12,99 €
Zerbrechen wir an dem Wissen, das wir uns gewünscht haben? Sandra Schulz ist in der 13. Woche schwanger, als sie nach einer Blutuntersuchung einen gefürchteten Satz hört: «Ich habe leider kein komplett unauffälliges Ergebnis für Sie», sagt ihr die Ärztin. «Ein Schicksalsschlag», sagt ihre Familie. Sandra Schulz denkt: Redet nicht so über mein Kind! Sie kämpft um ihre ungeborene Tochter, doch heimlich nennt sie das Wunschkind, das plötzlich keines mehr ist, eine «halbe Sache» und fragt sich, ob sie ein behindertes Kind lieben können wird. Offen, ehrlich, emotional und berührend lässt Sandra Schulz den Leser an einer Schwangerschaft teilhaben, die alles andere als unkompliziert ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 265
Sandra Schulz
«Das ganze Kind hat so viele Fehler»
Die Geschichte einer Entscheidung aus Liebe
Ihr Verlagsname
Zerbrechen wir an dem Wissen, das wir uns gewünscht haben?
Sandra Schulz ist in der 13. Woche schwanger, als sie nach einer Blutuntersuchung einen gefürchteten Satz hört: «Ich habe leider kein komplett unauffälliges Ergebnis für Sie», sagt ihr die Ärztin. «Ein Schicksalsschlag», sagt ihre Familie. Sandra Schulz denkt: Redet nicht so über mein Kind! Sie kämpft um ihre ungeborene Tochter, doch heimlich nennt sie das Wunschkind, das plötzlich keines mehr ist, eine «halbe Sache» und fragt sich, ob sie ein behindertes Kind lieben können wird.
Offen, ehrlich, emotional und berührend lässt Sandra Schulz den Leser an einer Schwangerschaft teilhaben, die alles andere als unkompliziert ist.
Sandra Schulz, Jahrgang 1975, aufgewachsen in China, studierte Politikwissenschaft in Freiburg und Berlin und berichtete als freie Journalistin aus Japan. Ausbildung an der Berliner Journalistenschule, danach Autorin bei mare, Zeitschrift der Meere, und seit 2008 Redakteurin beim Spiegel, für den sie mehrere Jahre aus Asien berichtet hat. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Helmut-Stegmann-Preis und dem Axel-Springer-Preis.
Für mein Kind
«Ich habe leider kein komplett unauffälliges Ergebnis für Sie», sagte die Ärztin. «Ein Schicksalsschlag», sagte meine Mutter. Ich denke: Redet nicht so über mein Kind! Es ist Marja, meine Tochter.
Aber heimlich denke ich auch: Warum ich? Warum dürfen alle anderen Frauen gesunde, tolle Kinder haben, nur ich nicht? Manchmal sage ich Dinge, für die ich mich schäme. Schreckliche Dinge. Ich nenne meine Tochter eine «halbe Sache». Es ist so viel Trauer und Enttäuschung in mir, dass ich mir eine Frage stelle, über die ich nie zuvor nachgedacht habe, die ich für absurd hielt in all den Jahren, in denen ich mir ein Kind wünschte. Ich frage mich, ob ich mein eigenes Kind werde lieben können.
Dabei spüre ich die Liebe schon jetzt, diese Rührung, wenn ich sie im Ultraschall sehe. Sie packt sich mit der Hand ans Füßchen, rudert mit Armen und Beinen, manchmal wacht sie gerade auf, wenn der Ultraschallkopf ihren Körper abfährt. Ich habe ihr Näschen gesehen, ihr Kinn, ihren dicken Bauch. Und doch kommt diese Panik immer wieder. Mit diesem Kind, denke ich dann, ist mein Leben zu Ende. Die Last wird mich erdrücken, ich selbst, meine Träume und Wünsche werden nichts mehr gelten, ich muss nur noch geben. Aufgeben. Und dann will ich nur noch, dass das Kind weg ist, dass ich eine neue Chance bekomme. Ich denke: Ich darf nicht in die Falle laufen.
Den dritten Tag wache ich jetzt mit diesem «nicht komplett unauffälligen Ergebnis» auf. Vier-, fünfmal hatte die junge Frau, eine «Fachärztin für Humangenetik», am Mittwochmorgen bei mir angerufen. Ich hatte das Klingeln des Handys nicht gehört, es lag unten auf der Kommode neben den Schlüsseln, ich rechnete noch nicht mit dem Resultat des Bluttests. Noch während ich im Stehen, hastig, die Nummer ihrer Praxis wählte, noch während mein Finger die richtigen Zahlen auf dem Display suchte, hatte ich es eigentlich schon begriffen: Wenn dich ein Arzt erreichen will, bedeutet das nichts Gutes.
Dann dieser Satz, in der 13. Schwangerschaftswoche, im Türrahmen zwischen Flur und Wohnzimmer: «Ich habe leider kein komplett unauffälliges Ergebnis für Sie.»
Ich: «Was heißt das?» Sie schwieg.
«Bitte sagen Sie es schnell.»
«Trisomie 21.»
Mein erster Gedanke: Marja darf leben. Es ist nicht Trisomie 13 oder 18, keine Chromosomenstörung, bei der einem die Kinder meist wenige Tage oder Monate nach der Geburt wegsterben. Nur deshalb hatte ich diesen neuen Bluttest, der nach Veränderungen im kindlichen Erbgut sucht, überhaupt gemacht. Bei Trisomie 13 oder 18 hätte ich abgetrieben. Ich hätte es nicht ausgehalten, neun Monate lang ein Kind in mir zu tragen, um es dann zu begraben.
Ich fragte: «Trisomie 21, das ist Down-Syndrom, nicht wahr?» Ich wusste das eigentlich, aber ich musste es hören. Ich bat die Frau, mir das Ergebnis zuzuschicken. Ich musste es lesen.
Ich bin die Treppe hinaufgegangen, stumm, habe aus dem Fenster geschaut. Der Weg in die Weinberge, eine Kapelle, gelb verputzt. Ich war zu Besuch im Haus meiner Eltern, wollte mich ein bisschen verwöhnen lassen. Mein Vater kochte, Putenröllchen, umwickelt mit gebratenem Schinken. Wir waren nur zu zweit, meine Mutter lag im Krankenhaus wegen einer Augenoperation. «Mittagessen!», hörte ich meinen Vater von unten rufen. «Komm gleich!», rief ich zurück.
Ich muss Christoph anrufen, dachte ich. Er, der Vater meines Kindes, mein Mann, muss es vor allen anderen erfahren. Ich wählte seine Nummer, er ging nicht ans Handy. Wahrscheinlich, fiel mir ein, hatte er es bei der Arbeit auf lautlos gestellt.
«Essen!», rief mein Vater noch einmal, hektischer dieses Mal, ich hörte ihn mit den Pfannen klappern. Ich probierte es wieder bei Christoph, wieder und wieder, er nahm nicht ab. Ich wollte ihm eine SMS schicken, aber was sollte ich schreiben? Ich konnte ihm doch nicht simsen, dass sein Kind behindert sein wird. Aber ich musste mit ihm sprechen, jetzt. Ich tippte: «Dringend! Ruf mich an. Ergebnis Praena-Test». Senden. Und dachte: Jetzt habe ich es doch getan. Jetzt wird er verstehen, dass es nicht gut ausgegangen ist. Kein Rückruf.
Ich erzählte meinem Vater als Erstem von dem Befund. Mit hängenden Armen standen wir in seinem Arbeitszimmer, seltsam im Raum verteilt, mir war nicht danach, mich zu setzen. Eigentlich wollte ich auch nicht reden. Ich schaute ihn kaum an, starrte auf die Buchrücken im Regal. Er sagte: «Du wirst es genauso lieben.» – «Ja», sagte ich.
Sein Satz überraschte mich. Es klang alles so klar. Klar, dass dieses Kind auf die Welt kommen würde, dass es ihm am Wichtigsten, der Liebe, nicht fehlen werde. Die Klarheit rührte mich. Hatte ich sie meinem Vater nicht zugetraut? Er war es doch gewesen, der meiner Oma, seiner Mutter, bunte Blumenbilder an die Wand gehängt hatte, als sie jahrelang, um Atem ringend, im Bett gelegen hatte, der mit ihr geredet, ihre Hand gehalten hatte, als wir anderen mehr und mehr verstummten angesichts dieses stöhnenden alten Menschen, der, begraben unter Deckenbergen, auf den Abend jeden Tages wartete. Ich ging zurück ins Gästezimmer, schloss die Tür.
Einloggen, anklicken, Anhang öffnen. Zum dritten Mal las ich das Dokument, das ich kurz nach dem Telefonat in meiner Mailbox vorgefunden hatte. Mein Blick glitt über die Felder, Name der Patientin, Einlingsschwangerschaft, da war es wieder, in Schwarz herausgehoben: «Ergebnis: außerhalb des normalen Bereichs», «Interpretation: Hinweis auf fetale Trisomie 21». An dieser Stelle hatte ich jedes Mal abgebrochen, wissend, dass eine Information noch fehlte. «Geschlechtsbestimmung erwünscht?», hatte auf dem in Großbuchstaben auszufüllenden Formular gestanden, das ich vor dem Bluttest unterschreiben musste. «Ja», hatten wir vor ein paar Tagen angekreuzt, aus Neugier. Doch wen interessierte das jetzt noch?
Ich scrollte die Seite hinunter. Ein paar Zeilen tiefer stand: «weiblich».
Christoph meldete sich ein paar Stunden später, seine Stimme klang normal, eine geschäftsmäßige Bürostimme, als er seine Entschuldigung voranstellte: Besprechung, nicht aufs Handy geschaut und so weiter. Ich sagte: «Down-Syndrom.» Stille. Er: «Echt?» An mehr erinnere ich mich nicht. Irgendwann sagte ich: «Es ist ein Mädchen.» Er: «Süß.» Die Zärtlichkeit blieb mir im Ohr, als wir auflegten. Den ganzen Nachmittag habe ich nicht geweint.
«Marja» – den Namen hatte ich eines Abends im Bett in die Dunkelheit geworfen. «Marja – wie findest du den?» – «Ja, nicht schlecht», sagte Christoph. Damals hatten wir noch keine Diagnose, ich fieberte dem Ende der zwölften Woche entgegen, dem ersten Etappenziel jeder Schwangerschaft. Damals feierte ich noch Marjas «zehnwöchigen Geburtstag» mit einem Kranz aus Strohblumen und einem Teelicht in der Mitte.
Christoph wünschte sich einen Sohn, dem er Skifahren beibringen könnte und schnitzen, mit dem er Segelflugzeuge basteln würde. Eine ganze Sammlung Matchbox-Autos, bestimmt 50 Stück, stünden noch zu Hause in seinem alten Kinderzimmer, hatte er mir erzählt. Also suchten wir einen Jungennamen. Tom gefiel mir oder Louis. Doch in Gedanken landete ich immer wieder bei Frauennamen, irgendetwas mit «a» sollte es sein. Solange ich mich erinnern kann, habe ich mir mein Kind als kleines Mädchen vorgestellt. Eine Zeitlang machte ich sogar meinen damaligen Lieblingsnamen für eine fiktive Tochter zum Codewort beim Telefon-Banking.
Vor dem Ergebnis des Bluttests fürchtete ich mich seltsamerweise nicht. Ich hatte ja schon genug Angst. Manchmal kam es mir vor, als hätte sich mit der Eizelle auch die Angst bei mir eingenistet. Schon am Tag unserer Hochzeit, eine Viertelstunde vor dem Einzug in die Kirche, hatte ich mit hochgerafftem weißen Spitzenkleid die Blutstropfen entdeckt. Ich wollte eigentlich nur ein letztes Mal die eingedrehten Locken im Spiegel überprüfen, Christoph war schon vorgefahren, unten im Hof wartete mein Vater mit dem geschmückten Auto, weiße Gerbera auf der Kühlerhaube, passend zum Brautstrauß, eine Überraschung für mich. Und ich stand in diesem winzigen Badezimmer, im teuersten Kleid meines Lebens, mit der teuersten Frisur meines Lebens, eine Blüte hinterm Ohr, und alle Freude war erloschen.
Ich stieg in das Auto meines Vaters. Wie sollte ich die nächste Stunde überstehen, die Blicke von achtzig Hochzeitsgästen, angereist aus ganz Deutschland, was sollte ich Christoph sagen? Nichts? Es war doch gerade erst drei Tage her, dass ich mit dem weißen Teststab in der Hand morgens ins Schlafzimmer gelaufen war und Christoph mir lachend, aufgeregt entgegengerufen hatte: «Treffer?» Treffer. Nach vielen Jahren Sehnsucht.
Vor der letzten Wegbiegung bat ich meinen Vater zu halten. Ich stand an der Kreuzung vor der Kirche, hundert Meter noch bis zur Treppe, bis zu meinem zukünftigen Mann und dem Pfarrer, und bemühte mich, nicht zu weinen, schon wegen der Wimperntusche. Da kam meine Freundin Doro, meine Trauzeugin, auf mich zugelaufen, im wehenden, meergrünen Kleid. Sie hatte sich schon gewundert, wo ich blieb. Sie sah mich an, hörte zu, sie wusste, wie sehr ich mich auf mein Kind freute. Noch am Morgen, als im Fenster des Schwangerschaftstests ein blaues Kreuz aufgetaucht war und der Stab im Badezimmerregal lag als gesichertes Beweisstück, hatte ich sie angerufen, auf dem Balkon stehend, in die Sonne blinzelnd. Noch einen Tag zuvor hatte Doro mir beim Sektempfang nach dem Standesamt augenzwinkernd ein Glas Orangensaft gereicht, nachdem sie meinen Prosecco heimlich hatte verschwinden lassen, gemäß unserem Plan, den anderen Gästen nichts zu verraten.
«Und wenn es jetzt weg ist?», fragte ich Doro. Sie sagte: «Manchmal kann man nichts machen. Manchmal muss man einfach vertrauen.» Doro – eine Frau, die seit Jahren mit der Angst lebte, dass der Krebs sie ein zweites Mal heimsuchen würde.
Christoph meinte später, er habe gleich gesehen, dass etwas nicht stimmt. Noch bevor ich es ihm ins Ohr flüsterte und wir gemeinsam die Kirche betraten.
Am ersten Morgen nach dem Anruf der Humangenetikerin habe ich meinem Kind seinen Namen gegeben, still, für mich. Auf einmal fand ich, dass mein Kind einen Namen verdient hatte, egal, ob es sterben oder leben sollte.
«Marja.» Ich spreche ihn aus, heute am Frühstückstisch in Christophs Wohnung. Wir sitzen uns gegenüber, unsere Hochzeitskerze brennt. Nur an besonderen Tagen dürfen wir sie anzünden, haben wir uns geschworen. Sie muss schließlich noch ein paar Jahrzehnte halten. Noch einmal die Frage an Christoph: «Gefällt er dir?» Marja – früher hatte ich mir vorgestellt, der Name gehöre zu einer etwas geheimnisvollen, klugen Frau mit dunklen Augen, ich fand den Namen besonders, ich sah Marja als Schriftstellerin oder Künstlerin.
«Meinst du, der Name passt auch zu einem behinderten Mädchen?», frage ich Christoph. Er sagt: «Natürlich. Warum soll sie jetzt plötzlich Pfiffi heißen, nur weil sie behindert ist?» Ich schäme mich wieder. Ja, warum meine ich, dass Marja zu schön, zu vielversprechend, zu verheißungsvoll wäre für meine Tochter mit Down-Syndrom? Seitdem ist Marja bei uns.
Bei Wikipedia lese ich unter Down-Syndrom: «Nach der pränatalen Diagnose trugen 90 Prozent der Mütter ihr Kind nicht aus.» Laut einer anderen Studie trieben sogar 94,5 Prozent der Frauen ab. Christoph sagt: «Ich wäre stolz, zu den anderen fünf Prozent zu gehören.»
Ich liebe ihn für seine Liebe zu unserem Kind. Aber da ist auch etwas, das mich wütend macht. Wer denn die Tage bei Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie verbringen würde, er oder ich?, frage ich. Wer denn vielleicht nur noch Teilzeit arbeiten könne, er oder ich? Wer denn um seinen alten Job, sein altes Leben kämpfen müsse, er oder ich?
Mit Moral allein kämen wir nicht weiter, sage ich.
Christoph und ich sind erst seit zwei Monaten verheiratet, kennen uns erst seit anderthalb Jahren. Wir haben noch nie zusammengewohnt, arbeiten in verschiedenen Städten, über 500 Kilometer voneinander entfernt. Jeder hängt an seinem Job und bekommt so schnell keinen anderen guten, zumindest keinen, der einem so sehr gefällt. Wie soll das alles gehen? Schon mit einem gesunden Kind wäre es schwierig geworden, aber machbar, das habe ich immer geglaubt. Ich fand nie, dass Kitas böse Orte sind, gebaut für schlechte Mütter. Nach einem Jahr hätte ich wieder angefangen zu arbeiten, und irgendwie hätte sich der Rest schon ergeben.
Aber jetzt? Darf man mit behinderten Kindern umziehen? Mehr als einmal? Gerade Kinder mit Down-Syndrom bräuchten feste Strukturen und Rituale, habe ich gehört. Wie verkraften sie es, wenn man ihnen alles Gewohnte nimmt? Oder sie zwischen zwei Kinderzimmern pendeln müssen, quer durch Deutschland? Nur, weil mir meine Arbeit wichtig ist. Ein bisschen spüre ich das schlechte Gewissen schon jetzt. Und auch den Ärger. Warum reden wir eigentlich nur über mich? Wie sich meine Karriere mit einem behinderten Kind vereinbaren ließe. Ob meine Karriere dem behinderten Kind schaden könnte. Wir haben doch beide viel für unsere Jobs getan. Müssen wir nicht auch beide bereit sein zu verzichten? Ist es nicht leicht, der gute Mensch zu sein, der Abtreibungsgegner, wenn man selbst gar nicht so viel ändern muss?
Mit der Diagnose «Down-Syndrom» werde ich eine «medizinische Indikation» für einen Abbruch bekommen. Deswegen gilt die übliche gesetzliche Frist für mich nicht. Ich dürfte also auch nach der zwölften Woche nach Empfängnis abtreiben, wenn sich nur so «die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands der Schwangeren» abwenden ließe. Das wusste ich vorher nicht. Es zählt nicht, was bei meinem ungeborenen Kind festgestellt wurde. Es zählt, was das für die Mutter bedeutet.
Meine persönliche Fristenregelung diktiert der zu erwartende Horror. Genauer gesagt, die Hoffnung, der Schrecken ließe sich eingrenzen. Bloß nicht tot gebären müssen, denke ich.
Wenn, dann soll mein Frauenarzt einen «operativen Abbruch» machen. Wenn Abtreibung, dann schnell. Mit jedem Tag, der vergeht, wächst mein Kind in mir, wird es noch schwerer.
Steif und stumm liege ich im Bett, erschlagen von einer Zukunft, die ich nicht will. Jeden Morgen nach dem Aufwachen liege ich so da. Kann mich nicht rühren, als habe mein Körper jede Bewegung verlernt. Nur im Zustand der Kälte, des inneren Erfrierens, kann ich über einen Abbruch nachdenken. «Abbruch» sage ich, wenn ich im Zustand der Kälte bin. «Abbruch» klingt neutral. Man bricht etwas ab, das sich als Fehler herausgestellt hat. Man bricht etwas ab, weil es vernünftig ist. Es ist nicht so schlimm, nur der Abbruch von etwas Unfertigem. Im Zustand der Wärme wähle ich andere Worte. Dann ist da ein Aufschrei: «Ich kann doch nicht mein Kind töten!» – «Ach, töten», sagte mein Vater mal. Hilflos, abwehrend.
Am Anfang, als wir alle noch nichts wussten, da gab es zum Mittagessen immer Gemüse und Scherze. «Für deine 12 Millimeter», sagte mein Vater grinsend, wenn er mir einen neuen Berg Brokkoli auf den Teller schaufelte. «Viel Eisen!» Und als ich meiner Mutter erzählte, es habe ausgesehen, als winke mir dieser Winzling beim Ultraschall zu, da bat sie darum, mitkommen zu dürfen zum nächsten Arzttermin.
Noch vor drei Wochen, als Christoph und ich gerade eine Wohnung besichtigt hatten, unsere erste gemeinsame, und uns dann für eine entschieden, die uns praktisch und familientauglich erschien – all das, wofür ich sie ein paar Jahre zuvor noch verachtet hätte –, als also klar war, mein nächster Umzug würde einer rituellen Passage gleichen, aus einer Altbauwohnung mit Stuck in ein Mehrfamilienhaus mit Trockenraum im Keller, Abstellfläche für den Kinderwagen und Spielplatz am Ende der Straße, als es uns als Zeichen der Reife erschien, über die hässlichen, goldenen Wasserhähne im Bad und das Waschbecken in Muschelform hinwegzusehen und uns stattdessen über die neuen französischen Obermieter mit Baby zu freuen, über das helle Kinderzimmer und die Erlaubnis, meinen Jack-Russell-Terrier mitzubringen, noch gar nicht lange ist es her, da hatte meine Mutter mir gesimst: «Wie geht es meinem Hunde-Enkelkind? Und vor allem meinem Menschen-Enkelkind?» Vor drei Wochen war das noch eine arglose Frage. «Frida schleppt zufrieden Knochen durchs Wohnzimmer. Bauch macht Probleme», schrieb ich zurück. Ein Ziehen im Unterleib. Ich solle mich bloß schonen, trug meine Mutter mir auf.
Und jetzt?
Die Klarheit des ersten Satzes, den mein Vater am Tag aussprach, als wir die Diagnose erfuhren: «Du wirst es genauso lieben», diese Klarheit ist dahin. Die Worte meiner Eltern haben die Farbe gewechselt. «Lebenslange Verantwortung», «diese Belastung», «wird nie selbständig sein», sagen sie jetzt. Worte, die nachhallen. Lebenslang klingt wie lebenslänglich.
Auf einmal scheint es, als sei alles eine theoretische Kosten-Nutzen-Rechnung. Lösung A und Lösung B – und die bessere Lösung liegt doch auf der Hand. Natürlich sprechen sie es nicht aus, nicht mein Vater und nicht meine Mutter, aber ich meine, das Ungesagte zu hören: Wie kann man sich denn für ein behindertes Kind entscheiden statt für ein gesundes? Als ob beide Modelle auf dem Wühltisch des Lebens lägen und man nur wählen müsste.
Niemand, außer Christoph und mir, lebt mit der Gegenwart unseres Kindes. Das macht uns so einsam.
Ihr seien die Tränen gekommen, hat mir meine Mutter erzählt. Ich hatte sie im Krankenhaus angerufen, irgendwann in den Stunden nach der Diagnose, und als wir auflegten, da konnte sie nicht anders, so sagt sie, als es ihrer Bettnachbarin zu erzählen, weinend. Mittlerweile ist sie auf Distanz gegangen, nicht zu mir, nein, zu diesem Wesen in meinem Bauch, und wahrscheinlich weiß sie auch nicht, wie das funktionieren soll, diese Unterscheidung.
Sie ist ja gestern zusammen mit mir in meine alte Stadt gefahren, hat sich mit mir ins Wartezimmer meines Gynäkologen gesetzt. Man müsse sich das Kind ansehen, hatte dieser mehrmals gesagt, als ich ihn von Christophs Wohnung aus anrief. Verstanden hatte ich den Satz nicht. Was will er denn schauen? Behindert wird das Kind doch ohnehin sein. Aber die Vorstellung, den Arzt zu treffen, der mich seit Jahren kennt, statt in einer fremden Stadt in irgendeine Praxis zu laufen, beruhigte mich.
Gleich am nächsten Tag, nachdem die Mitteilung der Humangenetikerin in die fast servierfertigen Putenröllchen geplatzt war, hatte mein Vater einen Masterplan gegen die Verzweiflung entworfen. Morgens um 7.58 Uhr schickte er mir eine E-Mail, Betreff: «Gedanken». Wahrscheinlich wollte er uns nicht stören bei Christoph zu Hause, deswegen die schriftliche Form, zugleich aber sichergehen, dass er seinen Plan in Gänze vortragen kann. Er werde mir gern beim Umzug in die neue Wohnung helfen, schrieb er. Er könne Winterkleidung im Koffer mitnehmen, kleine Kartons einladen, Speditionen organisieren, die Terminabsprache übernehmen, eventuell ließe sich der Mietbeginn vorziehen, nicht erst Mitte Dezember, sondern früher.
Mietbeginn, Speditionen, Terminabsprache, es rauschte alles an mir vorbei. Es gibt keine wichtigen Termine mehr. Ende des Plurals. Es gibt nur noch eine Entscheidung und – vielleicht – einen Termin.
Ich glaube, ich verstehe, was meinen Vater treibt. Natürlich will er uns die praktischen Dinge abnehmen, aber er will auch, dass Christoph und ich jetzt näher zusammenrücken, zusammen sind, in einer Wohnung, in einer Stadt, dass die Nachricht, die alle Träume sprengt, nicht auch das neue Leben seiner Tochter sprengt, seine Tochter nicht allein irgendwo sitzt, allein mit einem behinderten Kind im Bauch oder allein, ohne Kind im Bauch, ein gemeinsamer Wohnungsschlüssel als Schutz. Aber ich kann keinen Schritt mehr tun, die Gegenwart ist übermächtig.
Ich solle, schrieb mein Vater weiter, unbedingt einen zweiten Bluttest machen, «zweiten» fett gedruckt, «alles, was möglich ist», «egal, was es kostet». 500 Euro war ihm die Hoffnung wert, dass eine Laborantin die Proben vertauscht hatte. Oder dass der Test auffällig ist, das Kind aber normal. Auch das kommt manchmal vor, hatte ich gelesen. Der Hersteller spricht von «sehr seltenen Fällen», in denen das Ungeborene doch nicht betroffen sei. Mein Frauenarzt sagt, in seiner Praxis habe er so etwas noch nie erlebt. Auf dem Zettel mit dem «Hinweis auf eine fetale Trisomie 21» steht, es werde «zur Absicherung des Testergebnisses eine weitere ärztliche Abklärung, üblicherweise in Form einer invasiven Diagnostik, dringend empfohlen». Invasiv wäre zum Beispiel eine Fruchtwasseruntersuchung. Aber ich will keine Nadel im Bauch.
Der neue Test heißt «Harmony». Das Päckchen mit meinem Blut habe ich gestern selbst zur Post gebracht. Wieder muss ich warten, während die winzigen Bruchstücke des Erbguts meines Kindes analysiert werden.
Jahrelang war mein Kind ein Traum, der mich begleitet hat. In der Fernbeziehung ist Schwangerwerden nicht nur eine Frage der Liebe, sondern auch der Logistik: Wie bekommt man den ICE-Fahrplan, zwei Terminkalender und ein Smiley unter einen Hut? Das Smiley zeigt im Fenster des Teststabs aus der Apotheke die fruchtbaren Tage an. Die Antwort ist eine Nacht auf halber Strecke zwischen zwei Städten, am nächsten Morgen vom Bahnhof zur Arbeit, viel Kaffee, dann Spätdienst bis nachts um ein Uhr. Fortpflanzung war schon schöner. Aber einen Monat «ausfallen» zu lassen, hätte ich nicht fertiggebracht.
Ich ahnte, dass dieser Zyklus mürbe machen kann: blinkendes Smiley: «hohe Fruchtbarkeit», konstantes Smiley: «maximale Fruchtbarkeit», zwei Wochen später: maximale Enttäuschung. Trotzdem hatten sich selbst unsere Flitterwochen einer möglichen, herbeigewünschten Schwangerschaft unterzuordnen. Statt eines Fernflugs zu aztekischen Pyramiden buchten wir eine Schiffsreise nach Sizilien, Ferienhaus statt Zelt im Urwald. Wer weiß, vielleicht hätte es bis dahin schon geklappt.
Dann im September der richtige, entscheidende Teststab. Mehrere Tage habe ich ihn aufgehoben, habe versonnen auf die zweite Linie geschaut. Den Mutterpass vom Frauenarzt, pastellfarben, trug ich wie eine Auszeichnung nach Hause. Als ich las, dass Ärzte die Schwangerschaftswochen nach dem ersten Tag der letzten Regel berechnen, weil die wenigsten das Datum der Empfängnis wissen – außer mir natürlich –, freute ich mich. Man durfte also zwei Wochen draufschlagen: In der vierten Woche schwanger, das klang doch schon viel besser.
Ich war stolz, als mein Bauch wuchs. Christoph und ich haben die erste Wölbung fotografiert. Sogar auf meine Morgenübelkeit, die bei mir abends auftrat, war ich irgendwie stolz. Ich habe SMS von meiner Freundin Doro bekommen: «Brütest du gut?»
«Brüten» war über Wochen mein Lebensinhalt. Der ersten Blutung am Hochzeitstag war eine zweite, schlimmere gefolgt, am Ende eines langen, sonnigen Tages in Palermo, gleich am Anfang unserer Flitterwochen. Francesca, die Rezeptionistin im Hotel, hatte mir ein paar italienische Begriffe auf einen Zettel geschrieben: 1. Gravidanza, 1. Schwangerschaft, 5., 6. settimana, 5., 6. Woche, und dem Taxifahrer befohlen, uns in das Krankenhaus zu bringen, in dem sie selbst ihre Kinder geboren hatte.
Und der Taxifahrer war vorangestürmt ins obere Stockwerk der Klinik, den Gang hinunter, vorbei an einer gebeugten Hochschwangeren im rosa Bademantel und ihrem Mann in Stahlkappenschuhen, von der Baustelle zum Kreißsaal beordert, vorbei an Großmüttern, Tanten, Schwägerinnen, Kindern, die mich neugierig musterten, war bis zum Ende des Flurs geeilt, wo der Zigarettenrauch eines nervösen, werdenden Vaters zu den werdenden Müttern hinüberzog, hatte einen Arzt gefunden, mit dem Zettel gewedelt, und als ich endlich auf dieser italienischen Liege lag und stammelte: «Bambino, si?», und die Ärzte lächelnd nickten, da hatte ich geschworen, ich würde ihrer strengen Anweisung folgen und liegen. Liegen und nicht aufstehen, nicht wandern, nicht im Mittelmeer schwimmen. Liegen, damit ich auch das nächste Mal, wenn mich ein Großmütterchen auf der Geburtsstation fragt: «Tutto bene?», strahlen und mich über ihr Armtätscheln freuen könnte. Noch nicht einmal mit dem Auto ins Dorf fuhr ich, weil ich fürchtete, dass mich der Weg übers Kopfsteinpflaster zu sehr durchrütteln würde. Zur Belohnung sah ich am Ende unserer Flitterwochen Marjas Herzschlag.
Ich lag verbissen und tapfer und ein bisschen im Selbstmitleid. Zurück in Deutschland, harrte ich, ärztlich verordnet, weitere Wochen auf Christophs Sofa aus. Draußen goldenes Herbstlicht, drinnen ich, allein mit dem Schokopudding. Ich schaute mir die erste Staffel von «House of Cards» an, und als ich mit der fertig war, die zweite. Dabei hoffte ich, dass dieser große dunkle Fleck, den man im Ultraschall sehen konnte, ein Hämatom in der Gebärmutter, endlich verschwinden würde.
Das Wesen in meinem Bauch nannten wir den «kleinen Mafioso», einen Sizilianer, der uns die Flitterwochen versaut hatte, der es blutig mag. Zum Geburtstag schrieb ich Christoph eine Kindergeschichte. Es war die Erzählung von einem Embryo, der in den illegalen Nährstoffhandel verwickelt ist. Ein Kleinkrimineller, der sich über wöchentliche Wachstumsvorgaben beklagt und seine Vermieterin erpresst: Orthomol oder Leben.
Fast fünfzig Euro kostet diese Packung mit den bunten Tabletten, Omega-3-Fettsäuren für die Entwicklung des Gehirns, Eisen für die Zellteilung, Calcium für die Knochen, Folsäure gegen den offenen Rücken, ich kaufe sie jeden Monat. Auf die rote Mappe aus Pappkarton, in der ich die Arztbriefe aus Palermo aufbewahrte, jeder versehen mit einer «Minaccia d’aborto» in Großbuchstaben, einer «drohenden Fehlgeburt», schrieb ich: «Bambino».
Warum können andere Schwangere einfach normal weiterleben?, dachte ich damals. Ich würde neun Monate liegen, wenn ich dafür ein gesundes Kind hätte, denke ich jetzt.
Heute ist mein Geburtstag. Meine Mutter hat mir einen Massage-Gutschein geschenkt – Massage, der einzige, erfüllbare Wunsch, der mir einfiel. Sie hätte mir so gern eine Kerze angezündet, einen Gabentisch gemacht, hatte sie gesagt. Aber ich will gar nicht merken, dass heute ein besonderer Tag ist. Das Handy habe ich weggelegt aus Angst vor Gratulanten. Lasse alle auf die Mailbox sprechen. Laufe durch meine Wohnung, Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer und wieder zurück. Christoph muss arbeiten, am anderen Ende von Deutschland. Ich habe um 10.30 Uhr einen Termin bei einem Ultraschallspezialisten.
Alle Werte, die der Spezialist misst, sind im Normbereich, von der Scheitelsteißlänge über die Nackentransparenz bis zum Abdomenumfang. Nasenbein «darstellbar», Plazentastruktur unauffällig, Fruchtwasser unauffällig, Schädel unauffällig, insgesamt eine «sonographisch unauffällige Entwicklung». Bisher zumindest, Herzfehler sieht man oft erst später. Auf seinem Arztbrief steht auch das sogenannte «Hintergrundrisiko» für eine Trisomie 21. Es beträgt 1:109. Das bedeutet: So groß ist die Wahrscheinlichkeit bei einer 39-jährigen Frau, dass sie ein Kind mit Down-Syndrom bekommt. Ich bin seit heute 39 Jahre alt, und ich weiß, dass es bessere Zahlenverhältnisse gibt. Doch wenn mir früher jemand gesagt hätte, so sei meine Chance, einen Preis zu gewinnen, die schönste Wohnung zu bekommen oder die Stelle, auf die sich 109 Leute bewerben – ich hätte nicht geglaubt, dass gerade ich diejenige sein würde.
Als er fertig ist, sagt der Arzt, wenn er nicht von dem Ergebnis des Bluttests bei der Humangenetikerin wüsste, hätte er heute keinen Verdacht geschöpft. Wenn man die eben untersuchten Ultraschallmarker miteinrechne, sei mein Risiko sogar noch sehr viel geringer als diese 1:109.
Ich: «Aber wenn es so unwahrscheinlich ist …»
«Nützt alles nichts, solange irgendwo eine Eins steht.»
Der Bluttest behauptet: Ich bin die Eins.
Ich muss an den Arzt von gestern denken. 80 Prozent der Eltern von behinderten Kindern trennten sich, hatte er mir mitgeteilt, ungefragt, als ich auf seiner Liege lag. Ich frage mich, wie mein Leben wohl sein wird in zehn Jahren. Wie viele Männer würde ich noch kennenlernen, geschieden, alleinerziehend, berufstätig, Ende vierzig, mit einer behinderten Tochter?
Vor gerade mal zwei Monaten standen wir noch vor dem Altar, und jetzt denke ich über Scheidungsraten nach. Als wir in Sizilien gemeinsam darum bangten, dass wir unser «Bambino» nicht verlieren, hat uns das noch mehr aneinander gebunden. «Christoph ist ganz lieb für mich da», simste ich meiner Mutter aus Palermo, als wir vom Krankenhaus in unser Hotel zurückgekehrt waren. «Habe den richtigen Mann geheiratet.» Kann ich daran glauben, dass wir zu den anderen 20 Prozent gehören werden?
Habe der evangelischen Pfarrerin, die wir vor der Hochzeit kennenlernten, eine E-Mail geschrieben. «Ich weiß nicht, was ich machen soll, Christoph will das Kind unbedingt behalten. Allerdings läuft es realistischerweise darauf hinaus, dass die Hauptbelastung bei mir liegt … Ich wollte fragen, ob ich Sie treffen könnte für ein Krisengespräch. Hätten Sie Zeit? Heute oder Mittwoch oder Donnerstag?»
Ich will keine theologischen Fragen erörtern. Ich weiß, sie ist eine praktisch veranlagte Frau, selbst Mutter von zwei Kindern, eine Frau, die ihre Arbeit in der Kirche liebt, sich die Haare rot färbt und einen winzigen silbernen Knopf im Nasenflügel trägt.
Im Sommer saßen Christoph und ich mit ihr im Garten des Gemeindehauses, auf einer sonnenbeschienenen Rasenfläche, jetzt sind die Bäume kahl, ich bin allein gekommen und sage: «Ich habe Angst, dass ich mein Leben nie wieder zurückkriege.»
Die Pfarrerin beruhigt. Die ersten zwei Jahre seien auch nicht anders als bei Kindern ohne Behinderung. Die Tochter einer Freundin sei mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen in eine WG, betreutes Wohnen.
Ich höre mir selbst zu. Was für eine Mutter spricht da, die panisch überlegt, wo sie ihre noch ungeborene Tochter später abgeben kann? Aber will ich denn mehr als andere? Ich will doch nur ein normales Leben mit Familie, Job, Freunden, Freizeit, das, was alle Mütter haben, die ich kenne – und alle Väter.
Es ist doch schon schwierig genug in Deutschland, berufstätig zu sein und ein Kind ohne Down-Syndrom großzuziehen. Ich habe es ja bei meinen Freundinnen gesehen, die abends, wenn die Kinder im Bett sind, noch einmal anfangen zu arbeiten und bis spätnachts E-Mails beantworten, Exposés fertigstellen, um frühmorgens als Erste alle zum Zähneputzen zu treiben, Schnürsenkel zu binden, Brote zu schmieren oder noch schnell eine Schwarzwälder Kirschtorte vor der ersten Konferenz, die man selber leitet, zu backen.
«Bringen Sie Christoph doch noch einmal mit», sagt die Pfarrerin. Jetzt am Wochenende wird er in meine Stadt kommen.
Bevor ich gehe, erzählt die Pfarrerin, dass sie sich als zweites Kind so sehr ein Mädchen gewünscht habe, so sehr. Als die Ärztin ihr mitteilte, sie habe im Ultraschall eindeutig einen männlichen Fötus gesehen, setzte sie sich hin und schrieb der Tochter, die sie nie haben wird, einen langen Brief. Sie wollte, sagt sie, Abschied nehmen. Damit sie sich wirklich auf ihren jüngsten Sohn freuen kann.
Bei der Geburt gratulierte ihr die Hebamme zu einem gesunden Mädchen. Die Ärztin hatte sich getäuscht.
Kann es sein, dass sich alles noch in Luft auflöst? Und wenn nicht, wie kann ich Abschied nehmen?
Mein eigenes Kind ist mir fremd geworden. Ich denke: Sie wird aussehen wie andere Behinderte. Sie wird nicht meine Augen haben. Ihr Gesicht wird breit sein, weich. Nicht wir, ihre Eltern, werden sie prägen, sondern ein dreifach vorliegendes Chromosom. Ich denke nur noch in Sätzen, in denen das Wort «nicht» vorkommt. Ich werde ihr nicht meine Büchersammlung vererben. Wir werden nicht über Weltpolitik reden. Wenn ich alt bin, wird sie sich nicht um mich kümmern. Wir werden nicht Großeltern werden. Die Vorstellung, dass Marja mit 40, 50 Jahren dement werden könnte, macht mich fertig. Von einer möglichen frühen, alzheimerähnlichen Demenz hatte ich gelesen. Das Letzte, das ich vor meinem Tod erleben werde, ist, dass mein Kind, um das ich mich jahrzehntelang gekümmert habe, mich nicht mehr erkennt.
«Wenigstens wird sie nicht rechtsradikal oder drogenabhängig», sagt Christoph. Stimmt, aber das wäre meine Tochter ohnehin nicht geworden, denke ich, meine Tochter doch nicht.
Manchmal durchzucken mich Gedanken, die ich mir selbst nicht zugetraut hätte. Mein kleines Mädchen später hübsch anzuziehen, kommt mir plötzlich sinnlos vor. Als wollte ich meine Tochter verkleiden, um sie in ein normales Kind zu verwandeln. Ein hilfloser, durchsichtiger Versuch, sie an eine vorgestellte Tochter anzugleichen. Dabei bleibt sie doch behindert, egal, wie süß sie aussieht.
Es ist so schwer, sich von den Bildern zu verabschieden. Die Frage ist, ob ich von meinem Kind Abschied nehmen will, weil ich nicht von den Bildern von meinem Kind lassen kann. Sind mir die Bilder im Kopf wichtiger als das Kind im Bauch?
Ich denke häufig über ein Foto von unserer Hochzeit nach. Ich, im Brautkleid, beuge mich hinunter zu dem Sohn unserer Freunde, der seine Arme um mich schlingt, in meiner Hand ein selbst gepflückter Blumenstrauß aus dem Garten, sein Geschenk. Paul ist sechs Jahre alt und hat das Down-Syndrom. Damals wusste ich seit drei Tagen von Marjas Existenz.