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Man soll die Frauen nicht ans Steuer lassen, denkt der Zeitungsreporter Quinn aus London. Eben gestand ihm Hugh Melvilles Frau, dass sie den Unfall verschuldet hat, für den Hugh zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt wurde... Als Ellen Melville kurz danach tot aufgefunden wird, sieht es selbstverständlich so aus, als habe sie vor Reue Selbstmord begangen... Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller. Der Roman DAS FERNGELENKTE ALIBI um den Londoner Privatdetektiv John Piper erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
HARRY CARMICHAEL
Das ferngelenkte Alibi
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
DAS FERNGELENKTE ALIBI
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapite1
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Copyright © by Leopold Horace Ognall/Signum-Verlag.
Published by arrangement with the Estate of Leopold Horace Ognall.
Original-Titel: Remote Control.
Übersetzung: Wulf Bergner.
Lektorat: Dr. Birgit Rehberg
Umschlag: Copyright © by Christian Dörge.
Verlag:
Signum-Verlag
Winthirstraße 11
80639 München
www.signum-literatur.com
Man soll die Frauen nicht ans Steuer lassen, denkt der Zeitungsreporter Quinn aus London. Eben gestand ihm Hugh Melvilles Frau, dass sie den Unfall verschuldet hat, für den Hugh zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt wurde...
Als Ellen Melville kurz danach tot aufgefunden wird, sieht es selbstverständlich so aus, als habe sie vor Reue Selbstmord begangen...
Harry Carmichael (eigtl. Hartley Howard/Leopold Horace Ognall - * 20. Juni 1908 in Montreal, Québec; † Großbritannien) war ein britischer Schriftsteller.
Der Roman Das ferngelenkte Alibi um den Londoner Privatdetektiv John Piper erschien erstmals im Jahr 1970; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Quinn lieferte seinen Artikel um fünf vor zehn ab, lieh sich von einem Kollegen eine Zigarette und suchte auf der Treppe in seinen Manteltaschen nach Zündhölzern. Jemand gab ihm Feuer, als er das Erdgeschoss erreichte.
»...und gehen Sie vorsichtig. Draußen ist es überall eisig!«
Quinn steckte die Hände in die Taschen, stapfte mit gesenktem Kopf die Gasse entlang, bog in die Fleet Street ab und hatte dort nicht mehr weit zu seinem Stammlokal Three Feathers. Er war müde und durstig. Er hatte einen langen Tag hinter sich - einen jener Tage, an denen nichts zu klappen scheint.
Um diese Zeit war die kleine Bar überfüllt. Aber Hugh Melville stand in der hintersten Ecke an der Wand, wo weniger Betrieb herrschte, und winkte Quinn zu sich heran. »Hier ist noch Platz für einen. Was trinken Sie?«
»Das sind die freundlichsten Worte, die ich heute gehört habe«, stellte Quinn fest. Er lockerte seinen Schal. »Ein Glas Bier könnte mir das Leben retten - wenn ich es schnell genug bekomme.«
»Viel zu tun gehabt?«
»Nein, eigentlich nicht, aber unser Lokalredakteur ist ein Sklaventreiber, der sich ein Vergnügen daraus macht, uns alle auf Trab zu halten...« Quinn schüttelte resigniert den Kopf und griff nach dem Bierglas, das die Bedienung vor ihn auf die Theke gestellt hatte. Die beiden Männer tranken sich schweigend zu.
»Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, sagte Melville. »Zuletzt vor Weihnachten, was?«
Er war ein großer, athletisch gebauter Mann mit gutgeschnittenem Gesicht. Lachfältchen um Augen und Mund zeigten, dass er gern lachte. Ergraute Schläfen ließen ihn distinguiert erscheinen.
Quinn kannte ihn seit einigen Jahren. Melville blieb nie eine Runde schuldig und war stets fröhlich. Er behielt seine Sorgen für sich, stellte keine neugierigen Fragen und langweilte einen auch nicht mit einer ausführlichen Schilderung seiner neuesten Krankheit.
»Eigentlich ungewöhnlich, Sie um diese Zeit hier zu treffen«, stellte Quinn fest. »Meistens sind Sie nur mittags hier.«
Melville zuckte mit den Schultern. »Ich bin heute nur Chauffeur. Meine Frau wollte zur Versammlung irgendeines Frauenvereins, und ich hatte etwas im Bridgeclub zu besprechen... Ich soll sie um halb elf abholen und bin inzwischen hier, um die Zeit totzuschlagen. Sind Sie für heute fertig? Oder müssen Sie in die Redaktion zurück?«
»Zum Glück nicht«, antwortete Quinn. »Ich sehe diese Tretmühle erst morgen Mittag wieder.«
Er leerte sein Glas, bestellte zwei Bier und unterhielt sich mit Melville über alles und nichts. In der Bar herrschte Hochbetrieb, so dass sie fast schreien mussten, um sich zu verständigen.
Die Wanduhr zeigte bald halb elf. »Noch ein Glas, alter Junge, dann muss ich gehen«, sagte Melville. »Wenn ich Ellen auf der Straße warten lasse, habe ich eine Woche lang nichts zu lachen. Sie wissen gar nicht, wie schön Sie es als Junggeselle haben!«
»Hmmm«, meinte Quinn, »ich habe aber noch keinen Verheirateten getroffen, der mir angeboten hätte, mit mir zu tauschen.«
Melville nickte langsam. »Wahrscheinlich nicht«, gab er zu, »aber Sie dürfen sich auch nicht einbilden, dass alle Ehepaare nach der Hochzeit bis an ihr seliges Ende glücklich und zufrieden miteinander leben. Diesem Irrtum erliegt man nur allzu leicht - und deshalb erzielen die Brauereien so große Gewinne.«
»Das klingt zu zynisch, um wahr zu sein«, wandte Quinn ein. »Als Ehemann kann man sich wenigstens mit jemand streiten. Ich habe es satt, immer nur auf mich allein angewiesen zu sein.«
Melville winkte die Bedienung heran. »Ganz so schlimm ist es bestimmt nicht, alter Junge... Noch zwei Bier, Connie.«
Quinn warf ihm einen besorgten Blick zu. »Haben Sie keine Angst vor dem Alkoholtest? Oder macht es Ihnen nichts aus, wenn Sie in die Tüte blasen müssen?«
»Angst?«, wiederholte Melville gedehnt. Er warf eine Handvoll Kleingeld auf die Theke und forderte die Bedienung auf, sich ihr Geld selbst zu nehmen. Dann starrte er Quinn an. »Warum sollte ich Angst haben? Glauben Sie, dass die Polizei ausgerechnet mir auf lauert?«
»Nein, ich dachte nur, Sie könnten aus irgendeinem anderen Grund angehalten werden und...«
»Ja, ich weiß, was Sie meinen.« Melville leerte das halbvolle Glas mit einem Zug und schüttelte dann den Kopf. »Nach dem zweiten oder dritten Bier fahre ich besser als in nüchternem Zustand, alter Junge, das können Sie mir glauben.«
Quinn hob abwehrend die Hand. »Sie brauchen mich nicht zu überzeugen. Das geht mich schließlich nichts an. Ich dachte nur, Sie wollten vielleicht Ihren Kummer ertränken. Aber ich muss mich geirrt haben.«
»Wie kommen Sie darauf?«, wollte Melville wissen. »Glauben Sie etwa, ich hätte einen sitzen?«
»Nein, nein, natürlich nicht. Reden wir nicht mehr davon! Aber darf ich Sie wenigstens daran erinnern, dass Sie Ihre Frau um halb elf abholen wollten?«
Melville sah erschrocken auf die Uhr. »Jetzt muss ich mich wirklich beeilen. Ich hätte sie schon vor fünf Minuten abholen sollen...« Er leerte sein Glas und nickte Quinn zu. »Freut mich, dass wir uns getroffen haben, alter Junge. Vielleicht komme ich in Zukunft öfters hierher.«
»Beeilen Sie sich, sonst wird Ihre Frau böse«, riet Quinn ihm.
Melville klopfte ihm auf die Schulter, zwängte sich durch die Reihen der Gäste zum Ausgang und verschwand.
Arthur King führte seinen Hund auch an diesem Abend zur gewohnten Zeit aus. Kurz nach elf machte er die Leine am Halsband des Terriers fest und öffnete das Gartentor. Es war bitterkalt, und die Landschaft zu beiden Seiten der Straße wirkte durch den Raureif wie verzaubert.
Auf der Straße herrschte kein Verkehr, aber King ging trotzdem auf der rechten Seite, um entgegenkommenden Autos notfalls ausweichen zu können. Nach einiger Zeit ließ er den Hund frei. Der Terrier verschwand im Unterholz und schnüffelte dort herum. In diesem Augenblick hörte King hinter sich ein Auto, das aus Suttondale kam.
Scheinwerferlicht ließ die reifbedeckten Büsche glitzern und warf Kings Schatten riesenhaft über die Straße. Der Mann trat unwillkürlich einen Schritt zur Seite und sah sich nach dem Auto um. Gleichzeitig kam der Terrier aus dem Unterholz auf der anderen Straßenseite und wollte zu seinem Herrn.
Die Autoscheinwerfer blendeten. Der Wagen schien seine Geschwindigkeit kaum zu verringern, schleuderte, fuhr über das Bankett und kam wieder auf die Straße. Als er dicht hinter King war, geriet er wieder auf die falsche Straßenseite. Bevor der Mann reagieren und ausweichen konnte, wurde er von hinten angefahren.
Arthur King starb fast augenblicklich. Der Zusammenprall brach ihm das Genick und zweimal das Rückgrat. Er wurde über die Motorhaube geschleudert und blieb leblos am Straßenrand liegen, als der Wagen endlich zwanzig Meter weiter schleudernd zum Stehen kam.
Ein kleiner Hund kroch aus dem Unterholz und näherte sich zögernd Arthur Kings lebloser Gestalt. Je näher er dem Toten kam, desto ängstlicher winselte er. Dann berührte er die ausgestreckte Hand des Mannes mit der Schnauze, wich erschrocken zurück und stimmte ein klagendes Geheul an.
In dem Auto bewegte sich zunächst nichts. Erst als ein weiteres Scheinwerferpaar vom Dorf her näher kam, begann eine Frau zu jammern: »Mein Gott... mein Gott... mein Gott...«
Die Scheinwerfer gehörten zu einem grauen Vauxhall, der mit mäßiger Geschwindigkeit herankam. Der Wagen hielt, als Arthur King im Bereich der Scheinwerfer auftauchte. Ein schlanker Mann stieg aus. Er überquerte die Straße, beugte sich über King und griff nach seinem Handgelenk. Dann ging er zu dem Vauxhall zurück, um eine Taschenlampe zu holen.
Als er King mit der Taschenlampe in die Augen leuchtete, näherten sich Schritte auf der Straße. Sie blieben neben ihm stehen.
»Wie... wie geht es ihm?«, fragte jemand.
Der schlanke Mann sah auf. »Oh, Sie sind’s, Mr. Melville«, sagte er. »Eine schlimme Sache! Wie ist der Unfall passiert?«
»Das weiß ich selbst nicht, Doktor. Mir ist plötzlich ein Hund vor den Wagen gelaufen. Ich wollte ihm ausweichen, aber dabei hatte ich diesen Mann vor mir. Der Zusammenstoß war nicht mehr zu vermeiden... Ist er schwer verletzt?«
»Er ist tot.«
»Nein, das kann nicht sein! Wissen Sie das bestimmt, Doktor? Ich habe ihn doch nur gestreift und...«
»Jedenfalls ist dem armen Kerl nicht mehr zu helfen. Wir müssen die Polizei benachrichtigen. Sind Sie allein, Mr. Melville?«
»Nein, meine Frau sitzt im Wagen. Könnten Sie nach ihr sehen? Sie muss einen Schock erlitten haben. Wir sind wie immer nach Hause gefahren, als plötzlich...«Melville suchte nach Worten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin noch ganz benommen.«
»Sagen Sie am besten so wenig wie möglich«, riet der andere ihm. »Vielleicht merken die Polizisten dann nicht, dass Sie eine Fahne haben. Eine Blutprobe könnte für Sie peinlich werden.«
»Aber ich bin nicht schuld! Ich hatte keine...« Melville warf einen Blick auf das Gesicht des Toten, fuhr zusammen und wandte sich ab. »Er hat sich nur um seinen Hund gekümmert, anstatt auf mich zu achten«, fuhr er unwillig fort. »Sehen Sie den Köter dort drüben? Seinetwegen hat er sich praktisch unters Auto geworfen!« Als der andere sich nicht dazu äußerte, fügte er hinzu: »Könnten Sie gleich nach meiner Frau sehen, Doktor? Sie ist wirklich fertig und...«
»Nicht so fertig, wie die Frau dieses armen Teufels sein wird. Aber ich kann sie mir ansehen, bevor ich die Polizei verständige.«
Die beiden Männer kehrten zu Hugh Melvilles Auto zurück.
»Versuche dich zu beherrschen, Ellen«, forderte Melville seine Frau auf. »Doktor Whitcomb ist hier und...«
Sie lag halb auf dem Sitz und hatte die Arme aufs Lenkrad gelegt. Als sie den Kopf hob, sah Dr. Whitcomb, dass sie weinte und am ganzen Leib zitterte.
»Sind Sie verletzt, Mrs. Melville?«, fragte er sie.
»Nein... nein, mir fehlt nichts. Ich bin nur... so erschrocken.«
»Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Ja, Doktor. Halten Sie sich bitte nicht mit mir auf! Sehen Sie lieber zu, ob Sie dem armen Mann helfen können.«
»Tut mir leid, ihm ist nicht mehr zu helfen. Er ist tot, Mrs. Melville.« Als sie daraufhin wieder zu schluchzen begann, fügte er hinzu: »Ich muss jetzt die Polizei benachrichtigen. Ihr Mann bleibt unterdessen bei Ihnen, Mrs. Melville.« Er schloss die Autotür und wandte sich an den neben ihm Stehenden. »Verändern Sie nichts, bis die Polizei kommt! Dadurch würden Sie sich strafbar machen - verstanden?«
»Natürlich«, erwiderte Melville. »Wie lange bleiben Sie fort, Doktor?«
»Nur ein paar Minuten.« Er zeigte auf den Verunglückten. »Das nächste Telefon ist in seinem Haus. Ich überbringe diese Hiobsbotschaft nicht gern, aber irgendjemand muss schließlich seine Frau verständigen.«
»Kennen Sie ihn?«
»Ja, Arthur King und seine Frau sind Patienten von mir. Sie wohnen im letzten Haus am Dorfrand. Kümmern Sie sich jetzt um Ihre Frau, Melville. Sie darf nicht allein bleiben.«
Der Arzt nickte Melville zu, ging zu seinem Vauxhall, wendete und fuhr davon. Melville sah ihm lange nach, bevor er zu seiner Frau zurückkehrte.
Ellen weinte nicht mehr. »Was sollen wir tun, wenn uns niemand glaubt, dass er hinter dem Hund hergelaufen ist?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Sie müssen es glauben«, versicherte Melville ihr. »Solange wir beide die gleiche Geschichte erzählen, kann uns niemand das Gegenteil beweisen. Wir sind schließlich die einzigen Zeugen.«
Seine Frau nickte langsam. »Hugh, ich habe trotzdem Angst«, flüsterte sie. »Vielleicht lässt sich nachweisen, dass...«
»Niemand kann etwas beweisen!«, unterbrach er sie nachdrücklich. »Du sagst einfach nur das aus, worauf wir uns geeinigt haben, dann ist nichts zu befürchten. Merk dir das, Ellen! Hast du verstanden?«
»Ja... ja. Schrei mich bitte nicht so an. Ich weiß, was ich sagen muss.« Sie schloss eine Sekunde lang die Augen. »Der arme Mann!«, flüsterte sie. »Wären wir ein paar Minuten früher vorbeigekommen, würde er noch leben... Das werde ich nie vergessen... niemals...«
Als der graue Vauxhall zurückkam, hielt er fünfzig Meter vom Unfallort entfernt am Straßenrand. Der Motor wurde abgestellt. Dann stieg eine Frau aus.
Dr. Whitcomb folgte ihr, als sie langsam zu der Stelle ging, wo Arthur King lag. Sie sah auf ihn hinab, bevor sie an seiner Seite niederkniete und ihr Kopftuch abnahm, um es über das Gesicht des Toten zu breiten. In dieser Haltung blieb sie unbeweglich, bis der Arzt endlich ihre Schulter berührte.
»Kommen Sie, Mrs. King«, hörte Melville ihn sagen. »Es ist kalt. Sie dürfen hier nicht so lange knien. Setzen Sie sich in meinen Wagen. Die Polizei muss gleich kommen.«
Mrs. King sah zu ihm auf. »Mir ist nicht kalt«, antwortete sie mit klarer Stimme. »Wo ist Mick? Wo ist der Hund?«
»Er war vorhin noch in der Nähe«, erwiderte der Arzt. »Wahrscheinlich hat er sich vor Angst versteckt. Aber er kommt bestimmt bald zurück.«
»Mick!«, rief sie. »Wo bist du, Mick? Hierher, Mick!« Als der Terrier aus dem Unterholz auftauchte und leise winselnd zu ihr kam, hob sie ihn auf. »Armer Kleiner, armes Kerlchen...« Sie konnte nicht weitersprechen.
»Mrs. King, Sie müssen halb erfroren sein«, stellte Dr. Whitcomb fest. »Bringen Sie den Hund in meinen Wagen... und bleiben Sie selbst dort. Sie können hier nichts mehr tun, deshalb...«
»Nein, noch nicht!« wehrte sie ab. Sie zeigte auf Melvilles Auto. »Ist das der Wagen, der Arthur überfahren hat?«
Ihre Stimme war deutlich zu hören. Melville warf seiner Frau einen warnenden Blick zu. »Kein überflüssiges Wort, verstanden? Keine Erklärungen oder Ausreden!«
Er stieg aus und blieb neben dem Wagen stehen, als Mrs. King in Dr. Whitcombs Begleitung herankam. Sie starrte ihm ins Gesicht. »Sie haben meinen Mann totgefahren, nicht wahr?«
»Ja...«, gab Hugh Melville zögernd zu. »Es tut mir sehr leid, Mrs. King. Ich weiß, dass das ein schwacher Trost ist, aber es war wirklich nicht meine Schuld. Ich wollte ihm ausweichen, aber...«
»Aber er ist trotzdem tot«, unterbrach sie ihn. »Sie haben ihn totgefahren und bilden sich jetzt ein, ich wäre mit einer Entschuldigung zufrieden! Wie kommen Sie dazu, ihn auf der falschen Straßenseite zu überfahren, wenn es nicht Ihre Schuld ist? Was hatten Sie dort drüben zu suchen? War Ihnen die Straße nicht breit genug?«
»Sie sind unfair«, warf Melville ihr vor. »Der Hund ist auf die Straße gelaufen, und ich wollte ihm ausweichen, als Ihr Mann plötzlich vor mir aufgetaucht ist. Ich hatte nicht die geringste Chance!«
»Das behaupten Sie!«
»Ich kann es beschwören. Fragen Sie meine Frau. Lassen Sie sich von ihr die Wahrheit sagen.«
»Sie erzählt natürlich die gleiche Geschichte, um ihren Mann nicht als Lügner bloßzustellen!«
»Bitte, Mrs. King!«, warf der Arzt ein. »Sie regen sich unnütz auf. Sie können nicht wissen, was hier passiert ist.«
»Warum nicht? Das muss doch jeder vernünftige Mensch erkennen! Arthur trägt bestimmt keine Schuld an diesem Unfall! Aber wer so kriminell fährt...«
»Sagen Sie nichts, was Sie später bereuen müssen«, unterbrach Dr. Whitcomb sie. »Überlassen Sie es der Polizei, den Unfallhergang zu rekonstruieren. Sie...«
»Ich brauche keine Polizei, um zu wissen, warum der Unfall passiert ist«, wehrte Mrs. King ab. Sie trat dichter an Melville heran. »Sie sind betrunken!«, warf sie ihm vor. »Das habe ich gleich gemerkt. Sie sind betrunken!«
»Nehmen Sie sich lieber mit Ihren Vorwürfen in acht«, riet Melville ihr. »Tut mir leid, dass Ihr Mann tot ist, aber ich bin nicht schuld daran. Wäre er nicht hinter dem Hund hergelaufen, könnte er noch leben.«
»Das ist Ihre Story«, antwortete Mrs. King. »Wir werden ja sehen, was nach der Blutprobe davon übrigbleibt!« Sie wandte sich ab und ging mit dem Terrier auf dem Arm zu Dr. Whitcombs Vauxhall.
Hugh Melville sah ihr nach. »Sehe ich wirklich wie ein Betrunkener aus, Doktor?«, fragte er dann besorgt.
»Ich habe Ihnen gleich gesagt, was ich von Ihrem Zustand halte«, erwiderte der Arzt. »Sollte der Alkoholtest Anlass zu einer Blutprobe geben, haben Sie auf jeden Fall mit Schwierigkeiten zu rechnen - auch wenn dieses Unglück unvermeidbar gewesen sein sollte.« Er machte eine Pause. »Sie können nur hoffen, dass die Polizisten Sie nicht in die Tüte blasen lassen.«
Melville fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Aber dass sie das nicht tun, ist ziemlich unwahrscheinlich, was?«, erkundigte er sich niedergeschlagen. »Ich habe mich wirklich wie ein Idiot benommen, fürchte ich.«
»Für diese Erkenntnis ist es leider etwas zu spät«, erwiderte Dr. Whitcomb. Er hatte recht, denn in der Ferne leuchtete bereits das Blinklicht eines Streifenwagens auf. Das Scheinwerferpaar dahinter musste einem Krankenwagen gehören.
»Daran ist eben nichts mehr zu ändern«, meinte Hugh Melville schulterzuckend. »Sobald diese Frau mit den Polizisten gesprochen hat, habe ich nicht die geringste Chance mehr.«
Am 16. März stand Hugh Melville wegen Trunkenheit am Steuer und schwerer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft legte als Beweismittel einen Untersuchungsbericht des Gerichtsmedizinischen Instituts vor. Dem Angeklagten war eine Stunde nach dem Unfall eine Blutprobe entnommen worden; die Analyse hatte einen Alkoholgehalt von 1,9 Promille ergeben.
»...eine Alkoholmenge, die weit mehr als das doppelte der gesetzlich zulässigen Höchstmenge beträgt. Die Fotografien des Unfallorts und die dort festgestellten Schleuderspuren zeigen deutlich, dass der Angeklagte das Fahrzeug nicht mehr beherrschte. Dadurch wurde der Tod eines Fußgängers herbeigeführt...«
Melvilles Verteidiger versuchte zu zeigen, dass in diesem Fall auch andere Faktoren eine Rolle gespielt hatten. Aber seine Bemühungen, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass Arthur King an dem Unfall mitschuldig gewesen sei, weil er mehr auf seinen Hund als auf das herankommende Auto geachtet habe, schlugen angesichts der eindeutigen Schuldbeweise fehl.
Die Geschworenen berieten kaum zwanzig Minuten lang. Hugh Melville wurde für schuldig befunden und zu achtzehn Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Sein Führerschein wurde für zehn Jahre eingezogen, und als Angeklagter sollte er 150 Pfund Gerichtskosten zahlen.
Quinn saß als Vertreter der Morning Post im Gerichtssaal, obwohl dieser Fall nicht sonderlich wichtig war. Eine Verurteilung wegen Trunkenheit am Steuer war kaum zwei oder drei Absätze im Inneren des Blattes wert,, aber an diesem Tag hatte Quinn nichts Besseres zu tun.
Als er das Gerichtsgebäude verließ, sah er Mrs. Melville am Straßenrand stehen und auf ein Taxi warten. Er war versucht, sie anzusprechen, weil sie so hilflos und bekümmert wirkte, und fragte sich, was eine Frau unter solchen Umständen allein anfing. Wovon lebte sie, während ihr Mann im Gefängnis saß? Melville konnte damit rechnen, bei guter Führung nach zwölf Monaten entlassen zu werden - aber ein Jahr war doch lang, wenn seine Frau inzwischen von Ersparnissen leben musste.
Quinn war am Eingang des Gerichtsgebäudes stehengeblieben und beobachtete Mrs. Melville von dort aus. Er überlegte sich, dass es falsch gewesen war, sie als Zeugin der Verteidigung zu benennen. Sie hatte keinen guten Eindruck hinterlassen; die Geschworenen mussten gemerkt haben, dass sie den Unfallhergang nicht aus eigener Anschauung schilderte, sondern nur eine eingelernte Darstellung wiederholte.
Ein Gedanke führte zum anderen. Quinn fragte sich, weshalb Mrs. Melville während ihrer Aussage nicht ein einziges Mal zu ihrem Mann hinübergesehen hatte. Auch Melville hatte ihr kaum einen Blick gegönnt. Vielleicht war sonst niemand darauf aufmerksam geworden, aber für Quinn war das ein wichtiger Hinweis.
Blutproben sind nicht hundertprozentig zuverlässig, dachte Quinn, aber sie liefern einen Anhalt, ob jemand betrunken ist oder nicht. Mrs. Melville muss gemerkt haben, dass ihr Mann einen Rausch hatte, als sie London verließen. Dass Hugh in meiner Gesellschaft nur drei Bier getrunken hat, beweist überhaupt nichts. Er kann sich vorher die Nase begossen haben...
Dieser Dr. Whitcomb hat ihm auch nicht gerade geholfen. Er musste natürlich die Wahrheit sagen, aber seiner Darstellung nach ist Hugh geradezu über die Straße getorkelt. Ein eingebildeter Affe. Ich möchte nicht wissen, wie er mit seinen Patienten umgeht...
Mrs. Melville gelang es endlich, ein Taxi anzuhalten. Als sie einstieg, erinnerte Quinn sich daran, wie ihr Mann sich über die Ehe geäußert hatte.
Wahrscheinlich kommt das von allzu langer Gewöhnung. Für mich ist sie eine attraktive Erscheinung, obwohl sie an dem Tag, an dem ihr Mann zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt wird, natürlich nicht gerade glänzend aussieht. Wer hat wohl die Schuld an dieser allmählichen Zerrüttung ihrer Ehe?