich wiederhergestellt. Nur sein linkes Auge hatte er verloren.
Zerstört wurde aber eben auch, obwohl von außen nicht sichtbar, ein Großteil des sogenannten präfrontalen Cortex. Cortex ist lateinisch für Rinde und bezieht sich hier auf die Hirnrinde, in der sich vorwiegend die Zellkörper der Nervenzellen befinden. Als präfrontal bezeichnet man den vordersten Teil des Frontal- oder Stirnlappens, den ich im Weiteren abgekürzt Frontalhirn nennen werde (siehe Abbildung 2). Gages Motorik blieb, da sie vom hinteren Teil des Frontallappens aus gesteuert wird, bei dem Unglück ebenso intakt wie seine Fähigkeit zu sprechen, weshalb ihn sein Arzt zunächst als gesundet betrachtete. Auch die Wahrnehmung seiner Umwelt sowie sein Langzeitgedächtnis waren trotz der massiven Hirnzerstörung unverändert. Dennoch war Phineas Gage nach dem Unfall nicht mehr der Alte: Der zuvor stets als höflich, ausgeglichen und besonnen bekannte Gage war plötzlich wesensverändert. Die Zerstörung größerer Teile seines präfrontalen Cortex bzw. seines Frontalhirns machte ihn unzuverlässig, sprunghaft und respektlos – sich selbst und anderen gegenüber. Er zeigte starke Stimmungsschwankungen, wurde zum Trinker, gab sich ziellos Vergnügungen aller Art hin und verschwendete sein Geld. Über die langfristigen Folgen seines ausschweifenden Lebens schien er sich keinerlei Gedanken zu machen.
Abbildung 1: Phineas Gage lebte noch zwölf Jahre trotz weitreichender Zerstörung des vorderen Teils seines Frontalhirns durch eine Eisenstange, die bei dem Unfall seinen Schädel durchbohrte.
So tragisch dieser Unfall für ihn war, so aufschlussreich war er für die Wissenschaft. Denn die Folgen der Zerstörung bzw. die Veränderungen seines Wesens machten deutlich, welch wichtige Funktionen das Frontalhirn bei unseren Lebensentscheidungen und unserem Verhalten hat.6 Erstaunlich ist auch, dass man selbst nach massiver Zerstörung des Präfrontalhirns weiterleben kann – allerdings unter Einbuße einiger wesentlicher Eigenschaften, die verantwortungsvoll denkende und vorausschauend agierende Menschen besitzen (dies ein wichtiger Aspekt, der uns noch beschäftigen wird).
Abbildung 2: Das Großhirn wird anatomisch in vier sogenannte Lappen eingeteilt. Das Frontalhirn oder der präfrontale Cortex ist der vorderste Teil des Frontal- bzw. Stirnlappens, der sich direkt hinter der Stirn befindet.
Viele weitere individuelle Tragödien, ausgelöst durch schwere Hirntraumata (Unfälle), lokale Tumore oder Durchblutungsstörungen infolge von Arteriosklerose und Schlaganfall, ermöglichten Neurowissenschaftlern, den verschiedenen Bereichen des Frontalhirns ihre besonderen Funktionen zuzuordnen.7 Manche beeinträchtigen die Fähigkeit, Probleme zu analysieren und zu lösen sowie aus Fehlern zu lernen, andere Regeln einzuhalten oder Pläne zu schmieden und diese umzusetzen. Beispielsweise hat man herausgefunden, dass der direkt hinter der Stirn liegende Teil verantwortlich ist für Planung, zielgerichtetes Verhalten, Problemlösung und Aufmerksamkeit. Diese Region ist auch Sitz unseres Kurzzeit- beziehungsweise Arbeitsgedächtnisses. Direkt dahinter liegt ein Bereich, in dem sich unser »Bauchgefühl« lokalisieren lässt, er ist aber auch Sitz unserer sozialen und moralischen Empfindungen. Schädigungen in diesem Hirnareal können deshalb zu extremen Veränderungen im sozialen Verhalten führen. Diese reichen von Teilnahmslosigkeit und Depression bis hin zum extremen Gegenteil, also zu Aktionismus, Distanzlosigkeit oder gar Größenwahn. Alle diese Persönlichkeitsveränderungen, die mit unterschiedlichen Schädigungen des Frontalhirns einhergehen, werden trotz ihrer zum Teil sehr unterschiedlichen Ausprägungen unter dem allgemeinen Begriff »Frontalhirnsyndrom« zusammengefasst. Dabei ist generell festzustellen: Ein funktionsfähiges Frontalhirn ist Voraussetzung für rationale Intelligenz (den RQ, abgeleitet von IQ), für emotionale Intelligenz (EQ) und soziale Intelligenz (SQ). Bei Schädigung des Frontalhirns beziehungsweise Einbuße seiner Funktion können sozial inakzeptable Handlungen häufig nicht mehr unterdrückt werden.
Trotz teils massiver Schädigung ihres Frontalhirns haben Betroffene interessanterweise, wie schon das Beispiel Cage illustrierte, meist keinerlei Probleme bei Routinehandlungen. Zum Beispiel verlaufen das Einkaufen von alltäglichen Dingen, die Zubereitung von Speisen sowie das Wahrnehmen von Terminen in der Regel völlig unauffällig. Würde ein zufälliger Gesprächspartner, den Sie noch nicht näher kennen, an einem Frontalhirnsyndrom leiden, würden Sie dies während eines oberflächlichen Gesprächs womöglich nicht einmal bemerken.
Frontalhirnsyndrom oder Frontalhirnschwäche
Bei genauerem Hinsehen und in der Beziehung zu Angehörigen sowie generell zum Umfeld wird jedoch deutlich, dass das Frontalhirnsyndrom das Wesen, Denken und Handeln der Betroffenen nachhaltig verändert. So kann es zu Wahnvorstellungen und paranoiden Attacken kommen. Daher nehmen manchmal auch die Angehörigen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch, um mit der Situation besser zurechtzukommen. Solange der Frontalhirngeschädigte jedoch keine Gewalttaten begeht, ist seine Erkrankung für die Gesellschaft von untergeordneter Bedeutung. Glücklicherweise ist das Frontalhirnsyndrom auch sehr selten.
Viel häufiger hingegen ist jedoch eine ähnliche Wesensveränderung infolge eines Mangels an mentaler Energie. Sie ist allerdings nicht strukturell, sondern funktional bedingt. Da dieser Zustand der mentalen Erschöpfung jeden (!) von uns betreffen kann und unser Denken und Handeln beeinflusst, hat er wesentlich größere soziale, wirtschaftliche und politische Auswirkungen. Um diese sehr viel verbreitetere Funktionseinbuße des Frontalhirns aufgrund eines Energiemangels vom Frontalhirnsyndrom abzugrenzen, werde ich im Weiteren im Zusammenhang mit dieser Funktionseinbuße von einer Frontalhirnschwäche sprechen. Diese kann akut und vorübergehend sein, aber – wie ich zeigen werde – auch durchaus chronisch werden.
Kapitel 2:
Ego Depletion – akuter Verlust an Geisteskraft
Geh früh schlafen,
morgen musst du freundlich sein.
Phil Bosmans (1922–2012)
Akute mentale Erschöpfung und ihre Konsequenzen
Als ich im Frühjahr 2000 die Leitung eines Münchner Biotechnologieunternehmens übernahm, war eine meiner ersten Handlungen, meine Umwelt vor mir zu schützen: Ich bat meine Assistentin, nach 17 Uhr keine geschäftlichen Telefonate mehr durchzustellen. Dabei liegt es eigentlich in meiner Natur, Dinge, die gerade anstehen, wenn möglich immer sofort zu erledigen. Das hat den Vorteil, dass man nicht ein weiteres Mal darüber nachdenken muss, was schließlich Zeit und Energie kostet. Dazu gehört aber eben auch, Gesprächen nicht aus dem Weg zu gehen, was den Vorteil hat, dass ich mir keine Gedanken darüber machen muss, welches Anliegen die betreffende Person wohl haben könnte. Dagegen spricht jedoch der gravierende Nachteil, dass ich nach einem langen Arbeitstag erschöpft bin und es mir nicht nur schwerfällt, mich auf neue Probleme einzustellen, die jemand mit mir besprechen möchte, sondern auch, im Gespräch so freundlich und verständnisvoll zu sein, wie es berechtigterweise erwartet wird. Aus demselben Grund schicke ich spät abends auch keine E-Mails mehr ab. Am nächsten Morgen mit klarem Kopf ist es für mich schlichtweg einfacher, den richtigen Ton zu treffen.
Jeder weiß, wie es sich anfühlt, wenn nach einem anstrengenden Tag der »Akku« leer ist. Für dieses allgemeingültige neurobiologische Phänomen gibt es sogar einen wissenschaftlichen Begriff, nämlich den der Ego Depletion. Ego heißt bekanntlich »ich«, und ebenso aus dem Lateinischen stammt deplere, was so viel wie »ausleeren« bedeutet. Zusammengesetzt ist damit »Erschöpfung des Selbst« gemeint. Der Grund für diese mentale Erschöpfung ist, dass uns täglich nur eine begrenzte Menge an mentaler Energie zur Verfügung steht, die insbesondere von unserem Frontalhirn für alle seine exekutiven Aufgaben benötigt wird. Zu diesen zählen ...
das Setzen von Zielen sowie die Erstellung einer Prioritätenliste bei mehreren Zielendie Entwicklung von Handlungsplänen zur Erreichung des Primärziels und möglicher weiterer Zieledie Analyse möglicher Hürden und Schwierigkeitendie Eigenmotivation und die Motivierung möglicher Partner oder Teammitglieder, die eventuell beim Erreichen der Ziele mithelfen sollendie andauernde Aufmerksamkeitssteuerung und emotionale Selbstkontrolle bei der zielgerichteten Umsetzungdie ständige Analyse sämtlicher Zwischenergebnisse mit Abgleich der ursprünglichen Planung unter Mithilfe des Arbeitsgedächtnissesdie unter Umständen notwendigen Plan- und SelbstkorrekturenBeim Erfüllen dieser Frontalhirn-Aufgaben leert sich dessen Akku, den ich im Weiteren als »Frontalhirn-Akku« bezeichnen werde. Mit Abnahme seines »Ladezustands« fällt es uns zunehmend schwerer, konzentriert nachzudenken und die Motivation dafür aufzubringen. Bei völliger mentaler Erschöpfung ist es nahezu unmöglich, die beste Lösung für ein Problem zu finden.
Schokolade und Willenskraft. Im Jahr 1996 ersann Roy Baumeister ein psychologisches Experiment, das unser Denken über die menschliche Willenskraft revolutionierte.8 Zusammen mit drei ehemaligen Kollegen der Case Western Reserve University untersuchte er, wie der unerfüllte Wunsch nach Schokolade die mentale Leistungsfähigkeit seiner Studienteilnehmer beeinflusste. Für das Experiment hielten sich alle Versuchsteilnehmer in einem Raum mit frisch gebackenen Schokoladenkeksen auf. Natürlich sorgte der Geruch für ein großes Verlangen. Doch während die eine Hälfte sich die Kekse tatsächlich gönnen durfte, gab es für die anderen nur Radieschen, wofür sie sich wenig begeistern konnten. Anschließend mussten beide Gruppen schwierige Rätsel lösen, und dabei geschah das Überraschende: Die »Radieschen-Gruppe« unternahm weit weniger Versuche beim Lösen der Aufgaben und befasste sich auch weniger als halb so lange damit wie die »Schokoladenkeks-Gruppe«. Sich der süßen Verführung widersetzen zu müssen hatte offensichtlich Willenskraft gekostet, die nun in einem anderen Bereich fehlte. Für die Psychologie war diese an sich sehr einfache Studie ein Durchbruch und wurde zur Grundlage für mittlerweile Tausende weiterer Untersuchungen des Verhaltens vielfältiger Gruppen und Personen. Allen gemeinsam ist das eine Fazit: Willensstärke bzw. mentale Energie wird für viele Aufgaben und Entscheidungsprozesse benötigt und ist – das ist das Entscheidende – limitiert.
Von der Entleerung des »Frontalhirn-Akkus« ist neben Motivation und Willenskraft auch die Selbstkontrolle betroffen. Deshalb wird es gegen Abend auch merklich schwieriger, gute Vorsätze durchzuhalten. Mir fällt es zum Beispiel sehr schwer, nach dem Abendessen, selbst wenn ich eigentlich völlig satt bin, Schokolade zu ignorieren, von der ich weiß, dass sie im Haus ist. Es hält mich auch nichts davon ab, sie aus dem Schrank zu holen und dann in der Regel gleich die ganze Tafel zu verspeisen – weder mein schlechtes Gewissen noch das Bewusstsein, dass ich mich am nächsten Morgen beim Griff in den Bauchspeck darüber ärgern werde. Abgesehen davon, dass Schokolade schmeckt und bei mir wie bei vielen Menschen angenehme Kindheitserinnerungen weckt, gibt es für dieses Verhalten bei abnehmender Willensstärke und Selbstkontrolle beziehungsweise leerem Frontalhirn-Akku mindestens drei Gründe, die sich an diesem persönlichen Beispiel leicht erklären lassen: Erstens erfordert es mentale Energie, nicht an Schokolade zu denken, und diese Energie ist im Zustand der Ego Depletion eben nicht mehr in ausreichender Menge vorhanden. Zweitens neigt man bei leerem Akku dazu, spontanen Eingebungen zu folgen, wie zum Beispiel der Vorstellung, sich für die Anstrengungen des Tages mit Schokolade belohnen zu dürfen, was dann auch schnellstens umgesetzt wird. Drittens macht man sich bei mentaler Erschöpfung über die längerfristigen Konsequenzen seines Tuns (zu viel Schokolade ist auf Dauer ungesund), auch wenn einen schon in dem Moment das Gewissen plagen mag, so gut wie keine weiteren Gedanken – auch das wäre ja mit mentaler Anstrengung verbunden.
Wie meine eingangs geschilderte Anekdote illustriert, fand ich – wie Sie vermutlich ebenso – schon früh in meinem Leben heraus, dass es bei depletiertem Ego nicht mehr so leichtfällt, in Gesprächen so freundlich zu sein, wie man es gelernt hat und eigentlich gerne wäre und wie es von einem erwartet wird. Das ist mit Blick auf Baumeisters Schokoladenexperiment gut zu verstehen, denn schließlich sind nicht nur Kreativität und Konzentrationsfähigkeit Funktionen der Exekutivzentrale unseres Gehirns, die mentale Energie benötigen, sondern eben auch die soziale Kompetenz – und dazu gehören anerzogene Verhaltensweisen bzw. das erlernte Unterdrücken sozial inakzeptabler Reaktionen. Ist diese ominöse Energie verbraucht, dann passiert leicht das, was ein guter Bekannter und generell sehr freundlicher Mensch mir gegenüber einmal auf den Punkt brachte: »Irgendwann kann man einfach nicht mehr nett sein.«
Das gemeinsame Charakteristikum aller Aktivitäten des Frontalhirns beim Nachdenken, Treffen und Umsetzen von Entscheidungen ist, dass sie diese besondere Art mentaler Energie benötigen – egal, ob man dann tatsächlich etwas unternimmt oder scheinbar nichts tut, ja sogar, ob einem dies bewusst ist oder nicht. Diese Energie wird auch für unsere Willenskraft gebraucht, also für die Fähigkeit, etwas weiter durchzuhalten, selbst wenn es Schwierigkeiten bei der Umsetzung gibt oder etwas anderes lockt. Durchzuhalten und dabei fokussiert zu bleiben unterliegt einem ständigen Entscheidungsprozess, der unser Ego depletieren kann. Wenn uns die mentale Energie im Laufe des Tages nicht mehr oder nicht mehr in ausreichendem Maße zur Verfügung steht, wenn der Frontalhirn-Akku immer weniger »geladen« ist, lassen auch Kreativität, Konzentration und Selbstkontrolle nach, und dann treffen wir meist weniger gute Entscheidungen oder zumindest keine durchdachten. In gewisser Weise geht es uns dann wie dem verunglückten Phineas Gage, wobei wir allerdings nicht unter einem Frontalhirnsyndrom leiden, das permanenten Charakter hat, sondern unter einer akuten Frontalhirnschwäche.
Schnelles und langsames Denken
Wie unser Gehirn Entscheidungen trifft und auf welche Weise dieser Prozess durch Ego Depletion beeinflusst wird, erklärt sich laut dem Psychologen Daniel Kahneman anhand zweier auf den ersten Blick konkurrierender, aber letztendlich zusammenarbeitender Denk- beziehungsweise Entscheidungssysteme: dem schnellen System I und dem langsamen System II.9
System I ist in gewisser Weise der Autopilot unseres Gehirns. Nach der »predictive mind theory«, zu Deutsch »Theorie des vorhersagentreffenden Geistes«, steuert System I uns weitgehend unbewusst durchs Leben, indem es ständig vorausberechnet, wie die Zukunft aussehen könnte, und entsprechend handelt. Da das schnelle System I, im Gegensatz zu System II, von Natur aus sehr wenig mentale Energie benötigt, kann es ständig aktiv sein, und das ist es auch. Dies ist auch durchaus sinnvoll, denn in den meisten, sich tagtäglich wiederholenden Lebenssituationen ist es von Vorteil, schnell reagieren zu können, ohne erst nachdenken zu müssen. Das gilt bei Routinehandlungen und ganz besonders in akut lebensbedrohlichen Situationen, denn System I erlaubt uns auch dann, schnell Entscheidungen, sozusagen »aus dem Bauch heraus«, treffen und ebenso schnell agieren zu können. Das ist überlebenswichtig, und deshalb hat es die Natur so eingerichtet, dass System I auch dann noch funktioniert, wenn der mentale Akku leer ist.
Das langsamere, akribische System-II-Denken ist im Gegensatz zum ständig aktiven System I auf »Stand-by« und wird nur dann aktiv, wenn wir es bewusst einschalten. Zum Beispiel, wenn neue Lebensentscheidungen anstehen, es mehrere Alternativen gibt und man spürt, dass man möglichst alle relevanten Aspekte berücksichtigen sollte. Dann übernehmen wir bzw. unser Bewusstsein die Kontrolle, und der Autopilot (System I) wird für kurze Zeit ausgeschaltet. Kurz, um unseren mentalen Akku zu schonen und auch weiterhin genügend Energiereserven zu haben für eventuell weitere Denkprozesse mittels System II. System II kontinuierlich zu nutzen wäre sehr wahrscheinlich schon allein aus Kapazitätsgründen gar nicht möglich. Wir sind von Natur aus im Energiesparmodus.
Das Einschalten von System II ist nicht so einfach, denn System I neigt gerne zu vorschnellen Entscheidungen beziehungsweise zu übereilten Antworten auf Fragen, die uns auf den ersten Blick einfach erscheinen, auch wenn sie es nicht sind. Dies möchte ich mithilfe der folgenden zwei Beispiele illustrieren, die sich auch in Kahnemans Buch Schnelles Denken, langsames Denken finden. So antwortet System I auf die Frage, wann ein Teich mit Seerosen zur Hälfte bedeckt ist, wenn die Blätter der Seerosen sich täglich verdoppeln und der Teich nach 12 Tagen völlig bedeckt sein würde, spontan »nach 6 Tagen« (das wäre ja auch die Hälfte der Zeit). Der Denkfehler wird klar, sobald man System II einschaltet und die korrekte Antwort »nach 11 Tagen« findet (das Gegenteil von Verdopplung ist Halbierung, also rückwärts gerechnet ebenfalls ein Tag). Entsprechend lautet die spontane Antwort von System I auf die Frage, was ein Kugelschreiber kostet, wenn dieser und eine Uhr zusammen 110 € wert sind und die Uhr um 100 € teurer ist als der Kugelschreiber, in der Regel »10 €« (110 minus 100 sind schließlich 10). Auch hier würde System II mit etwas Nachdenken erkennen, dass dies ein »Nicht-Nachgedacht-Fehler« von System I war und »5 €« die richtige Lösung ist (5 plus 100 sind 105, und 5 plus 105 sind dann die tatsächlich bezahlten 110 €).
Interessanterweise sagt eine richtige oder falsche Antwort nichts über den IQ des Befragten aus; selbst Menschen mit sehr hohem IQ tendieren oft zur falschen Antwort. Der Grund dafür ist, dass alle Menschen in der Regel System I den Vorrang geben: zum einen, weil es als erstes die Frage zu »hören« bekommt, und zum anderen, weil es weniger geistige Energie benötigt, mit System I zu antworten und System II weiter ruhen zu lassen. Nur wenn System I aufgrund früherer Erfahrung »spürt«, vielleicht, weil es schon einmal peinlich war, überhastet reagiert zu haben (sich also ein entsprechendes Bauchgefühl einstellt), und deshalb merkt, dass die Antwort nicht so offensichtlich sein kann (warum würde sonst jemand eine solche, vermeintlich simple Frage überhaupt stellen, wenn es dabei nicht einen Trick gibt?), schaltet unser Gehirn System II ein. Allerdings steigt mit zunehmender Depletion des Ego die Wahrscheinlichkeit, dass wir dies nicht tun, selbst wenn das Bauchgefühl uns dazu rät.
Wenn uns die mentale Energie fehlt, sind wir risikoaffiner und dann auch schnell bereit, eine möglicherweise falsche Antwort zu geben bzw. eine falsche Entscheidung zu treffen. Dieses Verhalten erinnert an das des verunglückten Phineas Gage, was bedeutet, dass die Schädigung des Frontalhirns dieselben Auswirkungen haben kann wie die Depletion des Frontalhirn-Akkus. Sinkt der Ladezustand des Frontalhirn-Akkus, dessen Energie wir zum Nachdenken mittels System II benötigen, auf null, behält System I bei unseren Entscheidungen stets die Oberhand, und diese fallen meist konservativ aus, weil im gewohnten und daher vertrauten Zustand zu verbleiben kein Nachdenken erfordert und auch Sicherheit suggeriert. Leider gilt das auch, wenn wir spüren bzw. wissen, dass grundlegende Änderungen in unserer Verhaltens- oder Lebensweise langfristig besser wären.
Das ist nicht nur für einen selbst von Belang, denn unsere Entscheidungen haben so gut wie immer auch Auswirkungen auf Dritte. Wäre ich beispielsweise ein Häftling, der den Großteil seiner Strafe abgesessen hat und sich aufgrund seines vorbildlichen Verhaltens zu Recht Hoffnung auf eine vorzeitige Entlassung macht, dann müsste eine wesentliche Vorkehrung sein, dass mein Verteidiger dafür sorgt, dass ich am Tag der Verhandlung der erste Fall bin, den der Richter bearbeitet. Schließlich sinken laut den Ergebnissen einer israelischen Studie, die in einem hochrangigen Journal publiziert wurde, meine Chancen, vorzeitig in Freiheit entlassen zu werden, beträchtlich – und zwar von relativ hohen 65 Prozent, wenn ich der Erste bin, auf praktisch null, wenn der Richter bei mir sein letztes Urteil fällt; selbst wenn mein Fall mit dem ersten des Tages vergleichbar ist.10 Für dieses Phänomen gibt es viele Erklärungsversuche. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass es dem Richter bei zunehmender Ermüdung und unter Zeitdruck (weil er nach Hause oder mittagessen gehen will) leichter fällt, konservativ zu sein, also alles zu lassen, wie es ist.11 Schließlich erfordert die Entscheidung, einen Häftling – selbst bei sehr guter Führung – vorzeitig zu entlassen, die Berücksichtigung und Abwägung von viel mehr Aspekten, als den aktuellen Zustand zu belassen, den man kennt und der niemandem schadet (außer dem Gefangenen). Konservativ zu sein spart mentale Energie und Zeit – allerdings, im genannten Beispiel, nur dem Richter, nicht dem Gefangenen.
Wichtig oder unwichtig? Alltägliche und vom Gefühl her nicht allzu wichtige Entscheidungen, wie zum Beispiel, was man auf die Einkaufsliste schreibt, werden mit System I schnell gefällt. Sie könnten jedoch bei näherer Betrachtung mittels System II komplex werden. So würde man sich, geleitet von System I, beim Kauf von Fleisch sehr wahrscheinlich für das billigste Stück entscheiden, insbesondere, wenn man zum Beispiel den Werbeslogan »Geiz ist geil« verinnerlicht hat. Man fühlt sich dann sogar gut dabei. System II, wäre es eingeschaltet, würde möglicherweise die nachteiligen gesundheitlichen Aspekte bewusst machen, denn bekanntlich ist Billigfleisch aus der Massentierhaltung (ungesunde Fette, Antibiotika-Belastung, etc.) ungesund. Aus emotionalen Gründen könnte System II auch das Leid der Tiere in die Kaufentscheidung einfließen lassen und erwägen, möglicherweise den Fleischkonsum zu reduzieren oder ganz einzustellen. Berücksichtigt System II vielleicht sogar noch die globalen Folgen des Fleischkonsums, wie Resistenz gegen Antibiotika durch den massiven Einsatz als Mittel zur Tiermast, Umweltzerstörung durch die Rodung von Regenwäldern zur Futtermittelproduktion und die Vergüllung des Grundwassers, dann wird dieser eine Punkt auf der Einkaufsliste, nämlich billiges Fleisch zu kaufen oder doch eine gesunde Alternative zu wählen, zu einer wichtigen Entscheidung. Sie hat persönliche und globale Konsequenzen, und man sollte sie deshalb vielleicht nicht nur System I überlassen.
Wir werden auf das Problem konservativen Denkens und Handelns bei akut, aber auch chronisch leerem Frontalhirn-Akku ausführlicher zurückkommen, denn es hat neben persönlichen auch gesellschafts-, gesundheits-, wirtschafts- und sogar umwelt- und weltpolitische Konsequenzen.
Denken und Handeln in Vorurteilen
System I agiert – gerade weil es keinen großen geistigen Aufwand betreibt – notgedrungen stereotyp. Dies stellt in akuten Notsituationen kein Problem dar, im Gegenteil: Rast beispielsweise ein Auto auf mich zu, wäre es wenig sinnvoll, lange darüber nachzudenken, wer zum Beispiel der Fahrer sein könnte oder was er eventuell durch seinen Fahrstil beabsichtigt, ob er mich nur erschrecken will oder tatsächlich ein Unfall bevorsteht. Hier ist es wichtig, sofort auszuweichen. »Auf mich zufahrende Autos sind gefährlich« ist ein lebensrettendes Stereotyp.
Der US-amerikanische Schriftsteller Walter Lippmann (1889–1974) definierte »stereotypisierendes Denken« als ein Denken, bei dem aus ökonomischen Gründen der notwendige Energieaufwand einer umfassenden Analyse von Detailerfahrungen nicht betrieben wird. Anders gesagt: Wer in Stereotypen denkt, denkt zwar schnell, aber genau genommen denkt er nicht wirklich nach, sondern läuft, ebenfalls nach Lippmann, Gefahr, »verfestigte, schematische, objektiv weitgehend unrichtige kognitive Formeln« im Alltag anzuwenden.12 Darüber hinaus wirkt ein Stereotyp beziehungsweise ein Vorurteil wie ein Filter, der die eigene Wahrnehmung beeinflusst und damit in der Regel die bestehende Voreingenommenheit verstärkt. So schenkt man Informationen, die in ein vorgefertigtes Schema passen, mehr Aufmerksamkeit als anderen. Der Oxforder Experimentalpsychologe Robin Murphy und sein Team kamen zu dem Ergebnis, dass unser Gehirn insbesondere negative Aussagen über eine uns unliebsame Gruppe bevorzugt sammelt, während es dazu neigt, positive zu ignorieren.13 Auch hier ist System I am Werk. Die Gefahr, sich bei seinen tagtäglichen Entscheidungen nur noch auf System I zu verlassen, wächst, wenn die Ladung des mentalen Akkus nicht oder nicht mehr ausreicht, um System II zu bemühen. So können beispielsweise Vorurteile, selbst wenn man weiß, dass sie ungerechtfertigt sind, im Zustand der Ego Depletion nur schwer unterdrückt werden.14
In diesen Fällen wird Stereotypisieren zum Nachteil. Vorurteile wie »Dunkelhäutige Ausländer oder Andersgläubige sind eine Bedrohung« schaden einer auf globale Zusammenarbeit angewiesenen Gesellschaft und bedrohen letztendlich sogar die Existenz der gesamten Menschheit. Denn solange nicht alle (!) Menschen einander als gleichwertig respektieren, können globale Probleme, die unsere Zukunftschancen nicht nur beeinträchtigen, sondern sogar zerstören, nicht gelöst werden.
Gute Ratschläge sind nicht die Lösung
... sondern meist wertlos.
Da die Ego Depletion ein Phänomen darstellt, das jeden Menschen angeht, mangelt es nicht an allgemeinen und gut gemeinten Ratschlägen, wie damit umzugehen sei.15 Empfohlen wird zum Beispiel, täglich bestimmte Vorkehrungen als Selbstschutzmechanismus zu treffen, solange man noch über ausreichend mentale Energie verfügt. In dem eingangs geschilderten Fall bat ich meine Assistentin, abends keine geschäftlichen Telefonate mehr durchzustellen (für meine Familie blieb die Leitung offen). Es wäre in meinem Fall sicher auch schlau, keine Schokolade zu kaufen, so würde ich abends, wenn mein Ego depletiert ist, erst gar nicht der Versuchung erliegen, sie zu verspeisen.
Das grundsätzliche Problem der mentalen Erschöpfung wird dadurch aber nicht gelöst. Im ersten geschilderten Beispiel wäre es vielleicht besser gewesen, ein wichtiges geschäftliches Gespräch entgegenzunehmen. Auch das Vermeiden des Kaufs von Schokolade könnte die Problematik sogar noch verschlimmern (wie ich ebenfalls aus eigener Erfahrung weiß). Denn unter depletiertem Ego komme ich sehr wahrscheinlich auf die Idee, den Vorratsschrank nach anderen essbaren Alternativen zu durchsuchen, und die sind vielleicht noch ungesünder. Gute Ratschläge helfen uns also nur wenig weiter.
Noch problematischer wird es, wenn man dem depletierten Ego eines anderen ausgeliefert ist, wie das zuvor geschilderte »Richter-Dilemma« illustrierte. Dies ist in einer komplexen Welt, in der jeder von jedem auf irgendeine Art abhängig ist, nahezu unvermeidlich. Deshalb wäre es besser, eine grundlegende Lösung zu finden, statt Ratschläge zu geben. Diese könnte darin liegen, die Kapazität des mentalen Akkus so zu erhöhen, dass man das anstehende und tatsächlich nötige Tageswerk erledigen kann, ohne sich dabei mental völlig zu erschöpfen. So besäßen alle – oder zumindest die meisten Menschen – stets genügend mentale Energie, um, wenn nötig, zu jeder Zeit System II einschalten und vernünftig handeln zu können. Ein schöner Gedanke. Doch ist das tatsächlich machbar?
Um herauszufinden, ob eine Kapazitätssteigerung unserer geistigen Energiereserven überhaupt möglich ist und ob dies auf natürliche Weise zu bewerkstelligen sein könnte, müsste man erst einmal in Erfahrung bringen, was genau bei mentaler Anstrengung eigentlich depletiert. Denn noch ist völlig unklar, welche Art von Energie unser Frontalhirn benötigt, um mittels System II seine exekutiven Funktionen ausführen zu können. Die primäre Frage ist, wissenschaftlich gestellt, daher: Was ist das »neuronale Korrelat« des Frontalhirn-Akkus bzw. was ist die physische Natur der mentalen Energie, die darin gespeichert wird? Die Antwort auf diese Frage ist von so grundlegender Bedeutung, dass wir uns nun auf die Suche nach einer Antwort begeben werden.
Kapitel 3:
Die Suche nach dem Frontalhirn-Akku
Das Maß der Intelligenz
ist die Fähigkeit zur Veränderung.
Albert Einstein (1879–1955)
Die süße Illusion
Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich noch beim nächtlichen Fasten. Schon während meines Studiums fiel mir auf, dass ich am besten lerne und arbeite, wenn ich morgens nach dem Aufstehen sofort loslege, ohne vorher zu frühstücken. Schon damals genügte mir ein Kaffee, um in die Gänge zu kommen, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Dabei wurde noch zu meiner Schulzeit der Grundsatz »Frühstücke wie ein König« regelrecht zelebriert. Mir fiel jedoch auf, dass nach dem Verzehr eines Marmeladenbrots oder eines knusprigen Müslis innerhalb von etwa einer Viertelstunde ein ungutes Gefühl in mir aufkam, das sich als Heißhunger äußerte. Das erschien mir paradox und damals noch unerklärlich, denn schließlich hatte ich ja gerade einiges gegessen. Heute weiß ich, woran das lag. Beim Sitzen müssen die Muskeln kaum arbeiten und haben deshalb so gut wie keinen Bedarf an Energie und damit auch nicht an den gefrühstückten Kohlenhydraten. Deshalb steigt der Blutzucker, woraufhin das Zuckerstresshormon Insulin diesen wieder senkt, ein Abgleiten in den Unterzucker ist die Regel. Auch nach einem süßen Pausensnack galt meine schulische Aufmerksamkeit nicht mehr dem Lehrer, sondern einzig und allein der Uhr über der Tür des Klassenzimmers und der Frage, ob ich es bis zur nächsten Pause durchhalten würde. Manchmal öffnete ich heimlich unter der Schulbank ein mitgebrachtes, kleines quadratisches Traubenzückerchen, eingepackt in einer durchsichtigen Plastikhülle, um ein Problem zu lösen, das es gar nicht hätte geben müssen. Auf diese Weise hangelte ich mich durch den ganzen Tag, von Mahlzeit zu Zwischenmahlzeit zu Mahlzeit.
Lange Zeit vermuteten Neurobiologen, dass es sich bei der Depletion des Ego infolge geistiger Anstrengung (System II), also dem graduellen Verlust an »Hirnenergie«, auch faktisch um ein Problem der Energieversorgung handle, sprich um ein Defizit an Blut- bzw. Traubenzucker. Unter diesem Aspekt wurde auch die erwähnte Studie, nach deren Ergebnis Strafgefangene mit erheblich größerer Wahrscheinlichkeit aus der Haft entlassen werden, wenn der Richter zuvor eine Pause hatte, mit den etwas satirischen Worten kommentiert: »Gerechtigkeit ist, was der Richter frühstückte.«16 Dieser damals vorherrschenden Lehrmeinung widerspricht jedoch die Erkenntnis, dass selbst bei längerem Fasten sehr effektive Mechanismen in Gang gesetzt werden, um die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns zu erhalten. So ist das Gehirn in der Regel auch mit Abstand das letzte Organ, das beim Fasten unter einem Energiemangel leidet: Wenn wir für etwa zehn bis zwölf Stunden keine Nahrung zu uns nehmen, bleibt der Blutzucker gewöhnlich in einem gesunden Normbereich. Darüber hinaus können zur zusätzlichen Energieversorgung gesättigte Fettsäuren aus unseren Fettdepots freigesetzt werden, weil in dieser Stoffwechselsituation kein Insulin ausgeschüttet wird, was dies verhindern würde. Diese Fettsäuren erreichen über den Blutweg die Leber und werden dort in sogenannte Ketonkörper umgewandelt. Ketonkörper können – im Gegensatz zu gesättigten Fettsäuren – sehr gut ins Gehirn gelangen und sind dort sogar eine effizientere Energiequelle als Glukose (Traubenzucker). So wird beim »Verbrennen« der Ketonkörper weniger Sauerstoff benötigt und dennoch mehr Energie freigesetzt. Gegen die Vorstellung, dass es sich bei der Ego Depletion um einen Mangel an Stoffwechselenergie handelt, spricht auch die Erkenntnis, dass ein Mehr an geistiger Arbeit einfach nur die Durchblutung der verstärkt arbeitenden Hirnregionen erhöht.17 Gleichgültig, ob unser Gehirn bei seinen Entscheidungen das intensiv nachdenkende System II oder das oberflächlich agierende System I nutzt, kommt es beim geistigen Arbeiten nicht zu einer Senkung der lokalen Blutzuckerkonzentration.18 Aber auch Evidenz aus einem anderen Bereich der Hirnforschung schließt Glukose als die limitierende Hirnenergie und deren Mangel als Ursache der Ego Depletion aus. So konnte gezeigt werden, dass mentale Aufgaben, die Selbstkontrolle und die Nutzung von System II erfordern, bei gleichzeitiger körperlicher Arbeit nicht beeinträchtigt werden, obwohl Muskelarbeit wesentlich mehr Glukose verbraucht als Nachdenken. Selbst wenn der Blutzuckerspiegel aufgrund körperlicher Anstrengung etwas absinkt, wurde genau das Gegenteil festgestellt: Körperliche Aktivität vermindert die mentale Leistungsfähigkeit nicht, sie steigert sie.19 So führen bei Vorschulkindern schon 20 Minuten körperlicher Anstrengung im sogenannten aeroben Bereich, in dem Sprechen noch möglich ist, im Vergleich zum Ruhigsitzen zu einer deutlichen Leistungsverbesserung bei Aufgaben, bei denen eine kognitive Aufmerksamkeitskontrolle erforderlich ist.20 Die Autoren der Studie fassten ihre Erkenntnisse folgendermaßen zusammen: »Insgesamt deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass eine einzige Einheit mäßig intensiver aerober Bewegung (wie Gehen) die kognitive Kontrolle der Aufmerksamkeit bei Kindern im Vorschulalter verbessert und die Nutzung von moderater Bewegung zur Steigerung der Aufmerksamkeit und der schulischen Leistung beiträgt. Die Daten deuten darauf hin, dass schon eine einzelne Trainingseinheit bestimmte Prozesse beeinflusst, die die kognitive Gesundheit unterstützen und die sehr wahrscheinlich für ein effektives Funktionieren während der gesamten Lebensdauer erforderlich sind.« Aus evolutionsbiologischer Sicht ergibt das durchaus Sinn, denn schon als sich das menschliche Gehirn entwickelte, war das Sammeln von Erfahrungen meist auch mit körperlicher Bewegung wie dem Sammeln von Nahrung verbunden. Deshalb stellt sich die Frage, weshalb Kinder in der Schule sitzen müssen, wenn sie lernen – schließlich sollte es ja darum gehen, dass sie möglichst konzentriert bleiben und offen für neues Wissen, also mit einem aktiven System II dabei sind.
Fasten oder körperliche Aktivität schränken das Denken nicht ein, sondern fördern es dann, wenn dabei der Blutzucker in einem unteren Bereich gehalten beziehungsweise sogar etwas gesenkt wird. Bei der mentalen Energie, die System II benötigt und deren noch unbekannter Speicher letztendlich depletiert wird, muss es sich offensichtlich um etwas anderes handeln als Stoffwechselenergie. Deshalb hilft auch eine Zufuhr von Glukose nicht, wenn es darum geht, das depletierte Ego zu regenerieren21 – im Gegenteil: Die Einnahme von Glukose lässt den Blutzucker in die Höhe schießen, woraufhin der Körper große Mengen Insulin ausschüttet, welches dafür sorgt, dass die Glukose von Fettzellen aufgenommen und in Körperfett umgewandelt wird. Dadurch sinkt der Blutzuckerspiegel so schnell ab, wie er zuvor angestiegen war, und meist noch etwas stärker. Auch die Produktion der energiereichen Ketonkörper kommt zum Erliegen. Die Folgen des Blutzuckerabfalls sind dann Leistungsabfall und Heißhungerattacken, was bei häufiger Wiederholung zu Übergewicht und Stoffwechselstörungen führen kann. Darüber hinaus führen erhöhte Blutzuckerwerte zu Entzündungsreaktionen im Gehirn und infolgedessen zu einer schlechteren Gedächtnisleistung, also genau zum Gegenteil dessen, was man sich von dem süßen Energieschub eigentlich erhofft hatte.22 Dennoch wird immer noch, obwohl man es eigentlich besser weiß, fast reiner Traubenzucker in kleinen, plastikumhüllten Dosierungen als geistige Energie verkauft. Damit Eltern gleich wissen, was ihre Kinder vermeintlich zum Lernen benötigen, tragen solche Traubenzückerchen Namen wie »Schulstoff«. In einer entsprechenden Produktbewerbung heißt es dann auch23: »Prickelnd, fruchtig, lecker. Dextro Energy Schulstoff in der praktischen Box liefert Energie und Geschmack zugleich. Der schnelle Kohlenhydratspender für zwischendurch und unterwegs überzeugt mit dem Aroma von Erdbeeren, Himbeeren und Heidelbeeren. Dextrose [Dextrose ist eine alte Bezeichnung für Glukose; Anmerkung des Autors (AdA)] geht dabei direkt ins Blut über [was stimmt; AdA] und fördert die Konzentration und mentale Leistungsfähigkeit [was nach dem zuvor Erläuterten nur stimmen kann, wenn der Blutzuckerspiegel zuvor einen notfallmäßigen Tiefstand erreicht hatte, zum Beispiel bei Insulinüberdosierung eines Diabetikers; AdA].« Aber nicht nur die hohe Menge an konzentriertem Zucker (83 % Dextrose und Maltodextrin) ist ein Problem, auch die weiteren Zutaten wie Säuerungsmittel, Säureregulator, Trennmittel und künstliche Aromen sind keine gesunden Nahrungsbestandteile für ein Kind (und auch nicht für einen Erwachsenen).
Natürlich ist unser Gehirn ohne ausreichende Zufuhr von Stoffwechselenergie in Form von Ketonkörpern und Glukose nicht leistungsfähig, weshalb eine akute Durchblutungsstörung des Gehirns wie bei einem Schlaganfall oder eine chronische wie bei Arteriosklerose meist zu einer Störung der Denkfähigkeit führt. Aber selbst intensives Nachdenken mittels System II vermindert weder die Blutversorgung des Gehirns (das Gegenteil ist der Fall, wie wir gesehen haben), noch erzeugt es einen Mangel an Stoffwechselenergie.24 Bei der Depletion des Egos und damit dem Abnehmen der Willenskraft muss es sich demnach um Mangel an einer ganz anderen Form von Energie handeln. Doch um welche? Um der Sache auf den Grund zu gehen, sollten wir die elementaren Eigenschaften dieser Energie beziehungsweise das, was wir über ihren Speicher wissen, genauer betrachten.
Sechs Grundeigenschaften des Frontalhirn-Akkus
Bisher gibt uns die Wissenschaft noch keine Antwort darauf, um was für eine Form von depletierender Frontalhirnenergie es sich handelt und wo in unserem Gehirn diese noch unbekannte Energie gespeichert wird, sprich: wo sich der Frontalhirn-Akku befindet. Aber es gibt einige interessante und vielversprechende Hinweise. So wissen wir zumindest, dass der Frontalhirn-Akku die folgenden wichtigen Eigenschaften besitzt:
Er wird zur mentalen Arbeit mittels System II benötigt.Falls der Frontalhirn-Akku sich nicht im Frontalhirn selbst befindet, sondern in einem anderen Bereich des Gehirns, so muss für den Energietransfer eine schnelle und direkte Verbindung bestehen.Sein Speicher ist begrenzt, was die Depletion des Egos durch dessen Nutzung erklärt.Bei stereotypen Aktivitäten mittels System I wird er nicht oder zumindest nur in geringem Maße genutzt.Er wird im Schlaf »aufgeladen«.Eine mangelhafte Aufladung oder eine neurologische Schädigung des Frontalhirn-Akkus verursachen dieselben Symptome wie eine Schädigung des Frontalhirns.Diese Eigenschaften sind zugleich auch wesentliche Identifikationskriterien, die uns bei unserer Suche nach dem Frontalhirn-Akku helfen werden. Dabei gilt jedoch, dass zu einer zuverlässigen Identifikation alle diese Kriterien erfüllt sein müssen.
Um der Identifikation des Frontalhirn-Akkus ein Stück näherzukommen, beginnen wir mit der Frage, welche Leistungen unser Gehirn erbringen muss, wenn wir mit System II intensiv nachdenken und uns eventuell sogar dafür entscheiden, neue Wege zu gehen, anstatt mit dem konservativen System I gewohnheitsmäßig zu agieren. Was ist das Besondere am System-II-Denken?
Intellegere – Das Entscheiden aufgrund von Erinnerungen
Meist existieren an Gabelungen unseres Lebensweges mehrere Möglichkeiten, zumindest jedoch zwei. Wollen wir an solch einer Stelle eine verantwortungsvolle Entscheidung in die eine oder andere Richtung treffen, sollten wir jede Option auf ihre sofortigen, aber auch auf ihre langfristigen Konsequenzen hin gedanklich durchspielen. Dabei könnten wir uns, je nach gegebener Situation, zum Beispiel folgende Fragen stellen: Welche Auswirkungen hat mein mögliches Tun oder Nicht-Tun auf mein Leben, aber auch auf das anderer, die von meiner Entscheidung ebenfalls betroffen sein könnten? Welche Emotionen ruft die jeweilige Alternative bei den Beteiligten möglicherweise oder sehr wahrscheinlich hervor? Auch dies ist wichtig. Denn das Einberechnen von Emotionen, Gefühlen und Affekten auch bei einer vermeintlich rein rationalen Entscheidungsfindung ist kein verzichtbarer Luxus – im Gegenteil. Tun wir beispielsweise etwas, das Menschen im persönlichen Umfeld, die uns wichtig sind, schadet, könnten soziale Isolation und Vereinsamung eine Konsequenz sein, was zumindest langfristig auch ganz erheblich dem eigenen Wohlergehen und der Gesundheit schaden würde. Bei manchen Entscheidungen müssten wir uns auch Gedanken darüber machen, was die Folgen unseres Handelns beispielsweise auf die Umwelt sein könnte. Dies einzukalkulieren wäre insbesondere bei vielen alltäglichen Aufgaben wichtig, gerade weil sie oft zur Routine geworden sind. Denn was wir tagtäglich tun, hat sehr wahrscheinlich größere Auswirkungen auf unsere Umwelt als die eine oder andere einmalige Handlung (Ausnahmen bestätigen hier die Regel). Zum Beispiel wird eine einmalige Flugreise deutlich weniger Umweltschäden verursachen als der tägliche Verzehr von Fleisch aus Massentierhaltung. Da Letzteres auch für die eigene Gesundheit von direktem Nachteil ist, könnte man vielleicht zuerst über Alternativen nachdenken. Es geht bei unserem Tun also oft auch darum, unserer Verantwortung für uns selbst, aber eben auch für unser direktes Umfeld oder sogar für die Gesellschaft als Ganzes gerecht zu werden.
Möglichst ausgewogene Entscheidungen zu treffen ist nicht leicht und erfordert ein gewisses Maß an Intelligenz. Das legt schon die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs nahe. Er entstammt dem lateinischen Verb intellegere, einer Wortkombination aus inter für »zwischen« und legere für »wählen«, und bedeutet demnach »auswählen zwischen zumindest zwei Alternativen«. Oft wird Intelligenz mit dem Ergebnis eines Intelligenztests gleichgesetzt. Doch dieser bestimmt nur den IQ, den Intelligenz-Quotienten. Dessen Höhe korreliert mit der Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses, die bestimmt wird durch die Anzahl von Informationseinheiten, die man bei einer Problemlösung gleichzeitig im Geiste »jonglieren« kann. Fünf bis sechs Dinge stellen hierbei ein gutes Mittelmaß dar. Das Problem dabei: Beim Jonglieren von Bällen, um diese Analogie noch einmal zu bemühen, bleiben diese nur so lange in der Luft, wie man sie bewusst in Bewegung hält. Wird der Jongleur für nur einen Moment abgelenkt, drohen sie herunterzufallen. Auch beim Jonglieren unserer Gedanken im Arbeitsgedächtnis sind diese nur so lange in unserem Geiste präsent, wie wir die Hirnströme, die sie repräsentieren, bewusst aktiv halten, indem wir uns auf sie konzentrieren. Wird unsere Aufmerksamkeit nur für einen kleinen Moment abgelenkt, ist der jeweilige Gedankenfluss unterbrochen. Beim Kopfrechnen verweilen beispielsweise etwaige Zwischenergebnisse nur für wenige Momente im Arbeitsgedächtnis, idealerweise gerade so lange, wie wir sie für die Rechnung benötigen. Sobald das Ergebnis vorliegt und unser Geist zum nächsten Thema wandert, gehen sie verloren. Auch eine uns unbekannte Telefonnummer, die wir uns beim Ablesen fürs Eintippen gemerkt haben, wird in der Regel sofort wieder vergessen sein, sobald das Gespräch beginnt. Das Arbeitsgedächtnis enthält somit nur flüchtige Informationen, die wie bei einem Computer verloren gehen, sobald wir ihn ausschalten, ohne die Daten zuvor gesichert zu haben. Aufgrund der Flüchtigkeit der Informationen wird das Arbeitsgedächtnis auch Kurzzeitgedächtnis genannt.
Die Höhe des IQ bzw. die Stärke des Arbeitsgedächtnisses helfen uns daher bei der Suche nach dem Frontalhirn-Akku nicht weiter. Schließlich sind Entscheidungen mittels System II, also das Abwägen der Vor- und Nachteile sämtlicher Optionen, davon abhängig, dass wir sehr viele Aspekte berücksichtigen und uns auch längerfristig an unsere Gedanken erinnern können. Da das Arbeitsgedächtnis dazu offensichtlich nicht in der Lage ist, kann es kein Kandidat für den gesuchten Frontalhirn-Akku sein.