Wir. Tagebuch des Untergangs - Dmitry Glukhovsky - E-Book

Wir. Tagebuch des Untergangs E-Book

Dmitry Glukhovsky

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Beschreibung

Ein Kaleidoskop voller akkurater, hellsichtiger und ungeschönter Beobachtungen des Bestsellerautors zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Russlands während der letzten 10 Jahre bis heute. Glukhovskys scharfer Blick auf die Ereignisse bietet eine erhellende Analyse der inneren und äußeren Verfasstheit des Landes und zeigt, warum Russland sehenden Auges in den Untergang steuert — und wie lange sich das schon abzeichnete. Ein klarer Blick auf die frühen Signale und den Sog des russischen Niedergangs und zugleich ein brillantes Panorama der Gegenwart von einem Meister der satirischen, scharfzüngigen Erzählkunst.

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Seitenzahl: 449

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Dmitry Glukhovsky

Wir. Tagebuch des Untergangs

Aus dem Russischen von David Drevs

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel МЫ. ДНЕВНИКПАДЕНИЯ bei vidim books.

Anmerkung zur Textbearbeitung: Bereits auf Deutsch publizierte Texte wurden, wo nötig, im Sinne der Vereinheitlichung bearbeitet sowie fehlende Passagen im Abgleich mit dem Originalmanuskript ergänzt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Deutsche Erstausgabe 2024

© by Dmitry Glukhovsky 2024

Agreement by www.nibbe-literary-agency.com

© der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Fabian Bergmann

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, Zürich unter Verwendung von Motiven von picture alliance (dpa/TASS | Sergei Bobylev) und Shutterstock.com (nani888)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32529-9V001

www.heyne.de

Inhalt

An die Leserinnen und Leser der deutschen Ausgabe

Was ist mit Russland passiert?

11. MAI 2012

Genosse Stalin, sei verflucht

19. JULI 2012

Nach der Lüge leben

20. AUGUST 2012

Warten auf Luther

9. DEZEMBER 2012

Warum ich erschöpft bin – und die Revolution auch

10. APRIL 2013

Es gibt keinen Gott

5. MAI 2014

Lügen tut nicht weh

8. AUGUST 2014

Wie ist das möglich?!

27. OKTOBER 2014

Russland im Nirgendwo

6. NOVEMBER 2014

Die Ukraine – ein Modell für den Zerfall

8. NOVEMBER 2014

Das Duldervolk

14. NOVEMBER 2014

Soll sie doch verrecken

2. DEZEMBER 2014

Sechs Sterne

10. DEZEMBER 2014

Im Bunker

16. DEZEMBER 2014

Zum Tod des Mittelstands

6. MÄRZ 2015

Alles ist möglich

15. AUGUST 2015

Wir sind nicht sie

14. SEPTEMBER 2015

Volkssklerose

22. SEPTEMBER 2015

Die Rettung Europas

24. OKTOBER 2015

Nat. Pers.

10. DEZEMBER 2015

Kreaturen

19. JANUAR 2016

Ohne Hosen

3. FEBRUAR 2016

Die Flagge Brasiliens fest im Blick

15. JULI 2016

Die verlorene Olympiade

1. AUGUST 2016

Produzenten der Angst

17. OKTOBER 2016

Probealarm

12. JANUAR 2017

Warten auf Trump

13. APRIL 2017

Außenamt außer Rand und Band

12. SEPTEMBER 2017

Wahlen in der Petrischale

8. NOVEMBER 2017

Die Spirallinie

2. MÄRZ 2018

A.U.Je.

30. MAI 2018

Der Westen und wir

1. JUNI 2018

Die Hosentaschenfeige

11. JUNI 2019

Hydra

30. SEPTEMBER 2019

Hundehalter

10. MÄRZ 2020

Ende der Debatte

16. JULI 2020

Der Tag, an dem die Turmuhr stoppt

24. JANUAR 2021

(Un-)Menschlich

23. FEBRUAR 2022

Jetzt wissen wir Bescheid

9. MÄRZ 2022

Dies ist nicht unser Krieg

6. APRIL 2022

Krieg gegen Russland

9. APRIL 2022

Ich will es nicht glauben

25. APRIL 2022

Charkiw – Moskau

9. MAI 2022

Der Tag der Toten

10. MAI 2022

Entsiegung

2. OKTOBER 2022

Wozu führen wir Krieg?

6. APRIL 2023

Brief an das Basmanny-Gericht

28. JUNI 2023

In Erwartung eines Wunders

2. MÄRZ 2024

Auf den Tod eines Helden

Rückblick aus der Zukunft

Editorische Notiz

Register

Anmerkungen

an die leserinnen und leser der deutschen ausgabe

Kaum jemand interessiert sich für Russland so sehr wie seine Nachbarn. Was auch daran liegen mag, dass Russlands Innenpolitik hin und wieder zu Außenpolitik wird, über seine Landesgrenzen hinausschwappt und die dahinterliegenden Staaten erfasst. Mal versucht es, diese zu erobern, mal zu kaufen, mal umgarnt es sie, mal will es sie vernichten. Russlands Nachbarn müssen also immer auf der Hut sein. Zwangsläufig interessieren sie sich daher für das russische Leben, damit ihnen nicht entgeht, wenn dieses Leben wieder einmal in Tod umschlägt – was leider nicht selten vorkommt.

Obwohl die Front des russisch-ukrainischen Krieges heute in einer gewissen Entfernung von Deutschland verläuft, muss es den Deutschen so vorkommen, als lebten sie in einem Frontstaat. Sie fürchten sich davor, in diesen Krieg hineingezogen zu werden, stecken aber in Wahrheit längst mittendrin. Auch Deutschland ist ukrainisches Hinterland, und ohne die deutsche Unterstützung fiele es den Ukrainerinnen und Ukrainern deutlich schwerer, für ihre Unabhängigkeit und um ihr Überleben zu kämpfen.

Das Interesse an Russland und allem, was russisch ist, hat in Deutschland spürbar zugenommen – und ich glaube, dass es den Deutschen nicht nur darum geht, den Feind zu studieren. Im Gegenteil, sie weigern sich, Russland als Feind wahrzunehmen, auch wenn dies – zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges – tatsächlich der Fall ist. Mir jedenfalls ist nie aufgefallen, dass man den russischsprachigen Einwohnern Deutschlands mit Feindseligkeit begegnet.

Die Deutschen haben im vergangenen Jahrhundert selbst Zeiten gesamtgesellschaftlicher Geistesverwirrung durchgemacht. Vielleicht blicken sie deshalb mit einer gewissen Anteilnahme auf mein Land. Ich glaube, sie wollen herausfinden, ob es doch noch irgendwie möglich ist, Russland wachzurütteln und auf den Pfad des gesellschaftlichen Fortschritts zurückzuführen, ihm zu helfen, ein normales Land zu werden. Deutschland liegt mir am Herzen, es ist für mich als Schriftsteller ein wichtiges Land. Hier habe ich eine große Zahl interessierter Leserinnen und Leser und bin stets überaus herzlich empfangen worden. Ich fühle mich in Deutschland wie zu Hause. Gerade deshalb ist es mir ein großes Anliegen, dem deutschen Publikum zu vermitteln, was derzeit in Russland vor sich geht. Ich hoffe, dieses Buch wird seinen Leserinnen und Lesern helfen, Antworten auf ihre Fragen zu finden.

Manch einer sieht in Russland ein Reich des Bösen. Ich empfinde es eher als ein Reich des Unglücks, der Missverständnisse und der unerfüllten Hoffnungen, ein Reich mit einem Minderwertigkeitskomplex, mit dem naiven Wunsch, die ganze Welt in Erstaunen zu versetzen, ein Reich der endlosen Selbstzweifel, das sich trotz allem immer wieder beweisen will. Wer Russland in seiner Gänze erfasst, wird nicht nur besser vor ihm geschützt sein, sondern es auch besser verstehen.

Niemand erweist Russland einen größeren Bärendienst als all die »Putin-Versteher«, die dem Tyrannen alles verzeihen, um ihn zum Frieden zu bewegen. Was wir aber in Russlands Nachbarstaaten dringend benötigen, sind »Russland-Versteher«, denn ohne Unterstützung von außen wird es meinem Land kaum gelingen, wieder ein menschlicher Staat zu werden. Deutschlands Hilfe könnte – sofern es dazu bereit ist – auch an dieser Stelle von unschätzbarem Wert sein.

Dmitry Glukhovsky im Juni 2024

was ist mit russland passiert?

Aus heutiger Perspektive mag man kaum glauben, dass Russland noch vor wenigen Jahren ein ganz anderes Land war – oder schien es nur so? Heute ist es in einen schier endlosen Krieg mit der Ukraine verwickelt, hat längst aufgehört, sich den Anschein einer Demokratie zu geben, frönt dem Obskurantismus ebenso wie dem Fundamentalismus, unterstützt offen terroristische Gruppierungen und marginale Regime – und ist dabei selbst zum randständigen Terrorstaat geworden. Dass dieses Land noch vor wenigen Jahren eben nicht zurück in die hermetisch abgeriegelte, abgestandene Sowjetvergangenheit, sondern vorwärts in eine gemeinsame, freie, einige und offene Welt strebte, scheint heute unglaublich, ja unmöglich.

Es hat einmal eine Zeit gegeben, da brach diese Großmacht mit dem Totalitarismus, zog freiwillig ihre Panzerarmeen aus Europa ab und hieß Amerika mit offenen Armen willkommen. Warum ist es heute wieder ein Schurkenstaat, der einen tiefen Groll auf die ganze Welt zu hegen scheint? Wie und wann hat sich diese Wandlung vollzogen? Und vor allem: Hat sich diese bösartige Mutation nur in den staatlichen Strukturen vollzogen oder auch im ganzen Land, in den Menschen?

Warum hat das russische Volk, als es in den Ukrainekrieg hineingezogen wurde, dem Blutvergießen nicht widersprochen, sich nicht widersetzt? Warum gibt es in diesem Land tatsächlich Menschen, die den Krieg aufrichtig befürworten? Wie kommt es, dass Menschen aktiv an diesem Krieg teilnehmen – sei es aus Habgier oder weil sie nun eine ohnehin vorhandene Neigung zur Barbarei ausleben können?

Warum tut die absolute Mehrheit meiner Landsleute so, als gäbe es diesen Krieg einfach nicht, als hätten sie nichts damit zu tun – selbst dann noch, wenn er sie persönlich betrifft?

In meinen fiktionalen Werken habe ich oft ein überzogenes, apokalyptisches Bild der Welt und der Lage in Russland gezeichnet. Es ging mir dabei aber stets darum, meine – häufig jungen – Leserinnen und Leser vor den Gefahren zu warnen, die totalitäre Propaganda, imperiale Nostalgie und mangelnde Bereitschaft, aus den Katastrophen der Vergangenheit zu lernen, mit sich bringen. Ich hätte nie gedacht, dass die düsteren Panoramen meiner Bücher auf einmal Wirklichkeit werden, dass Russland einen Eroberungskrieg gegen ein Bruderland anzettelt und dem Westen auch noch mit Atomkrieg droht – wodurch die grotesken Szenarien einer nuklearen Apokalypse im kollektiven Bewusstsein banalisiert werden.

Leider stellt die Realität derzeit sogar die absurdesten Fantasien in den Schatten – und verwandelt diese in genaue Prognosen. Aber eine Prognose ist unmöglich ohne ein grundsätzliches Verständnis für die Strukturen der heutigen russischen Macht und der heutigen russischen Gesellschaft. Um zu erahnen, was kommt, muss man zuerst begreifen, was geschehen ist.

Wie also konnte sich Russland von einem demokratischen Staat in eine totalitäre Diktatur neosowjetischen Zuschnitts verwandeln? Die Antwort liegt auf der Hand: Russland war nie eine Demokratie – und ist noch immer keine totalitäre Diktatur. Stattdessen war Russland in den letzten 30 Jahren nie etwas anderes als eine durch und durch korrupte Bananenrepublik nach lateinamerikanischem oder afrikanischem Muster. Nur dass meine Heimat nicht mit Bananen, sondern mit Gas und Öl handelt – und die Welt damit erpresst.

Heute wird die einstige Großmacht Russland von inkompetenten, mittelmäßigen Menschen regiert, die rein zufällig ans Ruder der Macht gekommen sind und nun am wunden Euter des Landes hängen, bis sie es auf den letzten Tropfen leer gesogen haben. Um ihren Status um jeden Preis zu erhalten, versuchen diese Günstlinge und Hochstapler dem Volk weiszumachen, ihre Macht sei sakraler Natur. Und gerade weil sie genau wissen, dass ihnen diese Macht rein zufällig in die Hände gefallen ist, bemühen sie sich so verzweifelt, ihre nackten Hintern mit irgendwelchen heldenhaften Mythen zu bedecken.

Wenn sie anfangs noch versuchten, einen fortschrittlichen, demokratischen, modernen Staat zu simulieren, sind sie heute krampfhaft bemüht, unsere Bananenrepublik als furchtgebietende Wiedergängerin der stalinschen Sowjetunion darzustellen. Dabei dienen all diese hastig beschmierten Pappkulissen in Wirklichkeit nur dazu, die wahren Prozesse in unserem Land zu verschleiern: Prozesse der Fäulnis, Prozesse fieberhafter Plünderei, hastigen Sich-in-die-Taschen-Stopfens von Volkseigentum.

Es ist eine unendliche Geschichte von Betrug und Selbstbetrug – das geknechtete, rechtlose Volk, dessen einziger Traum es ist, ein ganz normales Leben zu führen, wird von den Machthabern nach Strich und Faden belogen: Ein solches Leben müsse ihm, dem einfachen Volk, verwehrt bleiben, ja, es schade ihm sogar, denn es gelte, dem Vorbild der Väter und Großväter zu folgen und alles der einen historischen Mission unterzuordnen. Man sei umzingelt von Feinden, werde »bedrängt von dunklen Kräften«, wie in dem alten Revolutionslied, das noch heute in der russischen TV-Propaganda erklingt. Die Größe und Herrlichkeit des Landes dient somit als Rechtfertigung für das kümmerliche Dasein, das seine Bevölkerung fristet.

Aber wie kann es passieren, dass sich ein Volk, das gerade erst das Joch des Pharaos abgeworfen und den Weg in die Freiheit angetreten hat, in der Wüste auf einmal wieder nach der Knute sehnt und sich am Ende freiwillig zurück unter die Aufsicht seiner einstigen Unterdrücker begibt?

Die Veränderung unseres Landes kam nicht über Nacht und nicht von selbst. Sie war ein schleichender Prozess, gesteuert von staatlichen und staatstreuen Medien, begleitet von vermehrter Propaganda und zunehmenden Repressionen, bis irgendwann jedem Menschen in Russland klar wurde, wie man zu denken hatte und wie besser nicht. Und doch herrschte in Russland noch wenige Jahre vor der Annexion der Krim 2014 eine ganz andere Stimmung: Von einer Rückeroberung der einstigen sowjetischen oder zarischen Herrschaftsgebiete träumte nur eine Minderheit, die Mehrheit verlangte dagegen eine Modernisierung des Landes sowie dessen weitere Annäherung an den Westen. Selbst heute noch – trotz gewaltiger Bemühungen und schier unbegrenzter Ressourcen der Propaganda, trotz öffentlich verkündeter Repressionen, trotz Vernichtung des politischen Aktivismus und totaler Zensur – gelingt es den Machthabern nicht, in Russland ein Einheitsdenken zu oktroyieren. Dennoch ist der offene Widerstand gegen das Regime und den von ihm angezettelten Krieg gebrochen, und der Krieg wird – ebenso wie Putins gesamtes paranoid-revanchistisches Projekt – von breiten Teilen der Bevölkerung unterstützt.

Dieses Buch versammelt Artikel und Kolumnen, die seit 2012 auf verschiedenen Medienplattformen erschienen sind. Meist habe ich darin wichtige oder sogar richtungsweisende Ereignisse kommentiert und die Reaktion der Gesellschaft darauf festgehalten. Wichtig ist für mich ein Ereignis immer dann, wenn sich daran wesentliche Strukturen des politischen und gesellschaftlichen Lebens, der Geschichte und Geschicke Russlands erkennen und begreifen lassen.

Die Texte sind hier in chronologischer Reihenfolge angeordnet – wie im Logbuch eines Raumfahrers, der gerade in ein Schwarzes Loch fällt. In ihrer Gesamtheit ergeben sie aber noch etwas anderes: ein aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetztes Wandbild, das die heutige Katastrophe Russlands darstellt und zugleich ebenjenes Russland beschreibt, das diese Katastrophe gerade durchlebt.

Um den Leserinnen und Lesern die historischen Zusammenhänge in Erinnerung zu rufen, haben wir den meisten Texten kurze (manchmal auch längere) »Kontext«-Informationen vorangestellt. Dies erschien mir wichtig, denn viele Ereignisse und Diskussionen, die noch vor wenigen Jahren die Öffentlichkeit bewegten, sind heute bereits vergessen. Nicht selten werfe ich in meinen Texten einen Blick in die Zukunft – und weil ich mich dabei auch immer wieder geirrt habe, bedürfen sie einer nachträglichen Einordnung. Wo immer es mir notwendig und sinnvoll erschien, habe ich sie durch einen kommentierenden »Rückblick aus der Zukunft« ergänzt.

Viele dieser Texte habe ich aus der Sicht jener Menschen geschrieben, die damals mit mir in Russland lebten – aus »unserer« Sicht also. Ich schrieb »wir glauben« oder »wir fühlen«, denn ich versuchte, Prozesse zu diagnostizieren, die in ganz Russland vor sich gingen, fühlte mich als Teil seiner Bevölkerung.

Die Frage ist: Kann ich, der ich mich heute in politischer Emigration befinde und in meiner Heimat als ausländischer Agent gebrandmarkt, zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt und zur Fahndung ausgeschrieben bin, kann ich mir überhaupt das Recht herausnehmen, im Namen aller Russen zu sprechen?

Wer ist eigentlich dieses »wir«? Lässt sich das sprichwörtliche »russische Volk« – manchmal auch »multinationales Volk Russlands« genannt – überhaupt beschreiben? Lassen sich alle Menschen, die in Russland leben, einfach so über einen Kamm scheren? Was haben sie denn gemein außer ihrem roten Pass sowie der Pflicht, dem Kreml Steuern zu zahlen und für seine Kriegsabenteuer ihr Leben zu riskieren? Gehören Intelligenzija und Mittelstand unbedingt zum »Volk« dazu? Fühlen und denken sie genauso wie die hypothetischen »Massen«?

Dennoch scheint mir, dass es mir in diesen Texten zumindest bisweilen gelungen ist, gewisse Komplexe, gewisse neuralgische Punkte, gewisse Bestrebungen und Träume zu erspüren und festzuhalten, die inzwischen für viele Bewohner Russlands – bei allen Unterschieden – einen gemeinsamen Nenner bilden. Fädeln wir diese Artikel wie eine chronologische Girlande auf eine gemeinsame Sujetlinie auf, die da lautet: »Wie aus Russland, das einst normal sein wollte, ein Staat wurde, der alles Normale ablehnt«, so ergibt sich tatsächlich eine Art Tagebuch des Massenbewusstseins auf der einen sowie des kollektiven Unbewussten auf der anderen Seite. Das Tagebuch eines Untergangs, eines Sturzes in einen Abgrund, dessen Tiefe wir bislang noch nicht ermessen können, genauso wenig wie wir heute wissen, ob die aktuelle Tragödie überhaupt umkehrbar ist.

Aber der Wert so eines Reisetagebuchs besteht ja darin, dass es Gefühle und Gedanken zu jedem Tag einer Reise festhält. Ohne so ein Tagebuch wird vieles vergessen, vieles verzerrt und vieles verdreht. Wenn wir das zulassen, wird man aus den ungeheuren Fehlern und Verbrechen, die heute begangen werden, wieder keine Lehren ziehen, und all die Opfer werden umsonst sein, und dann finden wir niemals aus diesem Abgrund heraus.

11. MAI 2012

genosse stalin, sei verflucht

Wenn du in Russland den Genossen Stalin kritisierst, wirst du sofort niedergetrampelt: sowohl von den Nachkommen seiner Henker als auch von Sklaven mit Stockholm-Syndrom.

Aber erinnere dich …

Vier Uhr morgens. Es klingelt an der Tür. Du gehst hin und machst auf – draußen stehen drei. Schirmmützen, der Rand kornblumenblau.[1] Sie nehmen dich mit. Drehen dir die Arme auf den Rücken, schleppen dich raus auf den Hof, setzen dich in einen Kastenwagen, auf dem BROT steht, und fahren dich irgendwohin, wo sie dir »alles erklären« wollen. Ein paar Stunden später, nachdem sie mit dem Stiefelabsatz deine Eier gequetscht und aus dir ein halbbewusst gelalltes Geständnis herausgeprügelt haben, bringen sie dich auf den feuchten Gefängnishof, schießen dir erst in den Bauch und prügeln dann so lang auf dich ein, bis du dich nicht mehr rührst. Deinen Eltern sagen sie, du hättest zehn Jahre bekommen, ohne Recht auf Briefverkehr. Und die hoffen dann zehn Jahre lang, dich irgendwann wiederzusehen.

Oder dies …

Du hast nichts zu futtern. Nichts zu futtern, weil immer wieder Lebensmitteltrupps vorbeikommen und alles mitnehmen. Wer Streit anfängt, wird hinter die Scheune geführt und bekommt aus der Mosin-Büchse eine Kugel in den Schädel. Das ganze Korn das du aussäen wolltest, haben sie dir weggenommen. Die Folge: nichts zu futtern. Und trotzdem kommen die Lebensmitteltrupps immer wieder, um dir noch das Letzte wegzunehmen, was du vielleicht doch noch – auf wundersame Weise – aufheben konntest. Das Letzte, ohne das du nicht überlebst. Von deinen sieben Kindern sind zwei bereits in deinen Armen verhungert, ein weiteres, das allerjüngste, wurde von deiner Frau mit dem Kissen erstickt, weil sie keine Milch zum Stillen hatte und es vor Hunger nicht aufhören wollte zu schreien. Deine Nachbarn, heißt es, haben ihr Jüngstes, als es endlich von seinen Leiden erlöst war, heimlich an seine noch lebenden Geschwister verfüttert. Als diese fragten, woher das Fleisch komme, brach die Mutter in Tränen aus. Und jetzt fragst du dich, ob auch du zu so etwas fähig wärst. Und du nimmst deine Schrotflinte, noch aus dem Ersten Weltkrieg, und dein Nachbar seine Heugabel, und dann verjagt ihr Bauern gemeinsam die Parasiten. Doch nur wenige Monate später hetzen sie euch den brillanten Marschall Tuchatschewski mit seiner Kavallerie auf den Hals. Weil dieser unnötigen Truppenverschleiß vermeiden will, lässt er euch mit Giftgas ausrotten: Und so blähen sich deine Nachbarn auf, laufen schwarz an, ersticken. Und auch du krepierst. Und alle deine Kinder, die den Hunger bis dahin wie durch ein Wunder überlebt haben.

Und erinnerst du dich an dies?

Du bist ein Held. Musst ein Held sein! Denn du hältst diese verdammte Kirche seit 24 Stunden. Vier von denen hast du erledigt, nur der Fünfte hat es zurück in seinen Schützengraben geschafft, zuckend ist er durch den Schlamm gerobbt, eine breite, tiefrote Spur hinter sich herziehend. Andererseits, was für ein Held bist du schon: Sitzt hier in dieser Kirche fest. Wenn du dich jetzt zurückziehst, läufst du irgendwann einem NKWD[2]-Sperrtrupp in die Arme. Du allein mit deiner Flinte – gegen ihre Maschinenpistolen. Die nieten dich mit einer Salve um und lassen dich Blut spuckend liegen. Du machst ja nur deinen Job und sie nur den ihren. Schweine … Deinen Kameraden Waska, aus deinem Viertel, mit dem du die letzten zwei Jahre durch dick und dünn gegangen bist, hat es direkt in die Wange erwischt, das Gebiss nur noch Splitter, und das Blut lässt sich nicht mehr stoppen. Und dann holen die Fritze ihre Granatwerfer raus und decken dich ein, bis dir schwarz vor Augen wird. Du wachst wieder auf: Sie haben dich verschont. Du bist Kriegsgefangener. Aber Genosse Stalin hat gesagt: Kriegsgefangene gibt es bei uns nicht. Also kommst du ins KZ. Die Hälfte der Häftlinge krepiert an Hunger. Die Offiziere werden sowieso gleich liquidiert, egal ob sie die Wahrheit sagen oder sich verstellen. Und die Kommunisten werden mit Gewehrkolben erschlagen. Aber du überlebst. Und dir gelingt die Flucht. Über die Front, zurück zu deinen Leuten! Du willst ja weiterkämpfen! Es diesen Scheißkerlen … Aber dann kommt der NKWD und … tja, Befehl ist Befehl. Sie schlagen dir die Zähne ein, wollen wissen, ob dich die Fritze angeworben haben. Und schicken dich dann – zur Sicherheit – für 15 Jahre in die Autonome Sowjetrepublik Komi. Ins Lager. Irgendwann kommst du wieder zurück: ohne Zähne, ohne Leber, ohne Magen. Ohne Seele. Und in der Zeit, die dir dann noch bleibt, zehn Jahre vielleicht, träumst du davon, deine Unschuld zu beweisen. Dabei haben sie an der nie gezweifelt. Weggesperrt haben sie dich einfach so, vorsichtshalber.

Nicht Stalin hat den Großen Vaterländischen Krieg gewonnen, sondern das Volk. Er aber hat sein eigenes Volk behandelt wie Nägel, Zement, Betonstahl, Scheiße.

Verflucht sei er.

Rückblick aus der Zukunft

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes war der Stalinkult – bis dahin kommunistischen Hardlinern und dementen Nostalgikern vorbehalten – schon fast wieder politischer Mainstream geworden. Der Kreml konnte sich noch so unerhörte Repressionen ausdenken, man brauchte nur an Stalin zu erinnern, und schon kamen einem Putins Daumenschrauben wie belanglose Nettigkeiten vor. Auch der russische Präsident selbst hat mehrfach betont, man lebe ja nicht mehr im Jahr 1937, wodurch er die eigenen Maßnahmen im Vergleich zum Höhepunkt der stalinschen Repressionen geradezu liberal und sanftmütig aussehen ließ. Doch in diesen Worten klang stets auch eine Drohung mit: Sicher, wir leben nicht mehr im Jahr 1937, aber kommt mir bloß nicht blöd. Und noch in einem anderen Aspekt ist dies ein heuchlerischer Satz, denn Putin hat doch immer wieder – gewissermaßen probeweise – die Uniform des großen Generalissimus angelegt, um mit einem neuen Churchill und einem neuen Roosevelt eine neue Weltkarte zu zeichnen. Mehrmals hat er von den einstigen Alliierten ein neues Jalta verlangt. Diese Stalinmanie, dieser Hang zur historischen Rekonstruktion und Umdeutung, dieser Wunsch, den Zweiten Weltkrieg noch einmal nach eigenen Regeln durchzuspielen, so wie in Mark Twains Ein Yankee am Hofe des Königs Artus, aber diesmal mit Fallschirmjägern und Atomwaffen – all das hat Putin schließlich dazu gebracht, diesen Krieg anzuzetteln.

Nicht zu vergessen, dass Russland heute von Zöglingen des FSB regiert wird, von KGB- und NKWD-Erben, von einer Henkersbrut. Sie halten sich für die rechtmäßigen Nachfolger der einstigen Machthaber und billigen deren Methoden. »Memorial« wiederum, jene Nichtregierungsorganisation, die jahrzehntelang die Verbrechen des Stalinismus erforschte und das Gedenken an den Großen Terror zu bewahren versuchte, ist heute verboten und aufgelöst. Kaum hatte man die Kettenhunde der Staatsgewalt auf die Kritiker Stalins losgelassen, wurde dessen kultische Verehrung zu einer Art Geheimreligion des Kreml – zu der sich dieser heute völlig offen und schamlos bekennt.

19. JULI 2012

nach der lüge leben

Kontext

2012 wurde die Medienaufsicht Roskomnadsor zur zentralen Zensurbehörde Russlands. Formale Grundlage hierfür waren neue Gesetze, die die freie Meinungsäußerung immer mehr einschränkten. Besonders folgenreich waren einige Änderungen im Föderalen Gesetz »Über den Schutz der Kinder vor Informationen, die ihrer Gesundheit und Entwicklung schaden«, hinter denen die »Liga des sicheren Internets« – eine Organisation des christlich-orthodoxen Geschäftsmanns Konstantin Malofejew – stand. De facto wurde damit die Zensur legalisiert; von nun an konnte Roskomnadsor bestimmte Websites auf schwarze Listen setzen und automatisch blockieren.

Eines der erfolgreichsten Onlineprojekte war damals Vkontakte, kurz VK, ein – nicht gerade regierungstreues – soziales Netzwerk. Nach den Protestkundgebungen von 2011 verlangte der FSB von dessen Gründer und CEO Pawel Durow, die Benutzerkonten oppositioneller Gruppen zu blockieren, was dieser verweigerte. Daraufhin forderte im Juli 2012 die quasizivilgesellschaftliche Organisation Ochotniki sa golowami (wörtl. »Kopfjäger«, ein Teil der nationalpatriotisch-orthodoxen Bewegung Narodny sobor) von Innenminister Kolokolzew, Durow wegen Verbreitung von Kinderpornografie anzuzeigen. VK meldete prompt, seine automatischen Filter hätten innerhalb von fünf Tagen »1 500 Videos mit Kinderpornografie gelöscht und 960 Accounts blockiert«.

2013 forderte die Generalstaatsanwaltschaft, VK solle Alexej Nawalnys Antikorruptionsgruppe sowie mehrere Gruppen von Befürwortern des Maidan schließen und die persönlichen Daten der Gruppenorganisatoren herausgeben – was Durow ebenfalls ablehnte.

Im April 2013 – der folgende Artikel war zu diesem Zeitpunkt bereits erschienen – kam Durow wegen eines Verkehrsunfalls vor Gericht, bei dem angeblich ein Polizist verletzt worden war. Vermutlich diente die Sache aber nur dazu, ihn zum Verkauf des Netzwerks zu nötigen. Durow gab tatsächlich klein bei und kehrte wenig später Russland den Rücken. Im Herbst 2014 erwarb die von dem kremltreuen Oligarchen Alischer Usmanow kontrollierte Mail.ru Group die Mehrheit an VK. Als neuer CEO wurde Boris Dobrodejew eingesetzt, dessen Vater die staatliche Medienholding WGTRK leitete. Seither kooperiert das Netzwerk mit dem russischen Innenministerium, die Weitergabe von Nutzerdaten und die Zensur von Inhalten gehören zum Alltag. 2018 kam eine Untersuchung des gemeinnützigen Investigativportals Projekt zu der Erkenntnis, dass VK mehr Nutzerinnen und Nutzer mit laufenden Strafverfahren hat als jedes andere russische soziale Netzwerk; in den meisten Fällen wird ihnen »Extremismus« nach § 282, Teil 1, des Russischen Strafgesetzbuchs vorgeworfen – also angebliches Schüren von Hass gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen. In Wirklichkeit aber werden entweder willkürlich ausgewählte Personen angeklagt, oder man attackiert gezielt lokale Bürgerrechtsaktivisten, die sich oppositionell betätigten. Auch nach dem Beginn des Großangriffs auf die Ukraine im Jahr 2022 dienen der Polizei weiterhin Posts auf VK als wichtigstes Beweismittel, um gegen unliebsame russische Bürger vorzugehen – nun aber wegen Antikriegsäußerungen.

Nach der Lüge leben

Vor nicht mal einer Woche hat die Duma unter dem Vorwand der Pädophiliebekämpfung ihr Gesetz zur Einführung der Internetzensur verabschiedet, schon bringt man es gegen eines der erfolgreichsten Projekte im russischen Internet zur Anwendung: VK. Vorgegangen wird dabei nach sowjetischem Muster, wie aus dem Lehrbuch der KGB-Akademie. Phase eins: Provokation, Phase zwei: Repression.

Im Gegensatz zum VK-Management bin ich von der Aktion kein bisschen überrascht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich so etwas sogar erwartet.

Wir sollten uns alle langsam an den Gedanken gewöhnen, dass wir im Königreich der Zerrspiegel leben, in dem nichts ist, wie es scheint. So läuft das nun mal, wenn diejenigen, die an den Hebeln der Macht sitzen, ihr eigenes Volk fürchten, anstatt ihm zu vertrauen. Wenn sie ihm die wahren Strukturen der Macht und des Staates verheimlichen und stattdessen einen anderen Staat erfinden, den sie in Szene setzen müssen – einen überzuckerten, idealen Staat, der mit der Wirklichkeit nichts gemein hat.

Nun haben die Strukturen der Macht also ein neues Gesetz »zur Bekämpfung der Pädophilie im Internet« verabschiedet. Will man es richtig lesen, muss man sich erst auf den Kopf stellen und den Text dann vor einen Spiegel halten.

Einige Bekannte von mir verkehren in den Zirkeln der Macht. Mehrfach haben sie mir Schlimmes berichtet: Wenn »denen da oben« weder Geld noch Besitz noch Frauen Befriedigung verschaffen, bleiben ihnen am Ende immer noch die Minderjährigen. Das ist wirklich das Widerlichste, was man sich vorstellen kann, der Abgrund der Verderbtheit. Natürlich würden sie so etwas niemals wagen, wenn sie weniger Einflussmöglichkeiten hätten und nicht so gut geschützt wären. Angehörige der herrschenden Kaste, in der eine Hand die andere wäscht, erlauben sich solche Dinge häufiger, als wir uns vorzustellen wagen.

Gleichzeitig spielen sie sich gern mal als Moralapostel auf und schüchtern damit potenzielle Deserteure ein – was wiederum die Parteidisziplin stärkt. Nach dem Motto: Rein kommst du für ’ne Kopeke, raus für ’nen Rubel. Vergiss nicht, wir wissen alles über dich …

Wenn sie sich nun aber auch noch den heiligen Kampf gegen Pädophilie auf die Fahnen schreiben, instrumentalisieren sie damit dieses sakrosankte Anliegen, um in besonders heiklen Fragen den gesellschaftlichen Widerstand zu brechen.

Wie jedem rational denkenden Menschen ist auch mir vollkommen klar: Das Problem von VK ist nicht, dass man dort manchmal auch Kinderpornos findet. Das Problem ist, dass Durow der Aufforderung des FSB, oppositionelle Protestgruppen auf der Plattform zu schließen, nicht Folge geleistet und auch die Einladung zu einem »prophylaktischen Gespräch« im sogenannten Großen Haus – der Petersburger FSB-Zentrale – ignoriert hat. Offenbar wähnt er sich schon im Silicon Valley. Also haben sie ihn mal eben daran erinnert, dass von Sankt Petersburg aus der Weg in die sibirischen Straflager der Kolyma deutlich kürzer ist als nach San Francisco.

Dies ist eine Zeit, in der die Wahlsieger Steine sammeln, um sie jenen um den Hals zu hängen, die es gewagt haben, sie herauszufordern.

Und wenn jemand gleich nach Verabschiedung des Internetzensur-Gesetzes kinderpornografische Videos auf VK hochgeladen hat, so bedeutet dies: Das dynamischste Projekt des russischen Internets steht auf der Abschussliste: Ihm hängt bereits ein Stein um den Hals. Der weitere Verlauf ist absehbar: Auftritt der Staatsanwaltschaft, Schauprozess, feindliche Übernahme und Rausschmiss der aktuellen Unternehmensführung. Sofern diese nicht schon jetzt den Braten riecht.

Leute, lernt, die Dinge im Spiegel zu lesen. Ihr werdet in diesem Königreich noch sehr, sehr lange leben müssen.

Rückblick aus der Zukunft

Heute, zwölf Jahre nach Erscheinen dieses Beitrags, weiß jeder russische Bürger ein Lied vom ach so herrlichen Leben im Spiegelland zu singen, wo jeglicher Sinn in sein genaues Gegenteil verkehrt ist. Veröffentlicht werden darf nur noch Lüge, nur sinnentleertes, die Wahrheit entstellendes Propagandageschwätz, das den Bewohnern dieses Königreichs der Unwahrheit vorgaukelt, Krieg sei eine »friedensstiftende Operation« und die Eroberung fremder Gebiete eine »Befreiung«. Und damit nicht auffällt, dass sich ihr Land genauso verhält wie einst das faschistische Deutsche Reich, hat man diejenigen, die man überfallen hat, zur Sicherheit vorab als Nazis beschimpft. Und so können wir förmlich zusehen, wie der Ausgang aus dem Spiegelland mehr und mehr zuwächst. Hunderttausende Internetseiten sind derzeit von der Zensur blockiert, weil dort die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine zu lesen und zu hören ist. YouTube ist in Russland, Stand 2024, zwar noch nicht gesperrt, aber allzu lang dürfte auch das nicht mehr dauern.

Am wichtigsten und traurigsten aber ist: Die Menschen haben nicht nur gelernt, im Spiegel zu lesen. Sie beginnen auch zu verlernen, wie man die Welt ohne ihn betrachtet.

20. AUGUST 2012

warten auf luther

Kontext

Ihr Ruf ist im postsowjetischen Russland nie wirklich makellos gewesen: Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hat Schwerverbrecher heiliggesprochen, dubiose Geschäfte mit zollfrei importiertem Tabak und Alkohol gemacht und Machthaber im Wahlkampf offen unterstützt.

2012 jedoch war die ROK in eine Reihe handfester Skandale verwickelt.

So erschien im April auf ihrer offiziellen Website ein stümperhaft nachbearbeitetes Foto des Patriarchen Kyrill I.: Die Breguet-Armbanduhr im Wert von 30 000 Euro, die er bei der Aufnahme am Handgelenk trug, war zwar wegretuschiert worden, aber ihr Spiegelbild war auf der polierten Tischplatte noch immer deutlich zu erkennen. Anfangs stritt das Patriarchat alles ab, gab später aber zu, es handele sich um einen »groben Fehler des Retuscheurs«.

Etwa zur gleichen Zeit leakte jemand Informationen über einen Rechtsstreit zwischen Patriarch Kyrill und Ex-Gesundheitsminister Juri Schewtschenko an die Presse. Vertreter des Patriarchen beschuldigten Schewtschenko, eine Fünfzimmerwohnung Kyrills in unmittelbarer Nachbarschaft des Kreml beschädigt zu haben. Kyrill gab an, die Wohnung sei ihm 1994 vom damaligen stellvertretenden Moskauer Oberbürgermeister überschrieben worden und werde von einer Verwandten genutzt.

Im Sommer desselben Jahres verursachte der 26-jährige Mönchspriester Ilija (mit bürgerlichem Namen Pawel Sjomin) mit seinem Mercedes-Benz-Geländewagen auf dem Moskauer Kutusowski-Prospekt einen Unfall, bei dem zwei Bauarbeiter ums Leben kamen. Ilija, damals noch Sekretär des Bischofs Alexander von Dmitrow, ließ seinen Wagen stehen und beging Fahrerflucht. Laut Ermittlungen nannte er zu diesem Zeitpunkt auch einen BMW 740Li, einen Mercedes SL500 sowie mehrere Wohnungen in Moskau und im Moskauer Gebiet sein eigen.

Immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik stand damals auch das zentrale Gotteshaus der ROK, die Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Zum Unterhalt des gewaltigen Baus erhält die Kirchenverwaltung nicht nur Zuschüsse von der Moskauer Stadtregierung, sondern verdient noch auf verschiedenste andere Weise daran. So werden etwa einzelne Säle des Gotteshauses für Veranstaltungen vermietet, neben einer Autowaschanlage beherbergt es auch einen Autosalon sowie ein »Haus der islamischen Mode«.

Warten auf Luther

Ich bin getauft, glaube aber nicht an Gott.

Ich kann nicht an einen Gott glauben, dessen Stellvertreter auf Erden – ein Karrierist mit einer 30 000 Euro teuren Armbanduhr, einer Limousine mit Sonderkennzeichen und staatlich finanzierten Bodyguards – nicht einmal davor zurückschreckt, sich auf schäbige Weise Privatwohnungen zu ergaunern. Aber gleichzeitig predigt, man müsse stets bescheiden und demütig sein. Ich kann nicht akzeptieren, dass mein Gott Heuchler und Lügner in seiner Kirche duldet – denn das würde ja bedeuten, dass er deren Handeln gutheißt und sie seinen Segen haben.

Ich kann nicht an einen Gott glauben, dessen Botschafter auf Erden sturzbesoffen in Sportkabrios und gangstertypischen Offroadern herumfahren, weil ihnen offenbar weder ihr eigenes noch das Leben anderer etwas wert ist. Die mit Generälen, Stars und Senatoren verkehren und mit ihnen Wein und Weiber teilen. Wer Diener Gottes ist, darf weder vor der Obrigkeit buckeln, noch deren Lebensstil übernehmen.

Ich kann nicht an einen Gott glauben, der es zulässt, dass Killern, Pädophilen und Dieben ihre Sünden gegen Bargeld erlassen werden. Was solche Menschen »für die Kirche spenden«, ist vergiftetes Geld, und an Kirchengebäuden, die aus schwarzen Kassen errichtet werden, kann nichts heilig sein. Ihr, die ihr Gott zu bestechen versucht, wisst: Mit all eurem Geld erkauft ihr euch nur eine billige Psychotherapie. Von euch selbst könnt ihr euch vielleicht freikaufen, nicht aber von Ihm. Glaubt ihr etwa wirklich, das bisschen Taschengeld garantiert euch das Seelenheil? Dann seid ihr ja noch frommer als die! Bloß dass eure »Spenden« nicht der Kirche, sondern der deutschen Autoindustrie zugutekommen. Ihr dagegen werdet brennen – zusammen mit jenen, die euch diesen Ablass angedreht haben.

Ich kann nicht an einen Gott glauben, der einfach zusieht, während sich sein Haus in einen Mix aus Shoppingmall und Vergnügungspark verwandelt. War es nicht eine seiner ersten Taten, dass er die Händler aus dem Tempel verjagte?

Ich kann nicht an einen Gott glauben, dessen Priester rachsüchtig und kleinlich sind, ein unkeusches Bündnis mit der Macht eingehen, ständig um die Macht herumschwänzeln, den erschlafften Ballon der Macht mit den Seelen ihrer Gemeinde wieder aufblähen – und diejenigen, die Kritik an ihrem Verhalten üben, gnadenlos verfolgen lassen.

Man wird sagen, dass ich hier nur die Kirche als Institution an den Pranger stelle. Dass nicht Gott an der Kirche hängt, sondern die Kirche an Gott. Dass das Handeln der Kirche keinen Schatten wirft auf Seinen Namen, dass Er an ihr nichts verdient. Man wird sagen, dass ich doch nur den Klerus meine und dass dessen Mitglieder auch nur Menschen aus Fleisch und Blut sind und deshalb nicht frei von Sünde. Man wird sagen, dass die ROK nicht für die ganze Kirche steht – und diese letztlich auch nichts anderes ist als eine gewöhnliche Organisation.

Man wird mich mit theosophischen Spitzfindigkeiten überschwemmen – und wer weiß, mich vielleicht irgendwann sogar physisch ertränken (mit ihren Verbindungen dürfte das für sie kein Problem darstellen). Mitunter entsteht ja der Eindruck, die Führungsetage der ROK blicke nicht ohne Neid auf die Erfolgsbilanz der römisch-katholischen Kirche, in deren langen Geschichte das Ertränken von Andersdenkenden ebenso opportun war wie das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen. Trage ich zu dick auf? Keineswegs: Das erste Urteil der orthodoxen Inquisition ist bereits gesprochen worden, nämlich vergangenen Freitag. Und es spielt überhaupt keine Rolle, dass es von einem weltlichen Gericht gefällt wurde: Eine Trennung von Kirche und Staat gibt es bei uns nicht.

Gern würde ich an einen Gott glauben – mein Leben wäre deutlich ruhiger, wesentlich bewusster, und ich würde mich wohler fühlen –, aber ich kann nicht. Solange diese Menschen die Botschafter Gottes auf Erden sind, will ich mit diesem Gott nichts zu tun haben. Und darin bin ich nicht allein.

Die Geschichte kennt das alles längst: den Ablasshandel, das Geschacher um Kirchenämter, die hurenden Frömmler, die Päpste mit politischen Ambitionen, die gewaltigen Kathedralen, erbaut mit dem Geld von Mördern und Halsabschneidern, und die Hexenjagden.

Die Geschichte kennt Menschen, die an Gott glauben wollten, aber jenen nicht vertrauen konnten, die von ihnen verlangten, an einen ganz bestimmten Gott zu glauben.

Für die römisch-katholische Kirche endete das alles mit der Reformation und der Kirchenspaltung. Die ROK wird irgendwann zwangsläufig ein ähnliches Ende nehmen.

Unser Luther wird kommen.

Rückblick aus der Zukunft

In den letzten Jahren ist die ROK endgültig zum festen Bestandteil des Machtapparats geworden. Vorbei die Zeiten, da sie zumindest vortäuschte, sie sei vom Staat getrennt: Heute führt sie dem Krieg gegen die Ukraine das Wort. Diebstahl und Protektion der Herrschenden sind eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, zu einem blutigen Bruderkrieg aufzurufen und die Vernichtung von Glaubensgenossen zu rechtfertigen. Ich sehe nicht, mit welchen Gebeten die ROK für diesen, ihren ganz eigenen Sündenfall jemals Absolution erlangen kann.

Irgendwann wird man diese Organisation auf null zurücksetzen und ganz neu gründen müssen: Dort, wo sich in Sowjetzeiten das Schwimmbad Moskwa befand (das 1960 anstelle der unter Stalin gesprengten Christ-Erlöser-Kathedrale errichtet wurde), steht heute eindeutig nicht das Richtige – nämlich ebenjener Neubau der Kathedrale. Wie es aussieht, muss da erst mal wieder ein Schwimmbad hin, und irgendwann bauen wir dann noch mal was Neues. Diesmal aber nicht mit faulen Staatsmitteln und erzwungenem Unternehmergeld, sondern mit freiwilligen Spenden aus der Bevölkerung. Das reicht dann vielleicht nicht mehr für so einen imperialen Riesenklotz, sondern nur noch für einen bescheidenen Kirchenbau, der aber wenigstens nicht mehr dem Kreml untersteht und für irgendwelche Banditen gemacht ist, sondern allein Gott und den Menschen gehört.

Von heute, aus dem Jahr 2024 betrachtet, scheint dies jedoch unmöglich. Dazu muss sich erst einmal Russland selbst neu gründen.

9. DEZEMBER 2012

warum ich erschöpft bin – und die revolution auch

Kontext

Im Dezember 2011, ein Jahr vor dem Erscheinen des folgenden Textes, kam es in Moskau (und daraufhin auch in anderen Städten Russlands) zu Massenprotesten gegen die gefälschten Ergebnisse der Parlamentswahlen. Die erste Kundgebung fand am 5. Dezember 2011 bei den Sauberen Teichen am Moskauer Boulevardring statt. Es folgten mehrtägige Proteste auf dem Triumfalnaja-Platz. Am 10. Dezember kam es dann zu der berühmten Massenkundgebung auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau.

An der großen Protestdemonstration am 24. Dezember 2011 auf dem Moskauer Sacharow-Prospekt nahmen sogar einige Persönlichkeiten teil, die damals zur intellektuellen Elite des Putin-Regimes gehörten: So sprachen etwa der ehemalige russische Finanzminister Alexej Kudrin (der von den Protestierenden ausgepfiffen wurde) und die TV-Moderatorin Xenia Sobtschak zu den Menschen. Auch der Milliardär Michail Prochorow wurde in der Menge gesehen, der damals noch (wohl mit dem Kreml abgestimmt) politisch aktiv war und ebenfalls für die Präsidentschaftswahl 2012 kandidierte.

Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste etwa Mitte des Winters 2011/2012. Zu diesem Zeitpunkt war die Macht sogar zu Kompromissen bereit: So wurden etwa die 2004 abgeschafften Direktwahlen der Gouverneure nun wieder eingeführt. Im Frühjahr verlor die Protestbewegung jedoch ihren Schwung, woraufhin die Macht ihre Repressionen erneut verschärfte. Symbolisch hierfür steht heute der Bolotnaja-Prozess: Nach Putins Sieg bei den Wahlen im Frühjahr 2012 organisierte die Opposition am 6. Mai, einen Tag vor Amtsantritt des Präsidenten, den sogenannten »Marsch der Millionen«. Die Polizei hinderte die Protestierenden daran, den Bolotnaja-Platz zu betreten, es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen. Mehrere Dutzend Personen wurden angeklagt, fast 20 zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Bis zum Herbst hatte sich die Protestbewegung praktisch aufgelöst, auch der zum Zweck der Konsolidierung gegründete Koordinationsrat der Opposition hatte nur kurz Bestand und erwies sich insgesamt als wenig wirkungsvoll.

Die Proteste von 2011 und 2012 waren geprägt von Differenzen über das gegenseitige Verhältnis von Protest, Beruf und Aktivismus. Organisiert wurden die Kundgebungen nicht selten von Journalisten (beispielsweise Oleg Kaschin, Artemi Troizki, Sergej Parchomenko und Dmitri Gubin), die dort auch selbst das Wort ergriffen. Dies führte zu Diskussionen in Fachkreisen, ob es korrekt sei, sich unter dem »Deckmantel« eines Presseausweises an diesen Kundgebungen zu beteiligen. Einige Journalistinnen und Journalisten machten daraufhin vor Ort deutlich, dass sie diesmal nicht als Berichterstatter anwesend waren, sondern als Bürgerinnen und Bürger. Aus ähnlichen Beweggründen verzichteten viele bekannte Persönlichkeiten bewusst auf eigene Redebeiträge von der Bühne: So wollten sie unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass sie in diesem Fall ausschließlich als einfache Protestteilnehmer anwesend waren.

Kaum hatte sich die Macht vom ersten Schock der Massenproteste erholt, ging sie zum Angriff über. Die Staatsduma verschärfte das Strafmaß für die Teilnahme an nicht genehmigten Protestaktionen, erhöhte die Bußgelder für Regelverstöße bei der Organisation von Kundgebungen und verbot das Tragen von Masken. Jedes Mal, wenn die Opposition eine Kundgebung anzumelden versuchte, zögerten Innenministerium und kommunale Behörden den Prozess auf verschiedenste Weise hinaus, versuchten, die Versammlungsorte zu verschieben oder verweigerten schlicht die Genehmigung.

Im Herbst 2012 trat erstmals der bereits erwähnte Koordinationsrat zusammen – gleichsam als »Rechtsnachfolger« der Protestbewegung. Von den 45 Mitgliedern wurden 30 aus allgemeinen Wahllisten gewählt, weitere 15 zu gleichen Teilen aus den drei Fraktionen Linke, Nationalisten und Liberale. Obwohl der Koordinationsrat am Ende nur geringe Wirkung entfaltete und sich kaum mit der Organisation des Protests, sondern vor allem mit der eigenen Geschäftsordnung befasste, versetzte seine Gründung die Obrigkeit endgültig in Alarmbereitschaft.

Im Jahr 2024 befinden sich von den 45 ursprünglichen Mitgliedern nur noch wenige in Russland. Alexej Nawalny wurde 2020 vergiftet, im Januar 2021 festgenommen und zu langjähriger Lagerhaft verurteilt, wo er im Februar 2024 verstarb. Boris Nemzow wurde 2015 im Zentrum von Moskau ermordet. Sergej Udalzow, ein Politiker des linken Spektrums, wurde 2012 eingesperrt und kam erst 2017 wieder frei. Auch die meisten anderen Mitglieder des Koordinationsrats wurden im Lauf der Zeit entweder zu »ausländischen Agenten« erklärt oder in Strafprozesse verwickelt. Nach wie vor in Freiheit, in Russland wohnhaft und dabei zugleich politisch aktiv geblieben ist heute nur noch Xenia Sobtschak, die Tochter des ehemaligen Petersburger Oberbürgermeisters, für den Wladimir Putin früher gearbeitet hat. Letzterer soll angeblich sogar ihr Patenonkel sein.

Warum ich erschöpft bin – und die Revolution auch

Natürlich sind wir alle demonstrieren gegangen, um die Freiheit zu verteidigen. Aber wir hatten alle auch unsere persönlichen Motive. Ich beichte euch jetzt mal meine.

Bei der ersten Kundgebung, vergangenes Jahr am 5. Dezember bei den Sauberen Teichen, war ich nicht. Weil es in Strömen regnete und ich dachte, dass sowieso niemand hingeht.

Am nächsten Tag ging ich dann zu der nicht genehmigten Kundgebung am Triumfalnaja-Platz, wo vielleicht 500 Leute waren. Und noch ein paar Tausend entlang des Gartenrings. Ich ging hin, weil ich befürchtete, ansonsten etwas Historisches zu verpassen – und weil ich mich für meine Unentschlossenheit vom Tag zuvor schämte: Wütende Facebook-Posts kann ja jeder schreiben. Aber um für die öffentlich bekundeten Überzeugungen auf die Straße zu gehen, braucht man schon ein wenig Mut. Dachte ich damals jedenfalls. Und nahm zum Triumfalnaja-Platz sicherheitshalber meinen Pass mit, innerlich darauf gefasst, 15 Tage abzusitzen – die in Russland übliche Haftdauer für Protestteilnehmer.

Das mit den 15 Tagen hat sich für mich nicht ergeben. Weder damals noch später.

Auf den Bolotnaja-Platz ging ich dann aus Prinzip, als eine Art Mutprobe, denn ich sah ja, wie die Miliz in Moskau ihre Kräfte zusammenzog. Wieder nahm ich meinen Pass mit und war diesmal deutlich dramatischer, ja sogar tragisch gestimmt, überzeugt, dass höchstens 5 000 zusammenkommen und es einige hässliche Szenen geben würde. Am Ende waren wir 70 000, und ich spürte zum ersten Mal, dass da ein Moment bevorstand, in dem sich alles ändern konnte. Ein Augenblick von besonderer Kraft. Auf einmal wuselten da 70 000 Ameisen vor den tönernen Füßen des Kolosses herum – und dieser traute sich nicht, sie einfach plattzutreten.

Ja, diesen magischen Augenblick hat es wirklich gegeben: Wir glaubten, das sei jetzt unsere Samtene Revolution, unser August 91, wir brauchten nur noch etwas mehr Druck auszuüben – und alles würde sich in Bewegung setzen, davonfliegen, zerfallen, verwehen, sich in Luft auflösen wie ein düsterer Spuk. Was hätten wir tun müssen? Den Kreml umzingeln? Den Gartenring blockieren? Einen Generalstreik ausrufen? Ich habe keine Ahnung. Und die hatte damals offenbar niemand. Also hat niemand irgendwas unternommen.

Auch auf dem Sacharow-Prospekt war ich. Aber eher, um mit alten Schulfreunden abzuhängen, mit denen ich schon früher gemeinsam demonstrieren war. Es schien mir einfach richtig, mit meinen Jugendfreunden hinzugehen. Vor ihnen würde ich mich nicht verstellen müssen. Bei Demonstrationen, dachte ich, gehe ich besser in der Menge mit. Nicht als Gaststar, sondern als einfacher Teilnehmer.

Aus ungefähr demselben Grund bin ich bei diesen Kundgebungen auch nie aufgetreten und habe nie ums Wort gebeten, denn ich fand: Bei einer halbwegs bekannten Persönlichkeit ist die Grenze zwischen zivilgesellschaftlichem Engagement und Selbstvermarktung ziemlich unklar. Was im Übrigen auch für die Politik im Allgemeinen gilt. Natürlich hätte ich mir über irgendwelche Kontakte einen Platz am Rednerpult ergattern, mich vor die Kameras drängeln können. Aber ich hätte dies nicht aus Gewissensgründen getan, sondern wegen der Publicity. Bist du einmal eine halbwegs bekannte Persönlichkeit, bekommst du diesen Publicity-Aspekt nie mehr ganz aus dem Kopf. Aber hin und wieder kann man doch wenigstens versuchen, sich zurückzuhalten.

Später bin ich dann noch zum »Weißen Ring«[3] gegangen. Klar, war ganz lustig, aber schon damals beschlich mich das Gefühl, dass der politische Kampf zum reinen Mummenschanz ausartete, das Ganze zu viel Eventcharakter hatte. Auch die ständigen, sich seifenopernhaft wiederholenden Abstimmungen mit den Behörden, das Betteln um Erlaubnis für eine Revolution, bremsten den anfänglichen Elan ziemlich bald aus.

Ach ja, auf dem Neuen Arbat war ich dann auch noch dabei. Und beim »Schriftsteller-Spaziergang«,[4] wegen der Leute. Und dann noch mal im Sommer, eher aus Gewohnheit, ohne konkrete Erwartungen. Seither bin ich auf keiner Demo mehr gewesen. Und gehe auch am 15. nicht hin.[5]

Heute bereuen viele Oppositionelle, sie hätten nicht das Richtige getan und nicht auf die richtige Weise. Anstatt untereinander zu diskutieren, hätten sie mit dem Volk reden sollen. Anstatt kreative »Putin ist ein Dieb«-Plakate zu malen, hätten sie von Haus zu Haus gehen und mit alten Omas über Fragen der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft sprechen sollen. Ich glaube aber nicht, dass das geholfen hätte.

Für eine samtene Revolution braucht es keine zig Millionen, die im ganzen Land auf die Straße gehen. Es genügen 500 000 in der Hauptstadt.

Die Proteste des vergangenen Jahres waren ein Aufstand der Satten. Da war der Mittelstand auf der Straße, dem der Magen schon lange nicht mehr knurrte, weshalb er nun – entsprechend der nächsten Stufe der maslowschen Bedürfnispyramide – Respekt einforderte. Das ekelhafte Schmierentheater der Dumawahlen war eine Demütigung für ihn gewesen, und nun war er gekommen, die Ohrfeige zu erwidern. Auch später erschien der Mittelstand jedes Mal auf der Straße, wenn er sich über die Herrschenden ärgerte. Und auch ich ging mit, denn jedes Mal dachte ich: »Jetzt entscheidet es sich: Machen wir den Stich oder nicht?!« Also rief ich meine Freunde an, und wir gingen hin.

Aber warum ist bei mir jetzt die Luft raus?

Nicht, weil ich mich vor den OMON-Sonderkommandos oder den neuen – genauso doofen wie drakonischen – Pseudogesetzen fürchte. Sondern weil es sinnlos ist: Die Begeisterung ist verpufft, der Moment vorbei, der Kampf an diesem Punkt vergeigt. Leider.

Und weil, geben wir es ruhig zu, unser heutiges Leben eigentlich ganz erträglich ist. Wir labern auf Facebook herum, keiner kürzt uns den Lohn, und nach Europa reisen wir so wie immer. Wir dachten, jetzt kommt die Diktatur, dabei haben sie nur Lurkomorje[6] in die Liste der verbotenen Websites aufgenommen. Wir glaubten, ein neuer Pinochet stehe vor der Tür, aber Pinochet ließ Menschen aus Hubschraubern ins Meer werfen, Putin dagegen fliegt mit Weißkranichen herum.[7]

Es gibt keinen Kampf, weil schon wieder keiner da ist, gegen den man kämpfen könnte. Kein Regime, kein ominöses System, sondern nichts als Sumpf. Ihre ganze Machtvertikale ist in Wahrheit eine Horizontale, eine einzige Seilschaft aus Staatsanwaltschaft, Gerichtsbarkeit, Steuerbehörden, Präsidialadministration und so weiter, und das auf jeder Ebene. Kein Koloss, sondern Tonschlamm, ein verschimmelter Teigbatzen. Und diese teigige Natur ist für sie von Vorteil, denn Teig lässt sich nur schwer besiegen.

Klar, schon richtig: Unter den Oppositionsführern gab es keine charismatischen Persönlichkeiten. Die Schneerevolution hat keine Helden geboren. Alle drucksten zu sehr herum, trauten sich nicht, entschuldigten sich ständig. Die Leute, die sich da versammelten, waren einfach zu gut erzogen, das ist es, vielleicht auch mit einem gewissen Hang zur Selbstgefälligkeit. Nawalny vielleicht? Ein super Typ, klar, aber genau das ist sein Problem. Mit einem Wort: Ich habe mir die Reden angehört, und meine Reaktion war: »Klar, stimmt schon«, aber so ganz im selben Takt geklopft hat mein Herz dann doch nicht. Die Richtung war schon klar, aber da war eben niemand, dem man hätte folgen können. Vielleicht liegt es auch daran.

Als die Kooperative »Osero«[8] aus den Wahlen ein Theater im Stile des großen sowjetischen Puppenspielers Sergej Obraszow machte, war das, als hätte sie einen Schnellkocher mit geschlossenem Deckel auf einen Gasherd gestellt: Die Genehmigung der Demonstrationen diente nur dazu, den Deckel kurz mal anzuheben – was im Großen und Ganzen ganz gut funktionierte. Heute gibt es dafür den Koordinationsrat, der, wie mir scheint, von Emissären der Innenpolitischen Abteilung in der Präsidialadministration unterwandert ist – ein idealer Pfeifkessel: lässt Dampf ab, macht Lärm und kocht nicht über. Damit gibt es nun ein Gremium, das sich zwar irgendwie weigert, die derzeitige Macht anzuerkennen, aber am Ende trotzdem im Koordinatensystem ebenjener Macht existiert, also von ihr fest umschlungen ist und auch schon verdaut wird.

Als wir vergangenen Dezember mit dem Mut der Verzweiflung aufmuckten, hätten wir die Magie des Augenblicks, die Begeisterung, das revolutionäre Adrenalin, den Effekt der Überrumpelung nutzen können, um etwas zu verändern. Aber nein. Wir haben es nicht hingekriegt.

Und ich, der ich als einfacher Durchschnittsbürger zu all diesen Kundgebungen gegangen bin, kann für mich Folgendes sagen: Zur nächsten Demonstration gehe ich nicht mehr. Und werde so lange nicht mehr hingehen, bis ich spüre: Hoppla, da reift wirklich was heran, da entsteht wieder eine echte Situation. Ich würde jetzt nicht mehr auf die Straße gehen, um ein Victoryzeichen oder ein kreatives Plakat in die Kameras zu halten, sondern nur, wenn sich eine reale Chance böte, das Schicksal des Landes zu verändern.

Wir brauchen uns übrigens nicht zu sorgen, dass wir heute auf dem Bolotnaja-Platz keine Hunderttausend mehr zusammenbekommen – und die da oben sollten sich nicht zu sehr darüber freuen. All diese Menschen sind immer noch da, und unsere Machthaber sind ihnen kein bisschen sympathischer geworden. Es ist nur so, dass ihnen vor lauter Events ein wenig die Leidenschaft abhandengekommen ist. Ihr Atem war nicht lang genug für eine echte Revolution. Also haben sie ihre Stinkefinger in die Tasche gesteckt und warten darauf, was als Nächstes kommt. Und wenn sie die Hände das nächste Mal wieder aus der Tasche ziehen, haben sie vielleicht einen Pflasterstein in der Faust.

Rückblick aus der Zukunft

Seit 2012 hat kein einziges Ereignis – nicht mal der von Putin angezettelte Krieg mit der Ukraine – die Protestbewegung in demselben Maß zu mobilisieren vermocht. Die Macht hat gesiegt, durch Zersplitterung, Einschüchterung, Ermordung, Verhaftung oder Kooptierung der Protestierenden. Die Macht kämpfte damals um ihr Überleben, und sie war bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Die Protestierenden dagegen spielten damals nur Revolution – und so ist es kein Wunder, dass sie am Ende verloren haben.

Ich sage »sie«, obwohl ich eigentlich »wir« sagen sollte. Ich selbst habe damals ja auch nur Revolution gespielt, habe mit ihr kokettiert, so getan, als wäre ich bereit, den Preis für die Freiheit zu zahlen. Tatsächlich reagierte ich damals fast erleichtert, als den Protesten »die Luft ausging« und ich zur bequemen Routine des Alltags zurückkehren konnte, ohne mich der Macht widersetzen und Risiken eingehen zu müssen. Auch wenn dieses Leben unter allen anderen Gesichtspunkten immer weniger frei war.

Und nein, bis heute haben die Protestierenden in Russland es nicht gewagt, Pflastersteine aufzuheben. Wahrscheinlich, weil heute genauso wie damals jeder, der auf die Straße geht, nicht nur sein eigenes Überleben aufs Spiel setzt. Die Strafen für Aufruhr sind in Russland deutlich verschärft worden: Heute drohen politischen Aktivisten nicht nur die ohnehin drakonischen gesetzlich vorgeschriebenen Zwangsmaßnahmen, sondern auch Prügel, Vergewaltigung und öffentliche Erniedrigung bei Festnahme durch die Polizei – und das natürlich mit Billigung der politischen Führung des Landes.

Der Krieg gegen die Ukraine war für die russische Gesellschaft ein Schock, und doch sind damals nur einige Zehntausend Menschen in den Städten auf die Straße gegangen. Über 60 000 wurden von der Polizei wegen der Teilnahme an Protestaktionen verhaftet – und so fiel der Widerstand schon bald in sich zusammen. Selbst als die allgemeine Mobilmachung verkündet wurde, was bedeutete, dass jeder Mann im wehrfähigen Alter eingezogen und an die Front geschickt werden konnte, um dort für nichts und wieder nichts zu sterben – als der Krieg also auf einmal nicht mehr nur ein TV-Spektakel war, sondern grausame Wirklichkeit wurde –, folgte keine neue Protestwelle. Der einzige Protest, zu dem ein gewisser Teil der Bevölkerung bereit war, war die Flucht vor der Einberufung ins Ausland.

Die Protestbewegung ist heute vollkommen demoralisiert, sie scheint vernichtet zu sein. Und ich weiß nicht, ob sie in Putins Russland jemals wieder erstarken wird. Die Nächsten, die sich gegen das Regime auflehnen, sind womöglich die Frontheimkehrer, die wie üblich von der Macht erst über den Tisch gezogen und dann im Stich gelassen werden. Aber das wird ein ganz anderer Protest sein, ein grausamer, verzweifelter Protest, mit ganz anderen Forderungen und ohne einen Hauch von Kompromissbereitschaft.

Auch die Chronisten dieses Protests werden andere sein, man wird ihn ganz anders besingen. Nicht mehr so windelweich wie wir, sondern deutlich gnadenloser.

10. APRIL 2013

es gibt keinen gott

Kontext

Nach den Protesten von 2011 und 2012 wurden eine Menge neuer Gesetze verabschiedet, die politische Freiheiten einschränkten. Dieser Druck kam aber zu keiner Zeit ausschließlich nur aus einer einzigen Ecke – eine wichtige Rolle begannen damals auch regierungstreue Bewegungen zu spielen. Eine neue politische Institution ist spätestens seit dem Pussy-Riot-Urteil die Russische Orthodoxe Kirche geworden. Der Gerichtsprozess um die Punkband (die im Februar 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale ein regierungs- und kirchenkritisches »Punk-Gebet« aufführte) diente dabei als ein weiterer Vorwand, die Strafgesetzgebung zu verschärfen. Bereits einen Monat nach Verkündung des Urteils wurden mehrere Änderungen des Artikels 148 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation in die Staatsduma eingebracht, der heute als Artikel »über die Verletzung der Gefühle von Gläubigen« bekannt ist. Im Juni 2013 wurden diese Änderungen dann verabschiedet: Die Höchststrafe »für öffentliche Handlungen mit dem Ziel der Verletzung der Gefühle von Gläubigen« wurde auf drei Jahre Freiheitsentzug angehoben.

Bald darauf begann man, von »Geistigkeit« (russ. duchownost) als allgemeiner Forderung der Macht an die Gesellschaft zu sprechen. Im Dezember 2012 erklärte Putin in seiner Rede vor der Föderalen Versammlung, der russischen Gesellschaft fehle es an »geistigen Klammern«. (Der von ihm damals verwendete russische Begriff skrepy ist heute in aller Munde.) Außerdem sagte er damals, in der Bevölkerung Russlands gebe es nicht genug Barmherzigkeit und Mitgefühl, es herrsche »ein Defizit an dem, was uns zu allen Zeiten kräftiger, stärker gemacht hat, worauf wir immer stolz waren«.

Es gibt keinen Gott

Und zwar so lange, bis ihr mir das Gegenteil beweist. Das ist meine Meinung, und bis gestern konnte ich darüber sprechen. Konnte mit denen streiten, die glauben, dass Gott den Himmel, die Erde und alles Leben in sechs Tagen schuf. Von heute an jedoch muss ich meine Meinung in der Russischen Föderation für mich behalten. Weil ich mit der Behauptung, dass es keinen Gott gibt, die Gefühle jener verletzen könnte, die an ihn glauben. Und das ist bei uns jetzt eine Straftat.