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1849 in der Schweiz: Der reiche Zimmermeister Frymann und der arme Schneidermeister Hediger gehören seit Jahrzehnten einem Schützenverein an. Als der zwanzigjährige Karl, Sohn des Letzteren, und die siebzehnjährige Hermine, Tochter des Ersteren, eine ernsthafte Liebelei beginnen, unternehmen die beiden erzürnten Väter alles Erdenkliche gegen diese Verbindung. Sie wetten sogar mit den Vereinskameraden, dass eine Heirat und Schwägerschaft zwischen ihren beiden Familien niemals stattfindet! Karl und Hermine sowie Karls Mutter sehen das ganz anders ...
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Der Schneidermeister Hediger in Zürich war in dem Alter, wo der fleißige Handwerksmann schon anfängt, sich nach Tisch ein Stündchen Ruhe zu gönnen. So saß er denn an einem schönen Märztage nicht in seiner leiblichen Werkstatt, sondern in seiner geistigen, einem kleinen Sonderstübchen, welches er sich seit Jahren zugeteilt hatte. Er freute sich, dasselbe ungeheizt wieder behaupten zu können; denn weder seine alten Handwerkssitten noch seine Einkünfte erlaubten ihm, während des Winters sich ein besonderes Zimmer erwärmen zu lassen, nur um darin zu lesen. Und das zu einer Zeit, wo es schon Schneider gab, welche auf die Jagd gehen und täglich zu Pferde sitzen, so eng verzahnen sich die Übergänge der Kultur ineinander.
Meister Hediger durfte sich aber sehen lassen in seinem wohlaufgeräumten Hinterstübchen. Er sah fast eher einem amerikanischen Squatter als einem Schneider ähnlich; ein kräftiges und verständiges Gesicht mit starkem Backenbart, von einem mächtigen kahlen Schädel überwölbt, neigte sich über die Zeitung »Der schweizerische Republikaner« und las mit kritischem Ausdruck den Hauptartikel.
Von diesem Republikaner standen wenigstens fünfundzwanzig Foliobände, wohlgebunden, in einem kleinen Glasschranke von Nussbaum, und sie enthielten fast nichts, das Hediger seit fünfundzwanzig Jahren nicht mit erlebt und durchgekämpft hatte.
Außerdem stand ein »Rotteck« in dem Schranke, eine Schweizergeschichte von Johannes Müller und eine Handvoll politischer Flugschriften und dergleichen; ein geografischer Atlas und ein Mäppchen voll Karikaturen und Pamphlete, die Denkmäler bitter leidenschaftlicher Tage, lagen auf dein untersten Brette.
Die Wand des Zimmerchens war geschmückt mit den Bildnissen von Kolumbus, von Zwingli, von Hutten, Washington und Robespierre; denn er verstand keinen Spaß und billigte nachträglich die Schreckenszeit.
Außer diesen Welthelden schmückten die Wand noch einige schweizerische Fortschrittsleute mit der beigefügten Handschrift in höchst erbaulichen und weitläufigen Denksprüchen, ordentlichen kleinen Aufsätzchen.
Am Bücherschrank aber lehnte eine gut im Stand erhaltene, blanke Ordonnanzflinte, behängt mit einem kurzen Seitengewehr und einer Patronentasche, worin zu jeder Zeit dreißig scharfe Patronen steckten. Das war sein Jagdgewähr, womit er nicht auf Hasen und Rebhühner, sondern auf Aristokraten und Jesuiten, auf Verfassungsbrecher und Volksverräter Jagd machte.
Bis jetzt hatte ihn ein freundlicher Stern bewahrt, dass er noch kein Blut vergossen, aus Mangel an Gelegenheit; dennoch hatte er die Flinte schon mehr als einmal ergriffen und war damit auf den Platz geeilt, da es noch die Zeit der Putsche war, und das Gewehr musste unverrückt zwischen Bett und Schrank stehen bleiben; »denn«, pflegte er zu sagen, »keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustür zu treten und nachzusehen, was es gibt!«
Als der wackere Meister mitten in seinem Artikel vertieft war, bald zustimmend nickte und bald den Kopf schüttelte, trat sein jüngster Sohn Karl herein, ein angehender Beamter auf einer Regierungskanzlei.
»Was gibt's?«, fragte er barsch; denn er liebte nicht, in seinem Stübchen gestört zu werden.
Karl fragte, etwas unsicher über den Erfolg seiner Bitte, ob er des Vaters Gewehr und Patronentasche für den Nachmittag haben könne, da er auf den Drillplatz gehen müsse.
»Keine Rede, wird nichts daraus!«, sagte Hediger kurz.
»Und warum denn nicht? Ich werde ja nichts daran verderben«, fuhr der Sohn kleinlaut fort und doch beharrlich, weil er durchaus ein Gewehr haben musste, wenn er nicht in den Arrest spazieren wollte.
Allein der Alte versetzte nur um so lauter:
»Wird nichts daraus! Ich muss mich nur wundern über die Beharrlichkeit meiner Herren Söhne, die doch in andern Dingen so unbeharrlich sind, dass keiner von allen bei dem Berufe blieb, den ich ihn nach freier Wahl habe lernen lassen!
Du weißt, dass deine drei älteren Brüder der Reihe nach, sowie sie zu exerzieren anfangen mussten, das Gewehr haben wollten und dass es keiner bekommen hat! Und doch kommst du nun auch noch angeschlichen! Du hast deinen schönen Verdienst, für niemand zu sorgen – schaff dir deine Waffe an, wie es einem Ehrenmanne geziemt! Dies Gewehr kommt nicht von der Stelle, außer wenn ich es selbst brauche!«
»Aber es ist ja nur für einige Male! Ich werde doch nicht ein Infanteriegewehr kaufen sollen, da ich nachher doch zu den Scharfschützen gehen und mir einen Stutzer zutun werde!«
»Scharfschützen! Auch schön! Woher erklärst du dir nur die Notwendigkeit, zu den Scharfschützen zu gehen, da du noch nie eine Kugel abgefeuert hast? Zu meiner Zeit musste einer schon tüchtig Pulver verbrannt haben, eh' er sich dazu melden durfte; jetzt wird man auf geratwohl Schütz, und Kerle stecken in dem grünen Rock, welche keine Katze vom Dach schießen, dafür aber freilich Zigarren rauchen und Halbherren sind! Geht mich nichts an!«
»Ei«, sagte der Junge fast weinerlich, »so gebt es mir nur dies eine Mal; ich werde morgen für ein anderes sorgen, heut kann ich unmöglich mehr!«
»Ich gebe«, versetzte der Meister, »meine Waffe niemand, der nicht damit umgehen kann; wenn du regelrecht das Schloss dieser Flinte abnehmen und auseinanderlegen kannst, so magst du sie nehmen; sonst aber bleibt siehier!« Und er suchte aus einer Lade einen Schraubenzieher hervor, gab ihn dem Sohn und wies ihm die Flinte an.
Der versuchte in der Verzweiflung sein Heil und begann die Schlossschrauben loszumachen.
Der Vater schaute ihm spöttisch zu; es dauerte nicht lange, so rief er:
»Lass mir den Schraubenzieher nicht so ausglitschen, du verdirbst mir die ganze Geschichte! Mach die Schrauben eine nach der andern halb los und dann erst ganz, so geht's leichter! So, endlich!«
Nun hielt Karl das Schloss in der Hand, wusste aber nichts mehr damit anzufangen und legte es seufzend hin, sich im Geiste schon im Strafkämmerchen sehend.
Der alte Hediger aber, einmal im Eifer, nahm jetzt das Schloss, dem Sohn eine Lektion zu halten, indem er es erklärend auseinander nahm.
»Siehst du«, sagte er, »zuerst nimmst du die Schlagfeder wegmittelst dieses Federhakens – auf diese Weise; dann kommt die Stangenfederschraube, die schraubt man nur halb aus, schlägt so auf die Stangenfeder, dass der Stift hier aus dem Loch geht; jetzt nimmst du die Schraube ganz weg. Jetzt die Stangenfeder, dann die Stangenschraube, die Stange; jetzt die Studelschraube und hier die Studel; ferner die Nussschraube, den Hahn und endlich die Nuss; dies ist die Nuss! Reiche mir das Klauenfett aus dem Schränklein dort, ich will die Schrauben gleich ein bisschen einschmieren!«
Er hatte die benannten Gegenstände alle auf das Zeitungsblatt gelegt, Karl sah ihm eifrig zu, reichte ihm auch das Fläschchen und meinte, das Wetter habe sich günstig geändert.
Als aber sein Vater die Bestandteile des Schlosses abgewischt und mit dem Öle frisch befeuchtet hatte, setzte er sie nicht wieder zusammen, sondern warf sie in den Deckel einer kleinen Schachtel durcheinander und sagte:
»Nun, wir wollen das Ding am Abend wieder einrichten; jetzt will ich die Zeitung fertiglesen!«
Getäuscht und wild gingKarl hinaus, sein Leid der Mutter zu klagen; er fühlte einen gewaltigen Respekt vor der öffentlichen Macht, in deren Schule er nun gingals Rekrut. Seit er der Schule entwachsen, war er nicht mehr bestraft worden, und auch dort in den letzten Jahren nicht mehr; nun sollte das Ding auf einer höheren Stufe wieder angehen, bloß weil er sich auf des Vaters Gewehr verlassen hatte.
Die Mutter sagte:
»Der Vater hat eigentlich ganz recht! Alle vier Buben habt ihr einen bessern Erwerb als er selbst, und das vermöge der Erziehung, die er euch gegeben hat; aber nicht nur braucht ihr den letzten Heller für euch selbst, sondern ihr kommt immer noch, den Alten zu plagen mit Entlehnen von allen möglichen Dingen: schwarzer Frack, Perspektiv, Reißzeug, Rasiermesser, Hut, Flinte und Säbel; was er sich sorglich in Ordnung hält, das holt ihr ihm weg und bringt es verdorben zurück.
Es ist, als ob ihr das ganze Jahr nur studiertet, was man noch von ihm entlehnen könne; er hingegen verlangt nie etwas von euch, obgleich ihr das Leben und alles ihm zu danken habt. Ich will dir für heut noch einmal helfen!«
Sie ginghierauf zum Meister Hediger hinein und sagte:
»Lieber Mann, ich habe vergessen, dir zu sagen, dass der Zimmermeister Frymann hat berichten lassen, die Siebenmännergesellschaft komme heut zusammen und es seien Verhandlungen, ich glaube etwas Politisches!«
»So?«, sagte er sogleich angenehm erregt, stand auf und ging hin und her. »Es nimmt mich wunder, dass Frymann nicht selbst gekommen ist, um vorläufig mit mir zu reden, Rücksprache zu nehmen?«
Nach einigen Minuten kleidete er sich rasch an, setzte den Hut auf und entfernte sich mit den Worten:
»Frau, ich gehe gleich jetzt fort, ich muss wissen, was es gibt! Bin auch dies Frühjahr noch keinen Tritt im Freien gewesen, und heut ist's so schön! Also adieu denn!«
»So! Nun kommt er vor zehn Uhr nachts nicht mehr!«, lachte Frau Hediger und forderte Karl auf, das Gewehr zu nehmen, Sorg' zu tragen und es rechtzeitig wiederzubringen.
»Ja nehmen!«, klagte der Sohn. »Er hat ja das Schloss auseinander getan, ich kann es nicht herstellen.«
»So kann ich es!«, rief die Mutter und gingmit dem Sohn in das Stübchen. Sie kippte den Deckel um, in welchem das zerlegte Schloss lag, las die Federn und Schrauben auseinander und begann sehr gewandt, sie zusammenzufügen.
»Wo zum Teufel habt Ihr das gelernt, Mutter?«, rief Karl ganz verblüfft.
»Das hab' ich gelernt«, sagte sie, »in meinem väterlichen Hause! Dort hatten der Vater und meine sieben Brüder mich abgerichtet, ihnen ihre sämtlichen Büchsen und Gewehre zu putzen, wenn sie geschossen hatten. Ich tat es oft unter Tränen, aber am Ende konnte ich mit dem Zeug umgehen wie ein Büchsenmachergesell.
Auch hieß man mich im Dorfe nur die Büchsenschmiedin, und ich hatte fast immer schwarze Hände und einen schwarzen Nasenzipfel. Die Brüder verschossen und verjubelten Haus und Hof, sodass ich armes Kind froh sein musste, dass mich der Schneider, dein Vater, geheiratet hat.«
Während dieser Erzählung hatte die geschickte Frau wirklich das Schloss zusammengesetzt und am Schafte befestigt.
Karl hing die glänzende Patronentasche um, nahm das Gewehr und eilte spornstreichs auf den Exerzierplatz, wo er noch mit knapper Not anlangte, ohne zu spät zu kommen.
Nach sechs Uhr brachte er die Sachen wieder zurück, versuchte nun selbst das Schloss auseinanderzunehmen und legte dessen Bestandteile wieder in den Schachteldeckel, wohl durcheinandergerüttelt.
Nachdem er ein Abendbrot verzehrt und es darüber dunkel geworden, ginger an die Schifflände, mietete ein Schiffchen und fuhr längs den Ufern hin, bis er vor die Plätze am See gelangte, welche teils von Zimmerleuten, teils von Steinmetzen benutzt wurden.