Das fünfte Zeichen - Jo Nesbø - E-Book

Das fünfte Zeichen E-Book

Jo Nesbø

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Beschreibung

Ein Kommissar am Tiefpunkt seiner Karriere, ein Mörder, der das hochsommerliche Oslo in Angst und Schrecken versetzt, ein Zeichen, das allen ein großes Rätsel aufgibt: Auf der Jagd nach einem Frauenmörder muss Hauptkommissar Harry Hole nicht nur eine Grenze überschreiten ... Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

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Das Buch

Seit seine Kollegin Ellen bei einem Einsatz getötet wurde, steckt Harry Hole, Hauptkommissar der Osloer Polizei, in einer Krise. Als er wieder zu trinken beginnt, wendet sich selbst seine Freundin Rakel von ihm ab. Schließlich steht seine Entlassung aus dem Polizeidienst bevor. Doch Harry bekommt eine letzte Chance. Kurz hintereinander geschehen drei spektakuläre Morde. Den grausam zugerichteten Frauen fehlt jeweils ein Finger, und an den Tatorten findet sich stets ein Zeichen, das auf weitere Opfer hinweist. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, doch die Ermittlungen gehen nur zäh voran – bis der Mörder einen Fehler macht …

Der Autor

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Der erfolgreichste Autor Norwegens ist längst auch international ein Bestsellerautor, seine Romane um Harry Hole werden in dreißig Sprachen übersetzt. Sowohl sein Debütroman Der Fledermausmann als auch Schneemann wurden als »Bester Kriminalroman des Jahres« ausgezeichnet. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Von Jo Nesbø sind in unserem Hause bereits erschienen:

Fledermausmann (Harry Holes 1. Fall)Kakerlaken (Harry Holes 2. Fall)Rotkehlchen (Harry Holes 3. Fall)Fährte (Harry Holes 4. Fall)Das fünfte Zeichen (Harry Holes 5. Fall)Erlöser (Harry Holes 6. Fall)Schneemann (Harry Holes 7. Fall)Leopard (Harry Holes 8. Fall)Larve (Harry Holes 9. Fall)Koma (Harry Holes 10. Fall)Durst (Harry Holes 11. Fall)Messer (Harry Holes 12. Fall)

Außerdem:

HeadhunterDer SohnBlood on Snow. Der Auftrag · Blood on Snow. Das Versteck

Jo Nesbø

Das fünfte Zeichen

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oderÜbertragung können zivil- oder strafrechtlichverfolgt werden.

Ungekürzte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage August 2007 8. Auflage 2009 © für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2006/ claassen Verlag © 2003 Jo Nesbø and H. Aschehoug & Co. Published by agreement with Salomonsson Agency Titel der norwegischen Originalausgabe: Marekors (H. Aschehoug & Co., Oslo) Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Titelabbildung: plainpicture / © Bjanka Kadic (Architektur, Oper, Oslo); Shutterstock / © Le Panda (Ausfransung); © Archiv Büro Jorge Schmidt (Hintergrund) Satz und e-book: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-548-92016-0

TEIL I

KAPITEL 1

Freitag. Eier

Das Haus war 1898 auf lehmigem Grund errichtet worden. Auf der Westseite hatte der Boden ein klein wenig nachgegeben, so dass das Wasser dort über die Schwelle rann, wo die Tür in den Scharnieren hing. Es sickerte auf den Boden des Schlafzimmers und zog einen nassen Streifen über das Eichenparkett, immer gen Westen. In einer Senke des Parketts verharrte der Wasserlauf einen Moment, bis er von den nachdrängenden Tropfen weitergedrückt wurde und wie eine verängstigte Ratte auf die Fußleiste zuschoss. Dort rann das Wasser in beide Richtungen, bahnte sich einen Weg unter der Leiste hindurch, schnupperte gleichsam herum, ehe es eine Ritze zwischen dem Ende der Dielen und der Wand fand. In dieser Ritze lag eine Fünfkronenmünze, in die neben dem Profil von König Olaf die Jahreszahl 1987 eingeprägt war, das Jahr, in dem sie dem Schreiner aus der Hosentasche gefallen war. Das waren noch Zeiten, in denen das Handwerk florierte, viele Dachwohnungen sollten renoviert und ausgebaut werden, so dass sich der Schreiner nicht die Mühe gemacht hatte, nach dem Geldstück zu suchen.

Das Wasser brauchte nicht lange, um einen Weg durch die Zwischendecke unter dem Parkett zu finden. Abgesehen von einem Wasserschaden 1968 – dem Jahr, in dem das Haus ein neues Dach bekommen hatte –, waren die hölzernen Zwischendecken seit 1898 unaufhörlich getrocknet und geschrumpft, so dass der Spalt zwischen den beiden innersten Fichtendielen nun beinahe einen halben Zentimeter betrug.

Von dort tropfte das Wasser auf einen Balken, der es weiter nach Westen in die Außenwand führte. Dort drang es in den Kalkputz und Mörtel, der mehr als hundert Jahre zuvor von Jacob Andersen gemischt worden war, einem Maurermeister und Vater von fünf Kindern.

Wie alle Maurer seiner Zeit rührte auch Andersen seine ganz spezielle Mörtel- und Putzmischung an. Er schwor auf ein bestimmtes Mischungsverhältnis zwischen Kalk, Sand und Wasser, doch er hatte noch eine andere Spezialität: Rosshaar und Schweineblut. Jacob Andersen meinte nämlich, dass Haare und Blut den Putz banden und ihm eine besondere Stärke verliehen. Es war nicht auf seinem Mist gewachsen, was er eines Tages den kopfschüttelnden Kollegen erzählt hatte; schon seine schottischen Vorfahren hatten die gleichen Zutaten verwendet, allerdings von Schafen. Und obgleich er seinen schottischen Namen aufgegeben und den seines Meisters angenommen hatte, sah er keinen Grund, auf sechshundert Jahre Erfahrung zu verzichten. Einige seiner Kollegen hielten es für unmoralisch, andere sahen ihn gar im Bunde mit dem Teufel, doch die meisten lachten nur über ihn. Vielleicht waren sie es, die als Erste eine Geschichte in Umlauf brachten, die sich nachweislich in der aufstrebenden Stadt halten sollte, welche damals noch den Namen Kristiania trug.

Ein Kutscher aus Grünerløkka hatte seine Cousine aus Värmland geheiratet, und gemeinsam waren sie in eine Einzimmerwohnung mit Küche in der Seilduksgata gezogen, in eines der Häuser, bei deren Bau Andersen geholfen hatte. Das erste Kind des Ehepaares war so dumm, mit dunklen Locken und braunen Augen auf die Welt zu kommen, und da beide Ehepartner blond und blauäugig waren – und der Mann überdies von eifersüchtiger Natur –, band er seiner Frau eines Nachts die Hände auf den Rücken, nahm sie mit in den Keller und mauerte sie ein. Ihre Schreie wurden von den dicken Lehmziegelwänden gedämpft, die sie auf beiden Seiten einschlossen. Ihr Ehemann hatte vermutlich gehofft,sie würde ersticken, doch wenn die Maurer damals eins beherrschten, dann war es, für gute Belüftung zu sorgen. Zu guter Letzt war die arme Frau mit ihren Zähnen auf die Mauer losgegangen, was vielleicht sogar etwas hätte nutzen können, da der Schotte Andersen Blut und Haare verwendete und glaubte, deshalb teuren Kalk sparen zu können. Die poröse Wand begann sich nun unter dem Angriff starker, värmländischer Zähne aufzulösen. Aber in ihrer Gier nach Leben nahm die Frau zu viel Mörtel und Ziegelmasse in den Mund. Zuletzt konnte sie weder kauen noch schlucken oder ausspucken, und so verschlossen ihr Sand, Grus und Stücke gebrannten Lehms die Atemwege. Ihr Gesicht lief blau an, das Herz schlug langsamer, und schließlich hörte sie auf zu atmen.

Sie war das, was die meisten als tot bezeichnen würden.

Doch der Sage nach führte das Schweineblut dazu, dass die unglückliche Frau sich noch immer am Leben wähnte. Und so glitt sie von da an ungeachtet ihrer Fesseln durch die Wand und begann zu spuken. Unter den alten Leuten in Grünerløkka erinnerten sich viele aus ihrer Kindheit an die Geschichte von der Frau mit dem Schweinskopf. Sie geisterte mit einem Messer in der Hand herum und schnitt Kindern den Kopf ab, die noch zu später Stunde draußen waren. Denn ohne den Geschmack des Blutes in ihrem Mund wäre sie vollends dahingeschwunden. Die wenigsten allerdings kannten den Namen von Maurer Andersen, der unbekümmert damit fortgefahren war, seine Spezialmischung anzurühren. Als er drei Jahre nach dem Bau des Hauses, in dessen Mauerwerk nun das Wasser eindrang, von einem Gerüst fiel, hinterließ er zweihundert Kronen und eine Gitarre. Es sollte fast weitere hundert Jahre dauern, bis Maurer begannen, künstliche, haarähnliche Fasern in ihren Zementmischungen zu verwenden, und man in einem mailändischen Laboratorium herausfand, dass die Mauern von Jericho mit Blut und Kamelhaar verstärkt worden waren.

Das meiste Wasser versickerte nicht in der Wand, sondern rann nach unten. Denn Wasser, Feigheit und Gier suchen immer den geringsten Widerstand. Erste Tropfen wurden von dem klumpigen, pulverigen Lehm zwischen den Balkenlagen des obersten Stockwerks aufgesogen, doch es kamen immer mehr nach, und der Lehm war bald gesättigt. Das Wasser drang durch und weichte eine Zeitung vom 11. Juli 1898 auf, in der verkündet wurde, dass die Baukonjunktur in Kristiania wohl ihren Gipfel erreicht hatte und dass den skrupellosen Gebäudespekulanten hoffentlich schwierigere Zeiten bevorstünden. Auf Seite drei hieß es zudem, dass die Polizei noch immer keine Spur in dem Mordfall der jungen Näherin hatte, die eine Woche zuvor erstochen in ihrem Badezimmer aufgefunden worden war. Im Mai war ein Mädchen, das in gleicher Weise geschändet und dann ermordet worden war, am Fluss Akerselva gefunden worden, doch die Polizei wollte sich nicht dazu äußern, ob es zwischen den beiden Fällen eine Verbindung gab.

Das Wasser troff von der Zeitung durch die Balken darunter auf die Rückseite der mit Ölfarbe angestrichenen Deckenverkleidung. Da diese im Zuge des Wasserschadens 1968 durchlässig geworden war, sickerte das Wasser hindurch und bildete Tropfen, die hängen blieben, bis sie so schwer waren, dass ihr Gewicht die Oberflächenspannung überwand und sie drei Meter und acht Zentimeter in die Tiefe stürzten. Dort landete schließlich das Wasser. Im Wasser.

Vibeke Knutsen zog gierig an der Zigarette und blies den Rauch durch das offene Fenster in der vierten Etage. Es war Nachmittag, warme Luft stieg von dem sonnengedörrten Asphalt des Hinterhofs auf und nahm den Rauch ein Stück weit mit in die Höhe, bis er sich vor der hellblauen Fassade auflöste. Von der anderen Seite des Daches drangen die Geräusche vereinzelter Autos auf dem sonst so befahrenen Ullevålsvei herüber. Doch jetzt waren Ferien, und die Stadtwar beinahe menschenleer. Eine Fliege lag auf der Fensterbank, alle sechs Beine von sich gestreckt. Sie war nicht klug genug gewesen, die Hitze zu meiden. Auf der Seite der Wohnung, die auf den Ullevålsvei hinausging, war es kühler, doch dort gefiel Vibeke die Aussicht auf den Vår Frelsers Friedhof nicht. Lauter berühmte Menschen. Tote berühmte Menschen. Im Erdgeschoss des Hauses befand sich ein Geschäft, in dem »Monumente« verkauft wurden, wie es auf dem Schild hieß, also Grabsteine. Marktnähe nennt man das wohl.

Vibeke legte die Stirn an die kühle Fensterscheibe.

Sie hatte sich gefreut, als es endlich warm geworden war, aber aus der Wärme war rasch Hitze geworden. Bereits jetzt sehnte sie sich nach kühleren Nächten und Menschen auf den Straßen. Heute waren nur acht Kunden in der Galerie gewesen, fünf vor der Mittagspause und drei danach. Aus reiner Langeweile hatte sie anderthalb Schachteln Zigaretten geraucht. Ihr Herz raste, und ihr Hals brannte derart, dass sie, als ihr Chef anrief und wissen wollte, wie das Geschäft lief, nur schwer sprechen konnte. Doch als sie zu Hause ankam und die Kartoffeln aufsetzte, meldete sich das Verlangen schon wieder.

Vibeke hatte zwei Jahre zuvor mit dem Rauchen aufgehört, als sie Anders begegnet war. Er hatte sie nicht darum gebeten. Ganz im Gegenteil. Bei ihrer ersten Begegnung auf Gran Canaria hatte er sogar eine Zigarette von ihr geschnorrt. Einfach so zum Spaß. Und als sie einen Monat später in Oslo zusammengezogen waren, hatte er als Erstes gesagt, dass ihre Beziehung das bisschen Passivrauchen wohl ertragen müsse. Und dass die Krebsforscher sicher übertrieben. Und dass er sich mit der Zeit bestimmt an den Rauchgeruch ihrer Kleider gewöhnen werde. Tags darauf stand ihr Entschluss fest. Als er ein paar Tage später beim Essen bemerkte, es sei lange her, dass er sie zuletzt mit einer Zigarette gesehen habe, hatte sie geantwortet, sie habe eigentlich nie wirklich geraucht. Anders hatte sich mit einemLächeln über den Tisch gebeugt und ihr über die Wange gestrichen: »Weißt du was, Vibeke? Das hatte ich die ganze Zeit über im Gefühl.«

Sie hörte es hinter sich im Topf brodeln und warf einen Blick auf die Zigarette. Noch drei Züge. Sie nahm den ersten. Es schmeckte nach nichts.

Sie erinnerte sich nicht mehr daran, wann sie wieder begonnen hatte zu rauchen. Vielleicht im letzten Jahr, etwa zu der Zeit, als er anfing, seine Geschäftsreisen auszudehnen. Oder war das an Neujahr gewesen, als er beinahe jeden Abend Überstunden gemacht hatte? Weil sie unglücklich war? War sie unglücklich? Sie stritten nie miteinander. Sie schliefen auch so gut wie nie mehr miteinander, doch das habe mit der vielen Arbeit zu tun, hatte Anders gesagt und das Thema damit beendet. Nicht dass es ihr wirklich fehlte. Wenn sie ein seltenes Mal den halbherzigen Versuch dazu unternahmen, schien er überhaupt nicht anwesend zu sein. Daraus hatte sie geschlossen, dass auch sie eigentlich nicht da sein musste.

Aber sie stritten nie. Anders mochte es nicht, wenn man laut wurde.

Vibeke sah auf die Uhr. Viertel nach fünf. Wo er nur blieb? In der Regel sagte er wenigstens Bescheid, wenn es spät wurde. Sie drückte die Zigarette aus, ließ sie in den Hinterhof fallen, drehte sich zum Ofen um und sah nach den Kartoffeln. Stach mit einer Gabel in die größte. Fast fertig. Ein paar kleine schwarze Klümpchen dümpelten im Kochwasser. Merkwürdig. Kamen die aus den Kartoffeln oder aus dem Topf?

Sie überlegte gerade, wofür sie den Topf zuletzt verwendet hatte, da ging die Tür auf. Aus dem Flur hörte sie raschen Atem. Jemand streifte sich die Schuhe ab.

Anders kam in die Küche und machte den Kühlschrank auf. »Und?«, sagte er fragend.

»Fleischbällchen.«

»Okay …« Es klang wie ein Fragezeichen. Sie wusstewarum. Schon wieder Fleisch? Sollten wir nicht öfter Fisch essen?

»Das wird sicher lecker«, sagte er tonlos und beugte sich über den Topf.

»Was hast du gemacht, du bist ja vollkommen verschwitzt?«

»Ich kann heute Abend nicht zum Sport und bin deshalb mit dem Fahrrad zum Sognsvann hoch und wieder runter. Was sind das für Klumpen im Wasser?«

»Keine Ahnung«, sagte Vibeke. »Ich habe sie auch gerade erst bemerkt.«

»Keine Ahnung? Ich dachte, du wärest fast mal Köchin geworden?« Blitzschnell fischte er einen der Klumpen mit Daumen und Zeigefinger aus dem Wasser und steckte sich die Finger in den Mund.

Sie starrte auf seinen Hinterkopf. Auf sein dünnes, braunes Haar, das ihr in der ersten Zeit so gut gefallen hatte. Gepflegt und kurz genug geschnitten. Mit Seitenscheitel. Er hatte so ordentlich ausgesehen. Wie einer mit Zukunft. Einer für mehr als nur eine Nacht.

»Nach was schmeckt es?«, fragte sie.

»Nach nichts«, sagte er, noch immer über den Herd gebeugt. »Nach Eiern.«

»Eiern? Aber ich habe den Topf ge …« Sie hielt plötzlich inne.

Er drehte sich um. »Was ist?«

»Es … tropft.« Sie deutete auf sein Haar.

Er runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf. Dann legten sie wie auf Kommando die Köpfe in den Nacken und blickten an die Decke. Dort hingen zwei Tropfen. Vibeke, die etwas kurzsichtig war, hätte sie gewiss nicht entdeckt, wenn sie durchsichtig gewesen wären. Doch das waren sie nicht.

»Sieht aus, als gäb’s bei Camilla eine Überschwemmung«, sagte Anders. »Du solltest hochgehen und klingeln, ich versuch dann den Hausmeister zu erreichen.«

Vibeke blinzelte an die Decke. Und warf dann einen Blick auf die Klümpchen in ihrem Topf. »Mein Gott«, flüsterte sie und spürte, dass ihr Herz zu rasen begann.

»Was ist jetzt schon wieder?«, fragte Anders.

»Hol du den Hausmeister, dann könnt ihr gemeinsam bei Camilla klingeln. Ich rufe die Polizei.«

KAPITEL 2

Freitag. Ferienliste

Das Polizeipräsidium im Stadtteil Grønland, der Hauptsitz des Polizeidistrikts Oslo, lag auf einem Höhenzug, der sich von Grønland bis hinauf nach Tøyen zog. Von hier aus hatte man eine gute Aussicht auf die östlichen Viertel der Innenstadt. Das Gebäude, ganz aus Glas und Stahl erbaut, wurde seit 1978 genutzt. Hier war nichts schief, sondern alles bis in den letzten Winkel korrekt, wofür die Architekten Telje-Torp-Aasen eine Auszeichnung erhalten hatten.

Der Fernmeldetechniker, der in den beiden sieben und neun Stockwerke hohen Büroflügeln die Kabel verlegt hatte, war vom Gerüst gestürzt, hatte sich das Rückgrat gebrochen und bekam eine Berufsunfähigkeitsrente – und eine Standpauke von seinem Vater.

»Seit sieben Generationen sind wir jetzt Maurer, sind zwischen Himmel und Erde balanciert, haben der Schwerkraft getrotzt, bis sie uns zu Boden riss. Mein Großvater hat versucht, diesem Fluch zu entgehen, doch er verfolgte ihn über die Nordsee bis hierher. Deshalb habe ich bei deiner Geburt geschworen, dass du nicht zu diesem Schicksal verdammt sein solltest. Und ich dachte, ich hätte es geschafft. Telefontechniker. Was zum Teufel hat ein Fernmeldetechniker sechs Meter über dem Boden verloren?«

Durch das Kupfer ebenjener vom Sohn verlegten Leitungen kam an diesem Tag das Signal von der Notrufzentrale. Es schoss durch die Etagendecken, die aus Industriebeton gegossen waren, bis hinauf in die sechste Etage, in das Büro von Bjarne Møller, dem Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen. Møller grübelte gerade darüber nach, ob er sich auf die bevorstehenden Familienferien in der Hütte in Os vor den Toren Bergens freuen oder ob ihm davor grauen sollte. Os im Juli bedeutete mit großer Wahrscheinlichkeit Scheißwetter. Dabei hatte Bjarne Møller gar nichts dagegen, die für Oslo angekündigte Hitzewelle gegen ein wenig Sprühregen einzutauschen. Aber zwei höchst lebhafte kleine Jungen bei Dauerregen ohne andere Hilfsmittel als ein Kartenspiel bei Laune zu halten, dem überdies der Herz-König fehlte, war wirklich eine Herausforderung.

Bjarne Møller streckte die langen Beine aus und kratzte sich hinter dem Ohr, während er sich auf die Nachricht konzentrierte. »Wie haben die das entdeckt?«, fragte er.

»Es hat getropft, beim Mieter drunter«, antwortete die Stimme aus der Notrufzentrale. »Der Hausmeister und ein Nachbar haben geklingelt, aber es hat keiner geantwortet. Da die Tür unverschlossen war, sind sie schließlich hineingegangen.«

»In Ordnung. Ich schicke zwei meiner Leute.« Møller legte auf, seufzte und fuhr mit einem Finger die Liste der Diensthabenden entlang, die unter einer Plastikhülle auf seinem Schreibtisch lag.

Das halbe Dezernat war verwaist. Wie jedes Jahr in den Sommerferien. Was freilich nicht bedeutete, dass die Bewohner Oslos jetzt in Lebensgefahr schwebten, denn auch die Verbrecher der Stadt schienen etwas von Sommerferien zu halten. Jedenfalls war der markante Rückgang der Straftaten, die in den Zuständigkeitsbereich des Dezernats für Gewaltverbrechen fielen, anders kaum zu erklären.

Møllers Finger stoppte unter dem Namen Beate Lønn. Er wählte die Nummer der Kriminaltechnik in der Kjølberggata. Niemand hob ab. Er wartete, bis der Anruf an die Zentrale weitergeleitet wurde.

»Beate Lønn ist im Labor«, sagte eine helle Stimme. »Hier ist Møller vom Morddezernat. Holen Sie sie bitte.«

Møller wartete.

Es war Karl Weber gewesen, der erst kürzlich pensionierte Leiter der Kriminaltechnik, der Beate Lønn vom Morddezernat zur Kriminaltechnik hatte versetzen lassen. Møller sah darin einen neuerlichen Beweis für die Theorie der Neodarwinisten, dass der einzige Antrieb des Individuums darin bestand, die eigenen Gene zu vererben. Und Weber schien der Meinung zu sein, dass Beate Lønn eine ganze Menge Kriminaltechnikergene hatte. Auf den ersten Blick schienen Karl Weber und Beate Lønn sehr verschieden. Weber war mürrisch und reizbar, Lønn eine stille, graue Maus, die, als sie frisch von der Polizeischule gekommen war, schon rot wurde, wenn man sie bloß ansprach. Aber ihr Polizeiinstinkt war gleich stark ausgeprägt. Sie gehörten zu dem Typ passionierter Ermittler, der, wenn er erst Beute gewittert hat, alles ausblenden und sich einzig und allein auf eine Spur konzentrieren kann, ein Indiz, eine Videoaufzeichnung, eine vage Zeugenaussage, bis schließlich alles einen Sinn ergibt. Böse Zungen behaupteten, Weber und Lønn gehörten ins Labor und nicht unter Menschen, weil die Menschenkenntnis eines Ermittlers schließlich wichtiger als ein Fußabdruck oder die Faser einer Jacke sei.

Weber und Lønn stimmten zu, was das Labor, nicht aber, was den Fußabdruck oder die Jackenfaser betraf.

»Lønn.«

»Hallo Beate, hier ist Bjarne Møller. Störe ich?«

»Natürlich. Was gibt’s?«

Møller erklärte ihr kurz die Sachlage und gab ihr die Adresse. »Ich schicke auch zwei von meinen Jungs«, fügte er hinzu.

»Wen?«

»Mal sehen, wen ich finde, du weißt ja, Urlaubszeit.«

Møller legte auf und fuhr mit dem Finger weiter nach unten.

Er stoppte bei dem Namen Tom Waaler.

Die Rubrik »Urlaub« war leer, was Bjarne Møller nichtweiter verwunderte. Man konnte leicht das Gefühl bekommen, Hauptkommissar Tom Waaler mache niemals Ferien, ja, er schlafe kaum. Als Ermittler war er eines der beiden Asse der Abteilung. Immer zur Stelle, immer einsatzfreudig und fast immer mit den entsprechenden Resultaten. Und im Gegensatz zu dem anderen Superermittler war Tom Waaler verlässlich, hatte eine blitzsaubere Akte und wurde von allen respektiert. Kurz gesagt: ein Traum von einem Untergebenen. Und bei Toms unbezweifelbaren Führungseigenschaften war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis er Møllers Job als Leiter des Dezernats übernehmen würde.

Das Klingeln hallte durch die dünnen Wände.

»Waaler«, antwortete eine klangvolle Stimme.

»Møller hier, wir …«

»Einen Augenblick, Bjarne. Ich muss eben erst ein anderes Gespräch beenden.«

Bjarne Møller trommelte beim Warten mit den Fingern auf die Tischplatte. Tom Waaler konnte der jüngste Dezernatsleiter werden, der jemals dem Morddezernat vorgestanden hatte. War es das, was Møller manchmal zweifeln ließ, wenn er daran dachte, Tom eines Tages die Verantwortung zu übertragen? Oder waren es die zwei Fälle, bei denen Waaler in einen Schusswechsel geraten war? Beide Male hatte der Hauptkommissar bei einer Festnahme zur Waffe gegriffen und als einer der besten Schützen der Polizei tödliche Treffer gelandet. Aber Møller wusste auch, dass es paradoxerweise gerade diese beiden Episoden sein konnten, die bei der Ernennung des neuen Leiters die Entscheidung zu Toms Gunsten beeinflussen mochten. Die internen Ermittlungen hatten nichts zutage gefördert, was dem widersprach, dass Tom Waaler zur Selbstverteidigung geschossen hatte. Im Gegenteil. Es war vielmehr festgehalten worden, dass er die Situation richtig eingeschätzt und in einer äußerst kritischen Lage Tatkraft bewiesen hatte. Konnte es ein besseres Zeugnis für jemanden geben, der sich um eine leitende Stellung bewarb?

»Tut mir Leid, Møller, das Handy. Womit kann ich dienen?«

»Wir haben einen Fall.«

»Endlich.«

Der Rest des Gesprächs war in weniger als zehn Sekunden erledigt. Jetzt fehlte ihm nur noch der zweite Mann. Møller hatte an Kriminalassistent Halvorsen gedacht, doch auf der Liste stand, dass der zu Hause in Steinkjer Urlaub machte.

Er fuhr mit dem Finger weiter nach unten. Urlaub, Urlaub, krank.

Der Dezernatsleiter seufzte tief, als sein Finger bei einem Namen stoppte, den er zu umgehen gehofft hatte.

Harry Hole.

Der Eigenbrötler. Der Alkoholiker. Das Enfant terrible der Abteilung. Aber – neben Tom Waaler – tatsächlich der beste Ermittler der sechsten Etage. Hätte Bjarne Møller mit den Jahren nicht eine geradezu perverse Lust entwickelt, seinen Hals für diesen groß gewachsenen Polizisten mit dem Alkoholproblem zu riskieren, Harry Hole wäre längst aus dem Polizeidienst geflogen. Normalerweise hätte er Harry als Erstes angerufen, um ihm den neuen Fall zu übertragen, aber die Lage war nicht normal.

Oder genauer gesagt: Sie war nur allzu normal.

Vier Wochen zuvor hatten sich die Ereignisse überschlagen, nachdem Harry im Winter noch einmal den alten Mordfall an Ellen Gjelten aufgerollt hatte, Harrys engster Kollegin. Seit sie am Ufer des Akerselva erschlagen worden war, hatte er das Interesse an allen anderen Fällen verloren. Das Problem dabei: Der Fall »Ellen« war seit langem aufgeklärt. Doch Harry verfolgte ihn so manisch, dass sich Møller ernsthaft Sorgen um Harrys geistige Gesundheit machte. Der Gipfel war, als Harry vor einem Monat in sein Büro gestürmt war und ihm eine haarsträubende Verschwörungstheorie aufgetischt hatte. Aber als es hart auf hart kam, konnte er seine phantasievollen Vorwürfe gegen Tom Waaler weder beweisen noch untermauern.

Und dann war Harry einfach verschwunden. Nach ein paar Tagen hatte Møller im Restaurant Schrøder angerufen und bestätigt bekommen, was er befürchtet hatte: Harry hatte einen neuen Rückfall erlitten. Da hatte Møller ihn in die Urlaubsliste eingetragen, um sein Fehlen zu kaschieren. Wieder einmal. In der Regel gab Harry nach etwa einer Woche ein Lebenszeichen von sich. Jetzt waren vier vergangen. Der Urlaub war vorbei.

Møller starrte auf den Telefonhörer, stand auf und trat ans Fenster. Es war halb sechs, und dennoch war der Park vor dem Präsidium beinahe menschenleer, nur einige wenige Sonnenanbeter trotzten der Hitze. Am Grønlandsleiret saßen die Händler allein mit ihrem Gemüse unter den Markisen ihrer Stände. Sogar die Autos fuhren langsam, und das ohne Stau. Møller strich sich die Haare über den Schädel zurück, eine langjährige Angewohnheit, die er aber nach Meinung seiner Frau endlich ablegen sollte, da die Leute sonst meinen könnten, er wolle seine Glatze verbergen.

Harry. Blieb ihm wirklich keine andere Wahl? Møller folgte mit dem Blick einem torkelnden Mann auf dem Grønlandsleiret. Wahrscheinlich würde der Mann es im Cafe Ravnen versuchen, dort nicht eingelassen werden und schließlich im Boxer landen. Dem Ort, an dem der Fall »Ellen« endgültig begraben worden war. Und vielleicht auch Harry Holes Laufbahn als Polizist. Møller stand unter Druck, er würde bald entscheiden müssen, was er mit dem Problem »Harry« anstellen wollte. Langfristig. Jetzt ging es erst mal um den Fall.

Møller hob den Hörer ab. War er tatsächlich im Begriff, Harry Hole und Tom Waaler auf den gleichen Fall anzusetzen? Urlaubszeit war einfach Scheiße. Der elektrische Impuls verließ das staatliche Telje-Torp-Aasen-Monument für Recht und Ordnung, und es klingelte an einem Ort, an dem das blanke Chaos herrschte. In einer Wohnung in der Sofies Gate.

KAPITEL 3

Freitag. Überwachung

Sie schrie noch einmal, und Harry Hole schlug die Augen auf.

Die Sonne blinzelte durch die müde flatternden Gardinen, während das Quietschen der bremsenden Straßenbahn in der Pilestredet langsam erstarb. Harry versuchte sich zu orientieren. Er lag auf dem Boden seines Wohnzimmers. Angezogen? Ja, mehr schlecht als recht. Nur halb lebendig, aber am Leben.

Schweiß klebte ihm wie klamme Schminke auf dem Gesicht, und sein Herz hüpfte leicht und hektisch wie ein Tischtennisball auf Zementboden. Schlimmer ging es seinem Kopf.

Harry zögerte einen Augenblick, ehe er sich entschloss weiterzuatmen. Die Decke und die Wände drehten sich, doch es gab kein Bild, keine Deckenlampe, an der sich sein Blick hätte festhalten können. Am äußersten Rand seines Blickfeldes kurvten ein Ivar-Regal herum, die Lehne eines Stuhles und ein grünes Sofa von Elevator. Immerhin blieben ihm so die Träume erspart.

Es war der gleiche, alte Albtraum gewesen. Wie festgenagelt, außerstande sich zu bewegen, hatte er versucht die Augen zu schließen, um ihren aufgerissenen, zu einem stummen Schrei verzerrten Mund nicht sehen zu müssen. Die großen, leer vor sich hin starrenden Augen, die stille Anklage darin. Als er klein war, hatte seine Schwester so geschrien, Søs. Jetzt war es Ellen Gjelten. Früher waren die Schreie stumm gewesen, jetzt schrillten sie wie das Kreischen stählerner Bremsen. Er wusste nicht, was schlimmer war.

Harry lag vollkommen still da und starrte zwischen den Gardinen hindurch in die flirrende Hitze, die über den Straßen des Stadtteils Bislett hing. Nur die Straßenbahn durchbrach die Stille des Sommers. Er blinzelte nicht. Er starrte, bis die Sonne ein gelbes, hüpfendes Herz war, das gegen eine dünne, milchig blaue Membran klopfte und Hitze pumpte. Als er klein war, hatte seine Mutter gesagt, Kinder, die direkt in die Sonne blickten, würden sich die Augen verbrennen und erblinden, sie müssten den Rest ihres Lebens, tagaus, tagein, mit dem grellen Sonnenlicht in den Augen herumlaufen. Das war es, was er versuchte. Mit dem Licht der Sonne ausbrennen, was in seinem Kopf war. Das Bild von Ellens eingeschlagenem Schädel im Schnee am Akerselva, der Schatten über ihr. Seit drei Jahren mühte er sich nun schon, diesen Schatten zu fangen. Doch das war ihm nicht gelungen. Gerade, als er dachte, er hätte ihn, war alles zum Teufel gegangen. Er hatte es nicht geschafft.

Rakel …

Harry hob vorsichtig den Kopf und blickte auf das schwarze, tote Auge des Anrufbeantworters. Es hatte in all den Wochen, seit er von dem Treffen mit Møller und dem Kriminaldirektor im Boxer zurückgekommen war, kein Lebenszeichen von sich gegeben. Vermutlich auch von der Sonne verbrannt.

Verflucht, wie heiß es hier drinnen war!

Rakel …

Jetzt erinnerte er sich. Irgendwann im Laufe des Traums hatte sich das Gesicht verändert und war zu Rakels Gesicht geworden. Søs, Ellen, Mutter, Rakel. Frauengesichter. Die in einer konstanten, pulsierenden Bewegung wechselten, miteinander verschmolzen.

Harry stöhnte und ließ den Kopf wieder aufs Parkett sinken. Da fiel sein Blick auf eine Flasche, die über ihm auf der Tischkante balancierte. Jim Beam aus Clermont, Kentucky. Der Inhalt war weg. Verdampft, verdunstet. Rakel. Er schloss die Augen. Nichts war mehr da.

Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, nur, dass es zu spät war. Oder zu früh. Dass es auf jeden Fall der falsche Zeitpunkt zum Aufwachen war. Oder besser gesagt, zum Schlafen. Um diese Zeit des Tages sollte man etwas anderes tun. Man sollte trinken.

Es gelang Harry, sich hinzuknien.

Etwas vibrierte in seiner Hosentasche. Das war es, was ihn geweckt hatte, jetzt erinnerte er sich. Ein eingeschlossener Nachtfalter, der verzweifelt mit den Flügeln flatterte. Er steckte die Hand in die Tasche und zog das Handy heraus.

Harry ging mit langsamen Schritten in Richtung St. Hanshaugen. Der Kopfschmerz pochte hinter seinen Augen. Die Adresse, die Møller ihm genannt hatte, war gut zu Fuß zu erreichen. Er hatte sich etwas Wasser ins Gesicht geklatscht, in einer der Flaschen unter dem Waschbecken einen Rest Whiskey gefunden und hoffte nun, dass er von den paar Schritten einen klaren Kopf bekommen würde. Harry kam am Underwater vorbei. Vier Drinks für drei, vier für einen an Montagen, sonntags geschlossen. Hier war er nicht oft, weil seine Stammkneipe in der Parallelstraße lag, doch wie die meisten Alkoholiker hatte Harry irgendwo in seinem Kopf die Öffnungszeiten der verschiedenen Lokale abgespeichert.

Er grinste das Spiegelbild in den abgedunkelten Scheiben an. Ein andermal.

An der nächsten Ecke bog er nach rechts in den Ullevålsvei ein. Harry ging nicht gerne diese Straße entlang, sie war für Autos gedacht, nicht für Menschen. Das Beste, was er über den Ullevålsvei sagen konnte, war, dass man an Tagen wie diesem auf dem rechten Bürgersteig etwas Schatten fand.

Harry blieb vor dem Haus stehen, dessen Nummer ihm gesagt worden war, und verschaffte sich einen Überblick.

Im Erdgeschoss war ein Waschsalon mit roten Waschmaschinen. An der Scheibe hing ein Zettel. Der Laden war täglich von 08.00 Uhr bis 21.00 Uhr geöffnet, und man konntejetzt auch zu einem reduzierten Preis innerhalb von dreißig Minuten seine Wäsche trocknen. Eine dunkelhäutige Frau mit einem Tuch um den Kopf saß neben einer rotierenden Trommel und starrte vor sich hin. Neben dem Waschsalon war ein Schaufenster mit Grabsteinen und etwas weiter entfernt ein grünes Neonschild mit der AufschriftKEBABüber einem Imbiss mit angeschlossenem Lebensmittelladen. Harry ließ seinen Blick über die schmutzige Fassade nach oben wandern. An den alten Fenstern blätterte die Farbe ab, doch die Gauben auf dem Dach deuteten darauf hin, dass man die Etage über den vier Stockwerken zu modernen Wohnungen ausgebaut hatte. Und über der neu installierten Klingelanlage hatte man neben der rostigen Eisentür eine Kamera angebracht. Die Gelder aus dem Westen der Stadt flossen langsam, aber sicher in östliche Richtung. Er drückte auf die oberste Klingel neben dem Namensschild mit der Aufschrift Camilla Loen.

»Ja?«, tönte es aus dem Lautsprecher.

Møller hatte ihn gewarnt, doch es versetzte ihm trotzdem einen Stoß, Waalers Stimme zu hören.

Harry versuchte zu antworten, aber seine Stimmbänder gaben keinen Laut von sich. Er hustete und unternahm einen weiteren Anlauf. »Hole hier, mach auf.«

Es summte über der Tür, und er packte den kalten, rauen Türgriff aus schwarzem Eisen.

»Hallo!«

Harry drehte sich um. »Hallo, Beate.«

Beate Lønn war durchschnittlich groß, hatte kurzes, mittelblondes Haar, blaue Augen und war weder hässlich noch hübsch. Kurz: An Beate Lønn fiel nichts besonders ins Auge. Abgesehen von ihrer Kleidung: einem weißen, astronautenartigen Overall.

Harry hielt die Tür auf, während sie zwei Stahlkoffer ins Haus bugsierte. »Bist du auch gerade gekommen?«

Er versuchte, nicht in ihre Richtung zu atmen, als sie an ihm vorbeiging.

»Nein, ich musste noch einmal runter zum Wagen, um den Rest von unserem Zeug zu holen, wir sind schon eine halbe Stunde hier. Hast du dich geprügelt?«

Harry fuhr mit dem Finger über die verkrustete Wunde auf seinem Nasenrücken. »Scheint so.« Er folgte ihr durch die zweite Tür, die ins Treppenhaus führte. »Wie sieht’s denn da oben aus?«

Beate stellte die Koffer vor einer grünen Aufzugtür ab und sah rasch zu ihm auf. »Ich dachte, es sei ein Prinzip von dir, erst selbst einen Eindruck zu gewinnen und dann zu fragen«, sagte sie und drückte auf den Knopf des Fahrstuhls.

Harry nickte. Beate Lønn gehörte zu den Menschen, die sich an alles erinnerten. Sie konnte Details von Fällen zum Besten geben, die er längst vergessen hatte und die sich überdies lange vor ihrer Zeit ereignet hatten. Außerdem hatte sie einen außergewöhnlich gut entwickelten Gyrus fusiforme, der Bereich im Hirn, der Gesichter abspeicherte. Ein Test hatte die Psychologen verblüfft. Da war es wohl selbstverständlich, dass sie sich an das wenige erinnerte, was er ihr beigebracht hatte, als sie im letzten Jahr gemeinsam eine Reihe von Banküberfällen untersucht hatten.

»Stimmt. Wenn ich zum ersten Mal an einen Tatort komme, will ich so empfänglich wie möglich für eigene Eindrücke sein«, sagte Harry und zuckte zusammen, als sich der Fahrstuhl plötzlich hörbar zu ihnen in Bewegung setzte. Harry tastete seine Taschen nach Zigaretten ab. »Aber ich glaube nicht, dass ich wirklich an diesem Fall arbeiten werde.«

»Warum nicht?«

Harry antwortete nicht. Er fischte ein zerknülltes Päckchen Camel aus seiner linken Hosentasche und zog eine zerbrochene Zigarette heraus.

»Oh, ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Beate lächelnd. »Du hast ja im Frühling erzählt, dass ihr zusammen in den Urlaub wollt, in die Normandie, nicht wahr? Du Glücklicher …«

Harry steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen. Sieschmeckte beschissen. Und würde bestimmt nicht gegen seine Kopfschmerzen helfen. Da half nur eins. Blinzelnd warf er einen Blick auf die Uhr. Montag. Vier Minuten vor eins.

»Aus der Normandie ist nichts geworden«, sagte er. »Oh?«

»Nein, das hat nichts damit zu tun. Eher damit, dass der da oben den Fall bearbeitet.« Harry zog an der Zigarette und deutete mit dem Kopf in die angegebene Richtung.

Sie sah ihn lange an. »Pass auf, dass das nicht zu einer Manie von dir wird, Harry. Du musst das endlich hinter dir lassen.«

»Hinter mir lassen?« Harry atmete den Rauch aus. »Er tut den Menschen Böses an, Beate. Das solltest du doch am besten wissen.«

Sie errötete. »Tom und ich hatten eine kurze Affäre, das ist alles, Harry.«

»Hattest du in der Zeit nicht blaue Flecken am Hals?«

»Harry! Tom hat niemals …« Beate hielt abrupt inne, als sie bemerkte, wie laut sie geworden war. Das Echo ihrer Stimme hallte durch das Treppenhaus, wurde aber von dem kurzen, dumpfen Dröhnen übertönt, mit dem der Aufzug vor ihnen zum Stillstand kam.

»Du magst ihn nicht«, sagte sie. »Deshalb bildest du dir was ein. Tom hat auch ein paar gute Seiten, von denen du nichts weißt. Wirklich.«

»Hmm.« Harry drückte die Zigarette an der Wand aus, als Beate die Tür des Aufzugs öffnete und hineinging.

»Kommst du nicht mit hoch?« Sie sah Harry fragend an, der draußen stehen geblieben war und ein Loch in die Luft starrte. Der Fahrstuhl. Er hatte ein Schiebegitter vor der Tür. Ein einfaches, schwarzes Eisengitter, das man öffnen und schließen musste, damit sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Da war wieder der Schrei. Der stumme Schrei. Er spürte, wie ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Der Rest Whiskey hatte nicht gereicht. Ganz und gar nicht.

»Stimmt was nicht?«, fragte Beate.

»Nein«, antwortete Harry heiser. »Ich mag nur diese alten Aufzüge nicht. Ich nehme die Treppe.«

KAPITEL 4

Freitag. Statistik

Das Haus verfügte wirklich über zwei Dachwohnungen. Die Tür zu der einen war offen, aber mit dem orangefarbenen Plastikband der Polizei abgesperrt. Harry mit seinen einhundertzweiundneunzig Zentimetern bückte sich und musste rasch einen Schritt zur Seite machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er befand sich mitten in einem Zimmer mit Eichenholzparkett, Dachschräge und Veluxfenstern. Es war warm wie in einer Sauna. Die Wohnung war klein und minimalistisch eingerichtet, wie seine eigene, doch damit endeten die Übereinstimmungen auch schon. Denn in dieser fanden sich das neueste Designersofa von Hilmers Hus, ein Salontisch von R. O. O. M. und ein kleiner eisblauer Philips-Fernseher aus durchsichtigem Plastik, der zu der Stereoanlage passte. Harry konnte durch die geöffneten Türen in die Küche und das Schlafzimmer gucken. Es war merkwürdig still. Ein uniformierter Beamter stand mit verschränkten Armen schwitzend neben der Küchentür und wippte auf den Zehen. Er musterte Harry mit hochgezogenen Augenbrauen und schüttelte grinsend den Kopf, als Harry seinen Ausweis zücken wollte.

Alle kennen den Affen, nur der Affe kennt keinen, dachte Harry und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Wo ist die Spurensicherung?«

»Im Bad«, sagte der Beamte und deutete mit dem Kopf auf das Schlafzimmer. »Lønn und Weber.«

»Weber? Müssen die jetzt schon auf Rentner zurückgreifen?«

Der Beamte zuckte mit den Schultern. »Urlaubszeit.«

Harry sah sich um. »Okay, sorgen Sie dafür, dass die Treppe und der Hauseingang abgesperrt werden. Die Leute gehen hier ein und aus.«

»Aber …«

»Hören Sie mal, das gehört zum Tatort, oder?«

»Versteh schon«, brummte der Beamte grollend, und Harry begriff, dass er sich mit nur zwei Sätzen einen neuen »Freund« gemacht hatte. Die Liste war lang.

»Aber ich habe den Befehl erhalten …«, fuhr der Beamte fort.

»… hier aufzupassen«, sagte eine Stimme im Schlafzimmer. Tom Waaler kam in der Tür zum Vorschein.

Trotz seines schwarzen Anzugs war unter dem dichten, dunklen Haaransatz nicht eine Schweißperle zu erkennen. Tom Waaler war ein Bild von einem Mann. Vielleicht nicht besonders attraktiv, doch seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und symmetrisch. Er war nicht so groß wie Harry, auch wenn das sicher viele gedacht hätten. Vielleicht lag das an Tom Waalers aufrechter Haltung. Oder an seiner betont selbstbewussten Art, mit der er seine Umgebung nicht nur beeindruckte, sondern mit der er auch ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, das geradezu ansteckend war. In seiner Nähe herrschten Ruhe und Ordnung. Seine körperliche Fitness vervollkommnete noch diesen Eindruck, sie war das Ergebnis von fünf wöchentlichen Trainingseinheiten im Kraftraum und in der Karateschule, das der Anzug kaum verhüllte.

»Und genau das soll er weiter tun«, sagte Waaler. »Ich habe gerade jemanden mit dem Fahrstuhl nach unten geschickt, den Tatort weiträumig abzusperren. Alles unter Kontrolle, Hole.«

War das eine Feststellung oder eine Frage? Harry räusperte sich. »Wo ist sie?«

»Hier drin.«

Waaler machte ein mitleidiges Gesicht, als er zur Seite trat, um Harry vorbeizulassen: »Hast du dich verletzt, Hole?«

Das Schlafzimmer war einfach, aber geschmackvoll und romantisch eingerichtet. Ein gemachtes Einzelbett mit Platz für zwei stand neben einem tragenden Balken, in den so etwas wie ein Herz über einem Dreieck eingeritzt war. Vielleicht das Zeichen eines Lovers, dachte Harry. An der Decke über dem Bett hingen drei gerahmte Aktfotos von Männern. Politisch korrekt, irgendwo zwischen Softporno und Kitsch. Keine persönlichen Gegenstände oder Bilder, soweit er sehen konnte.

Das Badezimmer ging vom Schlafzimmer ab. Es war gerade groß genug, um ein Waschbecken, eine Toilette, eine Dusche ohne Vorhang und Camilla Loen zu beherbergen. Sie lag auf den Fliesen, das Gesicht zur Tür gedreht, doch den Blick nach oben auf die Dusche gerichtet, als wartete sie auf das Wasser.

Sie war nackt unter dem weißen, durchscheinenden Morgenmantel, der aufgegangen war und den Abfluss verdeckte. Beate machte Fotos.

»Hat schon jemand die Todeszeit festgestellt?«

»Der Gerichtsmediziner ist unterwegs«, antwortete Beate. »Doch der Rigor mortis ist noch nicht eingetreten, und sie ist auch noch nicht ganz kalt. Ich würde sagen, höchstens ein paar Stunden.«

»Lief die Dusche nicht noch, als der Nachbar und der Hausmeister sie gefunden haben?«

»Schon, wieso?«

»Das warme Wasser kann die Körpertemperatur hochgehalten und die Totenstarre verzögert haben.« Harry blickte auf die Uhr. Viertel nach sechs.

»Ich denke, wir sollten davon ausgehen, dass sie gegen fünf gestorben ist.«

Das war Waalers Stimme.

»Warum das?«, fragte Harry, ohne sich umzudrehen.

»Es deutet nichts darauf hin, dass die Leiche bewegt worden ist. Wir können also davon ausgehen, dass sie getötet wurde, während sie in der Dusche war. Du siehst ja, der Körper und der Morgenmantel verstopfen den Abfluss. Das hat zu der Überschwemmung geführt. Der Hausmeister, der die Dusche ausgemacht hat, sagte, sie sei voll aufgedreht gewesen. Ich habe den Wasserdruck überprüft. Ziemlich gut für eine Dachwohnung. Bei einem so kleinen Badezimmer kann es nicht lange gedauert haben, bis das Wasser über die Türschwelle ins Schlafzimmer gelaufen ist. Und auch nicht lange, bis es dann einen Weg zu den Nachbarn gefunden hat. Die Frau von unten sagte, es sei genau zwanzig nach fünf gewesen, als sie die Überschwemmung bemerkt habe.«

»Das ist erst eine Stunde her«, sagte Harry. »Und ihr seid schon eine halbe Stunde hier. Scheint so, als hätten alle ungewöhnlich schnell reagiert.«

»Nicht wirklich alle, oder?«, gab Waaler zurück. Harry antwortete nicht.

»Ich denke an den Gerichtsmediziner.« Waaler lächelte. »Er sollte längst da sein.«

Beate hörte mit dem Fotografieren auf und warf Harry einen Blick zu.

Waaler berührte sie am Arm. »Ruf an, wenn was ist. Ich gehe in den dritten Stock und rede mit dem Hausmeister.«

»Okay.«

Harry wartete, bis Waaler den Raum verlassen hatte. »Kann ich …?«, fragte er.

Beate nickte und trat zur Seite.

Harrys Schuhsohlen schmatzten auf dem nassen Boden. Auf allen Flächen des Raumes hatte sich Dampf niedergeschlagen und rann in kleinen Rinnsalen von den Wänden. Der Spiegel war blind geworden. Harry hockte sich hin. Er musste sich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er schnüffelte, roch aber nur Seife und keinen der anderen Gerüche, von denen er wusste, dass sie da sein mussten. Dysosmie. Das hatte Harry in einem Buch gelesen, das er sich von Aune, dem Dezernatspsychologen, geliehen hatte. Es gab gewisse Gerüche, die wahrzunehmen sich das Gehirn ganz einfach weigerte. Dieser teilweise Verlust des Geruchssinns sei oft auf ein emotionales Trauma zurückzuführen, hieß es. Das konnte Harry nicht sicher bestätigen. Er konnte nur sagen, dass er keinen Leichengeruch mehr wahrnahm.

Camilla Loen war jung. Zwischen siebenundzwanzig und dreißig, nahm Harry an. Hübsch. Mollig. Ihre Haut war glatt und sonnengebräunt, doch blass, wie häufig im Tod. Sie hatte dunkles Haar, das trocken sicher heller wirkte, und ein kleines Loch in der Stirn, von dem nichts mehr zu sehen sein würde, wenn der Bestattungsunternehmer erst seine Arbeit gemacht hatte. Sonst bliebe ihm nicht viel zu tun, abgesehen von dem Überschminken einer kleinen Schwellung am rechten Auge.

Harry konzentrierte sich auf das schwarze, kreisrunde Loch in der Stirn. Es war kaum größer als eine Einkronenmünze. Manchmal überraschte ihn, was für winzige Löcher einem Menschen das Leben nehmen konnten. Wobei man sich leicht täuschte, weil die Haut sich zusammenzog. Harry rechnete damit, dass das Projektil in diesem Fall größer war als das Loch.

»Pech, dass sie im Wasser gelegen hat«, sagte Beate. »Sonst könnten wir vielleicht die Fingerabdrücke des Mörders finden, oder Textilfasern oderDNA-Spuren auf ihrem Körper.«

»Hmm. Die Stirn hat auf jeden Fall aus dem Wasser geragt und scheint nicht viel aus der Dusche abgekriegt zu haben.«

»Ja?«

»An dem Einschussloch ist schwarzes, angetrocknetes Blut. Und Schmauchspuren auf der Haut. Vielleicht kann uns das kleine Loch noch etwas verraten. Habt ihr eine Lupe?« Ohne die Augen von Camilla Loen abzuwenden, streckte Harry die Hand aus, spürte das Gewicht des optischen Geräts deutscher Wertarbeit und studierte die Haut rings um das Loch.

»Was siehst du?«

Beates leise Stimme war dicht neben seinem Ohr. Sie warstets darauf erpicht dazuzulernen. Harry wusste, dass er ihr bald nichts mehr würde beibringen können.

»Der graue Schimmer auf dem Schwarz der Einschusswunde deutet darauf hin, dass sie aus nächster Nähe erschossen worden ist, der Schuss aber nicht aufgesetzt war«, sagte er. »Ich tippe auf einen halben Meter.«

»Aha.«

»Die Asymmetrie der Verfärbung zeigt, dass der Schütze höher als sie stand und schräg nach unten geschossen hat.«

Harry drehte den Kopf der Toten vorsichtig zur Seite. Die Stirn war noch nicht ganz kalt. »Keine Austrittswunde«, sagte er. »Das unterstützt meine Vermutung, dass der Schusskanal schräg verläuft. Vielleicht kniete sie vor dem Mörder.«

»Kannst du erkennen, was für eine Waffe verwendet worden ist?«

Harry schüttelte den Kopf. »Das soll der Gerichtsmediziner in Zusammenarbeit mit der Ballistik rausfinden. Aber ich sehe kaum Schmauchspuren, und das deutet auf eine Waffe mit kurzem Lauf hin. Eine Pistole also.«

Harry betrachtete eingehend die Leiche und versuchte alle Eindrücke zu speichern. Doch ihm war bewusst, dass ihn der Alkohol benebelte und für ihn wichtige Details wegfilterte. Nein, fürsiewichtige Details. Dies war nicht sein Fall.

Als er zu Camilla Loens Hand kam, bemerkte er dennoch, dass etwas fehlte. »Donald Duck«, murmelte er und beugte sich tiefer über die verstümmelte Hand.

Beate sah ihn verständnislos an.

»Sie malen sie so in den Comics«, sagte Harry. »Mit vier Fingern.«

»Ich lese keine Comics.«

Es war der Zeigefinger, der ihr abgetrennt worden war. Geblieben waren nur schwarze Perlen koagulierten Blutes und glänzende Sehnen. Die eigentliche Schnittstelle sah glatt und sauber aus.

Harry legte seine Fingerkuppe vorsichtig auf die weißleuchtende Stelle inmitten des rosa Fleisches. Der Knochen war sauber abgetrennt worden. »Seitenschneider«, sagte er. »Oder ein sehr scharfes Messer. Habt ihr den Finger gefunden?«

»Nee.«

Harry spürte eine plötzliche Übelkeit und schloss die Augen. Atmete tief durch. Dann öffnete er sie wieder. Es konnte viele Gründe geben, warum man einem Opfer den Finger abtrennte. Es gab keinen Anlass, die Richtung weiterzuverfolgen, die er soeben eingeschlagen hatte.

»Vielleicht ein Geldeintreiber«, sagte Beate. »Die stehen doch auf Seitenschneider.«

»Vielleicht«, murmelte Harry, erhob sich und entdeckte weiße Fußspuren auf den, wie er geglaubt hatte, rosa Fliesen. Seine eigenen Fußspuren.

Beate beugte sich nach unten und machte eine Nahaufnahme vom Gesicht der Toten. »Die hat wirklich stark geblutet.«

»Weil ihre Hand im Wasser gelegen hat«, sagte Harry. »Deshalb ist das Blut nicht geronnen.«

»All das Blut von einem einzigen abgetrennten Finger?«

»Ja. Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein, aber ich habe das Gefühl, dass ich gleich darauf kommen werde.«

»Das bedeutet, dass Camilla Loen der Finger abgetrennt wurde, als ihr Herz noch schlug. Also bevor sie erschossen wurde.«

Beate verzog das Gesicht.

»Ich gehe nach unten und spreche mit den Nachbarn«, sagte Harry.

»Camilla wohnte schon hier, als wir eingezogen sind«, sagte Vibeke Knutsen und warf einen raschen Blick auf ihren Lebensgefährten. »Wir hatten nicht viel mit ihr zu tun.«

Die beiden saßen mit Harry im direkt unter der Dachwohnung gelegenen Wohnzimmer. Man hätte meinen können, es sei Harrys Wohnung. Das Paar hockte steif auf der äußersten Sofakante, während Harry tief in einen der Sessel gesunken war.

Harry fand die zwei ein sehr ungleiches Paar. Beide waren irgendwo in den Dreißigern, doch Anders Nygård war dünn und sehnig wie ein Marathonläufer. Sein hellblaues Hemd war frisch gebügelt, das sorgfältig gekämmte Haar kurz. Die Lippen waren dünn, und seine Körpersprache verriet Unruhe. Zwar wirkte sein offenes Gesicht jungenhaft, ja fast unschuldig, doch es strahlte eine asketische Strenge aus. Bei der rothaarigen Vibeke Knutsen fielen hingegen die tiefen Lachfalten auf sowie ihre üppige Figur, die von dem eng sitzenden Leopardentop noch unterstrichen wurde. Und sie sah aus, als habe sie schon einiges erlebt. Die Falten auf ihrer Oberlippe deuteten auf viele Zigaretten hin, die Lachfalten um die Augen auf eine gehörige Portion Humor.

»Was hat sie gemacht?«, fragte Harry.

Vibeke blickte ihren Partner auffordernd an, ergriff dann aber selbst das Wort, als er nichts sagte. »Soweit ich weiß, hat sie in einer Werbeagentur gearbeitet. Als Grafikdesignerin oder so.«

»Oder so«, sagte Harry und kritzelte zögernd etwas in sein Notizbuch.

Das war ein Trick, den er gerne beim Verhör anwandte. Wenn er die Befragten nicht ansah, gelang es ihnen häufig besser, sich zu entspannen. Und wenn er tat, als langweile ihn das Gesagte, strengten sie sich automatisch an, etwas zu finden, das ihn interessierte. Er wäre besser Journalist geworden. Ein Journalist, der betrunken zur Arbeit kam, hatte bestimmt mehr Spielraum als er.

»Hatte sie einen Freund?«

Vibeke schüttelte den Kopf.

»Einen Lover?«

Vibeke lachte nervös und warf ihrem Lebensgefährten wieder einen Blick zu.

»Wir gehören nicht zu denen, die an den Wänden lauschen«, sagte Anders Nygård. »Glauben Sie, dass es ein Liebhaber von ihr war?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Harry.

»Mir ist klar, dass Sie das nichtwissen.«

Harry bemerkte die Verärgerung in seiner Stimme.

»Aber wir hier im Haus würden gerne wissen, ob das nach einer persönlichen Sache aussieht oder ob irgendein verrückter Mörder in der Nachbarschaft sein Unwesen treibt.«

»Gut möglich, dass Sie in der Nachbarschaft einen verrückten Mörder haben«, sagte Harry, legte den Stift weg und wartete ab. Ihm entging nicht, dass Vibeke Knutsen auf dem Sofa zusammenzuckte, doch er konzentrierte sich weiter auf Anders Nygård.

Menschen, die Angst haben, werden schnell wütend. Das gehörte zum Lehrstoff des ersten Jahres an der Polizeischule, damit verbunden war der Rat, ängstliche Menschen nicht unnötig aufzuregen. Harry hatte jedoch herausgefunden, dass ihm das Gegenteil mehr nützte. Sie erst recht in Rage zu bringen. Wütende Menschen sagten oft Dinge, die sie nicht sagen wollten.

Anders Nygård sah ihn ausdruckslos an.

»Aber es ist wahrscheinlicher, dass ein Liebhaber der Täter war«, sagte Harry. »Ein Liebhaber oder jemand, mit dem sie früher ein Verhältnis hatte und den sie abserviert hat.«

»Warum das?« Anders Nygård legte einen Arm um Vibekes Schultern, was komisch wirkte, weil sein Arm so kurz und ihre Schultern so breit waren.

Harry drückte sich tief in den Sessel. »Statistik. Darf ich hier rauchen?«

»Wir versuchen, es hier möglichst rauchfrei zu halten«, sagte Anders Nygård mit einem dünnen Lächeln.

Harry bemerkte, dass Vibeke den Blick senkte, als er das Päckchen wieder in seine Hosentasche schob.

»Was meinen Sie mit Statistik?«, fragte der Mann. »Was bringt Sie zu der Annahme, bei diesem Einzelfall auf die Statistik zurückgreifen zu können?«

«Nun. Ehe ich Ihnen eine Antwort auf Ihre zwei Fragen gebe – haben Sie Ahnung von Statistik, Herr Nygård? Normalverteilung, Signifikanz, Standardabweichung?«

»Nein, aber ich …«

»Gut«, unterbrach ihn Harry. »Das ist in diesem Fall auch gar nicht nötig. Hundert Jahre internationaler Kriminalstatistik verraten uns nämlich eins. Dass ihr Typ das da oben gemacht hat. Oder wenn sie keinen hatte: derjenige, der sich vorgestellt hat, es zu sein. Das ist die Antwort auf die erste Frage. Und auf die zweite.«

Anders Nygård schnaubte und ließ Vibeke los. »Das ist doch vollkommen unsachlich. Sie wissen doch nichts über Camilla Loen.«

»Richtig«, sagte Harry.

»Und warum erzählen Sie dann so was?«

»Weil Sie gefragt haben. Und wenn Sie mit Ihren Fragen fertig sind, kann ich vielleicht mit meinen weitermachen?«

Nygård schien etwas sagen zu wollen, entschied sich jedoch anders und starrte wütend auf die Tischplatte. Harry konnte sich irren, aber er glaubte, den Anflug eines Lächelns aus Vibekes Grübchen herauslesen zu können.

»Glauben Sie, dass Camilla Loen etwas mit Drogen zu tun gehabt haben könnte?«, fragte Harry.

Nygårds Kopf schnellte hoch. »Warum sollten wir das glauben?«

Harry schloss die Augen und wartete.

»Nein«, sagte Vibeke. Ihre Stimme war leise und weich. »Das glauben wir nicht.«

Harry öffnete die Augen und lächelte sie dankbar an. Anders Nygård musterte sie verwundert.

»Ihre Tür war unverschlossen, nicht wahr?«

Anders Nygård nickte.

»Fanden Sie das nicht seltsam?«, fragte Harry.

»Nicht besonders, sie war ja zu Hause.«

»Hmm. Sie haben ein einfaches Schloss an Ihrer Tür, und ich habe bemerkt, dass Sie …«, er deutete auf Vibeke,»… abgeschlossen haben, nachdem ich hereingekommen war.«

»Sie ist etwas ängstlich«, sagte Nygård und tätschelte seiner Freundin das Knie.

»Oslo ist nicht mehr so, wie es mal war«, sagte Vibeke. Ihr Blick begegnete kurz dem von Harry.

»Sie haben Recht«, antwortete Harry. »Und es scheint, als hätte auch Camilla Loen das verstanden. Ihre Tür hat ein doppeltes Sicherheitsschloss und zusätzlich eine Kette. Sie kommt mir nicht vor wie eine Frau, die unter die Dusche geht, ohne ihre Tür abzuschließen.«

Nygård zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat ja jemand die Tür aufgebrochen, als sie unter der Dusche war.«

»Vielleicht war schon jemand bei ihr in der Wohnung?«, sagte Vibeke fragend.

»Wer denn?« Harry wartete still. Als feststand, dass niemand die Stille brechen würde, erhob er sich: »Man wird Sie zum Verhör einbestellen. Danke erst mal.«

In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Wer von Ihnen beiden hat eigentlich die Polizei gerufen?«

»Das war ich«, antwortete Vibeke. »Ich habe angerufen, als Anders den Hausmeister holen ging.«

»Bevor die beiden sie gefunden haben? Woher wussten Sie …?«

»In dem Wasser, das bei uns von der Decke tropfte, war Blut.«

»Oh? Wie haben Sie das erkannt?«

Anders Nygård seufzte übertrieben genervt und legte Vibeke eine Hand in den Nacken: »Es war doch wohl rot, oder?«

»Nun, es gibt andere Dinge, die rot sind.«

»Das ist richtig«, sagte Vibeke. »Es war auch nicht die Farbe.«

Anders Nygård blickte sie überrascht an. Sie lächelte, doch Harry bemerkte, dass sie der Hand ihres Partners auswich.

»Ich habe mal mit einem Koch zusammengelebt. Wir hatten ein kleines Restaurant. Da habe ich das eine oder andere über Nahrungsmittel gelernt. Unter anderem, dass Blut Eiweißstoffe enthält und verklumpt und gerinnt, wenn man es in über fünfundsechzig Grad warmes Wasser gibt. So wie ein Ei beim Kochen platzt. Als Anders die Klümpchen probierte und sagte, sie schmeckten nach Ei, war mir klar, dass es Blut sein musste. Und dass da was Schlimmes geschehen war.«

Anders Nygårds Mund öffnete sich leicht. Er war plötzlich blass unter seiner Bräune. Wie ein Fremder.

»Guten Appetit«, murmelte Harry und ging.

KAPITEL 5

Freitag. Underwater

Harry hasste Kneipen, die ein bestimmtes Motto hatten. Irische Pubs, Oben-ohne-Bars, Internetcafés oder – am allerschlimmsten – Promibars mit den Porträts notorischer Stammgäste an den Wänden. Das Motto des Underwater war eine diffuse maritime Mischung aus Tauchsport und Holzbootromantik. Irgendwann beim vierten großen Bier hörte Harry auf, sich über die Aquarien mit dem perlend grünen Wasser aufzuregen, über die Taucherhelme und die rustikalen Holzaccessoires. Es hätte schlimmer sein können. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatten plötzlich einige angefangen, im Stehen Opernarien zu singen, und für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, die Musik habe die Wirklichkeit eingeholt. Mit einem Blick versicherte er sich, dass diesmal keiner der vier Gäste Anstalten machte zu singen.

»Urlaubsflaute?«, fragte er die Bedienung, die ihm das nächste Bier brachte.

»Es ist erst sieben.« Sie gab ihm auf einen Hunderter statt auf einen Zweihunderter zurück. Wenn er gekonnt hätte, wäre er ins Schrøder gegangen. Aber er hatte eine vage Ahnung, dass er dort nicht willkommen war, und nicht den Nerv, sich das bestätigen zu lassen. Nicht heute. Er erinnerte sich bruchstückhaft an eine Episode am Dienstag. Oder war es Mittwoch gewesen? Jemand hatte eine alte Wunde bei ihm aufgerissen und von seinem Fernsehauftritt erzählt, bei dem er als Held der norwegischen Polizei bezeichnet worden war, weil er in Sydney einen Mörder erschossen hatte.

Ein Kerl hatte dumme Kommentare von sich gegeben und ihm Dinge an den Kopf geworfen, die zum Teil stimmten. War es zu einem Handgemenge gekommen? Das war nicht auszuschließen, doch die Kratzer, die er beim Aufwachen auf seinen Handknöcheln und auf dem Nasenrücken entdeckt hatte, konnten natürlich auch von einem Sturz auf der Dovregata stammen.

Das Handy klingelte. Harry warf einen Blick auf das Display. Wieder nicht Rakel. »Hallo, Chef.«

»Harry, wo bist du?« Bjarne Møller hörte sich besorgt an.

»Unter Wasser. Was gibt’s?«

»Wasser?«

»Wasser, Brackwasser, Sodawasser … Sie hören sich – wie sagt man? – erregt an.«

»Bist du betrunken?«

»Nicht genug.«

»Was?«

»Ach nichts. Der Akku ist bald leer, Chef.«

»Einer der Beamten am Tatort wollte einen Bericht über dich schreiben. Er sagte, du seist sichtlich betrunken zum Dienst erschienen.«

»Wollte?«

»Ich habe ihm das ausreden können. Warst du betrunken, Harry?«

»Natürlich nicht, Chef.«

»Bist du vollkommen sicher, dass du die Wahrheit sagst, Harry?«

»Bist du vollkommen sicher, dass du das wirklich wissen willst?«

Harry hörte Møllers Stöhnen am anderen Ende.

»So kann das nicht weitergehen, Harry. Irgendwann muss ich die Notbremse ziehen.«

»Okay, dann schaff mir den Fall vom Hals.«

»Was?«

»Du hast mich doch verstanden. Ich will mit diesemSchwein nicht zusammenarbeiten. Setz einen anderen an meine Stelle.«

»Wir haben nicht genug Leute, um …«

»Dann solltest du mir lieber kündigen, ist mir sowieso scheißegal.«

Harry steckte das Telefon in die Innentasche seiner Jacke. Er hörte Møllers Stimme sanft an seiner Brustwarze vibrieren. Eigentlich ein gutes Gefühl. Er leerte den Rest seines Glases, stand auf und schwankte in den warmen Sommerabend hinaus. Das dritte Taxi, das er auf dem Ullevålsvei anhielt, nahm ihn mit.

»Holmenkollvei«, sagte er und lehnte den verschwitzten Nacken an das kühle Leder des Rücksitzes. Während der Fahrt starrte er durch die Heckscheibe zu den Schwalben empor, die auf der Jagd nach Nahrung am blauen Himmel hin und her schossen. Jetzt kamen die Insekten aus ihren Löchern. Das war die Stunde der Schwalben, ihre Chance zu überleben. Von jetzt bis Sonnenuntergang.

Das Taxi hielt am Hang unterhalb einer großen, dunklen Holzvilla.

»Soll ich auf den Vorplatz fahren?«, fragte der Fahrer. »Nein, lassen Sie uns einfach einen Moment hier stehen bleiben«, sagte Harry.

Er starrte zum Haus hoch. Glaubte Rakels Schatten an einem der Fenster zu erkennen. Oleg musste sicher bald ins Bett. Vermutlich bettelte er gerade darum, länger aufbleiben zu dürfen …

»Heute ist doch Freitag, oder?«

Der Taxifahrer nickte langsam und blickte fragend in den Rückspiegel.

Tage. Wochen. Mein Gott, wie schnell diese Kinder wuchsen.

Harry rieb sich das Gesicht, versuchte wieder ein wenig Leben in die herbstblasse Totenmaske zu massieren, mit der er herumlief.

Im Winter hatte es gar nicht so schlecht für ihn ausgesehen.

Er hatte ein paar größere Fälle gelöst, er hatte einen Zeugen im Fall »Ellen«, er war trocken, und er und Rakel waren nicht mehr frisch verliebt, sondern hatten begonnen, sich als Familie zu fühlen. Und es hatte ihm gefallen. Die Wochenenden auf der Hütte. Die Kinderfeste. Mit Harry als Chef am Grill. Es hatte ihm gefallen, seinen Vater und Søs am Sonntag zum Essen dazuhaben und zu beobachten, wie seine Schwester mit ihrem Down-Syndrom und der neunjährige Oleg miteinander spielten. Und das Beste: Sie waren noch immer ineinander verliebt. Rakel hatte sogar davon gesprochen, in ihrem Haus zusammenzuziehen. Ihr Argument war, dass das Haus für sie und Oleg allein doch zu groß sei. Und Harry hatte sich nicht gerade bemüht, etwas dagegen einzuwenden.

»Mal sehen, wenn ich mit der Untersuchung von Ellens Tod fertig bin«, hatte er gesagt.

Die gebuchte Reise in die Normandie – drei Wochen in einem alten Herrenhaus und eine Woche auf einem Hausboot – sollte eine Art Test werden.

Und dann hatten die Dinge begonnen, schief zu laufen.

Er hatte den ganzen Winter den Mord an Ellen verfolgt. Intensiv. Zu intensiv. Doch Harry kannte keine andere Art zu arbeiten. Und Ellen Gjelten war nicht nur eine Kollegin gewesen, sondern seine beste Freundin und Vertraute. Inzwischen waren drei Jahre vergangen, seit sie zu zweit den Waffenschmuggler mit dem Codenamen »Prinz« gejagt hatten und ein Baseballschläger ihr das Leben genommen hatte. Die Spuren am Tatort, dem Ufer des Akerselva, hatten auf Sverre Olsen hingedeutet, einen alten Bekannten aus dem Neonazimilieu. Leider hatte Harry sich nie dessen Version der Angelegenheit anhören können, da Olsen bei dem angeblichen Versuch, Tom Waaler bei der Festnahme zu erschießen, eine Kugel in den Kopf bekommen hatte. Allerdings war Harry sowieso überzeugt, dass eigentlich der »Prinz« hinter diesem Mord steckte, und er hatte Møller überredet, ihn auf eigene Faust Nachforschungen anstellen zu lassen. In eigener Sache. Was gegen alle im Morddezernat geltenden Prinzipien verstieß. Doch Møller hatte ihm das als Belohnung für gute Ergebnisse in anderen Fällen eine Weile zugestanden.

Und im Winter war Harry endlich der Durchbruch gelungen. Ein Zeuge hatte Sverre Olsen am Tatabend in Grünerløkka gesehen. Mit einem anderen Mann in einem roten Auto. Nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt. Der Zeuge war ein gewisser Roy Kvinsvik, ein vorbestrafter ehemaliger Neonazi, aus dem jetzt ein frisch bekehrter Pfingstler der Philadelphia-Gemeinde geworden war. Kvinsvik war nicht gerade ein Traumzeuge, doch er hatte sich das Bild, das Harry ihm vorgelegt hatte, gut und lange angeschaut und schließlich versichert, es zeige die Person, die neben Sverre im Auto gesessen habe. Der Mann auf dem Bild war Tom Waaler.

Obwohl Harry seinen Kollegen schon einige Zeit verdächtigt hatte, war diese Bestätigung für ihn ein Schock. Auch deshalb, weil es in der Abteilung vermutlich weitere Maulwürfe gab. Sonst wäre es dem »Prinzen« nicht möglich gewesen, auf derart breiter Basis zu operieren. Was wiederum bedeutete, dass Harry keinem trauen konnte. Deshalb hatte er niemandem gegenüber erwähnt, was Roy Kvinsvik ihm erzählt hatte. Er wusste, dass er nur einen Versuch hatte und dass er das Übel würde an der Wurzel packen müssen, es mit einem Ruck würde ausreißen müssen. Sollte ihm das nicht gelingen, wäre er erledigt.

Deshalb hatte Harry in aller Stille begonnen, eine lückenlose Indizienkette zu sammeln. Doch das hatte sich als schwieriger erwiesen, als gedacht. Da er nicht wusste, mit wem er offen reden konnte, hatte er in den Archiven gestöbert, wenn die anderen gegangen waren, sich ins Intranet gehackt und E-Mails sowie Listen über empfangene und selbst geführte Telefonate all derjenigen ausgedruckt, mit