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»Ein wunderschöner und poetischer Roman von großer Intensität.« Sophie Bonnet
Als die Journalistin Emilia Lukin bei einer Auktion das Gemälde einer jungen Frau entdeckt, meint sie in ihr eigenes Spiegelbild zu blicken. Kann es sich um ihre Großmutter Sophie handeln? Um deren extravagantes Künstlerleben im Paris der 1930er-Jahre ranken sich wilde Gerüchte, Emilias Mutter Pauline aber hüllt sich in Schweigen. Emilia lässt das traurige Lächeln auf dem Porträt nicht mehr los, und so folgt sie dessen Spuren in die Provence und nach Paris. Dabei gerät sie tief in die Geschichte einer leidenschaftlichen Frau, deren Leben auf geheimnisvolle Weise mit ihrem verknüpft ist.
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Seitenzahl: 498
Das Buch
Wer war Sophie Langenberg, die in den 1930er-Jahren nach Frankreich ging und in den Kreisen der Surrealisten lebte und liebte? Sie hinterließ ein eisiges Schweigen in ihrer deutschen Familie, eine schmerzhafte Lücke im Leben ihrer Tochter Pauline und Enkelin Emilia, die sie nie kennenlernten. Das Auftauchen von Sophies Porträt, das Emilia zum Verwechseln ähnelt, wirbelt die familiäre Verdrängung auf. Antworten sucht Emilia in der Provence: in einem verbarrikadierten Atelier, in leidenschaftlichen, an Sophie gerichteten Liebesbriefen und in den rätselhaften Erinnerungen eines alten Freundes. Doch während Emilia in die Biografie ihrer Großmutter eintaucht, merkt sie nicht, wie sie auf der Suche vor ihrem eigenen Leben davonläuft …
Die Autorin
Bettina Storks, geboren 1960 in Waiblingen, studierte Germanistik, Deutsche Philologie sowie Kulturwissenschaften und promovierte an der Universität Freiburg. Nachdem sie mehrere Jahre als Redakteurin tätig war, veröffentlichte sie ihre Romane Das Haus am Himmelsrand und Die Stimmen über dem Meer. Bettina Storks lebt in Bodman-Ludwigshafen am Bodensee.
Bettina Storks
DAS
GEHEIME
LÄCHELN
Roman
Die Wölbung deiner Augen
umkreist mein Herz,
ein Rund von Tanz und Milde,
ein Lichterkranz der Zeit,
eine nächtliche sichere Wiege.
Und wenn ich nicht mehr alles weiß,
was ich erlebt habe, ist es, weil deine Augen
mich nicht immer im Blick gehabt haben.
Paul Éluard, 1926
Für Sanny
PROLOG
Paris, 8. September 1939
Paris erwacht.
Während die Stadt ihre Lungen füllt, ist er eingeschlafen. Eben hat er noch geredet. Dann ist er verstummt. Mitten im Satz. Wenn der Morgen naht, bricht der plötzliche Tiefschlaf über ihn herein wie ein immer wiederkehrendes Naturereignis.
Sie zählt seine Atemzüge. Hört sein kräftiges Herz schlagen. Aus den engen Häuserschluchten des Quartier Latin dringt ein Lachen zu ihr hinauf. Der Rhythmus der Schritte auf dem Kopfsteinpflaster verhallt als Echo weit über den Dächern der Stadt. Die Silhouette der Schornsteine im Morgengrauen noch schwarz wie ein Scherenschnitt.
Sie kennt den Geruch von Paris an einem wolkenlosen Winterhimmel. Den Duft von Neuschnee auf der Place des Vosges. Blumen im Jardin du Luxembourg, die nach einer kühlen Frühlingsnacht ihre Knospen öffnen. Das Jubeln der Kinder an einem Sommertag. Das Herbstlaub in betörenden Farben.
Vorsichtig schiebt sie die Bettdecke zur Seite. Mit den Fingerspitzen tastet sie die Bettkante ab und schleicht nach nebenan in die verwinkelte Küche unter dem Dachgiebel. Hier sind die schrägen Wände kaum höher als sie. Der Boden knarzt. Seit Jahren nagen die Holzwürmer an dem alten Bauwerk. Man kann sie nicht sehen. Aber sie sind da.
Sie lehnt ihre Stirn an das kühle Fensterglas und sieht hinunter auf die Straße. Der Regen hat nachgelassen. Die Laternen werfen ihr mattes Licht auf den glänzenden Asphalt.
Wie im Glücksrausch scheint die Zeit vergangen, seit sie einander begegnet sind. Ein Jahr. Eine Woche. Eine Stunde. Eine Nacht. Ein vorbeiziehender Vogelschwarm.
Manchmal hat sie jedes Zeitgefühl verloren. Nur der Klang vertrauter Geräusche, der Duft bekannter Farbessenzen geben ihr Sicherheit. Das klare Licht des Nordens. Und sein Blick.
Die Wölbung deiner Augen umkreist mein Herz.
Wenn man das Unausweichliche akzeptiert, wird es leichter. Unten an der Ecke zur Rue de Seine läuft ein Pärchen Schlangenlinien. Eng umschlungen verschwindet es in der Nische – genau dort, wo ein Löwenkopf über dem Eingang wacht.
Nebenan wartet das kleine Concierge-Häuschen auf Madame Tourage. Tagein, tagaus führt sie hinter einer winzigen aufziehbaren Glaswand ein strenges Regiment und verwehrt Eindringlingen den Zutritt.
Hand in Hand schlüpft das Paar wieder hinaus auf die Straße und geht weiter, bis es die Dämmerung verschluckt. Die menschenleere Stadt beherbergt eine gespenstische Stille.
Ein Lichterkranz der Zeit.
Sie drückt ihre glühende Wange gegen die kühle Fensterscheibe. Vom ersten Augenblick an liebte sie diesen magischen Pariser Morgen zwischen vier und fünf Uhr. Lange bevor sie wusste, dass er existierte.
Es gibt Tage, an denen sie sich darüber wundert, dass die Sonne jeden Morgen von Neuem aufgeht. Hinter der Kathedrale Notre-Dame.
Es gibt Tage, da traut sie ihren Augen nicht. Könnte sie doch die Wirklichkeit messen, einen Beweis für ihren Platz in der Welt finden. Eine Landkarte mit verlässlichen Routen zu ihrem Ich.
Leise geht sie zurück zum Bett und schiebt ihre kalten Füße unter die Decke. Er flüstert ihren Namen. Sie liebt es, von ihm beim Namen genannt zu werden. Sie wird ihm alles sagen. Heute Abend. Morgen vielleicht. Später. Nicht jetzt.
Gleich wird es vorbei sein.
Er wird aufstehen und sich umsehen, auf einem Bein hüpfend in seine Hosen steigen, fluchend die alten Zeitungen zerknüllen, danach Kohlen in den Schlund des Ofens schieben und sich die Hände reiben, während die düsteren Nachrichten von gestern Feuer fangen. Schwarzer Rauch wird über den Dächern der Stadt aufziehen, bis ihn der Wind am Horizont verwischt.
Kurz bevor er in den kalten Morgen hinausgeht, wird er, mit hochgezogenem Kragen, einen letzten Blick auf das Bett werfen. Wie ein Sünder, der seine Schuld flüchtig streift.
Verlangen vergeht, wenn man nicht zurücksieht.
Sie wird es ihm leicht machen und die Augen geschlossen halten. Tun, als schliefe sie. Hinter ihm wird die Tür ins Schloss fallen. Aus den Häuserschluchten wird das Klacken sich entfernender Schritte zu hören sein.
Sie wartet bis auch der letzte Ton in ihrem Herzen verklingt.
Nur ein Traum?
Auf den Schornsteinen gegenüber versammeln sich die Vögel wie Vorboten einer dunklen Zeit. Sie gleiten durch die Lüfte, landen auf den nahegelegenen Giebeln in der Rue de Seine, legen ihre Flügel an, recken ihre Hälse und warten. Der erste hebt ab. Die anderen folgen. Weithin sind ihre Rufe zu hören. Gemeinsam bilden sie eine Formation am Himmel wie eine gesprenkelte Amöbe.
Dann ist es so still, als hätte selbst der letzte Vogel die Stadt verlassen.
EMILIA
1
Die Hitze flirrte über dem Asphalt. Schwüle Wärme steckte in den Gassen fest wie Zement.
Wo Emilia lebte, war es normalerweise anders. Luftiger. Leichter. Ein Hauch von Wind.
Gleich hinter dem Garten schlängelte sich der Oosbach, über den eine kleine Brücke führte, die in einen steilen Waldweg mündete. Von Emilias Fensterplatz aus am Schreibtisch sah sie genau dorthin. Der Ooswinkel im Westen Baden-Badens war ein geborgener Ort.
Sie stellte ihre Kaffeetasse ab, schaltete den Laptop an und band ihr volles Haar am Hinterkopf zusammen, während sie einen Blick auf ihre Pinnwand warf.
Verdrängtes ist nicht verschwunden. Es schläft in einem toten Winkel unseres Bewusstseins. Erwacht es, ist es gefräßig wie ein ausgehungertes Tier. Es nährt sich von unserem innigsten Wunsch zu vergessen.
Der Artikel, den sie vor einigen Tagen über das Vergessen gelesen hatte, hing dort. Die Sätze, die sie beeindruckt hatten, waren gelb markiert.
Sie nahm die Fotos für ihre Arbeit aus einer bereitliegenden Mappe. Für einen Auktionskatalog mussten Layout und Bildunterschriften angefertigt werden sowie deren Übersetzung ins Französische erfolgen. Ein schöner Auftrag, der sich auch lohnte.
An Tagen wie diesen genoss sie es besonders zu Hause zu arbeiten, nachdem sie etliche Jahre in klimatisierten Redaktionsräumen verbracht hatte. Sie bereute ihre Kündigung nicht. Es gab regelmäßige Magazin-Aufträge, und Emilia machte es nichts aus, weitaus weniger Geld als zu Zeiten ihrer Festanstellung zur Verfügung zu haben.
Lästige Konferenzen, die oft bis in die Abendstunden gedauert hatten, entfielen. Die hektische Schlussredaktion. Die letzten, eiligen Änderungen. Der Lärm in der Druckerei. Emilias Gewinn waren geöffnete Fenster und manche Arbeitsstunde im Garten unter der Linde. Sie bestimmte ihren Tagesablauf selbst, und Effizienz war eine Disziplin, in der sie schon immer gut gewesen war.
Emilia hatte sich für diese Freiheit entschieden. Sie lehnte sich zurück, nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und betrachtete die Fotos genauer: ein Sekretär aus dem 16. Jahrhundert, ein Frisiertisch, ein Vertiko, ein mit Rosenmotiven bemaltes Porzellanservice. Die Gegenstände des Auktionshauses in Colmar waren bereits in Kategorien eingeteilt: Mobiliar. Gemälde. Porzellan. Sonstiges.
Bei ihr zu Hause gab es nur wenige alte Möbelstücke. Nicht besonders wertvoll und nicht älter als hundert Jahre, aber Emilias Ehemann Vladi hing an ihnen wie an seinen beiden mittlerweile erwachsenen Söhnen. Fast wehmütig erinnerte sich Emilia daran, wie das Esszimmer vor über vierundzwanzig Jahren von einer Spedition geliefert worden war. Sie wusste das noch so genau, weil sie damals mit ihrem ersten Sohn Mischa hochschwanger gewesen war. Pünktlich wie Mischa, der exakt zum errechneten Geburtstermin an einem Wintertag nach kurzen, aber heftigen Wehen auf die Welt gekommen war, hatte das angekündigte Mobiliar von Vladis entfernter Verwandtschaft aus Russland vor der Tür gestanden. Gerade so, als brauche ein Neugeborenes mit russischen Wurzeln nichts dringender als einen Tisch aus glänzendem Kirschholz mit acht passenden Stühlen.
Inzwischen hatten sich die Möbel in das vorwiegend schlichte weiße Interieur mit den Sprossenfenstern eingefügt und verströmten das Flair eines Landhauses. Mehr als Vladi hatte Emilia schon immer allem Einfachen den Vorzug gegeben, und allein an der Echtheit maß sie den Wert eines Gegenstands. Das galt für vieles in Emilias Leben und ließ sich auch auf die Menschen, mit denen sie sich umgab, übertragen. Pompösen Glanz, der bei genauerem Hinsehen verblasste, ließ sie links liegen, zog ein frisches Bauernbrot mit gesalzener Butter einer Portion Kaviar vor und schätzte Menschen, die sich nicht verstellten oder vorgaben, ein anderer zu sein.
Sie schloss die Augen, massierte ihren Nacken und lenkte ihre Gedanken auf die Arbeit. Am besten würde sie mit der Beschreibung der Gemälde anfangen. Auf wie viele Zeilen würde sie sich beschränken müssen? Um einen Vergleich zu erhalten, schlug sie den aktuellen Katalog des Auktionshauses auf, zählte den Textumfang eines Landschaftsbildes und blätterte anschließend wahllos durch die Hochglanzseiten. Sie registrierte, dass morgen im benachbarten Elsass eine Versteigerung stattfinden würde.
Diese Art redaktioneller Arbeit war relativ neu für Emilia, trocken und spröde gegenüber ihrer früheren Tätigkeit als Redakteurin bei einem Frauenmagazin. Aufträge aus verschiedensten Bereichen hatten sie jedoch gelehrt, dass es keine Rolle spielte, worüber man berichtete. Ein gesellschaftliches Event. Die neueste todsichere Diät. Wie Alleinerziehende ihren Alltag managen. Das Sich-neu-Erfinden nach der Scheidung oder ein zur Versteigerung stehender Gegenstand. Am Ende war Journalismus eine Frage des Handwerks.
Ein halbes Arbeitsleben hatte Emilia in einer Redaktion verbracht, ohne je das Gefühl zu haben, am richtigen Ort zu sein. Rückblickend waren aus zwölf Monaten Volontariat im Handumdrehen zwanzig Jahre geworden. Zwei Jahrzehnte des schleichenden Prozesses der persönlichen Stagnation. Ein Preis, der ihr mit Ende vierzig zu hoch gewesen war.
Emilia fuhr zusammen, als ihr Handy klingelte. Ihr Sohn Mischa. Schon vor einigen Tagen hatte er sich für diesen Abend zum Essen angemeldet.
»Hallo, Mama.« Seine Stimme klang unbeschwert, fröhlich. »Ich wollte nur sagen, dass du mich nicht abholen musst. Papa sammelt mich direkt am Bahnhof ein. Wir sind dann kurz vor sieben zu Hause.«
»Prima«, erwiderte Emilia. »Dann muss ich hier nicht unterbrechen. Ich habe noch viel Arbeit.«
Mechanisch schlug Emilia eine Katalogseite um und überflog die Bilder.
»Bis heute Abend. Ich freue mich«, sagte Mischa.
»Ich mich auch.«
Emilia legte das Handy weg und blätterte weiter. Landschaftsgemälde. Stillleben. Porträts. Keines der Bilder gefiel ihr besonders, weshalb, vermochte sie nicht einmal zu sagen. Ein Junge im Matrosenanzug. Ein stattlicher Mann mittleren Alters mit einem verschmitzten Lächeln. Ein blondes Mädchen mit einer roten Schleife im Haar.
Mit einem Bleistift zählte Emilia die Zeilen der Bildtexte und notierte sich die Zahl. Als sie den Katalog schon zur Seite legen wollte, fiel ihr Blick auf ein Porträt. Die Abbildung war klein, der darunter stehende Text winzig. Um ein Haar hätte sie das Motiv übersehen.
Sie sah genauer hin und stutzte. Es handelte sich um eine junge dunkelhaarige Frau. Emilia tastete nach dem Vergrößerungsglas in der Schublade, ohne die Augen von der Abbildung zu lassen, nahm es heraus und blickte hindurch.
»Femme dans l’ombre – Frau im Schatten, vermutlich späte 1930er-Jahre«, hieß es im Untertitel.
Instinktiv hielt sie die Luft an. Sie ließ die Sehhilfe auf den Tisch sinken. Ihr Puls war beschleunigt. Es dauerte eine Weile, bis sie erfasste, was da vor ihr lag, als hätte ihr Herz schneller begriffen als ihr Verstand. Ihr war, als sehe sie in ihr eigenes Spiegelbild – genau so hatte sie als junge Frau mit zwanzig ausgesehen!
»Ist das möglich?«, flüsterte Emilia verwirrt. »1930er-Jahre? Sophie Langenberg?«
Eingehend betrachtete Emilia das Porträt. Über der rechten Gesichtshälfte lag ein Schatten, als habe sich beim Malen eine Wolke vor die Sonne geschoben. Eine Kette mit einem daumengroßen, tropfenförmigen Aquamarin in einer fragil gearbeiteten Fassung reichte bis zum Dekolleté. Die Porträtierte trug eine weiße Bluse, die am Schlüsselbein Falten warf. Der schlanke Hals, der blasse Teint ließen die geschminkten Lippen, die ein Lächeln andeuteten, hervortreten. Große, blaue Augen, die die leuchtenden Farben des Steins widerspiegelten, blickten mit einer Mischung aus Neugier, Verletzlichkeit und Stolz durch den Betrachter hindurch, als suchten sie nach etwas hinter der Fassade. Spielte da ein Hauch von Ironie um die Mundwinkel?
Die frappierende Ähnlichkeit zu ihr als junger Frau verblüffte Emilia. Der mandelförmige Schnitt der Augen, die hohen Wangenknochen, selbst die Grübchen um die Mundwinkel waren nahezu identisch mit ihren Gesichtszügen.
Bei der Abgebildeten musste es sich um ihre verstorbene Großmutter Sophie handeln – eine Frau, die Emilia nie kennengelernt hatte und um deren Leben und Sterben sich in der Familie Gerüchte rankten.
Gerüchte, die mit den Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln ausgestorben waren. Es hieß, Sophie habe sich nie an Konventionen gehalten und keinerlei familiäre Bindungen gekannt. Von einem einsamen, verpfuschten Leben war die Rede gewesen. Vom hohen Preis der Selbstbestimmung. Ein Leben, das in Frankreich geendet hatte. Geblieben war Emilias Mutter ein kleines Häuschen im Lubéron – ein letzter stummer Zeuge von Sophies Existenz. Emilia spürte, wie eine alte Neugier in ihr wiedererwachte, Fragen zurückkehrten, die in ihrer Kindheit von den Erwachsenen erstickt oder, was viel nachhaltiger gewirkt hatte, mit eisigem Schweigen beantwortet worden waren.
Mit zitternden Händen legte Emilia den Katalog zurück auf den Tisch. Sie stand auf, trat ans geöffnete Fenster, neigte ihren Kopf mehrmals zu beiden Seiten und massierte sich anschließend den Nacken.
Draußen ging eine leichte Brise. Die Blätter der Linde bewegten sich. Der Duft von Lavendel strömte vom Kräuterbeet vor der Häuserwand hinauf in die erste Etage. Gefolgt von Rosmarin und Zitronenthymian. Eine Idylle, die auf einmal einen stechenden Schmerz hervorrief.
Langsam ging sie zum Schreibtisch zurück, nahm den Katalog wieder auf und studierte die Fakten: ObjektNr. 23, Frau im Schatten, signiert von Paul-Raymond Fugin, nicht datiert, vermutlich 1930er-Jahre, Paris. 1200 Euro.
Der Name der Porträtierten fehlte.
Paris! Von dem wenigen, was Emilia über ihre Großmutter wusste, hatte sich Paris als bedeutsame Lebensstation in ihrem Gedächtnis fest verankert. Irgendwann nach dem Krieg hatte sich Sophie für immer von ihrer Familie abgewendet. Sophies Stiefbruder Arno und dessen Frau Hanne hatten Emilias Mutter großgezogen.
Ein kurzer Lebenslauf, der Emilias Kindheit begleitet hatte. An ihm haftete der Verrat wie klebriger Harz.
»Das muss Sophie sein«, sagte sie zu sich selbst.
Einen kurzen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, ihre Entdeckung mit Vladi zu teilen. Sollte sie ihn während seiner Feriensprechstunde an der Universität anrufen? Sie verwarf die Idee so schnell, wie sie gekommen war. Seit einem Fehltritt Vladis vor einigen Monaten war ihre Beziehung trotz einer langen Aussprache fragil. Während er sich bemühte, Emilias Vertrauen zurückzugewinnen, empfand sie ihm gegenüber Reserviertheit, Zurückhaltung. Je mehr sie vergessen wollte, desto intensiver war ihre Vorstellung von seinem Betrug. Sie malte sich alle Einzelheiten aus.
Verdrängtes ist nicht verschwunden. Es nährt sich von unserem innigsten Wunsch zu vergessen – der Auszug aus dem Artikel über das Vergessen kam ihr erneut in den Sinn.
Ihre Mutter Pauline einzuweihen war keine Option. Bei ihr musste sie bei Themen, die Paulines schwierige Biografie betrafen, besonders behutsam vorgehen. Pauline schien das von ihrem Elternhaus dominante Gen des Verdrängens geerbt oder zumindest derart verinnerlicht zu haben, dass ein Telefonat mehr aufwirbeln als klären würde. Hinzu kam ein labiler Seelenzustand, der sich in jüngster Zeit verschlimmert und all die Jahre in immer wiederkehrenden depressiven Schüben zeigte. Die letzten Zeugen, Arno und Hanne, waren längst tot.
Den ganzen Nachmittag verbrachte Emilia am Schreibtisch. Sie zwang sich, ihre Arbeit zu erledigen. Entwarf Texte für das Mobiliar, die Landschaftsbilder und ein vorläufiges Layout.
Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu dem Porträt. Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger glaubte sie an Zufälle – das Bild Sophies und die poetischen Sätze über das Vergessen verschwammen ineinander und ergaben einen Sinn. Nur welchen?
Emilia warf einen Blick auf die Uhr. In einer halben Stunde würden Mischa und Vladi hier sein. Für Mischas Lieblingsessen hatte sie alle Zutaten im Haus – ein Kindergericht, das sich schnell zubereiten ließ: Frische Tomatensoße mit Kräutern. Nudeln. Parmesan.
Gedankenverloren tippte sie bei Google Paul Raymond Fugin ein.
Paul-Raymond Fugin, geboren 1910 (Paris), gestorben 1984 (Soultz-sous-Forêts, Elsass). Fugin zählt zum Kreis der Surrealisten, obwohl ihm zeitlebens die Anerkennung seiner Kollegen verwehrt blieb. Nach dem Krieg verdiente er seinen Lebensunterhalt mit Zeichen- und Malunterricht und kopierte eher Stilrichtungen, als seinen eigenen Malstil zu entwickeln. Einige seiner Werke muten wie Kopien großer Zeitgenossen wie Salvador Dalí, Pablo Picasso und Max Ernst an. Bis zu seinem Tod am 23. März 1984 lebte Paul-Raymond Fugin in einem Herrenhaus im elsässischen Soultz-sous-Forêts namens La Maison du Bonséjour.
Emilia klickte die wenigen Fotos an, die es im Netz von Fugin gab. Er wirkte kühl – ein attraktiver Mann mit einem kantigen Gesicht und hellem, streng zurückgekämmtem Haar. Sie druckte die Wikipedia-Seite aus. La Maison du Bonséjour – Haus des guten Aufenthalts übersetzte sie in Gedanken.
Paris. La Lumière. Soultz-sous-Forêts.
Mit dem Katalog ging sie hinunter ins Erdgeschoss zur Küche, öffnete beide Flügel der Terrassentür und das Fenster gegenüber der Kochinsel. Sie legte den aufgeschlagenen Katalog auf den Esstisch und fing mit ihren Vorbereitungen an, würfelte Tomaten, Knoblauch, Zwiebeln und setzte Nudelwasser auf.
Sie trat hinaus in den Garten und schnitt aus dem Kräuterbeet einige Zweige Rosmarin, Thymian und Oregano ab.
Zurück in der Küche rieb sie mechanisch Parmesan, hackte anschließend die Kräuter, gab sie zum Sugo, holte Wein aus dem Kühlschrank und stellte ihn zusammen mit Gläsern, Tellern, Besteck und Servietten auf ein Tablett. Dann brachte sie das Arrangement in den Garten zum Essplatz unter der Linde, deren Blätter wie ein großzügiger Sonnenschirm Schatten spendeten.
Sie setzte sich auf einen Gartenstuhl, atmete durch, schenkte sich vom elsässischen Edelzwicker ein und nahm einen Schluck. Er schmeckte fruchtig, trocken. Emilia lehnte sich zurück, warf den Kopf in den Nacken, sah gen Horizont und blinzelte. Das Sonnenlicht flackerte durch die Äste. Die Blätter bewegten sich, als tanzten sie.
Kein Regen in Sicht.
Paris. Lubéron. Elsass.
Immer wieder landeten Emilias Gedanken bei dem Bildnis ihrer Großmutter. Die Vorstellung, dass es schon bald in einem fremden Ort an einer beliebigen Wand hängen und es bereits morgen an irgendeinen Meistbietenden gehen würde, befremdete Emilia. Als würde es jäh aus einem Zusammenhang herausgerissen, als werde Sophie postum entwurzelt.
Aber das war nur ein Gefühl, denn Emilia wusste nicht, ob ihre Großmutter jemals mit irgendeinem Ort der Welt verwachsen gewesen war. Oder mit einem Menschen. Aber wer war das schon?
EMILIA
2
Von der Straße, die hinter dem Haus und der angrenzenden Gartenmauer lag, hörte Emilia, wie sich ein Auto näherte und das Garagentor geöffnet wurde. Schnell stand sie auf und ging mit ihrem Weinglas zurück in die Küche, wo das Nudelwasser bereits kochte. Mit Schwung warf sie grobes Meersalz hinein.
»Schmeckt der Wein?«, fragte Vladi schmunzelnd und betrat die Küche. Emilia ließ die Pasta in den Topf gleiten. Vladi ging auf sie zu, legte den Arm um sie und küsste sie auf die Stirn.
»Edelzwicker aus dem Elsass«, entgegnete sie und zeigte auf ihr Glas. »Vorzüglich.«
Vom Flur aus vernahm sie die Stimme ihres Sohnes, der telefonierte. Vladi hob den Deckel vom Soßentopf. »Das duftet ja ganz wunderbar.«
»Hallo, Mama.«
Mischa küsste seine Mutter auf die Wange und beugte sich anschließend neben seinem Vater über den köchelnden Sugo. »Nudeln mit Tomatensugo. Toll!«
»Ich hoffe, ihr seid hungrig«, erwiderte Emilia und spürte, wie ihr das Herz aufging. Schon immer vermochte es Mischa mit einem Lächeln, einer kleinen Geste ihre trüben Gedanken zu verscheuchen. Sie schwenkte den Wein in ihrem Glas und deutete mit dem Kopf in Richtung Garten. »Ich habe draußen gedeckt. Wein steht auf dem Tisch.«
Mischa setzte sich an den Esstisch in der Küche, nahm den Katalog, der immer noch aufgeschlagen dalag, griff gleichzeitig nach einer Traube aus dem Obstkorb, warf sie in die Luft und fing sie mit geöffnetem Mund auf. »Das bist ja du, Mama.«
Seine Stimme klang überrascht, seine Haltung drückte Zweifel aus.
»Es sieht fast so aus«, erwiderte Emilia, während sie mit dem Kochlöffel die Soße rührte. »Nur war ich, als es gemalt wurde, noch nicht auf der Welt.«
Vladi, der das Gespräch verfolgt hatte, warf einen Blick auf den Katalog, stutzte und verschwand nach draußen. »Ich hole mir erst mal ein Glas Wein.«
»Hat Oma Pauline so ausgesehen?« Fragend runzelte Mischa die Stirn.
»Hast du den Untertitel nicht gelesen? Das Porträt stammt aus den Dreißigerjahren. Oma Pauline ist 1940 geboren. Bleibt noch Sophie. Deine Urgroßmutter.«
»Das ist ja ein Ding!«
»Ja, bis vor wenigen Stunden wusste ich nicht, dass eine derart frappierende Ähnlichkeit zwischen Sophie und mir bestand.«
Sophie – immer wieder war dieser Name über die Jahre gefallen, ohne wirklichen Bezug. Es existierten keine Bilder in Fotoalben, außer wenigen Kinderfotos vor einer großbürgerlichen Idylle, die gestellt und unnatürlich wirkten, fast bewegungslos: auf dem Landsitz und in der Stadtvilla. Vor dem ersten Automobil. Ein ganzes Erwachsenenleben von Sophie fehlte wie ein dunkles Loch in der Ahnengeschichte der Langenbergs. Sophie war eine geheimnisvolle Frau, die mit knapp zwanzig unehelich ihre Tochter Pauline geboren und sie danach in die Obhut ihrer Familie gegeben hatte – was immer sie getan oder unterlassen hatte, sie blieb eine Exotin, der das Attribut Rabenmutter anhaftete. Eine Frau, an die man sich aus Nebensätzen erinnerte, und selbst diese waren fragmentarisch geblieben. Sophies Leben, das weit außerhalb des legendären Langenberg-Wohlstands, jenseits des gesellschaftlichen Parketts stattgefunden hatte, war schemenhaft und geheimnisvoll geblieben.
Mittlerweile waren die meisten, die Sophie gekannt hatten, tot. Im Raum Baden-Baden sagte der Name Langenberg, der einst für eine Edelmetall- und Diamantendynastie stand, niemandem mehr etwas. Pauline war noch nie eine zuverlässige Zeugin gewesen. Jahrzehntelang immer wiederkehrende depressive Phasen hatten Spuren in Paulines Gedächtnis hinterlassen oder die wenigen Erinnerungen an die Vergangenheit getrübt.
Mit einem Glas in der Hand kam Vladi aus dem Garten zurück, nahm seinem Sohn den aufgeschlagenen Katalog ab und betrachtete die Seite eingehend. »Seht ihr, was ich sehe? Sophie – Paulines Mutter? Deine Großmutter?«
Emilia nickte.
»Klar, Papa. Sie ist Mama wie aus dem Gesicht geschnitten. Wahnsinn!«
»Stimmt«, erwiderte Vladi, während er erneut das Porträt begutachtete. Verwirrt sah er nach einer Weile auf. »Das ist ja völlig verrückt. Wie kommst du an diesen Katalog?«
»Arbeit«, erwiderte Emilia achselzuckend, füllte den Sugo in eine Schüssel und stellte diese auf den Esstisch vor Mischa. »Für dieses Auktionshaus im Elsass. Es wurde offensichtlich in Paris gemalt zu einer Zeit, als Sophie dort lebte.«
Sophies Aufenthalt in Paris Ende der Dreißigerjahre war eine kleine, mit Gerüchten behaftete Sequenz in Sophies Biografie.
»Ich fand die Vorstellung schon immer sehr cool, dass meine Urgroßmutter als Heranwachsende von zu Hause abgehauen ist. Eine junge Frau mitten in Paris! Und dann ein uneheliches Kind.«
Emilia warf Mischa einen strengen Blick zu. »Ein uneheliches Kind war 1940 alles andere als cool, Mischa. Damals sprach man von Schande.«
»Nicht bei den Nazis, die haben versucht, Mütter von unehelichen Kindern aufzuwerten und so den kirchlichen Begriff der Schande zu entkräften«, korrigierte Mischa und verzog dann verächtlich die Nase. »Kinder für den Führer.«
»Wir wissen nicht, was sie mitgemacht hat«, sagte Emilia unbeeindruckt. »Die Gesellschaft war besonders im katholischen Frankreich gnadenlos. Sophie wird ihr Kind nicht grundlos der Familie überlassen haben.«
»Weil der Erzeuger sich aus dem Staub gemacht hatte«, kam es vorwurfsvoll aus Mischas Mund. »Wie alt war Sophie, als sie abgehauen ist, Mama?«
»Knapp achtzehn«, erklärte Emilia, fischte mit der Gabel eine Spaghetti aus dem kochenden Wasser und testete deren Konsistenz. »Damals war man erst mit einundzwanzig volljährig. Ihr Alter würde mit der Einschätzung der Entstehung des Porträts korrespondieren. In der Beschreibung heißt es: vermutlich späte 1930er-Jahre.«
»Ist Sophie namentlich erwähnt?«, fragte Mischa, während er zum Register des Katalogs blätterte.
»Nein, sie ist eine Frau im Schatten«, erwiderte Emilia kopfschüttelnd und goss den Inhalt des Nudeltopfs über der Spüle in ein Sieb. Sofort stieg Dampf auf. Emilia trat einen Schritt zurück. »Die Schattenfrau. Das ist leider alles, was sie charakterisiert.«
Emilia nahm die Schüssel mit der Pasta, ging um die Kochinsel herum und gab Mischa mit den Augen ein Zeichen, die Soße hinauszutragen.
»Und nach Paris hat sie mit der Familie gebrochen?« Mischa stand auf und folgte seinen Eltern mit dem Sugo durch die Terrassentür. »War es so?«
Seine Eigenart, den Dingen mit Fragen auf den Grund zu gehen, war sicherlich seinem Berufsziel als Psychologe dienlich, für diejenigen, die ihm nahestanden, war seine ständige Fragerei zuweilen schlichtweg lästig. Im Garten angekommen, verdrehte Vladi die Augen. Emilia atmete einmal tief durch.
»Das haben Paulines Zieheltern jedenfalls behauptet«, erklärte sie, nahm auf dem Stuhl gegenüber der Bank Platz und schlug die Beine übereinander. »Es ist nicht das erste Mal, dass wir das durchleuchten, Mischa.«
»Arno und Hanne«, erklärte Vladi, als müsse er die komplizierte Familienkonstellation in seinem Gedächtnis abrufen.
Vladi und Mischa setzten sich nebeneinander auf die Holzbank. Emilia registrierte, wie synchron die Bewegungen von Vater und Sohn abliefen und musste lächeln. Beide verteilten Teller, Besteck und Servietten, als hätten sie den Ablauf einstudiert. Anschließend reichte Vladi die Schüssel mit den Nudeln herum.
»Also für mich eröffnet dein Fund neue Fragen«, sagte Mischa lebhaft und nahm sich eine Portion Pasta. »Na ja, eigentlich sind es alte Fragen, aber ein neuer Blickwinkel, findet ihr nicht auch? Ihr wisst schon: Sophie, das schwarze Schaf. Sophie, die Sünderin, die Lustbetonte, die Egomanin, dieser ganze Quatsch, der dir erzählt worden war, Mama. Wir haben immer darüber spekuliert, was genau sie in Paris gemacht hat. Jetzt taucht sie auf einmal im Elsass auf.«
»Ein Bild von ihr«, korrigierte Emilia, rückte ihren Stuhl näher an den Tisch und nahm ihr Besteck.
»… das offensichtlich in Paris entstand, Mama. Hast du dich je gefragt, was eine Deutsche in den Dreißigerjahren überhaupt nach Paris verschlug? Und das unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg? Sie hätte sonst wohin abhauen können.«
Mischa streute Parmesan auf seinen Teller und fing an zu essen.
»Sie war Halbfranzösin«, sagte Emilia. »Sicherlich gab es Verwandtschaft. Eine erste Anlaufstelle. Und ich habe mir diese Frage mehr als einmal gestellt, Mischa. Hundertmal. Außerdem habe ich nie von Sünde gesprochen.«
»Du nicht, aber die anderen«, erwiderte Mischa mit vollem Mund. »Arno und Hanne, dein Urgroßvater. Nur Oma Pauline hat sich nie geäußert.«
Emilia nickte betroffen. »Sie wollte nie darüber sprechen, das stimmt. Auch nicht, als es ihr noch besser ging.«
Gedankenverloren kaute Emilia und ließ den Blick hinüber in Richtung Oos schweifen. Mischas Worte trafen auf einen Widerspruch in ihr, einen Zwiespalt, den Emilia all die Jahre mit sich herumgetragen hatte. Sie hatte im Laufe der Zeit nur gelernt, ihn auszuhalten.
Verdrängtes ist nicht verschwunden. Es schläft nur.
»Ich habe diese Geschichte schon immer komisch gefunden«, sagte Emilia mit klarer Stimme und schob ihren Teller zur Seite.
»Welche?«, fragten Vladi und Mischa wie aus einem Mund.
»Die Folge der Ereignisse. Eine junge Frau bricht aus ihren Verhältnissen aus, sucht ihr Glück in Paris, wird schwanger und überlässt ihr Kind jener Familie, vor der sie einst geflohen war. Danach folgt der endgültige Bruch. Irgendetwas fehlt. Ein Zwischenschritt. Die Familienchronik ist voll von Lücken, ab Sophies Schwangerschaft bis zu ihrem Tod im Lubéron.«
»Du hast recht«, erwiderte Vladi mit ernster Miene. »Eigentlich wissen wir gar nichts, nur dass sie ihre letzten Jahre in Südfrankreich verbrachte. Und selbst diese Information verdanken wir einem Zufall.«
Anlässlich Paulines Umzugs hatten Emilia und Vladi nach Rentenunterlagen gesucht und dabei zufällig inmitten von Krankenkassenbelegen die Urkunde eines Häuschens im Lubéron gefunden – Sophies letztem Wohnsitz. Laut Dokumentenlage war der Besitz von einem Notariat in Avignon im April 2016 rechtskräftig bestätigt und auf Pauline übertragen worden.
Auf vorsichtiges Nachfragen hatte Emilias Mutter aber nur den Kopf geschüttelt und gesagt, von einem derartigen Besitz wisse sie nichts. Sie selbst sei niemals dort gewesen. Eine Frau namens Sophie sei ihr nicht bekannt und sie sei sicher, irgendjemand habe ihr das Häuschen untergejubelt. »Macht damit, was ihr wollt«, hatte sie abschließend trotzig gesagt.
Vladis Stimme durchbrach Emilias Gedanken. »Jetzt gibt es niemanden mehr, den du fragen könntest.«
»Früher hat sich Pauline nicht erinnern wollen, heute kann sie es nicht mehr«, sagte Emilia traurig.
»Zu Beginn meines Studiums mussten wir ein Genogramm erstellen, einen Stammbaum unserer Familie«, sagte Mischa. »Auf Emilias Seite war ein dickes Fragezeichen. Ihr Großvater ist ein großer Unbekannter. Genau wie ihr Vater.«
»Ich kenne meinen Vater«, korrigierte Emilia streng. »Und du auch, Mischa. Er hat sich nur vor vielen Jahren für ein anderes Leben entschieden.«
»Er ist abgehauen«, schimpfte Mischa. »Und hat seine Familie im Stich gelassen.«
Emilia überlegte, welche Wunden diese Lücken in ihrem Leben gerissen hatten. Die Scheidung ihrer Eltern. Paulines Schweigen. Sophies Biografie. Auf Vladis Seite hingegen hatte es bis zum Tod seiner Eltern Kontinuität und Verlässlichkeit gegeben.
War es möglich, dass durch dieses Porträt die familiäre Verdrängung brachlag?
Vladi warf Mischa einen strengen Blick zu und wandte sich dann an Emilia. »Was wissen wir über den Maler?«
»Irgendein Franzose. Paul-Raymond Fugin. Nie von ihm gehört.«
»Hast du ihn schon gegoogelt?«
»Ja. Er war nicht besonders bekannt. Gehörte zum Kreis der Surrealisten, ohne wirklich einer von ihnen zu sein, und hat wohl nie einen eigenen Stil entwickelt. In Paris geboren, gestorben im Jahr 1984 im Elsass.«
»Ohne einer von ihnen zu sein?« Vladi zeigte mit der Gabel auf die Weinflasche und sah Emilia fragend an, bis sie ihr leeres Glas in seine Richtung schob. Mit ruhiger Hand schenkte er nach.
»Wahrscheinlich war es in den Zwanzigerjahren schwer neben Picasso, Dalí, Max Ernst.«
»Verstehe«, sagte Vladi und hob sein Glas.
Ihre Gläser trafen sich über der Mitte des Tischs und klangen hell beim Anstoßen, als habe es in der jüngsten Vergangenheit keine dissonanten Töne zwischen ihnen gegeben.
»Stimmt. Paris war damals voll von Leuten, die schon zu Lebzeiten berühmt waren«, fuhr Vladi fort. »Ein Eldorado für Künstler. Schriftsteller, Maler, Philosophen. Vielleicht hat Sophie als Modell einfach Geld verdient. Womöglich als Aktmodell.«
Emilia nickte. »Was ihr mein Urgroßvater nie verziehen hat.«
»Wo es von Malern wimmelt, gab es sicherlich auch viele Modelle. Ich habe zwar keine Ahnung von Malerei, aber ich finde das Porträt sehr gelungen«, sagte Emilia.
»Man müsste das Original sehen, um die Qualität zu beurteilen«, meinte Vladi. »Der Schatten ist sehr markant.«
»Frau im Schatten. Schattenfrau.« Emilia erschrak darüber, wie nahe dieser Titel der Familiengeschichte kam. »Bei den Surrealisten spielte das Unbewusste eine wichtige Rolle. Ein Schatten könnte eine Art Alter Ego veranschaulichen.«
»Schade, dass mein Bruder nicht da ist«, erwiderte Mischa unbekümmert und nahm einen kräftigen Schluck Wasser. »Der Kleine würde uns jetzt einen ausführlichen Vortrag über surrealistische Malerei zum Besten geben und uns erklären, ob das Bild Kunst oder Kitsch ist.«
Mischas jüngerer Bruder Leo, den er immer den Kleinen nannte, obwohl er einen halben Kopf größer als Mischa war, studierte Medizin in Frankfurt. Schon sehr früh hatte Leo Museen geliebt und bereits vor dem Kindergarten mit Talent gemalt und gezeichnet. Weder Emilia noch Vladi verfügten über sein räumliches Vorstellungsvermögen, seine Gabe, dreidimensionale Figuren, Schatten und Licht zu Papier zu bringen. Nur Emilias Vater, der früher als Restaurator gearbeitet hatte, war mit Ansätzen dieser Begabung ausgestattet.
»Hast du von Leo gehört?«, fragte Emilia interessiert. »Ich habe das letzte Mal vor zwei Wochen mit ihm gesprochen.«
»Er büffelt für sein Physikum«, erklärte Vladi. »Wir werden am Sonntag ausführlich einige knifflige Fragen aus Probeklausuren erörtern.«
»Eine deiner leichtesten Übungen«, sagte Emilia. Bald würde das Semester wieder losgehen. Für vier Monate war Vladi dann durch seine Dozentenstelle an der Universität sehr eingespannt und meist zwei Nächte pro Woche in Heidelberg, manchmal auch drei.
»Wenn es einer packt, dann mein kleiner Bruder. Was immer er in Angriff nimmt, macht er gründlich und mit ganzem Herzen«, sagte Mischa, wickelte die restlichen Spaghetti um seine Gabel und strahlte Emilia glücklich an. »Hast du keinen Appetit, Mama? Ich liebe dein Essen!«
»Später«, erwiderte sie lächelnd. »Vielleicht später.«
Beherzt schenkte sich Mischa ein zweites Glas Wein ein und sah auf seine Uhr. »Ich nehme den Zug um halb zehn. Morgen muss ich früh raus.«
Wie aus der Ferne hörte Emilia Mischa von seiner bevorstehenden Statistikprüfung reden, und heimlich fragte sie sich, ob Mischas Studienwahl näher an der seines Vaters, dem lehrenden Mediziner, oder bei ihr, der Literaturwissenschaftlerin, lag. Dass ausgerechnet Leo in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, befremdete sie bis heute, und sie nahm sich vor, ihren Jüngsten so bald wie möglich anzurufen. Auf geheimnisvolle Weise war ihr Mischa immer näher gewesen. Schon als kleines Kind war der Umgang mit ihm leichter als mit Leo gewesen. Es war einfacher ihn zu lieben, während Leos Sensibilität sie oft an ihre Grenzen gebracht hatte. Leo wiederum reagierte im Umgang mit seinem Vater viel großzügiger, weniger empfindlich.
Lange lag Emilia wach. Der Wind spielte mit den Blättern, das plätschernde Geräusch des Flusses drang durchs geöffnete Fenster und hörte sich wie Dauerregen an. Was sie sonst beruhigte, ließ sie in dieser Nacht nicht schlafen. Gegen zwei Uhr morgens stand sie auf, ging nach nebenan in ihr Arbeitszimmer an ihren Schreibtisch, knipste die Lampe an, ließ den Laptop hochfahren und gab den Suchbegriff Surrealismus ein. Virtuell blätterte sie in einem Bildband mit dem Titel »Gegen jede Vernunft« – ohne einen Zugang zu den Werken zu finden. Dann suchte sie nach Soultz-sous-Forêts. Laut Routenplaner lag der Ort, der Sophies Bild beherbergte, nur eine knappe Autostunde von ihr entfernt.
Noch einmal prüfte sie das Datum: Beginn der Versteigerung: 30. August 2016, elf Uhr. Sie sah auf den Kalender. Also heute. Fast unheimlich klang das Surren des Druckers in der Dunkelheit. Emilia spürte eine wachsende Anspannung, stärker als jede rationale Erwägung – sie fühlte sich wie ein Tier, das etwas witterte und seine Nase in alle Richtungen hielt, um zu prüfen, woher der Wind kam. Er kam von allen Seiten. Plötzlich befürchtete sie, Vladi könne von dem Geräusch wach werden, in der Tür ihres Arbeitszimmers stehen und Fragen stellen, obwohl sie es war, die Fragen an ihn hatte.
Warum hast du unsere Liebe aufs Spiel gesetzt? Warum hast du es getan, wenn es nicht wichtig war? Was geschieht jetzt mit uns, da unsere Kinder aus dem Haus sind?
Eilig schlich sie auf Zehenspitzen zur Tür, schloss sie leise, wartete bis der Drucker die Route ins Elsass ausspuckte, und legte das Blatt zur Seite des Auktionskatalogs, wo Sophie, die Schattenfrau, den Betrachter anlächelte.
Irgendwann klappte Emilia den Katalog zu und ging zurück in Mischas Bett. Das Letzte, was sie wahrnahm, bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel, war das Geräusch eines Donnerschlags aus der Ferne. Ein Sommergewitter.
Als sie am Morgen erwachte, war es bereits halb neun. Von unten hörte sie das Klappern von Geschirr, und der Duft von frisch gemahlenem Kaffee erfüllte das ganze Haus. Sie verschwand im Bad und nach einer raschen Morgentoilette schlüpfte sie in Jeans und eine hellblaue Seidenbluse, die ihre Augen betonte. In der Küche angekommen, schenkte sie sich Kaffee ein, setzte sich an den Tisch und vernahm ein raschelndes Papiergeräusch, das aus Vladis Arbeitszimmer kam.
»Fährst du nach Heidelberg?«, rief sie in seine Richtung, bemüht, ihrer Stimme einen neutralen Ton zu geben.
Sie hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel – offene und geschlossene Türen waren ein Streitpunkt, der ihre Ehe schon immer begleitet hatte: Vladi schloss Türen und Fenster, weil das seinem Sinn für Ordnung entsprach, während Emilia diese am liebsten sperrangelweit geöffnet ließ.
Nach einer Weile betrat Vladi die Küche, legte seine Aktentasche auf einen Stuhl und ließ den Henkel seiner leeren Kaffeetasse am Zeigefinger schaukeln. »Nein. Ich habe einen Termin mit einem Doktoranden. Wir treffen uns hier in der Stadt.«
»Doktorand oder Doktorandin?«, fragte sie zurück und konnte sehen, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Langsam schüttelte er den Kopf, ging zur Spülmaschine, räumte die Tasse ein und schloss die Klappe. Er stemmte die Hände dagegen, ließ den Kopf sinken, hielt inne und atmete lautstark durch.
»Bitte nicht, Emilia«, bat er mit einem flehenden Unterton, sah sie an und trat zum Büfett ihr gegenüber, lehnte sich dort an und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Es ist vorbei. Du weißt, dass ich kein notorischer Fremdgeher bin. Und es war keine Doktorandin. Wir haben doch darüber gesprochen.«
Emilia schluckte, biss sich anschließend auf die Lippe und dachte wehmütig: Du hast darüber gesprochen. Unsere Aussprache war ein Monolog mit abschließender Absolution.
»Wie lange sind wir zusammen, Emilia? Siebenundzwanzig Jahre? Es war ein einziges Mal.«
Siebenundzwanzig gemeinsame Jahre. Jahre, in denen keiner von beiden jemals die Treue und Zuverlässigkeit des anderen infrage hatte stellen müssen. Von einem Tag auf den anderen war das Selbstverständliche zwischen ihnen zu etwas Exklusivem geworden.
»Irgendwann wirst du mir verzeihen müssen, Emilia. Sonst kommen wir nicht weiter.«
Dass sie diejenige sein sollte, die für das Vorankommen ihrer Beziehung verantwortlich war, schien ihr grotesk, aber sie verabscheute Schuldzuweisungen. Ihr Verstand sagte ihr, dass eine Affäre jedem passieren konnte. Absolute Treue war eine Illusion. Nur hinkten ihre Gefühle allen rationalen Überlegungen hinterher.
»Was hast du heute vor?«, fragte Vladi beherrscht, trat an den Tisch und nahm seine Aktentasche vom Stuhl. Der dezente Duft seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase.
»Pauline besuchen. Und ich fahre ins Elsass.«
Ihre Stimme klang entschieden, und auf einmal spürte sie Erleichterung, obwohl die Reihenfolge nicht stimmte. Sie würde zuerst ins Elsass fahren. Auf dem Rückweg einen Abstecher in der Ortenau bei ihrer Mutter machen.
Emilia streifte ihre Ballerinas ab, legte die Beine auf den Stuhl, den Vladi soeben frei gemacht hatte, und warf einen Blick auf die nackte Wand draußen im Flur. Sie bewegte die Zehen und versuchte sich vorzustellen, wie das Porträt ihrer Großmutter dort hängen würde, von einer tief stehenden Morgensonne für kurze Zeit beschienen, bis das Licht von den Bäumen und Sträuchern im Garten geschluckt wurde. Ihr war, als hätte ihre Familie seit zwei Jahrzehnten für genau dieses Gemälde Platz gelassen. Für einen Augenblick schien ihr dieses Haus samt seinen Insassen unverwundbar, als hätten seine Wände weder den Streit nach Vladis Affäre vernommen, noch Emilias darauffolgenden Auszug aus dem gemeinsamen Schlafzimmer in Mischas Jugendzimmer registriert.
Sie schob die Kränkung, die wie ein Phantomschmerz aufblitzte, zur Seite. Neues Vertrauen brauchte Zeit, aber auch das alte war nicht gänzlich verbraucht. Was jetzt zählte, war eine Wissenslücke mit älteren Rechten, die mit dem Bildnis wiederaufgetaucht war. Vielleicht würde Emilia etwas wiedergutmachen können, postum für ihre Großmutter und noch zu Lebzeiten für ihre gekränkte Mutter. Es musste einen Grund haben, dass sie mit geschlossenen Augen auf einen schwarzen Fleck ihrer brüchigen Geschichte gestoßen war. Etwas, das sie ein Leben lang begleitet hatte und das jetzt aus einem toten Winkel neben ihr aufgetaucht war.
Das Gemälde mochte das harmlose Bildnis einer schönen jungen Frau darstellen. Eine Frau, auf deren rechter Gesichtshälfte ein Schatten lag. Eine Frau, die undefinierbar lächelte und einen kostbaren Stein um den Hals trug. Für Emilia bargen Sophies Augen, die wie durch einen Schleier blickten, eine stille Bitte. Verdrängte Fragen aus Emilias Kindheit, gefolgt von Verboten und demonstrativem Schweigen der Erwachsenen kehrten wie selbstverständlich in ihr Bewusstsein zurück, und sie spürte wie ein altes Aufbegehren in ihr lebendig wurde. Gefolgt von Unbehagen. Die Dämonen ihrer Kindheit. Sie hatten nur geschlafen. Als Kind hatte sie sich gegen die Reglementierungen und die damit verbundene Doppelmoral der Erwachsenen nicht wehren können. Jetzt aber hatte sie die Wahl.
Was war wirklich mit Sophie geschehen? Wie hatte sie all die Jahre bis zu ihrem Tod in La Lumière gelebt? Wie lange? Mit wem? Warum war Sophies Besitz erst Jahrzehnte nach ihrem Tod in die Hände ihrer Tochter gefallen?
Nur ein einziges Mal regte sich ein leiser Zweifel in Emilia: Würden die Antworten wirklich die Dämonen ihrer Kindheit verscheuchen? War es besser, sie ruhen zu lassen?
»Dann musst du das wohl tun«, unterbrach Vladi ihre Gedanken. »Du wirst das Bild kaufen, es herbringen, und wir hängen es hier auf. Aber dabei sollten wir es dann auch belassen.«
In fünfundzwanzig Jahren Ehe ging das, was zwischen den Zeilen stand, manchmal eigenwillige Wege. Vieles artikulierte sich wortlos. Es gab ein eisiges Schweigen, ein schuldbewusstes, ein verletzendes, ein heilsames – oder man sprach über etwas Banales und bezog sich dabei vieldeutig auf Grundsätzliches – die Ehe war ein weites Feld der Metaebene. Natürlich hatte Vladi den Aufruhr, der in ihrem Inneren zu wüten begonnen hatte, erfasst, und er musste begriffen haben, dass es für Emilia an der Zeit war, ihre Großmutter heimzuholen. Aber seine Warnung war nicht zu überhören. Gleich würde er sagen: Pass auf dich auf, Emilia. Geh nicht zu weit.
»Ich habe das Gefühl, dass mehr dahintersteckt«, sagte Emilia, zuckte die Achseln und sah in seine braunen Augen, die zu lächeln schienen.
»Hinter dem Porträt deiner Großmutter?«
»Ja«, sagte sie und spürte plötzlich, wie Tränen von ihrer Kehle hochstiegen. Beherrscht schluckte sie diese hinunter. »Als ob es mehr als eine Lebensstation wäre. Als habe man sie entwurzelt. Es ist nur so ein Gefühl.«
Für einen winzigen Moment wusste sie nicht, ob sie von Sophie, Pauline oder sich selbst sprach.
»Du hattest schon immer eine gute Intuition«, erwiderte Vladi leise, nahm die Hände aus den Hosentaschen, trat zu ihr, beugte sich herab, küsste sie auf die Schläfe, drehte sich um und ging zur Tür. »Pass bitte auf dich auf.«
Die Ehe war ein weites Feld der Metaebene.
JEAN-PIERRE
30. August 2016
Nur ein einziges Bild
Im Morgengrauen waren sie im Chemin du Cheval blanc in La Lumière losgefahren. Längere Autofahrten unternahm Jean-Pierre nur dann, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Und mit Fahrer. Immer wenn er nach einer Reise aus dem Wagen stieg, hatte er das Gefühl, als müsse er seine alten Knochen in die richtige Position bringen. Ähnlich ungern ging er auswärts essen. Er bevorzugte Restaurants, deren Küche er kannte und in denen es keine Überraschungen gab. In La Lumière existierten gleich zwei davon. Eine Handvoll in der Haute Provence. Und nur eines in Avignon.
Das magische Licht des Lubéron und seine würzigen Gerüche lagen bereits drei Autostunden hinter ihnen. Jean-Pierre hatte bei Lyon auf dem Rücksitz seines Wagens gespeist, während sein ehemaliger Chauffeur Henri den Wagen lenkte. Es galt, das Elsass pünktlich zu erreichen. Nur deswegen hatte Jean-Pierre auf diese Notlösung aus seiner aktiven Zeit als Besitzer einer Seifenmanufaktur zurückgegriffen. Normalerweise bevorzugte er ein Picknick in freier Natur.
Jean-Pierre schmunzelte, während er auf Henris schütteres Haar am Hinterkopf blickte. Der gute Henri hatte Jean-Pierre stets die Treue gehalten. Im Vergleich zu ihm war der Siebzigjährige ein Jungspund. Sie waren ein eingespieltes Team, das sich wortlos verstand. Jean-Pierre schätzte Henris Diskretion. Mit ihm konnte er Stunden auf engstem Raum verbringen, ohne ein einziges Wort zu wechseln.
Schweigen war ein Geschenk.
Auf Jean-Pierres Schoß ruhte das Tablett. Die weiße Stoffserviette hatte er am Kragen seines Hemdes befestigt. Vorsichtig setzte er die Lippen an die Kaffeetasse.
Hinter Besançon packte Jean-Pierre die Reste des Proviants zurück in den Korb. Heimischer Lavendelhonig, Butter, Baguette, etwas Käse. Fast achtzig Lebensjahre in Frankreich hatten es nicht vermocht, ihm das deutsche Frühstück abzugewöhnen. Zusammen mit dem letzten Schluck Kaffee genoss er noch einmal die Zeilen eines Briefes, der ihn vor vierzehn Tagen erreicht hatte.
Verehrter Monsieur Roche,
wir kennen einander nicht persönlich, aber Sie wollten über Monsieur Fugins Sekretariat darüber informiert werden, sobald Bewegung in die Angelegenheit kommt. Nun ist es so weit. Die letzten juristischen Zweifel sind ausgeräumt. Hier im Haus sind alle mit der Katalogisierung des Inventars beschäftigt. Ich, als einer den Fugins nahestehender Pariser Kunstsachverständiger, habe mich der Angelegenheit angenommen. Die Versteigerung findet am 30. August, 11 Uhr, statt. Die genaue Adresse finden Sie bitte unten stehend. Mit Freude nehme ich Ihr Vorgebot für das von Ihnen anvisierte Objekt auf und sichere Ihnen die gewünschte Anonymität selbstredend gerne zu. Ich darf Sie zu Ihrer Wahl beglückwünschen. Es handelt sich um eines der meistunterschätzten Gemälde aus Fugins Besitz.
Hochachtungsvoll,
Ihr Thierry Bonnet
Mit einem Anflug von Nervosität und einem Hauch Vorfreude ließ Jean-Pierre den Brief wieder in seiner Jackentasche verschwinden und sah zum Fenster hinaus. Am Himmel hingen nur wenige Wolken. Das milde Licht des Spätsommers wurde von den getönten Scheiben seines Autos absorbiert. Dank der Klimaanlage spürte er nichts von der Hitze. Nach dem langen Sitzen war sein linkes Bein taub. Der Schmerz von seiner rechten arthritischen Hüfte strahlte bis in die Wadenmuskulatur. Ein von Geburt an verkürztes Bein hatte erst im Alter angefangen, Probleme zu bereiten.
Sie ließen die Franche-Comté hinter sich. Jene harmlose Landschaft mit ihren Wäldern und Weiden, die keinerlei Erinnerungen bei Jean-Pierre provozierte. Keine, die an sein Herz andockten. Nur als sie vor zwei Stunden der Drôme näher gekommen waren, hatte er eine Unruhe empfunden. Wie ein Tier vor einem Gewitter. Gefolgt von einem alten, vertrauten Gefühl, das noch heute, nach all den Jahren, sehr präsent war. Als sei alles erst gestern gewesen.
In seiner Seele gab es Landschaften, die eine unendliche Folge von Bildern in ihm hervorriefen. Sie auszuhalten war die höchste Form der Disziplin.
Er hatte lange und gründlich daran arbeiten müssen, bedrückende Bilder aus seiner Kindheit wegzuschieben. Bis er es beherrschte wie ein Requisiteur, der hinter den Kulissen eine neue Bühne bestückt.
Aneinandergebaute Häuser in engen Gassen.
Eine Küche in Paris.
Eine aus einem Fenster hängende rote Fahne.
Laternen, die wie Perlen Straßen säumten.
Die Kälte in einem Schlachthaus.
Unterdrücktes Husten.
Im Frühjahr das Zwitschern der Vögel.
Im Winter der Geruch von Schnee.
Ein Bahnhof in Deutschland.
Wie lange war das her?
Fünfundsiebzig? Dreißig Jahre? Gestern?
Es gab bedrohliche Wortfelder, riskante Bilder. Und unberechenbare Erinnerungen, die ohne Vorwarnung in ihm aufstiegen. Nicht Kränkungen, Schmerz, Furcht waren das Schlimmste. Schöne Erinnerungen konnten zu Dämonen werden, Sehnsucht zu einer lebensgefährlichen Falle.
Das Heimweh war die Königsdisziplin. Aber Kinder sind einfallsreich. Jean-Pierre hatte dann immer so getan, als vereinnahme es nicht ihn, sondern einen anderen Jungen. Kleine Übungen halfen verräterische Gesten abzustreifen, Nuancen in seiner Haltung zu verändern.
Kurz vor seinem zwölften Geburtstag hatte Jean-Pierre sein Können perfektioniert. Bei einer unfreiwilligen Generalprobe gelang es ihm, aus sich herauszutreten und in eine andere Rolle zu schlüpfen. Sie half gegen jede Art von Schmerz: Ausgrenzung. Einsamkeit. Liebeskummer. Heimweh.
Die Sehnsucht nach Geborgenheit gehörte zu den Olivenbäumen der Drôme. Die Liebe zu einer Frau in das sanfte Licht, in das der Lubéron seine Blütenfelder taucht. Eine zweite Kindheit in die staubigen Innenhöfe von Paris mit Kindergeschrei und selbst gebastelten Fußbällen. Eine weiter zurückliegende nach Deutschland, in das dunkle Land der Wälder.
Jean-Pierre konnte sein Leben an Landschafen und Orten festmachen. Sein Improvisationstalent hatte sein Gedächtnis geschult.
»Wir sind gleich da, Monsieur.«
Wie aus der Ferne hörte er Henris Stimme. »Monsieur. Sind sie wach?«
Jean-Pierre schreckte auf, korrigierte seine Sitzposition und blinzelte. Mit aufmerksamen Augen beobachtete Henri seinen ehemaligen Vorgesetzten. Im Rückspiegel trafen sich ihre Blicke. Jean-Pierre sah auf seine Armbanduhr. Kurz nach zehn. »Tatsächlich, Henri. Ich habe über eine Stunde gedöst.«
»Seit Mulhouse, Monsieur. Wir haben gerade Straßburg passiert.«
»Werden wir pünktlich ankommen?«
Jean-Pierre hasste Verspätungen.
»Absolut. Zehn vor elf werden wir in Soultz-sous-Forêts eintreffen.«
Mulhouse. Straßburg. Soultz-sous-Forêts. Keiner der Orte weckte irgendwelche Erinnerungen oder gar Emotionen. Sie befanden sich auf neutralem Gebiet. »Und Sie nehmen die Route, die ich Ihnen gesagt habe?«
Henri nickte. »Die linke Rheinseite, Monsieur. Wir werden keinen deutschen Boden betreten. Genauso, wie Sie es wünschten.«
Mit einem zufriedenen Ausdruck nahm Jean-Pierre seinen Kamm aus der Jacke, die am Bügel neben dem Fenster hing, und strich sich durch das gepflegte graue Haar, das ihm bis knapp auf die Schultern reichte.
Wie immer hielt Henri Wort und lenkte den Wagen zehn Minuten vor elf durch einen Torbogen auf das Gelände eines Herrenhauses.
»Voilà, Monsieur. Sie haben noch etwas Zeit. Sind Sie bereit?« Henri schaltete den Motor ab. Seine Stimme klang, als vergewissere er sich vor einer wichtigen Operation, ob sie beide gründlich vorbereitet waren.
Jean-Pierre tastete die Innentasche seines Jacketts ab. »Bereit, Henri. Und bestens präpariert. Danke.«
Henri stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete Jean-Pierre die Tür.
»Dann wollen wir mal, Henri.« Er setzte zuerst sein gesundes Bein auf das fremde Terrain und zog das andere nach. Schwüle Luft schlug ihm wie eine unsichtbare Wand entgegen. Er reckte sich, warf sein Jackett über die Schulter und betrachtete das Gebäude. »Ein schönes Plätzchen hat sich unser Freund Fugin hier ausgesucht. Er war schon immer ein Mann mit exzellentem Geschmack.«
Henri tat, als habe er die Bemerkung weder gehört geschweige denn verstanden. Lächelnd reichte er seinem ehemaligen Chef den Gehstock.
Langsam und bedächtig, als erwäge Jean-Pierre jeden seiner Schritte, ging er auf dem Kiesweg in Richtung Eingang. Seine Gehbehinderung überspielte er mit einem erhöhten, orthopädischen Schuh und dem aufrechten Gang seiner schlanken, großen Statur. Mit rhythmischer Eleganz benutzte er seinen Stock, als gebe ihm ein drittes Bein den Takt vor, mit dem er sich durch die Welt bewegte. Aber jede einzelne Stufe hinauf zu der kleinen Empore des Herrenhauses bildete eine Hürde für Jean-Pierres schmerzende Hüfte. Henri folgte ihm in gebührendem Abstand.
»Wenn Monsieur es wünscht, könnte ich Monsieur nach der Veranstaltung unterhalb der Empore abholen. Wenn Sie mich einfach auf dem Mobiltelefon …«
»So machen wir es, Henri«, unterbrach ihn Jean-Pierre, nahm sein Handy aus der Jackentasche und schaltete es ab. »Ich werde etwas Schweres zu tragen haben und Ihre Hilfe benötigen. Am besten, Sie verbringen die Wartezeit im Schatten. Das Ganze hier wird eine gute Stunde dauern.«
An der Rezeption schlüpfte er in sein Jackett und nannte seinen Namen.
»Bonjour, Monsieur, bienvenue!«
Im Entrée saß ein Mann mit einer Nickelbrille hinter einem Schreibtisch. Mit ernster Miene überflog er Jean-Pierres Ausweis, warf ihm einen verwirrten Blick zu und lächelte dann. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Sie sind bereits angemeldet, Monsieur Roche. Wir haben Ihre Daten registriert.«
Jean-Pierre deutete ein Kopfnicken an und nahm seine Bieternummer und den Ablaufplan entgegen.
Im Haus roch es modrig.
La Maison du Bonséjour – ein Haus, in dem ein angenehmer Aufenthalt offensichtlich Programm war.
Mit zwei Fingern strich Jean-Pierre über seine Lippen, auf die sich beim Gedanken an die Assoziation ein Hauch von Sarkasmus gelegt hatte.
Draußen schien die Sonne. Es war ein schöner Tag. Er lächelte. Gleich würde die Versteigerung beginnen.
Es ging ihm um ein einziges Bild.
Die Stufen hinauf zum Auktionssaal bewältigte er genau wie jene draußen, mit Stock und einer Hand am Geländer. Von der Anstrengung zitterten seine Hände, als er oben ankam. Sein Herz schlug gegen den Brustkorb. Er lehnte vor dem Auktionssaal mit dem Rücken an der Wand und wartete, bis sich seine Atmung beruhigt hatte.
In die warme Luft mischte sich der Geruch von Parfüm. Er schloss die Augen. Ein Duft, den er aus Paris kannte, streifte seine Nase. Grün. Frisch. Fruchtig. Er stellte sich vor, wie er sich am Hals einer schönen Frau entfaltete. Eilig schob er die verlockende Erinnerung zur Seite und bemühte sich stattdessen die Essenzen zu bestimmen: Gräser. Zitrone. Verveine. Grapefruit. Etwas Salbei. Rosmarin und ein Hauch von grünem Apfel.
Ein Anflug von Freude spiegelte sich in seinen Augen. Es gibt tatsächlich noch etwas, das dich in Unruhe versetzt, sprach er im Stillen zu seinem unverwundbaren Ich.
Er betrat den Raum, der bereits mit Menschen gefüllt war. Hinten links nahm er Platz, legte seine Hände auf den Stock und wartete.
Geduld war eine seiner stärksten Disziplinen.
Geraschel von Papier. Flüstern. Knarrende Stühle.
Im Saal schwebte Anspannung.
Aus seinem seitlichen Blinkwinkel nahm er wahr, wie der Auktionator durch einen freien Korridor nach vorn zu seinem Pult schritt. Jemand schloss die Fenster.
Jean-Pierre nahm seine Brille aus der Jackentasche und setzte sie auf.
EMILIA
3
Das Herrenhaus auf einer Anhöhe inmitten von Weinbergen konnte Emilia schon von Weitem sehen. Soultz-sous-Forêts war ein für das Elsass typischer kleiner Ort mit Fachwerkhäusern und herausgeputzten Vorgärten. Er lag in einem Tal, umgeben von Wäldern, wie sein französischer Name vermuten ließ. Der Parkplatz für die Besucher des Maison du Bonséjour war ausgeschildert, und Emilia fand sofort eine Lücke unter einer Birke. Als sie ausstieg, schlug ihr heiße Luft entgegen. Die Klimaanlage ihres Wagens hatte sie fast vergessen lassen, dass der Spätsommer in der Rheinebene noch einmal alles geben konnte.
Sie sah sich um, nahm ihre Tasche, holte ihre Kamera heraus und knipste einige Fotos des Herrenhauses. Motivbilder von Landschaften und Gegenständen waren eine Art Hobby von Emilia. Vladi mochte ihre Bilder. Besonders die Schwarz-Weiß-Varianten.
»Du hast ein Auge für das Wesentliche«, pflegte er zu sagen und animierte sie ständig, mehr Menschen zu fotografieren.
»Motive beschweren sich nicht«, gab Emilia regelmäßig zurück, auch wenn ihr bei Porträts einzigartige Bilder voller Ausdruck gelangen.
Emilia steckte die Kamera in die Tasche und ließ ihren Blick über den Parkplatz schweifen. Die meisten Besucher schienen aus Frankreich zu kommen, es gab nur wenige Autos mit deutschen Kennzeichen.
Der Weg führte auf Kies, der unter den Füßen knirschte, durch einen großen Torbogen über eine Art kleine Empore zu einer großen hölzernen Eingangstür mit Eisenbeschlägen. Das Innere des Gebäudes zeugte von jahrzehntelanger Vernachlässigung. Im Entrée hatte sich das Fischgratparkett angefangen zu wölben, an den Wänden ließen nur noch Schmutzabdrücke mit gelb ausgefransten Rändern erahnen, dass hier einmal Bilder gehangen haben mussten. Modrige Feuchtigkeit lag in der Luft. In einer Ecke bemerkte Emilia eine große Trockenmaschine, die nicht im Einsatz war.
Unterhalb der Treppe, die zum ersten Stock hinaufführte, saß ein Mann hinter einem Schreibtisch. Emilia schätzte ihn auf Ende siebzig, wenn nicht älter. Aber er wirkte äußerst vital. An der Wand hing ein Schild mit einem Pfeil, der nach oben zeigte, wo die Versteigerung stattfinden musste. Der Mann, der in seinem dunkelgrauen Anzug formvollendet wirkte, bat Emilia freundlich um ihre Personalien.
»Herzlich willkommen«, verkündete er und reichte ihr über den Tisch die Hand. »Mein Name ist Thierry Bonnet.« Er zeigte auf ein Namensschild, das an seinem Revers steckte. »Ich bin der Sekretär dieses Hauses. Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich gerne an mich.«
Hinter seiner Nickelbrille funkelten dunkle, runde Augen, die eine Mischung aus Intelligenz und Witz offenbarten. Emilia bedankte sich mit einem Lächeln, während sie sich insgeheim fragte, mit welchen Aufgaben ein betagter Sekretär in diesem maroden Herrenhaus betraut war. Von oben hörte Emilia das Rücken von Stühlen. Dumpfe Stimmen überlagerten sich, während Monsieur Bonnet konzentriert Emilias Namen und Adresse notierte und ihr anschließend mit ernster Miene ein Schild mit der Bieternummer 93 überreichte.
»Sind Sie mit der Vorgehensweise vertraut, Madame?«
Verwirrt sah Emilia auf ihre Bieternummer und schüttelte den Kopf. »Ich war noch nie auf einer Versteigerung, wenn Sie das meinen, Monsieur«, antwortete sie in korrektem Französisch.
In seinem Gesicht zeigte sich ein väterlich wohlwollendes Grinsen. »Wenn Sie bieten wollen, halten Sie einfach dieses Schild in die Höhe. Der Betrag wird vorher genannt. Sie haben noch etwas Zeit. In etwa fünfzehn Minuten geht es los. Sollten Sie kaufen, sehen wir uns wieder. Bezahlt wird nämlich bei mir.«
Er klopfte auf seinen Schreibtisch und deutete auf ein aufgeklapptes kleines Notebook. »Kommt ein Gegenstand unter den Hammer, sehe ich das online. Alles geht seinen ordentlichen Gang. Einen guten Aufenthalt im Maison du Bonséjour.«
Er lächelte zufrieden, als genieße er sein Wortspiel.
»Danke schön, Monsieur. Eigentlich interessiere ich mich nur für die Gemälde. Wissen Sie, wann die Bilder an die Reihe kommen?«
Umgehend warf Bonnet einen Blick auf einen neben ihm liegenden Papierstapel, nuschelte etwas Unverständliches und reichte Emilia dann einen Ablaufplan. »Die Gemälde stehen oben auf der Liste. Hier können Sie sehen, in welcher Reihenfolge verfahren wird. Ich habe alles genau dokumentiert. Computer hin oder her.«
Ein Anflug von Stolz huschte über sein Gesicht.
Dankbar lächelte Emilia Monsieur Bonnet zu und ging die Treppen hinauf, während sie die Liste überflog. Offensichtlich sollten nach einigen Landschaftsbildern und Stillleben die Porträts folgen. Frau im Schatten stand an sechster Position. Erst jetzt fiel ihr auf, dass nur zwei Bilder aus Fugins Urheberschaft stammten.
Als Emilia oben ankam, war die Tür vom Auktionssaal weit geöffnet. Das Publikum hatte sich bereits versammelt, ein Teil der Besucher saß auf seinen Stühlen und wartete, andere standen in kleinen Gruppen etwas abseits neben den großen Fenstern und unterhielten sich angeregt. Neugierig betrat Emilia den Raum, dessen Ausmaße einem Tanzsaal glichen, in dem sich die schätzungsweise achtzig Interessenten fast verloren. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr: noch zehn Minuten. Genug Zeit, um sich noch etwas die Füße zu vertreten. Sie drehte um und ging wieder hinaus auf den Flur.
Sie schlenderte an der Bildergalerie vorbei, blieb vor einem monumentalen Ölgemälde stehen und trat einen Schritt zurück. Es zeigte eine Jagdszene mit mehreren Reitern, Hunden und einem erlegten Reh, dem gerade von einem Jäger die Eingeweide entnommen worden waren und als Trophäe zum Himmel gereckt wurden. Seit bald zwanzig Jahren stand Fleisch nicht mehr auf Emilias Speiseplan. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
»Unverkäuflich«, hörte sie plötzlich eine männliche Stimme.
Ein älterer Herr hatte sich neben sie gesellt und betrachtete das Gemälde. Er trug einen nachtblauen, maßgeschneiderten Anzug, ein zart roséfarbenes Hemd, eine gestreifte Krawatte. Glatze. Sein Rasierwasser roch eine Spur zu intensiv und vermischte sich mit dem modrigen Eigengeruch des Herrenhauses.
»Oh, ich staune nur über die Motivwahl. Das ist alles.«
»Die Natur ist grausam«, sagte er.
Lächelnd drehte sie sich weg, um in Richtung Auktionssaal zu gehen.
»Madame, bitte entschuldigen Sie …«
Sie hörte seine Stimme dicht hinter sich und spürte eine leichte Berührung an der Schulter. Er holte sie ein und hinderte sie am Weitergehen.
»Ja, bitte?«, fragte sie reserviert.
»Ich wollte nicht unhöflich sein. Darf ich mich vorstellen? Richard Sage. Ich wickle den Verkauf des Areals hier ab.« Er deutete eine winzige Verbeugung an.
»Emilia Lukin.« Sie reichten einander die Hände. »Sie sind der Besitzer dieses Anwesens?« Emilia bemühte sich, ihr charmantestes Lächeln zu zeigen. Monsieur Sage schüttelte den Kopf.
»Aber nein«, winkte er ab, lachte dabei eine Spur zu laut und zeigte blitzweiße Zähne. »Ich bin ein enger Vertrauter des früheren Besitzers. Die Erben wollen anonym bleiben. Sie wissen ja, wie das ist: Man weckt Begehrlichkeiten. Deshalb hat man eine neutrale Person eingesetzt. Betrachten Sie mich als Neutrum, Madame.« Mit gespielter Bescheidenheit deutete er auf seine Brust.
Emilia grübelte über den Zusammenhang von Anonymität, Neutralität und Begehrlichkeiten, kam aber auf keinen gemeinsamen Nenner. »Ich dachte, Paul-Raymond Fugin sei der Besitzer gewesen«, erklärte sie selbstbewusst und versuchte sich an den Wikipedia-Eintrag zu erinnern. Stand dort nicht, Fugin habe bis zu seinem Tod in seinem Herrenhaus gelebt? »Das haben meine Recherchen jedenfalls ergeben.«
»Sind Sie von der Erbermittlung? Oder wollen Sie das Maison du Bonséjour kaufen? Ich könnte mich für Sie verwenden, Madame.«
Lachend schüttelte Emilia den Kopf. Diesmal war es an ihr, Bescheidenheit zu demonstrieren. »Nicht doch, Monsieur. Weder noch. Ich möchte ein Bild kaufen. Jetzt gleich bei der Auktion. Ist es nicht üblich, sich vorher einen Überblick zu verschaffen?«
»Nur ein Bild?«
»Ja.«
»Darf ich fragen, welches es Ihnen angetan hat? Hier gibt es viele wunderschöne Kunstwerke. Und die wenigsten stammen aus Fugins Hand.«
Emilia zögerte. Irgendwie fand sie den Mann anmaßend, seine Bemerkung über Fugins Werk despektierlich. Sie mochte Richard Sage nicht. Dann aber kam ihr die Idee, einen Köder auszuwerfen. Vielleicht würde sie ja etwas über die Hintergründe des Porträts erfahren.
»Sagt Ihnen der Name Sophie Langenberg etwas, Monsieur Sage?«
Die Gesichtszüge des Neutrums wirkten plötzlich wie eingefroren, dessen Miene versteinert. »Sollte er?«
»Sie war eines von Fugins Modellen«, erklärte Emilia. »Kannten Sie den Künstler denn persönlich, Monsieur?«