6,99 €
»Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen.« Der ehrliche Eibenschütz macht sich viele Feinde. Als er sich in die schöne Zigeunerin Euphemia verliebt, wird es – nicht nur bei den Gewichten – immer schwerer, zu erkennen, was richtig und was falsch ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 156
Joseph Roth
Das falsche Gewicht
Die Geschichteeines Eichmeisters
Roman
Die Erstausgabe erschien
1937 im Querido Verlag, Amsterdam
Der vorliegende Band basiert auf der Ausgabe
der Werke in vier Bänden, herausgegeben
von Hermann Kesten,
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1975/76
Veröffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 2010
Umschlagfoto (Ausschnitt): André Kertész,
›Bocskay tér, Budapest‹, 1914
Copyright © 2007 R.M.N., Paris
Foto: Copyright © R.M.N./© André Kertész
Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten
Copyright © 2012
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23974 4 (1.Auflage)
ISBN E-Book 978 3 257 60276 0
Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.
[5] I
Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen. In bestimmten Zeiträumen geht Eibenschütz also von einem Laden zum andern und untersucht die Ellen und die Waagen und die Gewichte. Es begleitet ihn ein Wachtmeister der Gendarmerie in voller Rüstung. Dadurch gibt der Staat zu erkennen, dass er mit Waffen, wenn es nötig werden sollte, die Fälscher zu strafen bedacht ist, jenem Gebot getreu, das in der Heiligen Schrift verkündet wird und demzufolge ein Fälscher gleich ist einem Räuber…
Was nun Zlotogrod betrifft, so war dieser Bezirk ziemlich ausgedehnt. Er umfasste vier größere Dörfer, zwei bedeutende Marktweiler und schließlich das Städtchen Zlotogrod selbst.
Der Eichmeister benützte für seine Dienstwege ein ärarisches, einspänniges, zweiräderiges Wägelchen, samt einem Schimmel, für dessen Erhaltung Eibenschütz selbst aufzukommen hatte.
Der Schimmel besaß noch ein ansehnliches Temperament. Er hatte drei Jahre beim Train gedient und war nur infolge einer plötzlichen Erblindung am linken Auge, deren [6] Ursache auch der Veterinär nicht erklären konnte, dem Zivildienst überstellt worden. Es war immerhin ein stattlicher Schimmel, vorgespannt einem hurtigen, goldgelben Wägelchen. Darin saß an manchen Tagen neben dem Eichmeister Eibenschütz der Wachtmeister der Gendarmerie Wenzel Slama. Auf seinem sandgelben Helm glänzten der goldene Pickel und der kaiserliche Doppeladler. Zwischen seinen Knien ragte das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett empor. Zügel und Peitsche hielt der Eichmeister in der Hand. Sein blonder und weicher, mit Sorgfalt emporgewichster Schnurrbart schimmerte ebenso golden wie Doppeladler und Pickelhaube. Aus dem gleichen Material schien er gemacht. Von Zeit zu Zeit knallte fröhlich die Peitsche, und es war, als lachte sie geradezu. Der Schimmel galoppierte dahin, mit ehrgeiziger Eleganz und mit dem Elan eines aktiven Kavalleriepferdes. Und an heißen Sommertagen, wenn die Straßen und Wege des Bezirkes Zlotogrod ganz trocken und beinahe durstig waren, erhob sich ein gewaltiger, graugoldener Staubwirbel und hüllte den Schimmel, das Wägelchen, den Wachtmeister und den Eichmeister ein. Im Winter aber stand dem Anselm Eibenschütz ein kleiner, zweisitziger Schlitten zur Verfügung. Der Schimmel hatte den gleichen eleganten Galopp, Sommer wie Winter. Kein graugoldener mehr, sondern ein silberner, ein Schneewirbel hüllte den Wachtmeister, den Eichmeister, den Schlitten in Unsichtbarkeit, und den Schimmel erst recht, da er fast so weiß war wie der Schnee.
Anselm Eibenschütz, unser Eichmeister, war ein sehr stattlicher Mann. Er war ein alter Soldat. Er hatte seine zwölf Jahre als längerdienender Unteroffizier beim Elften [7] Artillerieregiment verbracht. Er hatte, wie man zu sagen pflegt, von der Pike auf gedient. Er war ein redlicher Soldat gewesen. Und er hätte niemals das Militär verlassen, wenn ihn nicht seine Frau in ihrer strengen, ja unerbittlichen Weise dazu gezwungen hätte.
Er hatte geheiratet, wie es fast alle längerdienenden Unteroffiziere zu tun pflegen. Ach, sie sind einsam, die längerdienenden Unteroffiziere! Nur Männer sehen sie, lauter Männer! Die Frauen, denen sie begegnen, huschen an ihnen vorbei wie Schwalben. Sie heiraten, die Unteroffiziere, sozusagen um wenigstens eine einzige Schwalbe zu behalten.
Also hatte auch der längerdienende Feuerwerker Eibenschütz geheiratet, eine gleichgültige Frau, wie jeder hätte sehen können. Es tat ihm so leid, seine Uniform zu verlassen. Er hatte Zivilkleider nicht gern, es war ihm zumute wie etwa einer Schnecke, die man zwingt, ihr Haus zu verlassen, das sie aus ihrem eigenen Speichel, also aus ihrem Fleisch und Blut, ein viertel Schneckenleben lang gebaut hat. Aber anderen Kameraden ging es beinahe ebenso. Die meisten hatten Frauen: aus Irrtum, aus Einsamkeit, aus Liebe: was weiß man! Alle gehorchten den Frauen: aus Furcht und aus Ritterlichkeit und aus Gewohnheit und aus Angst vor der Einsamkeit: was weiß man! Aber kurz und gut, Eibenschütz verließ die Armee. Er zog die Uniform aus, die geliebte Uniform; verließ die Kaserne, die geliebte Kaserne.
Jeder längerdienende Unteroffizier hat ein Recht auf einen Posten. Eibenschütz, der aus dem mährischen Städtchen Nikolsburg stammte, hatte längere Zeit versucht, in seine Heimat als Sequester oder Konzipist zurückzugelangen, wenn er schon, dank seiner Frau, gezwungen war, die [8] Armee, sein zweites und vielleicht sein eigentliches Nikolsburg, zu verlassen. Man brauchte aber um jene Zeit in ganz Mähren weder Sequester noch Konzipisten. Alle Gesuche des Eibenschütz wurden abschlägig beschieden.
Da ergriff ihn zum ersten Mal ein echter Zorn gegen seine Frau. Und er, ein Feuerwerker, der so vielen Manövern und Vorgesetzten standgehalten hatte, gelobte sich selbst, dass er von Stunde ab stark gegen seine Frau sein würde; Regina hieß sie. In seine Uniform hatte sie sich dereinst verliebt – fünf Jahre war es im Ganzen her. Jetzt, nachdem sie ihn in vielen Nächten nackt und ohne Uniform gesehen und besessen hatte, verlangte sie von ihm Zivil und Stellung und Heim und Kinder und Enkel und was weiß man noch alles!
Aber der Zorn nutzte gar nichts dem Anselm Eibenschütz, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, dass der Posten eines Eichmeisters in Zlotogrod frei sei.
Er rüstete ab. Er verließ die Kaserne, die Uniform, die Kameraden und die Freunde.
Er fuhr nach Zlotogrod.
II
Der Bezirk Zlotogrod lag im fernen Osten der Monarchie. In jener Gegend hatte es vorher einen faulen Eichmeister gegeben. Wie lange war es her – die Älteren erinnerten sich noch daran –, dass es überhaupt Maße und Gewichte gab! Es gab nur Waagen. Nur Waagen gab es. Stoffe maß man mit dem Arm, und alle Welt weiß, dass ein Männerarm, von der geschlossenen Faust bis hinauf zum Ellenbogen, eine Elle [9] misst, nicht mehr und nicht weniger. Alle Welt wusste ferner, dass ein silberner Leuchter ein Pfund, zwanzig Gramm wog und ein Leuchter aus Messing ungefähr zwei Pfund. Ja, in jener Gegend gab es viele Leute, die sich überhaupt nicht auf das Wägen und auf das Messen verließen. Sie wogen in der Hand, und sie maßen mit dem Aug’. Es war keine günstige Gegend für einen staatlichen Eichmeister.
Es hatte, wie gesagt, vor der Ankunft des Feuerwerkers Anselm Eibenschütz noch einen anderen Eichmeister im Bezirk Zlotogrod gegeben. Aber, was war das für ein Eichmeister gewesen! Alt und schwach und dem Alkohol ergeben, hatte er niemals die Maße und die Gewichte im Städtchen Zlotogrod selbst geprüft, geschweige denn in den Dörfern und Marktflecken, die zum Bezirk gehörten. Deshalb hatte er auch, als er begraben wurde, ein außerordentlich schönes Leichenbegängnis. Alle Kaufleute folgten seinem Sarge: die mit den falschen Gewichten wogen, mit dem silbernen und messingnen Leuchter nämlich, jene, die mit dem Arm von der geschlossenen Faust bis zum Ellenbogen maßen, und viele andere, die es ohne Eigennutz und lediglich gewissermaßen aus Prinzip bitter beklagten, dass ein Prüfer der Gewichte dahingegangen war, der selber kaum eines besessen haben konnte. Denn die Leute in dieser Gegend betrachteten alle jene, welche die Forderungen an Recht, Gesetz, Gerechtigkeit und Staat unerbittlich vertraten, als geborene Feinde. Vorgeschriebene Maße und Gewichte in den Geschäften zu halten war bereits eine Sache, die man kaum vor dem eigenen Gewissen verantworten konnte. Was aber bedeutete erst die Ankunft eines neuen, gewissenhaften Eichmeisters! Genauso groß, wie die Trauer [10] gewesen war, mit der man den alten Eichmeister zu Grabe getragen hatte, war das Misstrauen, mit dem man Anselm Eibenschütz in Zlotogrod empfing.
Man sah nämlich auf den ersten Blick, dass er nicht alt, nicht schwächlich, nicht trunksüchtig war, sondern, im Gegenteil, stattlich, kräftig und redlich; vor allem: allzu redlich.
III
Unter solch ungünstigen Bedingungen trat Anselm Eibenschütz sein neues Amt im Bezirk Zlotogrod an. Er kam im Frühling, an einem der letzten Märztage. In der bosnischen Garnison des Feuerwerkers Eibenschütz hatten schon die Eichkätzchen linde geschimmert, der Goldregen zu leuchten begonnen, die Amseln flöteten bereits auf dem Rasen, die Lerchen trillerten schon in der Luft. Als Eibenschütz nach dem nördlichen Zlotogrod kam, lag noch der weiße, dichte Schnee in den Straßen, und an den Rändern der Dächer hingen die strengen, die unerbittlichen Eiszapfen. Eibenschütz ging die ersten Tage einher wie ein plötzlich Ertaubter. Er verstand die Sprache des Landes zwar, aber es ging ja gar nicht so sehr darum, zu verstehen, was die Menschen sagten, sondern, was das Land selber sprach. Und das Land redete fürchterlich: Es redete Schnee, Finsternis, Kälte und Eiszapfen, obwohl der Kalender den Frühling erzählte und in den Wäldern der bosnischen Garnison Sipolje schon längst die Veilchen blühten. Hier aber, in Zlotogrod, krächzten die Krähen in den kahlen Weiden und Kastanien. [11] In ganzen Büscheln hingen sie an den nackten Zweigen, und es sah aus, als wären sie gar keine Vögel, sondern eine Art geflügelter Früchte. Der kleine Fluss, Struminka hieß er, schlief noch unter einer schweren Eisdecke, und die Kinder glitschten fröhlich über ihn dahin, und ihre Fröhlichkeit machte den armen Eichmeister noch trauriger.
Plötzlich in der Nacht, vom Kirchturm hatte es noch nicht Mitternacht geschlagen, hörte Eibenschütz das große Krachen der geborstenen Eisdecke. Obwohl es, wie gesagt, mitten in der Nacht war, begannen auf einmal die Eiszapfen an den Dachrändern zu schmelzen, und die Tropfen fielen hart auf den hölzernen Bürgersteig. Ein linder, süßer Wind aus dem Süden hatte sie zum Schmelzen gebracht, er war ein nächtlicher Bruder der Sonne. An allen Häuschen gingen die Läden auf, die Menschen erschienen an den Fenstern, viele verließen auch ihre Häuser. An einem hellblau leuchtenden Himmel standen kalt, ewig, prächtig die Sterne, die goldenen und die silbernen, und es sah aus, als lauschten sie auch von der Höhe dem Krachen und Poltern. Viele Einwohner zogen sich eilig an, wie man sich sonst nur bei Feuersbrünsten anzieht, und zogen zum Fluss. Mit Windlichtern und Laternen stellten sie sich an seinen beiden Ufern auf und sahen zu, wie das Eis barst und wie der Fluss aus seinem Winterschlaf erwachte. Manche hüpften, in kindischer Freude, auf eine der großen dahintreibenden Schollen, schwammen eilig mit ihr davon, die Laterne in der Hand, Grüße noch winkten sie mit ihr den am Ufer Zurückbleibenden, und erst nach einer langen Weile sprangen sie wieder ans Ufer. Alle benahmen sich ausgelassen und töricht. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft begann da der Eichmeister mit dem und [12] jenem Einwohner des Städtchens zu sprechen. Der und jener fragte den Eibenschütz, woher er komme und was er hier zu machen gedenke. Er gab Auskunft, freundlich und zufrieden.
Die ganze Nacht blieb er wach, mit den Einwohnern des Städtchens. Am Morgen, als er heimkehrte und sich das Krachen des Eises schon besänftigt hatte, fühlte er sich wieder traurig und einsam. Zum ersten Mal verspürte er jenen Schauder, den Ahnung allein bereiten kann. Er fühlte, dass sich hier in Zlotogrod sein Schicksal erfüllen sollte. Zum ersten Mal auch in seinem ganzen tapferen Leben hatte er Angst. Und zum ersten Mal, als er im grauenden Morgen heimkam und sich aufs Bett legte, fand er keinen Schlaf. Er weckte seine Frau Regina. Seltsame Gedanken kamen ihm, er musste sie aussprechen. Er hatte eigentlich fragen wollen, warum der Mensch so allein sei. Aber er schämte sich und sagte nur: »Regina, jetzt sind wir ganz allein!«
Die Frau saß aufgerichtet in den Kissen, in einem lila Nachtgewand. Der Morgen sickerte spärlich durch die Ritzen der Fensterläden. Die Frau erinnerte Eibenschütz an eine Tulpe, die während dieser ersten Frühlingsnacht in Zlotogrod zu welken begonnen hatte. »Regina«, sagte Eibenschütz, »ich fürchte, ich hätte niemals die Kaserne verlassen sollen!«
»Für mich sind drei Jahre Kaserne gerade genug«, sagte die Frau, »lass mich jetzt schlafen!«
Sie fiel auch sofort in die Kissen zurück. Eibenschütz stieß einen Fensterladen auf und sah hinaus in die Straße. Aber auch der Morgen war welk. Welk war der Morgen. Sogar der Morgen war welk.
[13] IV
Ringsherum gab es Kinder. Kinder gab es ringsherum. Der Wachtmeister der Gendarmerie Wenzel Slama hatte sogar zweimal hintereinander, innerhalb von zwanzig Monaten, Zwillinge bekommen. Es wimmelte ringsherum von Kindern. Überall, wo Eibenschütz hinblickte, sah er Kinder. Sie spielten im Rinnstein mit dem schmutzigen Wasser. Sie spielten Murmeln im Trockenen. Sie spielten auf den alten Bänken des kümmerlichen Parks in Zlotogrod, ein schwindsüchtiger Park, ein Park, im Sterben begriffen. Sie spielten im Regen und im Sturm. Sie spielten Ball und Reifen und Kegel. Überall, wo der Eichmeister Eibenschütz hinblickte, sah er Kinder, lauter Kinder. Die Gegend war fruchtbar, es war kein Zweifel.
Wenn der Eichmeister Eibenschütz Kinder gehabt hätte! Es wäre alles anders gewesen: Ihm zumindest schien es so.
Sehr einsam war er, und er fühlte sich fremd und heimatlos in der ungewohnten Zivilkleidung, nachdem er zwölf Jahre in seiner dunkelbraunen Artillerie-Uniform gehaust hatte. Seine Frau: was war sie ihm! – Zum ersten Mal fragte er sich, warum und wozu er sie geheiratet hatte. Darüber erschrak er gewaltig. Er erschrak darüber gewaltig, weil er sich selbst niemals zugetraut hätte, dass er überhaupt erschrecken könnte. Es kam ihm vor, dass er, wie man sagt, aus der Bahn geworfen sei – und dabei hatte er doch immer wieder und ständig seinen rechten Weg eingehalten! Aber immerhin, soldatischer Disziplin getreu und aus Furcht vor der Furcht, ergab er sich seinem Dienst und seinen Pflichten. Niemals vorher hatte man einen dem Staat, dem [14] Gesetz, dem Gewicht und dem Maß so ergebenen Eichmeister gesehen in dieser Gegend.
Er entdeckte plötzlich, dass er seine Frau nicht liebte. Denn nun, da er allein und einsam war, in der Stadt, im Bezirk, im Amt, unter den Menschen, verlangte er Liebe und Zutraulichkeit zu Hause, und da sah er, dass nichts davon vorhanden war. Manchmal in der Nacht richtete er sich im Bett auf und betrachtete seine Frau. Im gelblichen Schimmer des Nachtlämpchens, das oben auf dem Kleiderkasten stand und nicht nur die Finsternis nicht vertrieb, sondern sogar an eine Art leuchtenden Kerns der Nacht im Zimmer erinnerte, erschien die schlafende Frau Regina dem Eichmeister Eibenschütz wie eine trockene Frucht. Er richtete sich im Bett auf und betrachtete sie ausführlich. Je länger er sie ansah, desto einsamer fühlte er sich. Es war, als ob ihr Anblick allein ihm Einsamkeit bereitete. Zu ihm, zu Anselm Eibenschütz, gehörte sie gar nicht, so, wie sie dalag, mit schönen Brüsten, mit dem ruhigen Kindergesicht und den kühn geschwungenen Augenbrauen und dem lieben, halboffenen Mund und dem kleinen, leichten Schimmer der Zähne zwischen den dunkelroten Lippen. Keine Begierde mehr trieb ihn zu ihr wie einst in früheren Nächten. Liebte er sie noch? Begehrte er sie noch?
Er war sehr einsam, der Eichmeister Anselm Eibenschütz. Bei Tag und bei Nacht war er einsam.
[15] V
Nachdem er vier Wochen im Bezirk Zlotogrod verbracht hatte, schlug ihm der Wachtmeister Wenzel Slama vor, dem Sparverein der älteren Staatsbeamten beizutreten. Diesem Verein gehörten Sequester, Konzipisten und sogar Gerichtsadjunkte an. Alle spielten Tarock und Bakkarat. Zweimal in der Woche versammelten sie sich im Café Bristol, dem einzigen Kaffeehaus im Städtchen Zlotogrod. Alle Mitglieder des Vereins begegneten dem Eichmeister Eibenschütz mit Misstrauen, und zwar nicht nur deshalb, weil er ein Fremder und Neuangekommener war, sondern auch, weil sie in ihm einen durchaus Redlichen und noch nicht Verlorenen vermuteten.
Sie selbst nämlich waren durchwegs Verlorene. Sie ließen sich bestechen und bestachen andere. Sie betrogen Gott und die Welt und die Vorgesetzten. Aber auch die Vorgesetzten betrogen wieder ihre höheren Vorgesetzten, die in den weiten, größeren Städten saßen. Im Verein der älteren Staatsbeamten betrog einer den andern beim Kartenspiel; und nicht etwa aus purer Gewinnsucht, sondern einfach so, aus Lust am Betrügen. Anselm Eibenschütz aber betrog nicht. Und was seine Freunde noch stärker gegen ihn aufregte, war nicht so sehr die Tatsache, dass er selbst nicht betrog, sondern vor allem, dass er einen Betrug, dem er anheimgefallen war, gleichgültig aufnahm. Also sonderte er sich von den anderen geradezu böswillig ab. Also war er in der Mitte der anderen noch einsamer.
Die Kaufleute hassten ihn – mit Ausnahme eines einzigen, von dem aber erst später die Rede sein soll. Die [16] Kaufleute hassten ihn, weil sie ihn fürchteten. Wenn sie ihn ankommen sahen, in seinem goldgelben Wägelchen, den Gendarmen an der Seite, wagten sie selbst, ihre Türen zu schließen. Wohl wussten sie, dass sie gezwungen sein würden, die Läden zu öffnen, sobald der Gendarm dreimal angepocht hatte. Aber nein! Sie schlossen die Türen lediglich, um den Eichmeister Eibenschütz zu ärgern. Denn er hatte schon mehrere Kaufleute angezeigt und vor Gericht gebracht.
Wenn er spätabends nach Hause kam, im Sommer verschwitzt, halb erfroren im Winter, erwartete ihn mit finsterer Stirn seine Frau. Wie hatte er nur so lange Zeit mit einer so fremden Frau zusammenleben können! Es war ihm, als hätte er sie erst vor kurzem erkannt, und immer eine Minute bevor er ins Haus trat, hatte er Angst, sie würde sich seit gestern verändert haben können und wieder eine andere, neue, aber ebenso finstere sein. Gewöhnlich saß sie strickend unter dem Rundbrenner, in emsiger, gehässiger und erbitterter Demut. Doch war sie hübsch anzusehen mit ihrem schwarzen, glatten Scheitel und ihrer trotzigen, kurzen Oberlippe, die einen kindlichen Mutwillen vortäuschte. Sie hob nur den Blick, ihre Hände strickten weiter. »Sollen wir jetzt essen?«, fragte sie. »Ja!«, sagte er. Sie legte das Strickzeug hin, einen gefährlichen, giftiggrünen Knäuel mit zwei dräuenden Nadeln, und ein angefangenes Stückchen Strumpf, das eigentlich aussah wie ein Überrest, ein noch nicht geborenes und schon zerstückeltes Werk. Trümmer, Trümmer, Trümmer! Eibenschütz starrte darauf, während er die peinlichen Geräusche vernahm, die seine Frau in der Küche verursachte, und die grelle und gemeine Stimme des Dienstmädchens. Obwohl er hungrig war, wünschte er, die [17] Frau möchte möglichst lange in der Küche bleiben. Warum gab es keine Kinder im Haus?
VI
Ein paarmal in der Woche erhielt er eine umfängliche Post. Gewissenhafter Beamter, der er war, klassifizierte er alle Briefe säuberlich. Die Eichmeisterei war in der Bezirkshauptmannschaft untergebracht, im Hoftrakt, in einem halbdunklen Zimmerchen. Eibenschütz saß dort an einem schmalen, grünen Tisch, ihm gegenüber ein junger Schreiber, ein sogenannter »Vertragsbeamter«, der sehr blond war, geradezu aufreizend blond und sehr ehrgeizig. Er hieß Josef Nowak, und Eibenschütz konnte ihn schon des Namens wegen nicht leiden. Denn genau so hatte ein verhasster Schulkollege geheißen, dessentwegen Eibenschütz das Gymnasium in Nikolsburg hatte verlassen müssen. Dessentwegen hatte er sich so früh zum Militär gemeldet. Dessentwegen – dies aber bildete sich der Eichmeister nur ein – hatte er auch geheiratet und gerade diese Frau Regina. Der Vertragsbeamte war freilich ganz unschuldig am Schicksal des Eibenschütz. Er war nicht nur aufreizend blond und ehrgeizig, sondern auch rachsüchtig. Hinter biegsamen und schmeichlerischen Manieren verbarg er eine dem Eichmeister Eibenschütz aber wohl erkenntliche Sucht, seinem Vorgesetzten zu schaden. Unter den Briefen, die an das Eichmeisteramt kamen, befanden sich auch die seinen, mit verstellter Hand geschriebenen. Es waren Droh- und Denunziationsbriefe. Sie verwirrten den Eichmeister [18] Eibenschütz. Denn seine peinliche Bedachtsamkeit gebot ihm, jeder Anzeige nachzugehen und jede Drohung dem Gendarmeriekommando anzuzeigen. Im Stillen gestand er sich selbst, dass er nicht dazu geschaffen war, Beamter zu sein und gar in dieser Gegend. In der Kaserne hätte er bleiben müssen, ja, in der Kaserne. Bei den Soldaten war alles geregelt. Man bekam keine Drohbriefe und keine Denunziationen. Die Verantwortung eines jeden Soldaten für alles, was er tat, und für alles, was er unterließ, lag irgendwo hoch über ihm, er wusste selber gar nicht, wo. Wie leicht und frei war das Leben in der Kaserne gewesen!