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Der Held der Moskauer Metro
Der Krieg gegen die Schwarzen, die Mutanten, die die Metro-Station
WDNCh angegriffen und die ganze Moskauer U-Bahn bedroht haben, ist vorüber. Bei seiner Rückkehr vom Ostankino-Fernsehturm wird Artjom wie ein Held empfangen. Sofort kursieren Geschichten über seinen Sieg in der Metro, und irgendwo schreibt sogar ein alter Mann ein Buch über ihn. Selbst wenn die Menschen das Lesen und Schreiben verlernen, wird diese Legende an Lagerfeuern im Untergrund weitererzählt werden. Doch niemand weiß, was in jener Nacht wirklich geschehen ist. Dies ist Artjoms Geschichte …
Die METRO-Story »Das Evangelium nach Artjom« ist auch in der Buchausgabe von »METRO 2033« enthalten und umfasst ca. 27 Seiten. In diesem E-Book finden Sie zusätzlich eine Leseprobe zu einem anderen Roman von Dmitry Glukhovsky.
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Seitenzahl: 76
Das Buch
Der Krieg gegen die Schwarzen, die Mutanten, die die Metro-Station WDNCh angegriffen und die ganze Moskauer U-Bahn bedroht haben, ist vorüber. Bei seiner Rückkehr vom Ostankino-Fernsehturm wird Artjom wie ein Held empfangen. Sofort kursieren Geschichten über seinen Sieg in der Metro, und irgendwo schreibt sogar ein alter Mann ein Buch über ihn. Selbst wenn die Menschen das Lesen und Schreiben verlernen, wird diese Legende an Lagerfeuern im Untergrund weitererzählt werden. Doch niemand weiß, was in jener Nacht wirklich geschehen ist. Dies ist Artjoms Geschichte …
Die METRO-Story »Das Evangelium nach Artjom« ist auch in der Buchausgabe von METRO 2033 enthalten und umfasst ca. 27 Seiten. In diesem E-Book finden Sie zusätzlich eine Leseprobe zu einem anderen Roman von Dmitry Glukhovsky.
Von Dmitry Glukhovsky sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen:
Metro 2033
Metro 2034
Metro 2035
Sumerki – Dämmerung
Futu.re
Der Autor
Dmitry Glukhovsky, geboren 1979 in Moskau, hat in Jerusalem Internationale Beziehungen studiert und arbeitete als TV-und Radio-Journalist unter anderem für den Fernsehsender Russia Today und die Deutsche Welle. Mit seinem Debütroman METRO 2033 landete er auf Anhieb einen Bestseller. Er gilt als einer der neuen Stars der jungen russischen Literatur. Der Autor lebt in Moskau.
diezukunft.de
DMITRYGLUKHOVSKY
DASEVANGELIUMNACHATRJOM
Eine Story aus demMETRO-Universum
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Weiße Plastiktüten fliegen mir ins Gesicht.
Ich blättere sie von der Sichtscheibe meiner Gasmaske, lasse sie los, der Wind nimmt sie auf, und die Tüten treiben durch die Luft davon wie Quallen.
Echte Tiere gibt es hier nicht – weder gewöhnliche, noch jene Monster, die sich an die Strahlung gewöhnt haben.
Im Umkreis von mehreren Kilometern gibt es hier kein lebendiges Blatt, ja nicht einmal einen Grashalm … Nichts als Asche, geschmolzener Stahl, verkohlte Fenster und brüchiger Beton. Auch die wenigen Pflanzensamen, die der Wind heranträgt, schlagen in diesem vergifteten Boden keine Wurzeln und verdorren.
Selbst Plastiktüten scheinen sich hier nur kurz ausruhen zu wollen, bevor sie weitereilen.
Ich komme täglich hierher. Schon längst habe ich aufgehört, die Tage zu zählen, die ich hier verbracht habe.
Ich lege den schweren Strahlenschutzanzug an, setze die Gasmaske auf, nehme meine Waffe – und mache mich über die Rolltreppe auf den Weg nach oben. Anfangs begleiteten mich seltsame Blicke – manche herablassend, andere begeistert, wieder andere voller Spott. Inzwischen haben sich alle Bewohner meiner Station daran gewöhnt und beachten mich nicht mehr. Was mir nur recht ist.
Ich weiß nicht, was ich auf diesem Haufen Schutt und Asche suche. Vielleicht gar nichts. Man sagt ja, dass es einen Mörder immer wieder an den Ort des Verbrechens zurückzieht. Wieso sollte es in meinem Fall anders sein?
Eines ist klar: Hier wird mir weder Vergebung zuteil, noch finde ich hier Hoffnung.
Ich grabe mit dem Stiefel im Schmutz, drehe mit einem Stock verrostete Eisenteile herum.
Weder Vergebung noch Hoffnung werde ich hier finden, nur Schutt und Asche.
Dennoch werde ich hierher kommen, solange mich meine Füße tragen.
Sie empfingen mich wie einen Helden.
Verbrannt, blutig, zerfetzt standen sie da. Ich war aus einem zerbombten Fernsehturm aus Beton gekommen, aber sie blickten mich an, als wäre ich vom Himmel herabgestiegen.
Ich wollte krepieren und hatte mir die Gasmaske heruntergerissen. Ich atmete die verbotene, vergiftete Luft, deren Geschmack ich so lange hatte kosten wollen. Und schmeckte nichts.
Ich war durch tote Straßen geirrt, in der Hoffnung, dass irgendetwas mich auffräße, bevor ich die Metro erreichte. Doch die Kreaturen, die noch vor kurzem nach meinem Blut gelechzt hatten, ekelten sich nun vor mir.
Als ich endlich bei der Metro ankam, wartete die Menge bereits auf mich.
Die Menschen waren nach oben gekommen, trotz des Verbots, um mit eigenen Augen die Erde zu sehen, die ich den Dämonen für ihre Kinder abgetrotzt hatte. Und als sie sahen, dass ich die kalte Luft der Oberfläche ungeschützt atmete, begannen einige von ihnen ebenfalls ihre Gummimasken abzunehmen. Durch meinen Sieg glaubten sie die einst verlorene Welt wiedererlangt zu haben. Sie wussten nicht, dass ich soeben ihre letzte Chance auf Rettung vernichtet hatte. Und ich sagte ihnen nichts davon.
Unter jenen, die nach oben gekommen waren, um mich zu begrüßen, befand sich auch eine Frau mit Kind. Hatte sie denn keine Angst um die Gesundheit ihres Sohnes? Wahrscheinlich schon. Aber es war erst ein paar Stunden her, dass sie dem Tod ins Auge gesehen hatte. Ja, alle, die nun an der Oberfläche standen, all diese abgezehrten Menschen, hatten sich wenige Stunden zuvor bereits damit abgefunden, dass ihr Leben vorüber war. Sie hatten in der belagerten Station ausgeharrt, denn es gab keinen Ort, wohin sie hätten fliehen können. Sie waren geblieben, um die Station zu verteidigen – bis zum letzten, bis zum unausweichlichen, baldigen Ende. Wenn ein Todeskandidat begnadigt wird, fürchtet er sich dann, krank zu werden? Nein, er fürchtet sich vor nichts mehr.
Was diese Menschen nicht wussten: Ich hatte ihr Todesurteil nur durch lebenslange Haft ersetzt.
Auch der kleine Junge auf dem Arm seiner Mutter riss sich die zusammengeflickte Gasmaske vom Gesicht, winkte mir damit zu und rief: »Artjom, schau mal: Schnee!«
Vom Himmel segelten fette, graue Flocken herab und bepuderten die schmutzig-braune Erde und den schwarzen, rissigen Asphalt. Ich streckte meine Handfläche aus und zerrieb einige Flocken mit den Fingern.
»Hurra! Schnee!«, rief der Junge noch immer.
»Das ist kein Schnee«, entgegnete ich. »Das ist Asche.«
Ich bin ein Feigling. Und deswegen bin ich ein Held.
Ich werde mich niemals trauen, ihnen zu sagen, was wirklich geschehen ist. Wenn ich es doch täte, würden sie mir nicht glauben – oder annehmen, dass die Schwarzen meinen Verstand kontrollieren.
Es kursieren bereits verschiedene Legenden über mich. Irgendwo schreibt ein alter Mann sogar ein Buch über mich: darüber, wie einmal ein junges Bürschchen von einer abgelegenen Station sich auf den Weg machte und durch die Metro wanderte, um sein Haus und die ganze Menschheit vor Dämonen zu schützen, die von oben in die Tunnel eingedrungen waren. Wie er in vielen schweren Kämpfen zum Mann wurde und schließlich eine furchtbare Waffe entdeckte, die einst seine Vorfahren zurückgelassen hatten, und wie er sich aufmachte, die bösen Kreaturen damit zu vernichten. Wie diese, um sich zu schützen, von seinem Bewusstsein Besitz ergriffen, der Junge jedoch auch diese letzte Prüfung bestand, der letzten Versuchung standhielt – und siegte …
Unsere Kinder werden das Schreiben verlernen, und ihre Kinder werden vergessen, dass es einmal Buchstaben gab. Niemand wird mehr da sein, um das Buch über die Metro zu lesen. Aber solange die Tunnelbewohner nicht verlernen zu sprechen, werden sie einander diese Legende erzählen – am Lagerfeuer, während sie an den Knochen ihrer Feinde nagen. In den Mythen dieser wilden Menschenfresser werde ich ewig ein Held sein. Eine gerechte Strafe für meinen Kleinmut.
Wenn man mich fragt, wie alles begann, so antworte ich: Alles begann an jenem Tag, als wir das hermetische Tor an der Station Botanitscheski Sad öffneten. Wir – das waren ich und meine beiden Freunde. Wir waren noch Kinder und wussten nicht, was wir taten. Ja, wir hatten ein Verbot missachtet, aber welcher junge Bursche tut das nicht?
Wer war damals eigentlich auf die Idee gekommen, die tote Station aufzusuchen? Wer hatte die anderen dazu angestachelt? Ich weiß es nicht mehr, antworte ich. Vielleicht Witalik der Nörgler, vielleicht Schenja.
Es ist eine Lüge.
Eine Lüge, die mir leicht fällt, denn niemand kann meine Worte überprüfen: Witalik und Schenja leben beide nicht mehr. Und selbst wenn sie noch lebten, würden sie mich decken. So wie ich es immer für sie tat.
Nein, die ganze Geschichte begann nicht erst in dem Moment, als die tonnenschweren Torflügel knirschend zur Seite fuhren, um uns den Weg in die Hölle zu eröffnen – und den Dämonen den Zugang zur Metro.
Es war ein ganz anderer Tag gewesen: sonnig und klar, warm und frisch, voller unglaublicher, wunderbarer Gerüche, an die ich mich nicht mehr erinnere. Ich weiß nur noch, dass ich seither nichts dergleichen mehr wahrgenommen habe.
»Artjomka«, sagte meine Mutter lächelnd zu mir. »Heute gehen wir im Botanischen Garten spazieren. Hast du Lust?«
»Ja!«, rief ich. »Spazieren!«
Ich weiß noch, dass der Waggon halb leer war; es war Wochenende. Ich erinnere mich, wie wir die kurze Rolltreppe nach oben fuhren. Wie wir aus dem riesigen Glaspavillon hinaus in das Grün der Straße traten. Wie leichte Wolken über einen grenzenlosen Himmel zogen, und wie mir ein angenehm kühler Wind ins Gesicht blies. Am Metroausgang befand sich ein Eiskiosk, und wir stellten uns in die Schlange.