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Bettina Storks

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Beschreibung

»Was für ein Roman! Bettina Storks hat mich absolut begeistert!« Maria Nikolai

Paris 2016: Ein lukratives Erbe winkt der Stuttgarter Historikerin Marie und dem französischen Journalisten Nicolas, wenn sie eine schwierige Aufgabe lösen: Gemeinsam sollen sie ein lang verschollenes Gemälde finden und es den möglichen Überlebenden einer jüdischen Pariser Familie zurückgeben. Ihre Suche führt sie nicht nur in die Wirren des Zweiten Weltkriegs und an die Abgründe der Besatzungszeit, sondern wird rasch zu einem atemlosen Ringen mit der Vergangenheit ihrer Familien. Im Dickicht des Kunstraubs der Nazis muss sich Marie einem schrecklichen Geheimnis stellen – und bald auch ihren Gefühlen für Nicolas.

Dramatisch, atmosphärisch und hoch spannend – mit großer Erzählkunst verwebt Bettina Storks reale Begebenheiten und Fiktion.

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Seitenzahl: 482

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Zum Roman

Paris 2016. Ein lukratives Erbe winkt der Stuttgarter Historikerin Marie und dem französischen Journalisten Nicolas, wenn sie eine schwierige Aufgabe lösen: Gemeinsam sollen sie ein lang verschollenes Gemälde finden und es den möglichen Überlebenden einer jüdischen Pariser Familie zurückgeben. Ihre Suche führt sie nicht nur in die Wirren des Zweiten Weltkriegs und an die Abgründe der Besatzungszeit, sondern wird rasch zu einem atemlosen Ringen mit der Vergangenheit ihrer Familien. Im Dickicht des Kunstraubs der Nazis muss sich Marie am Ende einem schrecklichen Geheimnis stellen – und bald auch ihren Gefühlen für Nicolas.

Dramatisch, atmosphärisch und hoch spannend – mit großer Erzählkunst verwebt Bettina Storks reale Begebenheiten und Fiktion.

»Was für ein Roman! Bettina Storks hat mich absolut begeistert.«  Maria Nikolai

Zur Autorin

Bettina Storks, geboren 1960 bei Stuttgart, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Sie war viele Jahre als Redakteurin tätig, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichte. Sie lebt und arbeitet am Bodensee. In ihren Romanen Das geheime Lächelnund Leas Spuren vereint sie ihre Leidenschaft für Familiengeheimnisse und ihre Liebe zu Frankreich.

www.bettinastorks.de

Bettina Storks

LEAS

SPUREN

Roman

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Zitatnachweis:

[>>] Jehuda Bacon/Manfred Lutz, Solange wir leben,

müssen wir uns entscheiden

© 2016, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Originalausgabe 11/2019

Copyright © 2019 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Schlück, 30827 Garbsen

Redaktion: Heike Hauf

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Arcangel/Collaboration JS;

akg-images/Science Source; GettyImages/

Erin Patrice O’Brien,

Ian. CuiYi; Shutterstock/schankz,

Suriya Wattanalee, Africa Studio

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-24438-5V003

www.diana-verlag.de

Das Leben kann so verführerisch sein, man denkt,

ich hab’ etwas, ich bin etwas, aber das vergeht.

Jehuda Bacon

PROLOG

Paris

17. August 2016

Er war in Paris geblieben. Genau wie damals vor über siebzig Jahren. Seinem inneren Kompass zu folgen war zeitlebens seine Devise gewesen. Im elften Arrondissement, nahe dem Viertel Belleville, wo das widerspenstige Herz der Stadt schlug, lag sein Appartement.

Er warf einen Blick in den Salon, in dem die Bücherregale überquollen. Er würde die Putzfrau bitten, gründlich abzustauben. Vielleicht würde er ein paar Sachen wegwerfen müssen.

Loslassen.

Das Schlagen der Wanduhr riss ihn aus seinen Gedanken. Schon drei Uhr.

Er hasste Verspätungen.

Vor dem Spiegel prüfte er seine Erscheinung. Dank seiner großen, schlanken Statur waren ihm die Lebensjahre nicht anzusehen. Er strich einen Fussel vom Kragen seines Jacketts und rückte die Krawatte zurecht. Er ging ohne Weiteres als Endsiebziger durch. Das lag vor allem an seinem aufrechten Gang und seiner überaus korrekten Kleidung.

Obwohl er längst nicht mehr rauchte, steckte er aus alter Gewohnheit sein Feuerzeug in die Jackentasche.

Vor seiner Haustür schlug ihm die Augusthitze mit voller Wucht entgegen, als stünde er vor einer zähen, durchsichtigen Wand. Einen winzigen Moment erwog er, seinen Besuch zu verschieben. Er verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war.

Mit fünfundneunzig durfte man nichts mehr aufschieben.

Mechanisch sah er auf seine Armbanduhr, umklammerte seine Tasche und ging die Straße entlang. Der Hitze wegen machte er deutlich kleinere Schritte als sonst.

Seine Atmung ging so schnell, als sei er gerannt. An der Straßenecke blieb er stehen und schnappte nach Luft. Sein Herz hämmerte in seinem Brustkorb. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen, schloss die Augen, öffnete sie wieder.

In der Ferne konnte er das Tor bereits sehen, in das eine graue hölzerne Doppeltür eingebaut war. Graugrün.

Er bündelte seinen ganzen Willen gegen den aufkommenden Schwindel, gegen die drohende Ohnmacht, den Verlust von Kontrolle. Vor seinen Augen verschwamm die Holztür, und ihm war, als ob die Hauswände taumelten.

Nicht weit von hier musste der kleine Park liegen, jener, den er so oft am Abend besucht hatte. Früher mit ihr. Wie lange war das her? Jahrzehnte. Und doch schien es ihm in diesem Moment, als sei es gestern gewesen. Die Erinnerung löste die Sehnsucht und Vorfreude von einst in ihm aus.

Mit Bedacht erreichte er die Tür und war überrascht, dass sie sich mühelos öffnen ließ. Er fand sich unter einem hohen Gewölbe wieder, wo ein kühler Luftzug ging. Links von ihm Briefkästen. Er zählte: Wo einst dreihundert Menschen gelebt hatten, gab es jetzt noch fünfunddreißig Wohneinheiten.

Der Innenhof beherbergte einen kleinen, mit gusseisernen Stäben eingezäunten Garten. Dunkelgrüner Efeu wucherte an einer der Hauswände bis ins zweite Stockwerk hinauf. Drei Eingänge führten zu den Häusern B, C und D. Die der Straße zugewandte Seite bildete die A, die einst bevorzugte Wohnseite. Wie sich die Zeiten geändert hatten!

Er sah sich um – irgendwo musste die Loge der Concierge sein. Als er seinen Kopf drehte, wurde ihm schwindelig. Es folgte ein stechender Schmerz an der rechten Schläfe. Ihm war, als rebellierte jede seiner Zellen.

War es so, wenn es zu Ende ging?

Nein. Er würde noch nicht abtreten.

Nicht, bevor er den Grund seines Ausflugs an jenem glühend heißen Sommertag erledigt hatte.

Er zerrte an seinem Krawattenknoten, lockerte den Kragen und riss dabei den obersten Knopf seines Hemdes ab. Der Perlmuttknopf flog durch die Luft und kullerte auf den abgetretenen Steinboden.

Erschöpft lehnte er seinen Körper gegen die kühle Wand und starrte auf die vielen Namen auf den Klingelschildern. Die Buchstaben schienen in der Hitze zu schmelzen. Wie war der Name? Er konnte sich nicht erinnern.

Er registrierte einen kleinen Vorbau. War das die Concierge-Loge? Seine Knie wurden weich. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er fiel zu Boden.

Auf einmal wurde es ganz still in ihm.

Er spürte etwas Hartes unter seinem Hinterkopf und eine warme Flüssigkeit. Geruch von Eisen oder Kupfer. Blut.

Er blinzelte.

Über ihm ein Stück Himmel. Aus einer Wohnung klangen Klaviertöne. Eine alte Melodie tanzte auf den Blättern der Kastanie. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah er durch das Geäst das Spiel von Licht und Schatten. Im Takt eines ihm vertrauten Chansons.

Que reste-t-il de nos amours? – Was bleibt von unseren Lieben?

Diese Melodie hatte er tausendmal gehört.

Ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Ruhe durchströmte seinen Körper, und eine fremde Macht legte seinem Herz Flügel an, um davonzufliegen.

Es heißt, im Sterben ziehe das Leben in Windeseile an einem vorbei. Bei Victor war es, wie das meiste in seinem Leben, anders. Er erlebte eine Zeitlupe. Eine, die sich noch Tage hinziehen sollte.

Victor wollte etwas sagen. Zu der Ärztin, die sich über ihn beugte, zu den Sanitätern, die ihn auf eine Trage legten. Etwas Wichtiges. In dem Areal seines Gehirns, zuständig für verloren gegangene Menschen und Dinge, herrschte Chaos. Leitungen blockierten, Synapsen versagten ihren Dienst.

Ich muss etwas erledigen. Jetzt sofort. Ich bin nicht tot.

»Ihr Name, Monsieur? Können Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Victor Blanc.«

Er war nicht tot. Gerade hatte er seine eigene Stimme gehört. Mit einem tiefen Atemzug schloss er seine Augen und fühlte – Freiheit. Eine Freiheit wie mit zwanzig. Eine Freiheit, die nichts von der Endlichkeit wusste. Bilder seiner Jugend kamen ihm in den Sinn.

Nichts, er hatte nichts vergessen.

Keine einzige seiner Sünden.

In der glühenden Augusthitze des Jahres 2016, auf dem Boden im Innenhof eines Pariser Wohnhauses, begegnete Victor seinem Leben ein zweites Mal.

Seiner Familie an einem Frühlingstag beim Essen auf dem Land. Seiner ersten Gerichtsverhandlung. Dem Examen seines Sohnes. Der Einschulung seines Enkels.

Seiner Pariser Wohnung.

Seiner großen Liebe.

Seiner Schuld.

MARIE

1

Paris

Oktober 2016

Es gibt Familien, in deren Kellern Leichen liegen. Dunkle Geschichten, vor langer Zeit archiviert und über Jahrzehnte weggesperrt, geraten in Vergessenheit. Trotzdem sind sie da. Als tickende Zeitbomben haben sie viele Namen. Angst. Schuld. Scham. Verleugnung. Die Gründe für ihre Verbannung in die tiefsten Schichten des Vergessens sind vielfältig und sorgen für einen sonderbaren Pakt zwischen all jenen, die das geheime Wissen teilen. Ein Pakt des Schweigens, der sie gut schlafen lässt. Aber das Ausblenden verdrängter Wahrheiten gewährt nur einen zerbrechlichen Schlaf.

Bis etwas Unerwartetes geschieht.

Etwas Unerwartetes hatte Marie Bergmann an einem Herbsttag im Jahr 2016 nach Paris in die Rue de Rivoli geführt.

Mit einem vor Tagen an sie gerichteten Brief eines Pariser Notars stand sie vor einem Haus mit einer Jugendstilfassade am Rande des Marais und verglich das vergoldete Schild des Notariats Maître Lambert mit dem Briefkopf.

Hier war sie also richtig – in unmittelbarer Nachbarschaft des imposanten Gebäudes Hôtel de Ville, dem Rathaus von Paris. Auf dem riesigen Platz davor drehte sich ein Kinderkarussell im Kreis.

Vor Maries Paris-Reise hatten zu Hause in ihrer Heimatstadt Stuttgart die Telefonleitungen geglüht. Was bedeutete diese Einladung in der Erbangelegenheit eines Verstorbenen namens Victor Blanc? Warum gerade Marie? Niemand in der Familie hatte den Verstorbenen gekannt. Nicht einmal Maries Großmutter, Oma Fredi, die Autorität in Sachen Familiengeschichte. Die Frage, darüber waren sie sich schnell einig, nachdem sie den Sachverhalt bei Kaffee und Kuchen ausgiebig diskutiert hatten, konnte nur eine Tote beantworten. Charlotte Schneider, die ältere Schwester von Oma Fredi. Sie hatte als junge Frau einige Zeit in Paris verbracht. Charlotte allerdings war seit fast siebzig Jahren tot.

Nach gründlicher Überlegung hatte sich Marie schließlich zwei Tage freigeschaufelt, eine Vertretung für ihre Schulklassen-Führungen im Landesmuseum Stuttgart organisiert und war an jenem sonnigen Herbsttag mit vielen Fragen im Gepäck nach Paris gereist. Was erwartete sie hier in der Rue Rivoli?

Beherzt betrat sie das Gebäude, stieg in den altmodischen Aufzug und betätigte die Taste für den dritten Stock. Auf dem Weg nach oben sah sie im Spiegel ihr Gesicht, das ihr heute, trotz Sommersprossen, besonders blass vorkam. Das kupferrote Haar bildete einen auffälligen Kontrast zu ihrem hellen Teint, den grünen Augen.

Beim Aussteigen beschlich Marie ein seltsames Gefühl – eine Vorahnung? Sie war vorsichtig mit solchen Deutungen. Nachdem sie geklingelt hatte, fuhr sie sich mit beiden Händen durch das gewellte, halblange Haar.

Eine Sekretärin führte Marie in einen großen Raum, wo ein etwas untersetzter Mann mit grauem Haar am Fenster stand, ein Smartphone am Ohr. Wenige Meter von ihm entfernt unterhielten sich eine jüngere Frau und ein Mann in Maries Alter miteinander. Abrupt unterbrachen sie ihr Gespräch. In der Mitte des Raums stand ein großer runder Tisch aus Nussbaumholz, daran mit Samt bezogene Stühle.

Eilig beendete der Mann sein Gespräch und ging lächelnd auf Marie zu. Sein rundliches Gesicht und die Grübchen in den Mundwinkeln verliehen ihm etwas Unbeschwertes.

»Herzlich willkommen in Paris, Madame Bergmann, mein Name ist Pierre Lambert. Darf ich Sie mit Nicolas Blanc, dem Enkel von Victor Blanc bekannt machen? Und mit Madame Galland, unserer Dolmetscherin? Sie wird gleich jedes Wort ins Deutsche übersetzen.«

Erleichtert atmete Marie auf und reichte beiden die Hand. Die Verständigungsfrage war geklärt. Aber auch ohne Dolmetscher hatte Marie Maître Lamberts einführende Worte verstanden, obwohl ihr Schulfranzösisch knapp fünfundzwanzig Jahre zurücklag. Vielleicht war es mit den Fremdsprachen wie mit Fahrradfahren – man verlernte sie nie.

»Lassen Sie uns bitte Platz nehmen.«

Verstohlen beobachtete Marie den Enkel von Victor Blanc, während sie auf den Tisch zuging. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig, so wie sie. Sein schwarzes Hemd war von schlichter Eleganz und bildete einen Kontrast zu seiner verwaschenen Jeans. Sein gewelltes brünettes Haar trug er nackenlang, scheitellos und zurückgekämmt. Markante Gesichtszüge. Braune Augen hinter einer schwarzen Brille.

Als sie sich gleichzeitig an den runden Tisch setzten, spürte Marie, wie auch ihr Gegenüber sie verhalten musterte und verlegen wegsah, als sich ihre Blicke trafen. Marie schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und bemühte sich um Konzentration. Die Stühle waren so platziert, dass zwei Armlängen Abstand zwischen allen Beteiligten lagen. Nur die Dolmetscherin rückte ihren Stuhl etwas hinter den von Marie.

»Lassen Sie uns beginnen«, sagte Lambert aufmunternd, der sich zwischen Nicolas Blanc und Marie gesetzt hatte. »Jetzt, da wir vollzählig sind. Alle bereit?«

Niemand antwortete. Nur die Dolmetscherin übersetzte flüsternd.

»In meiner Eigenschaft als Notar habe ich den Auftrag, das Vermächtnis von Victor Blanc zu verlesen.«

Maître Lambert schob seine Brille auf die Nase.

»Die beiden Begünstigten sind anwesend. Marie Bergmann und Nicolas Blanc, der Enkel des Verstorbenen.«

Die Dolmetscherin übersetzte, aber Marie hatte schon verstanden. Sie war eine Begünstigte? Was war hier los?

Fragend runzelte sie die Stirn.

»Ich erkläre das Testament für eröffnet«, sagte der Notar und nahm einen versiegelten Umschlag zur Hand.

Er richtete seine Augen direkt auf Marie.

»Die Tatsache, dass Sie, Madame Bergmann, in den Genuss dieser Erbschaft kommen, resultiert aus einer alten Verbindung von Monsieur Blanc.«

Diesmal wartete Marie auf die exakte Übersetzung. Mit einem Ruck schob Nicolas Blanc seinen Stuhl zurück, drehte ihn seitlich zum Tisch und schlug ein Bein über das andere. Er wippte mit dem frei schwingenden Bein und strich mit einem Finger über das Zifferblatt seiner Armbanduhr.

»Einer Verbindung mit Charlotte Schneider … verstorben im Jahr …« Lambert blätterte zerstreut in seinen Unterlagen.

»1949«, sagte Marie auf Französisch.

Nicolas Blanc schmunzelte.

»Richtig. 1949. Es war der Wille des Erblassers, Sie, Madame Marie Bergmann, als Nachkommin Ihrer Großtante zu bedenken.«

Jetzt war es raus.

Marie schluckte und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Genau das hatte Maries Vater vermutet – Charlotte hatte Spuren hier in Paris hinterlassen. Spuren, die nach dem Tod von Victor Blanc freigelegt worden waren.

Lambert hielt einen dicken DIN-A5-Umschlag in die Höhe und wandte sich lächelnd an Nicolas Blanc. »Dann lassen Sie uns beginnen.«

Maître Lambert räusperte sich, brach das Siegel, öffnete mit einem Brieföffner den Umschlag und entfaltete mehrere darin liegende handschriftlich beschriebene Seiten, die er nebeneinander vor sich ausbreitete. Er nahm einen Füllfederhalter und legte ihn daneben.

Marie registrierte eine auffällig große Handschrift mit steilen Buchstaben, während ihr tausend Fragen durch den Kopf gingen. Warum sie? Und nicht Oma Fredi? Was hatte das hier mit Charlotte zu tun? Wer war dieser Victor Blanc?

Langsam, mit deutlicher Stimme, begann Maître Lambert mit der Verlesung und machte nach jedem Absatz eine Pause, damit die Dolmetscherin das Gesagte übersetzen konnte.

»Ich, Victor Blanc, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, habe mein Erbe zugunsten meines Sohnes, Didier Blanc, wohnhaft, Boulevard du Palais, Paris, bereits geregelt. Außerhalb dieses Vermögens mit gesetzlicher Erbfolge, ist es mein Wunsch und Wille, eine Immobilie auszuklammern.«

Eine Immobilie.

Maries Herz klopfte. Lambert blickte ratlos in die Runde. Nicolas Blanc schüttelte fast unmerklich den Kopf und gab dem Notar ein Zeichen weiterzusprechen.

»… eine Immobilie auszuklammern. Ich vermache meine Wohnung in der 87, Rue Oberkampf meinem Enkelsohn Nicolas Blanc und der Großnichte von Charlotte Schneider, Marie Charlotte Bergmann, zu gleichen Teilen.«

Hatte Marie da eben richtig gehört? Auch auf Deutsch schien ihr das Gehörte abwegig. Stirnrunzelnd wandte sie sich an Nicolas Blanc, in dessen Augen sie ein einziges Fragezeichen zu sehen glaubte.

»Rue Oberkampf?«, fragte Nicolas Blanc nach einer Weile und fixierte Lambert. »Im elften Arrondissement? Was soll das heißen?«

Der Notar nickte und zuckte anschließend mit den Achseln.

»Ich bin selbst überrascht, Nicolas. Glaube mir, ich wusste nicht, dass dein Großvater … Rue Oberkampf. Dein Großvater und mein Vater waren enge Freunde, aber … Ich war nicht im Bilde. Nicht im Geringsten.«

Erneut räusperte er sich, nahm das Testament und fuhr mit beherrschter Stimme fort: »Bei Charlotte Schneider handelt es sich um eine verstorbene langjährige Weggefährtin von mir, in deren Schuld ich stehe.«

Langjährige Weggefährtin – verband die beiden einst eine Liebesbeziehung? Charlotte war nie verheiratet gewesen. Marie wünschte, Oma Fredi wäre hier und könnte Antworten geben.

Nicolas Blanc verschränkte die Arme vor der Brust, während Marie sich immer noch bemühte, die Informationen in ihren familiären Kontext einzuordnen.

»Die Gründe für meine Entscheidung sind vielfältig und sollen in diesem Rahmen nicht weiter erörtert werden. Die Immobilie ist schuldenfrei und besitzt ihren, wie ihr beide sehen werdet, eigenen Reiz.«

Marie hatte das Gefühl, sich zwicken zu müssen. War das ein Traum? Ein Sechser im Lotto? Sie sollte aus heiterem Himmel eine Wohnung in Paris bekommen? Genauer: eine halbe Wohnung? Einfach so? Nur weil ihre Großtante Charlotte mit diesem Victor Blanc irgendwie verbunden gewesen war?

Eine Weggefährtin, in deren Schuld ich stehe.

»Allerdings verbinde ich mit meinem großzügigen Geschenk einen Auftrag. Es mag unverständlich erscheinen – mir ist es ein persönliches Anliegen, das ich Euch bitte zu respektieren. Es ist mein Wunsch, dass Ihr ein im Zweiten Weltkrieg verloren gegangenes Gemälde des Malers Jakob Stern findet und es seinem rechtmäßigen Besitzer oder dessen Rechtsnachfolger übergebt. An dem Gemälde Mädchen im Jardin du Luxembourg hängen menschliche Schicksale, wie Ihr sie Euch nicht einmal auszudenken wagt. Alles, was ich über den Verbleib bislang in Erfahrung gebracht habe, liegt in der Rue Oberkampf in einer orangefarbenen Mappe in der Schreibtischschublade meines Arbeitszimmers.«

Mädchen im Jardin du Luxembourg.

Marie stockte der Atem. Verunsichert blickte sie hinüber zu Nicolas Blanc, der schnaubte.

»Wir beide? Sie und ich?«, fragte sie schließlich.

»Dieses Schreiben setze ich vorsorglich auf«, fuhr Maître Lambert fort. »Ich bin nun fünfundneunzig Jahre alt. Sollte meine Lebenszeit nicht ausreichen, die Angelegenheit selbst zu klären, dann ist es an Euch, Nicolas und Marie, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen.«

Geschehenes Unrecht wiedergutzumachen.

Marie starrte auf die gepflegten Hände des Notars, während sie Madame Gallands flüsternde Worte vernahm.

»Wann genau hat er das Testament aufgesetzt?«, wollte Nicolas Blanc wissen.

»Am 6. August 2016.«

»Etwa drei Wochen vor seinem Tod.«

»Richtig.«

»Ist das alles?«

»Nein«, sagte Lambert.

Mit einem Ruck drehte er seinen Stuhl zum Schreibtisch, griff nach dem Telefonhörer und sah sich in der Runde um.

»Kaffee?«

Seine Augen flackerten.

Alle Anwesenden schüttelten den Kopf.

MARIE

2

Paris

Oktober 2016

Maître Lamberts Sekretärin stieß die Tür auf und brachte eine Karaffe Wasser nebst Gläsern. Sie stellte alles auf den Tisch und schenkte ein.

Lambert nahm einen kräftigen Schluck.

Marie sah gebannt in seine Richtung und wartete auf die Fortsetzung.

»Weiter geht’s«, sagte er fast fröhlich und stellte sein Glas auf den Tisch.

Er zog die Brauen hoch, hielt seinen Zeigefinger regungslos in die Luft und las weiter.

»Sollten die beiden Erben binnen einem Jahr an ihrem Auftrag scheitern, also keine Ergebnisse präsentieren, ist Maître Lambert befugt, die Wohnung zum Verkauf auszuschreiben. In diesem Fall geht der Erlös an die Pariser Sozialeinrichtungen, die namentlich beiliegen. Ich hoffe inständig, Euch gelingt, was mir mangels Lebenszeit womöglich verwehrt bleibt. Wo immer ich dann sein werde, feiere ich ein Fest. Nach Erfüllung Eurer Aufgabe seid Ihr frei. Macht mit der Wohnung, was Ihr wollt. Die Ergebnisse Eurer Bemühungen legt Ihr bitte in regelmäßigen Abständen, will heißen, alle zwei bis drei Monate vom Datum dieser Verkündung an, Lambert vor. Ich wünsche Euch bei Eurem gemeinsamen Unternehmen Glück, einen klaren Blick und ein mutiges Herz! Victor Blanc, Paris, 87, Rue Oberkampf, 6. August 2016.«

Ein mutiges Herz. Marie sinnierte über das schöne Bild, das die Bedingungen des Erblassers für einen Moment verdrängte.

In was wurde sie ohne Vorwarnung hineingezogen? In die sentimentalen Anwandlungen eines alten sterbenden Mannes und seiner früheren Weggefährtin? Eine, die zufällig ihre Großtante war? Steckte Charlottes Geld in der Wohnung? Das wäre für Marie die einzige Legitimation, dieses Erbe anzunehmen. Blieb aber immer noch der sonderbare Auftrag, der nichts, rein gar nichts, mit ihr zu tun hatte.

»Ich wusste nichts von einer Wohnung meines Großvaters in der Rue Oberkampf«, presste schließlich Nicolas Blanc hervor. »Geschweige denn von einer Verbindung zu einer Frau Schneider.«

»Charlotte Schneider«, entfuhr es Marie in einem Ton, als müsse sie Charlotte und sich verteidigen. »Auch mir ist eine Verbindung meiner Großtante zu Monsieur Blanc nicht bekannt.«

»Victor Blanc«, sagte er schroff. »Seines Zeichens ehemaliger Staatsanwalt für Strafrecht. Einer der größten, den Pariser Gerichte in den Fünfziger- und Sechzigerjahren gesehen haben.«

Freut mich außerordentlich, dachte Marie wütend und biss sich auf die Lippe. Warum hat er dann nicht selbst für Ordnung gesorgt?

»Bitte verzeihen Sie«, sagte Nicolas Blanc. »Ich wollte damit sagen, dass mein Großvater wusste, was er tut. Ihre Ansprüche, Madame, sind mit Sicherheit juristisch korrekt.«

Ich erhebe keinerlei Ansprüche, wollte Marie sagen, aber Lambert kam ihr zuvor.

»Ich sehe das wie du, Nicolas. Das Testament ist wasserdicht. Mir ist der Inhalt dieses Vermächtnisses genauso neu wie allen Anwesenden hier. Aber es ist Victors Wille. Du wirst das respektieren müssen.«

»Seit wann besitzt – besaß«, korrigierte sich Nicolas Blanc hastig, »seit wann besaß er denn diese Wohnung?«

Lambert blätterte in den Papieren. »Die Urkunde läuft seit 1940 auf seinen Namen.«

»Seit 1940? Als die Deutschen Paris besetzten?«

Marie lief ein Schauer über den Rücken.

»Wann genau sind die Deutschen im Zweiten Weltkrieg hier einmarschiert?«, nuschelte Lambert und starrte auf die Urkunde, als stünde dort die Antwort.

»Am 16. Juni 1940«, sagte Marie auf Französisch, bereute ihre Wortmeldung aber sofort. »Verzeihen Sie. Ich bin Historikerin. So etwas weiß man einfach.«

Nicolas Blanc schmunzelte, hob kurz die Brauen und sah dann Lambert abwartend an.

»Das Eigentum wurde im Februar 1940 rechtskräftig, also ein paar Monate, bevor die Deutschen Paris besetzten«, sagte dieser mit Blick auf Marie.

Sie überkam ein starkes Verlangen, den Raum zu verlassen.

Aufstehen. Gehen. Sie könnte sich zwei schöne Tage in Paris machen. Montmartre. Marais. Jardin du Luxembourg. Eine Bootstour auf der Seine. Kaffeetrinken im Angelina. Louvre. Sie war schon ewig nicht mehr im Louvre gewesen. Anschließend zurück nach Stuttgart im bequemen TGV.

Sie würde einfach ihr Leben weiterleben. Tun, als sei dies hier nicht geschehen.

»Kann ich das Erbe ablehnen?«, fragte Marie mit klarer Stimme und sah Maître Lambert entschlossen an.

Lambert schnappte seine Brille vom Tisch, setzte sie auf, nahm das Schreiben, hob den Zeigefinger und fuhr feierlich fort.

»Postskriptum. Sollte einer der beiden Begünstigten das Erbe ausschlagen, dann geht der Erlös der Immobilie direkt an soziale Pariser Einrichtungen, siehe Anlage. Zwei Wohnungsschlüssel befinden sich im Umschlag.«

Lambert machte eine Pause, warf einen verwirrten Blick auf den Tisch und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Bon courage, Marie et Nicolas!«

Bon courage! Nur Mut!

»Aber, das ist ja …« Marie suchte nach dem passenden Wort. Ihr fiel nur Erpressung ein. »Was bedeutet das?«

»Dass mein Großvater alle Eventualitäten bedacht hat«, erklärte Nicolas Blanc in perfektem, nahezu akzentfreiem Deutsch. Er wandte sich direkt an Marie. »Glauben Sie mir, ich kenne ihn seit dreiundvierzig Jahren. Er hat noch nie in seinem Leben etwas grundlos verschenkt.«

»Es sind exakt die Gründe Ihres Großvaters, Monsieur Blanc, die mich beunruhigen.«

Marie fragte sich immer und immer wieder: Welchen Preis würde sie bezahlen müssen, wenn sie auf den Deal einginge?

Lambert nahm seinen Füllfederhalter, hielt ihn wie eine Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger und ließ ihn nervös hin und her pendeln.

»Wie lautet deine Antwort, Nicolas?«, fragte er. »Du, als Journalist! Du sitzt in der Redaktion der Libération an der Quelle. Es dürfte ein Klacks für dich sein, dieses Bild nebst Besitzer zu finden.«

Blanc kniff die Augen zusammen. »Und wenn der ursprüngliche Besitzer tot ist und kein Rechtsnachfolger existiert?«

»Wäre die Aufgabe erfüllt«, erwiderte Lambert unbeeindruckt.

»Und wenn das ominöse Gemälde verbrannt wäre?«

»Ist die Aufgabe erfüllt. Selbstredend müsstest du dafür Beweise vorlegen. Sie beide«, ergänzte Lambert hastig.

Nicolas Blanc legte seine Hände an die Schläfen und wischte sich mit einer schnellen Bewegung über die Wangen. »Dann bin ich dabei.«

»Und Sie, Madame Bergmann?«

Zwei Augenpaare waren gebannt auf Marie gerichtet.

»Ich kann das unmöglich sofort entscheiden.«

Lambert fiel das Schreibgerät aus der Hand. Es rollte über den Tisch. Mit seiner flachen Hand hielt er das edle Stück an.

»Wie messen Sie den Erfolg einer Recherche, Monsieur Lambert? Was bedeutet: die Ergebnisse Eurer Bemühungen?«

Nicolas hob die Brauen und blickte herausfordernd in Richtung Lambert.

»Dies wiederum ist eine sehr berechtigte Frage.«

Lambert zuckte mit den Achseln. »Ihr führt eine Art Protokoll und sammelt schriftliche Beweise. Zeugenaussagen?«

Zeugenaussagen. Marie saß eindeutig im falschen Film.

»Wir sind hier doch nicht bei einer polizeilichen Ermittlung«, warf Nicolas ein.

Marie schloss die Augen und öffnete sie wieder.

»Also gut«, lenkte Lambert ein. »Wie wäre es, wenn wir Genaueres bei unserem nächsten Treffen festlegen? Ich habe mich zwar gründlich auf die Vermittlung von Victors Vermächtnis vorbereitet, muss mich aber genau wie ihr mit der Thematik befassen. Warten wir ab, was ihr herausfindet. Vielleicht ist die Angelegenheit in ein paar Wochen erledigt!«

Schweigen. Blanc räusperte sich.

»Madame Bergmann«, wandte sich Lambert eindringlich an Marie. »Man schlägt doch nicht grundlos eine Wohnung mit einhundertzwanzig Quadratmetern in bester Lage von Paris aus. Ich bitte Sie! Schuldenfrei. Seien Sie doch vernünftig!«

»Ich war selten so vernünftig, Monsieur Lambert. Seit ich hier sitze, stelle ich mir eine einzige Frage: Wo ist der Haken?«

»Es gibt keinen Haken.«

Lambert zuckte mit den Achseln und flüsterte etwas Unverständliches in Richtung Nicolas Blanc, der seinerseits tief durchatmete.

»Den Haken hat mein Großvater klar formuliert.«

Seit Maries Frage nach dem Procedere war die Stimmung eindeutig frostiger geworden.

»Ihr Großvater, Monsieur Blanc, ist ein vollkommen fremder Mensch für mich. Sie mögen an seine Anweisungen gewöhnt sein. Ich bin es nicht. Ein Unbekannter schenkt mir ein beträchtliches Vermögen und möchte im Gegenzug meine Dienste, deren Folgen im Übrigen völlig unvorhersehbar sind. Warum tut er das?«

»Weil Ihre Großtante es so wollte?«, fragte er zurück.

Charlotte – die große Unbekannte in der Gleichung.

»Ich bin Historikerin, keine Privatdetektivin. Ich lebe in Deutschland, habe dort meine Arbeit. Was kommt auf mich zu, wenn ich Ja sage? Und selbst, wenn ich einwillige: Es geht nicht um meine Familie, sondern ausschließlich um Ihre, Monsieur Blanc.«

»Genau das wissen wir nicht«, sagte Blanc ernst.

Marie seufzte. Nicolas Blanc hatte recht. Niemand hier am Tisch vermochte zu sagen, was Victor und Charlotte einst verbunden hatte.

»Wir alle haben Verständnis für Ihre Bedenken, Madame Bergmann«, sagte Lambert beschwichtigend. »Dennoch sollten wir bemüht sein, mit irgendeinem Ergebnis auseinanderzugehen. Wie lange bleiben Sie in Paris?«

»Bis morgen Mittag.«

»Schlafen Sie eine Nacht drüber, Madame Bergmann. Wie wäre es, wenn Sie morgen gemeinsam mit Monsieur Blanc die Immobilie besichtigen? Sie besprechen sich und geben mir anschließend Bescheid?«

Ja, es musste eine Einigung geben.

Aber nicht hier und jetzt.

»Eine unverbindliche Besichtigung?«

»Keinerlei Verpflichtungen«, sagte Lambert und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Morgen Vormittag?«

»Wie Sie wollen«, sagte Blanc kühl und machte Andeutungen, sich zu erheben. »Rue Oberkampf, Nummer 87. Passt Ihnen zehn Uhr?«

Marie bejahte.

Lambert beugte sich abrupt nach vorn, griff in den Umschlag und zog etwas heraus. Behutsam, als handle es sich um zerbrechliche Ware, legte er zwei identische Schlüssel auf den Tisch und schob sie Marie und Nicolas getrennt zu.

»Bon courage.«

Marie warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen am Horizont zog in geheimnisvoller Formation ein Vogelschwarm vorbei. Für einen Moment hinterließ er am Himmel das gesprenkelte Bild einer geöffneten Hand.

MARIE

3

Paris

Oktober 2016

Nach einer nahezu schlaflosen Nacht war Marie am nächsten Morgen ohne Frühstück aus ihrer Pension aufgebrochen. Sie bewegte sich mit Google Maps durch verwinkelte Seitenstraßen und Parkanlagen in Richtung der Rue Oberkampf.

In Paris herrschte in diesem Herbst ein Indian Summer mit knapp über zwanzig Grad, die Platanen und Kastanien leuchteten rot und gelb. Im Gehen schlüpfte Marie aus ihrem Anorak, band ihn um die Taille, zog die Ärmel ihres Kapuzenpullis über die Ellbogen und steuerte den verabredeten Zielort an.

Die Gebäude im Osten der Metropole, wo sich die ominöse Wohnung befand, waren weit entfernt von der Eleganz eines Saint-Germain-des-Prés oder Montparnasse, einer Île de la Cité. Das angesagte Ausgehviertel der Stadt beherbergte viele Bars, Cafés, kleine Restaurants und Brasserien. In unmittelbarer Nähe lag das Bataclan, das im Rahmen einer terroristischen Anschlagsserie ein Jahr zuvor traurige Berühmtheit erlangt hatte. An exponierten Stellen erinnerten Gedenktafeln an die vielen Opfer.

Sie entdeckte Nicolas Blanc, der Zeitung lesend an der Wand der Nummer 87 lehnte und aufsah, als er sie bemerkte. Fünf Minuten vor ihrer Verabredung. Marie ließ ihr Smartphone in die Seitentasche ihres Rucksacks gleiten.

Er rollte die Libération zusammen und ging ihr ein paar Schritte entgegen. Sie begrüßten einander per Handschlag.

»Haben Sie gut hergefunden?«

Er öffnete Marie die Tür, ließ sie vorangehen.

»Problemlos. Meine Pension liegt ganz in der Nähe. Darf ich Sie fragen, woher Sie eigentlich so perfekt Deutsch sprechen?«

Die Frage lag ihr seit gestern auf der Zunge. Sie stieg neben ihm in den offenen Aufzug.

Mit wenigen Worten schilderte Nicolas Blanc seinen erstklassigen Bildungsweg: Internationale Schule in Paris. Studium in Zürich. Auslandsaufenthalt in Deutschland. Deutschlandkorrespondent für einen französischen TV-Sender in Berlin.

»Inzwischen bin ich Journalist bei der Libération. Frei und ungebunden.«

Nicolas drückte den Knopf für das obere Stockwerk.

»Deshalb haben Sie fast keinen Akzent und sprechen fehlerfrei.«

»Danke. Ihr Französisch ist auch sehr gut, was ich bis jetzt davon gehört habe. Und Sie arbeiten als Historikerin?«

Marie nickte. »Eine befristete halbe Stelle in einem Stuttgarter Museum. Museumspädagogik. Freiberuflich mache ich Stadtführungen in Stuttgart.«

»Die Stadt der Automobile.«

»Obwohl sie weitaus mehr zu bieten hat«, sagte Marie lächelnd.

Mit einem Ruck hielt der Aufzug an. Hier oben gab es nur ein Appartement – das von Victor Blanc.

An der Klingel stand sein Name.

»Dann wollen wir uns mal in die Höhle wagen.« Seine Stimme klang, als müsse er sich selbst Mut zusprechen. Fast schüchtern bedeutete er Marie einzutreten.

Die abgedunkelte Wohnung roch nach alten Büchern, Staub und abgestandener Luft. Von einem rechteckigen Flur gingen auf jeder Seite zwei Türen ab. Stuck an den Decken. Schwere, massive Möbel. Regale mit akkurat eingeräumten Büchern. Die Samtvorhänge mit Spitzengardinen vor dem Schlafzimmerfenster waren zugezogen.

Marie schritt durch einen der Räume, während sie ihren Rucksack abnahm. Hier sollte Charlotte gelebt haben?

»Wir brauchen Luft und Licht«, sagte Nicolas, trat zur Balkontür und öffnete die quietschenden Klappläden. Hinter einer bodentiefen Fenstertür lag ein kleiner Balkon mit gusseisernem Geländer, der zur Straße zeigte.

Nachdem Marie im gegenüberliegenden Raum Fenster und Läden geöffnet hatte, strömte sogleich frische Herbstluft herein. Licht durchflutete die ansprechend geschnittene Wohnung. Doch noch immer schien das schwere Mobiliar die hohen Räume zu erdrücken.

Im Flur trafen Marie und Nicolas Blanc wieder aufeinander, sahen sich ratlos an. Von unten drangen gedämpft Straßengeräusche zu ihnen hinauf.

»Das sind mehr als tausend Bücher, schätze ich. Eine restlos überfüllte Wohnung«, sagte er.

Er bog ab und verschwand hinter einer Tür. Marie blieb im Flur zurück und betrachtete die an den Wänden hängenden Fotografien. Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Sie erkannte ihre Großtante, und zum ersten Mal fiel ihr die Ähnlichkeit zu ihr selbst und Oma Fredi auf. Helles Haar. Ein fröhliches, unbeschwertes Lachen, obgleich sie als junge Frau bereits sehr erwachsen wirkte. Zwischen den Fingern hielt sie eine brennende Zigarette. Sie trug, der damaligen Mode entsprechend, eine gesprenkelte Bluse mit weiten Puffärmeln. Das Gesicht übersät von Sommersprossen wie bei Marie. Auf einem Bild lehnte ihr Kopf gegen die Schulter eines jungen Mannes. Er hatte den Arm um sie gelegt. Markante Gesichtszüge. Gewelltes Haar. Er sah aus wie Nicolas Blanc in einer anderen Zeit.

»Wie alt war Ihr Großvater?«, fragte sie, in die Betrachtung der beiden schönen Menschen versunken. Kein Zweifel: Victor und Charlotte waren ein Liebespaar gewesen.

»Zu jung für diesen Einrichtungsstil. Vor allem hatte er einen ziemlich exklusiven Geschmack«, kam es aus dem gegenüberliegenden Zimmer. »Fünfundneunzig.«

Exklusiver Geschmack? Marie verbiss sich ein Lachen. Sie ließ ihren Rucksack zu Boden gleiten, legte ihren Anorak darauf und warf einen Blick ins Wohnzimmer. Dort sah es aus wie bei Oma Fredi, nur das hier war im Gegensatz zu Oma Fredis Chippendale-Möbeln echt. Massive Schränke. Vitrinen. Schallplatten hinter einer Glastür. In dem gegenüberliegenden Zimmer befand sich ein Bett aus Omas Zeiten mit Samtüberwurf, passend zu den Stores.

»Wo sind Sie, Monsieur Blanc?«

»Hier«, klang seine Stimme aus einem der hinteren Räume. »Ich bin im Arbeitszimmer meines Großvaters. Neben der Küche.«

Als Marie eintrat, fiel ihr sofort der frappierende Unterschied zur restlichen Einrichtung auf. Wenige Möbel, die Exklusivität ausstrahlten. Unter dem Fenster stand aus Palisander ein Zylinderschreibtisch im Louis-Seize-Stil. Eine Wand war mit einem bis zur Decke reichenden Bücherregal zugestellt, an dem eine Leiter lehnte. Ein modernes Zweisitzer-Sofa. Weiße Leinenvorhänge. Auf einem Beistelltisch gegenüber dem Regal lag ein Stapel Zeitschriften.

Signal, las Marie mit gekipptem Kopf im Vorbeigehen. Mit einer Verzögerung von Sekunden begriff sie: ein Propagandaheft aus der Nazizeit. Vorsichtig nahm sie die Zeitschrift, als verbrenne sie sich bei der Berührung die Finger.

»Da haben wir die ominöse Schreibtischschublade«, sagte Nicolas Blanc, der mit dem Rücken zu Marie vor dem Sekretär stand und Maries Fund nicht bemerkt hatte.

Er zog seine Jacke aus, hängte sie über den Schreibtischstuhl, stellte einen Hocker direkt neben sich und bedeutete Marie, auch Platz zu nehmen.

Sie setzte sich. »Wie lange, sagten Sie, ist Ihr Großvater tot?«

»Seit sechs Wochen. Die letzten Tage seines Lebens verbrachte er auf der Intensivstation im Krankenhaus. Nach einem Schlaganfall. Er lag im Koma. Bis zu seinem Tod hat er kein Wort mehr gesprochen.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte Marie. »Hat er sich hier wohlgefühlt?«

Marie stellte diese Frage, um ein Gefühl für diesen Victor Blanc zu bekommen. Was für ein Mensch war er gewesen?

»Wer vermag das zu sagen? Dieses Arbeitszimmer ist er. Schlicht, einfach, edel. Ohne Protz. Ganz so wie er.«

»Ist das andere dann Charlotte?«, fragte Marie. Genau wie gestern hatte sie das Gefühl, ihre Familie verteidigen zu müssen.

»Das habe ich nicht gesagt. Aber zumindest tut sich ein Widerspruch auf.«

»Stimmt. Könnte man sagen, Ihr Großvater führte ein Doppelleben? Niemand wusste von alldem hier? Nicht einmal Ihre Eltern?«

»Keine Menschenseele. Großvater hat in einer luxuriösen Senioreneinrichtung in Paris gelebt. Diese Wohnung samt Inhalt hielt er über siebzig Jahre geheim. Und Ihre Familie?«

Resigniert schüttelte Marie den Kopf. »Nichts. Davon wusste meine Familie nichts.«

Schweigend legte Marie das Propaganda-Magazin auf den Schreibtisch.

Nicolas starrte auf den Titel Signal.

»Was ist denn das, bitte schön?«

»Nazi-Propaganda der übelsten Sorte.«

Verwirrt blätterte Nicolas Blanc durch die Seiten.

»Das verstehe ich nicht! Großpapa war Staatsanwalt. Einer von den Guten.«

Marie fiel das Wort Lebenslüge ein, aber alles sträubte sich in ihr, über einen Fremden zu urteilen. Diese Zeitschrift sagte nichts über die Gesinnung von Victor und Charlotte aus. Noch nicht.

Aber Marie hatte ein mulmiges Gefühl.

»Wir brauchen diese Mappe«, sagte er, schob entschlossen die Zeitschrift zur Seite und öffnete mit einem Ruck die Schublade.

Gebannt blickten beide auf den Inhalt.

Vor ihnen lagen lose Blätter und eine verblichene rötliche Mappe. Als Nicolas Blanc sie aufmachte, kamen zwei zerfledderte kleine Papiere aus brauner Pappe in der Größe eines Reisepasses zum Vorschein. Sonderausweis stand auf beiden. Darunter der Name Charlotte Schneider. Auf dem zweiten Victor Blanc. Kein Passbild. Bei Victor stand das Datum: Paris, 12. September 1940, bei Charlotte: 28. Juli 1940.

»Sonderausweise«, flüsterte Marie. »Ausgestellt von der Deutschen Botschaft, Paris. 78, Rue de Lille.«

Nicolas reichte Marie den Ausweis ihrer Großtante.

»Was bedeutet das?«, stammelte Marie und griff sich die anderen Papiere aus der Schublade, kaum größer als Scheckkarten. Eintrittskarten für ein Soldatenkino, Paris. Passierscheine Paris – Stuttgart auf Charlotte Schneider lautend. Versorgungsmarken. Sonderration war auf einem zerrissenen Zettel zu lesen.

Zeugnisse des dunklen Kapitels der deutschen Besatzung von Paris.

Nicolas schüttelte ungläubig den Kopf, lehnte sich zurück und starrte ins Leere.

»Mein Großvater hat im Zweiten Weltkrieg für die Nazis gearbeitet? Derselbe Mann, der später als Staatsanwalt für Recht und Ordnung sorgte und Verbrecher jagte? Er war 1940 gerade einmal zwanzig Jahre alt. Nein, er war kein Kollaborateur. Das glaube ich einfach nicht. Was ist mit Ihrer Tante?«

Marie spürte seinen fragenden Blick. Was sollte sie sagen? Dass sie, eine Historikerin, auf einen blinden Fleck in der eigenen Familiengeschichte gestoßen war? Diese Entdeckungen wühlten sie auf. Gestern in Lamberts Kanzlei hätte sie sich alldem noch entziehen können. Diese Fundstücke veränderten alles, bildeten eine Zäsur. Die Fotos im Flur. Victors Andeutungen über Charlotte bekamen einen Sinn, wenn auch einen sehr vagen.

Keine Frage: Maries Großtante war in die Geschichte verstrickt. Und damit auch Maries Familie. Und in der Folge sie selbst.

Historische Fakten waren eine Sache. Den Namen der eigenen Familie auf einem Originaldokument der Nazis zu sehen, eine andere.

Marie gingen unendlich viele Fragen durch den Kopf. Gestern bei Lambert musste sie sich eingestehen, dass das Ausblenden von Wahrheiten keinen Schutz bot. Jetzt musste sie erkennen, dass sie ihrer Familie zu wenig Fragen gestellt hatte. Charlotte war zeitlebens eine Außenseiterin gewesen und viel zu jung verstorben. Warum hatte sie das Leben ihrer Großtante nie besonders interessiert?

»Ich kannte Charlotte nicht«, erklärte Marie, »als ich geboren wurde, war sie schon viele Jahre tot.«

Sie blickte auf die Papiere, die Nicolas Blanc auf dem Sekretär wie Puzzleteile ausgelegt hatte. Mit aufgestützten Ellbogen betrachtete er die Auslage.

»Diese Dokumente sprechen leider eine deutliche Sprache«, sagte Marie. »Nur Privilegierte erhielten sogenannte Sondermarken für Lebensmittel. Sprach Ihr Großvater Deutsch? Könnten die Nazis ihn als Dolmetscher eingesetzt haben?«

Er schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Er hat mir einmal erzählt, dass er als Jugendlicher etwas Deutsch konnte. Aber ich habe ihn in meinem ganzen Leben kein einziges deutsches Wort sagen hören.«

»Von Charlotte weiß ich nur, dass sie sich bis zu ihrem Tod immer wieder in Paris aufhielt. Mein Vater sagte einmal etwas von einer Romanze. Charlotte sprach fließend Französisch. Ein Zusammenhang zu den Nazis während des Zweiten Weltkriegs ist mir völlig neu. Niemand hat bei mir zu Hause jemals davon gesprochen.« Marie nahm einen der Passierscheine. »Damit kam sie dann wohl wieder raus aus Frankreich. Heimaturlaub in Stuttgart.«

»Ihre Großtante sprach fließend Französisch? Was genau hat sie beruflich gemacht?«

»Sie war Bibliothekarin.«

»Eine Bibliothekarin in der Deutschen Botschaft. Es wird immer skurriler.«

Was hatten die Nazis mit einem Bücherwurm anfangen können? Warum hatte Oma Fredi nie von Charlottes Tätigkeit in der Deutschen Botschaft erzählt?

Maries Gedanken drehten sich im Kreis. Unwillkürlich fragte sie sich, was sie tun würde, ginge es hier um Fremde. Als Historikerin würde sie bohren, unerbittlich Fragen stellen, nicht lockerlassen. Und als Betroffene?

»Und was ist mit Ihrem Großvater?«

»Er hat nie über seine Kriegserlebnisse gesprochen. Die Familie hat das stets respektiert. Großpapa hat sein Leben als Staatsanwalt auf der anderen Seite verbracht, verstehen Sie? Er war ein anständiger Mann.«

Auf der anderen Seite. Ein anständiger Mann.

Das klang gut. Die andere Seite – das waren die Guten. Auf welcher hatte Charlotte gestanden?

Insgeheim gestand sich Marie die unbequeme Wahrheit ein: Es war ihr unmöglich, alldem den Rücken zu kehren, zurück nach Stuttgart zu fahren und einfach weiterzumachen wie bisher. Mit dem Öffnen der Schublade hatten sie und Nicolas Blanc den Geist aus der Flasche gelassen. Es gab kein Zurück.

»Wir müssen das hier irgendwie ordnen«, durchbrach Nicolas ihr Gedankenkarussell und machte eine ausladende Handbewegung. »Dem Chaos eine Struktur geben.«

»Das sehe ich genauso. Wer weiß, was noch alles in Schränken und Regalen lauert. Das bedeutet eine Unmenge Arbeit.«

Marie stand auf, ging zu ihrem Rucksack, nahm ihr Smartphone heraus und tippte etwas ein. Sie reichte ihm das Ergebnis, während sie sich wieder setzte.

»Das hier habe ich gestern Abend in einem Kunstforum gefunden.«

Er nahm ihr Handy, warf einen Blick auf das Display und sagte ernst: »Diesen Eintrag habe ich auch gesehen. Mehr scheint es über Stern nicht zu geben: Mädchen im Jardin du Luxembourg, 1938, Aquarell, Maße: 100 x 70 cm. Gemälde des jüdischen Malers Jakob Stern. Der Maler hat seine damals zweijährige Tochter Lea auf einem Kinderkarussell im Jardin du Luxembourg gemalt. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt das Gemälde als verschollen. Zuletzt ausgestellt im Jahr 1938 in Paris in der Galerie Simon Wildenstein, Rue Barbette, die 1940 mit der Besetzung der Deutschen in Paris ihre Türen schloss.«

Nicolas blickte ins Leere.

»Und was geschah mit Sterns Familie?«, fragte Marie. »Die meisten Pariser Juden wurden im Juli 1942 deportiert. Wenn Stern seine Tochter mit zwei gemalt hat, dann wäre sie heute über achtzig – vorausgesetzt, sie hat überlebt. Es könnten Kinder und Kindeskinder da sein. Das kann man herausfinden! Ich meine, ob Sterns Familie unter den Opfern war, ob auch sie deportiert worden ist.«

»Richtig. Es gibt Deportationslisten. Ich kann gleich morgen in der Redaktion nachfragen.«

Deportationslisten. Marie lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Nicolas klopfte mit dem Finger auf die Mappe und sah Marie dabei eindringlich an.

»Mich beunruhigt aber noch etwas anderes.«

Marie sah ihn erwartungsvoll an.

»All diese Informationen müsste mein Großvater längst herausgefunden haben. Digitale Medien bildeten seine letzte Leidenschaft. Er hat stundenlang im Internet gesurft. Uns kostete unser jetziger Wissenstand nicht einmal einen halben Tag Recherchearbeit. Wo ist diese verdammte Mappe mit den Ergebnissen seiner Ermittlungen? Hieß es nicht, sie sei orangefarben?«

Suchend ging sein Blick durch den Raum, über das Durcheinander auf dem Schreibtisch und dann zurück zu Marie.

Angespannte Stille – es war, als hielten die Räume den Atem an.

»Sie glauben, er hat eine andere Mappe als diese hier gemeint?«

»Hundertprozentig. Großpapa sprach in seinem Vermächtnis von Ergebnissen seiner Bemühungen. So ähnlich hat er es ausgedrückt. Diese beiden Ausweise betreffen ihn und Charlotte, nicht die Erben von Stern. Für diese Information musste er keinen Finger rühren.«

»Das stimmt. Solche Dinge lässt man eher verschwinden als offensichtlich herumliegen.«

»Er war schlau, Marie. Er wusste, dass ich bei solchen Dingen keinen Spaß verstehe. Das geht an meine berufliche Ehre, verstehen Sie?«

»Ich verstehe Sie sogar sehr gut. Ich bin Historikerin. Auch ich habe einen Ehrenkodex. Es mag pathetisch klingen, aber ich glaube an die Wahrheit.«

»Klingt wirklich sehr pathetisch«, sagte er und lächelte.

»Woran glauben Sie denn?«, fragte Marie spitz.

»Vorläufig an einen alten, sterbenden Mann, der geschehenes Unrecht bereute, weil er zu Lebzeiten nichts dagegen unternommen hat. Und der womöglich ein anderer war als der, für den ihn alle hielten.«

Marie überlegte, ob das auch auf Charlotte zutreffen könnte.

Nicolas stand auf, trat ans Fenster, schaute hinaus, legte beide Hände auf die Stirn, verharrte einen Moment und strich sich über den Hinterkopf, als wische er seine Gedanken weg. Er verschränkte seine Finger im Nacken.

Marie sah auf seinen geraden Rücken, seine hochgewachsene, schlanke Gestalt, das elegante dunkle Hemd, die Armbanduhr aus Edelstahl. Sein Äußeres wirkte gepflegt, zurückhaltend. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie mit diesem Mann zusammenarbeiten konnte. Ging es ihnen um dieselbe Sache?

»War Ihr Großvater klaren Verstandes vor seinem Schlaganfall?«

»So klar, wie man nur sein kann.«

Maries Blick streifte die akkurat eingeräumten Bücher. Fast ausschließlich französische Literatur. Ein gebundenes Buch mit einem deutschen Titel: Die Geheimnisse von Paris.

Welche Geheimnisse hatten Victor und Charlotte hier in der Rue Oberkampf vergraben? Und wo? Marie fühlte ein Kribbeln auf ihrer Haut, als streiche der Geist der Verstorbenen durch die Räume.

Abrupt drehte sich Nicolas Blanc um und sah Marie an. Seine Augen funkelten.

»Was für ein Gefühl haben Sie in Bezug auf die Fundstücke?«

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich habe eine Zeit lang als Gerichtsreporter gearbeitet und gelernt, dass man bei einer Tatortbesichtigung alle Sinne einsetzen muss. Vieles nehmen wir unbewusst wahr. Wir erfassen Widersprüche nicht nur über den Verstand. Es geht um unseren Instinkt. Also sagen Sie einfach, was Sie denken, Marie. Was fällt Ihnen spontan auf?«

»Dass alles sehr zufällig hier herumliegt.«

»Ganz genau. So zufällig, dass es unmöglich Zufall sein kann. All diese Hinweise verfolgen eine Absicht. Mein Großvater hat sie absichtlich gestreut.«

Marie fühlte ihren Herzschlag. Mit den Fingerspitzen fuhr sie durch das Sammelsurium aus Blättern, Zetteln und Papierfetzen auf dem Schreibtisch.

»Sie haben recht, Nicolas. Einen über siebzig Jahre alten Ausweis verstaut man in einer Kiste, nicht in der Schublade. Genau wie die Lebensmittelmarken. Die Passierscheine. Das ganze Nazi-Zeug. Eigentlich wirft man solche Fetzen weg. Die meisten jedenfalls haben das getan. Hier aber liegt eine Nazi-Zeitschrift offen herum, als handle es sich um eine aktuelle Paris Match.«

»Mein Großvater wollte, dass wir all das finden.«

VICTOR

4

Paris, Hôpital Saint-Antoine

August 2016

»Monsieur Blanc, können Sie mich verstehen?«

Wie aus der Ferne hörte Victor eine flüsternde Frauenstimme. Sein Kopf lag auf ein weiches Kissen gebettet. Mit den Fingerspitzen ertastete er gestärkte Bettwäsche.

In seiner Wahrnehmung gab es zwei Welten. Eine verschwommene hier in einem Krankenzimmer, die andere in seinem Kopf. Er vernahm geschäftiges Treiben, versuchte zu antworten, aber kein Laut ging über seine Lippen.

»Monsieur Blanc, können Sie mich verstehen?«

Seine Seele schwebte auf ausgebreiteten Flügeln. Nicht hier im Jetzt, noch nicht ganz drüben.

Hinter seinen geschlossenen Lidern betrat er das unendliche Land der Erinnerungen.

Que reste-t-il de nos amours? – Was bleibt von unseren Lieben?

Wo war er ihr zum allerersten Mal begegnet? Wann?

Gestern. Vor einem ganzen Leben. Einem Wimpernschlag.

An einem warmen Spätsommertag in Paris.

Paris, seine Stadt, die er um keinen Preis hatte verlassen wollen. So viele Menschen waren geflüchtet.

Er war in Paris geblieben.

Man schrieb das Schicksalsjahr 1940.

Das Paris seiner Kindheit war in den letzten Wochen ein anderes geworden. Am Eiffelturm hing ein Hakenkreuzbanner.

Heeres-Kraftwerk-Park, Luftwaffen-Lazarett. Invaliden. Eiffelturm. Die meisten Wegweiser mit deutschen Namen konnten die Franzosen nicht einmal aussprechen.

Der Stadtpalast Beauharnais lag versteckt hinter Mauern auf einer kleinen Anhöhe, zu der eine Auffahrt in Form eines Halbmonds führte.

Langsam öffnete sich das herrschaftliche Portal der Deutschen Botschaft in der Rue de Lille.

Ein Uniformierter ließ Victor eintreten. Ihn, einen jungen Mann von zwanzig mit einem Empfehlungsschreiben in der Tasche, den Kopf voller Träume, das Herz bereit, sie mit Leben zu füllen.

Er würde diesen Zeiten das Beste abtrotzen, das Privileg der Jugend nutzen.

Die schlimmsten Befürchtungen und Ängste der Pariser hatten sich nach der Besatzung zunächst nicht bewahrheitet. Aber trotz des freundlichen Auftretens der Deutschen und ihrer höflichen Zurückhaltung gegenüber den Besiegten, blieben die boches den Parisern fremd.

»Monsieur Blanc, Sie verstehen mich? Auch, wenn ich Deutsch spreche? Sie beherrschen unsere Sprache?«

Victors Blick fiel auf ein Kalenderblatt auf dem Schreibtisch des Botschaftsvertreters Anton Ritter, seines Zeichens Kulturattaché.

Donnerstag, 12. September 1940.

Konzentriert studierte Ritter das Schreiben, das Victor ihm übergeben hatte. Als er unten bei der Unterschrift angekommen war, glaubte Victor, ein kurzes Zucken um seine Mundwinkel zu bemerken. An der Wand über dem Kamin hing ein überdimensional großes Porträt Adolf Hitlers.

»Ich verstehe Sie sehr gut, Herr Botschaftsrat«, sagte Victor auf Deutsch.

Ritter faltete seine Hände, während er Victor fixierte. Auch wenn Ritter nicht lächelte, konnte man die Grübchen in seinen Wangen sehen. Sein rundes Gesicht sowie seine Körperfülle ließen vermuten, dass er gutem Essen nicht abgeneigt war.

Ritter klopfte mit der Fingerspitze auf das Schreiben.

»Wir sehen die deutsch-französische Verständigung als unsere vordergründige Aufgabe. Solche Empfehlungen von Freunden sind von unschätzbarem Wert für uns. Schließlich geht es um eine große Sache. Wir sind nicht als Feinde nach Paris gekommen. Nicht als Eroberer, sondern als Freunde. Allen voran der Herr Botschafter persönlich.«

Victor nickte schweigend. Vom deutschen Botschafter wusste er nur vom Hörensagen: Noch keine vierzig, galt er als der Jüngste in seinem Amt. Er war mit einer Französin verheiratet. Ein Freund der Franzosen, der französischen Kultur. Es hieß, Abetz sei ein feingeistiger Mann.

»Wir werden Ihren Einsatz bei der Durchführung einer prekären Angelegenheit benötigen. Eine Aufgabe, die körperlichen Einsatz mit Sachverstand vereinigt. Wie mir zu Ohren gekommen ist, studieren Sie Kunstgeschichte?«

Victor nickte.

»Ja, das ist richtig.«

»Kenntnisse des Louvre?«

Ritter hob die Brauen, nahm einen Füllfederhalter und bewegte ihn zwischen seinen fleischigen Fingern hin und her. Vor ihm lag ein leeres Blatt Papier.

»Um meinen Lebensunterhalt zu sichern, arbeite ich schon lange als eine Art Laufjunge im Louvre. Mein Großvater war einst Kurator dort. Er hat mich oft mitgenommen, als ich noch klein war. Er lebt nicht mehr.«

Ritter kniff die Augen zusammen. »Was ist mit Ihrer Familie?«

»Ich habe keine mehr. Nicht hier in Paris. Mein Vater ist zu seiner kranken Mutter aufs Land gezogen. Meine Mutter starb, als ich ein Kind war. Ich bin hier auf mich allein gestellt.«

Bereits vor einem halben Jahr war Victors Vater in sein Landhaus in den Süden gereist. Die Erinnerung an den Großen Krieg steckte ihm in den kaputten Knochen, genau wie die planmäßige Verwüstung seiner Heimat durch die Deutschen. All das hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Durch den letzten Krieg vorzeitig gealtert, war er doch mit jeder Faser ein unbeugsamer, ein stolzer Franzose geblieben. Verharren bedeutete in seinen Augen Akzeptanz, Flucht eine Form des Widerstands. Victors Widerstand jedoch gegen die traditionelle Sicht seiner Vorfahren war von Tag zu Tag gewachsen. Zwischen Vater und Sohn hatte sich ein unüberwindbarer Graben aufgetan.

»Allein gestellt«, murmelte Ritter. »Wohnhaft Rue Oberkampf, Paris.«

Es entstand eine längere Pause. Behutsam schraubte er sein Schreibgerät auf.

»Was genau haben Sie im Louvre gemacht?«

»Oh, dies und das, Herr Botschaftsrat. Ich habe Gemälde für Ausstellungen verpackt, Werke vom Keller in die Ausstellungsräume getragen oder für Transporte vorbereitet. Ich kenne mich gut im Depot aus, im unterirdischen Louvre. Wo die wahren Schätze lagern, Monsieur. Wenn ich Ihnen also behilflich sein kann …«

Ritter schrieb etwas auf das weiße Blatt. Die Feder kratzte auf dem Papier.

»Nun gut«, sagte er schließlich.

Er warf einen Blick auf ein gerahmtes Foto seines Schreibtischs. Ein Familienfoto, wie Victor mit einem Seitenblick wahrnehmen konnte.

»Paris ist, wie Sie sicherlich wissen, das Zentrum der europäischen Kunstszene. Dem müssen wir gerecht werden. Der Herr Botschafter ist ein großer Kunstkenner. Wir haben bereits mit der Arbeit angefangen. Dazu aber später mehr. Hier in der Deutschen Botschaft treffen Kunstwerke aus dem ganzen Land ein. Hinzu kommt der Inhalt der Pariser Galerien. Herrenlose Objekte, die wir zuordnen müssen, verstehen Sie?«

Victor räusperte sich.

Herrenlose Objekte. Die Spatzen hatten es bereits vor Wochen von den Pariser Dächern gepfiffen, wie jüdische Galerien in Paris seit dem Einmarsch der Deutschen geschlossen worden waren. Ein Großteil der Pariser Galerien war in jüdischer Hand gewesen, ihre Besitzer geflohen. Aber auch jüdische Privatsammler hatten ihre Sammlungen zurücklassen müssen.

Paul Rosenbergs berühmte Kunstgalerie in der Rue La Boétie hatte nicht lange leer gestanden. Hier hatten die Deutschen das Forschungsinstitut für jüdische Fragen angesiedelt.

Kritisch betrachtete der Kulturattaché Victor.

Er erwiderte seinen Blick.

»Alles muss seine Ordnung haben, junger Mann. Unser Lager in der Botschaft platzt aus allen Nähten. Gleich hier um die Ecke haben wir ein kleines Museum, das sich womöglich als ein geeignetes Lager erweist. Dort haben wir begonnen, die vielen herrenlosen Werke zu katalogisieren, sie einer ersten Einschätzung zu unterziehen. Wir haben dafür zwar unsere eigenen Leute, aber je nachdem, wie viele Ladungen eintreffen – der Ansturm will bewältigt werden. Wir müssen den Überblick behalten. Und da kommen Sie, junger Mann, ins Spiel.«

»Ich verstehe, Herr Botschaftsrat«, sagte Victor ernst.

Ein kleines Museum um die Ecke? Dabei konnte es sich nur um das Jeu de Paume handeln. Was hatte sein väterlicher Freund und Verfasser des Empfehlungsschreibens gesagt? Die Deutschen brauchten vor allem Leute, die sich wie Victor im Louvre auskannten.

Victors Louvre-Wissen konnte von unschätzbarem Wert sein. Hinzu kam seine Zweisprachigkeit.

»Das Verladen ist Knochenarbeit, junger Mann, Sie werden schon sehen. Junge Männer, die anpacken können, gibt es genug. Aber wer von denen kann schon echte Kunst von entarteter unterscheiden? Sie trauen sich das zu?«

Victor nickte langsam.

»Ja«, sagte er mit klarer Stimme. »Es wäre mir eine Ehre, für Sie zu arbeiten. In Lohn und Brot zu stehen ist ein großes Privileg in diesen Zeiten.«

Ritter sah ihn eindringlich an, dann räusperte er sich.

»Unter uns«, flüsterte er und sah sich dabei um. »Wir arbeiten derzeit fieberhaft an einer Dokumentation von entarteten schriftlichen Werken. So etwas wäre auch in der bildenden Kunst wünschenswert, wenn Sie mich fragen. Schließlich braucht man eine bindende Richtlinie.«

Victor nickte.

»Noch Fragen?«

Victor schüttelte den Kopf.

Ritter drückte einen Klingelknopf an seinem Schreibpult.

Kurz darauf klopfte es an der Tür, und eine junge Frau trat ein. Diskret wartete sie in einiger Entfernung.

»Sie haben gerufen, Herr Botschaftsrat?«

Die Frau war in Victors Alter, mittelgroß, schlank, mit markanten Gesichtszügen. Sie trug einen wadenlangen grauen Rock, dazu eine getupfte Bluse mit Puffärmeln. Flache Schuhe.

»Dieser junge Mann benötigt einen Sonderausweis, Fräulein Schneider. Leiten Sie das in die Wege. Und zeigen Sie unserem neuen Mitarbeiter das Botschaftsgelände. Am besten alles, was dazu gehört. Auch das Lager.«

»Das Lager?«, vergewisserte sie sich. »Darf ich Sie daran erinnern, dass wir heute und morgen wichtige Besucher erwarten?«

Nachdenklich kratzte sich Ritter an der Schläfe.

»Stimmt. Das hatte ich völlig vergessen. Dann eben in ein paar Tagen, sobald wieder Ruhe eingekehrt ist. Behalten Sie das im Auge.«

Dann wandte er sich an Victor. »Es geht um das kleine Museum, von dem ich Ihnen bereits erzählte. Sie werden dann schon sehen. Wenn Sie weitere Fragen haben – Fräulein Schneider kennt sich gut aus. Treten Sie morgen um acht an. Ich muss Ihnen nicht sagen, welche Bedeutung Pünktlichkeit für uns hat.«

Ritter wischte mit der Hand durch die Luft, nahm von einem Stapel eine Akte, schlug sie auf und begann mit der Lektüre.

Victor stand auf, verneigte sich und ging in Richtung Tür, wo die junge Frau wartete.

»Ach ja, noch etwas, junger Mann …«

Als er Ritters Stimme in seinem Rücken vernahm, drehte er sich um.

»Vernachlässigen Sie Ihr Studium nicht. Wenn Sie sich hier bewähren, steht Ihnen eine glänzende Zukunft bevor. Ihre Präsenz an der Universität stimmen Sie mit meinem Sekretariat ab, verstanden? Dann bin ich als Ihr direkter Vorgesetzter immer im Bilde. Schließlich sind wir ja keine Unmenschen. Bildung ist wichtig.«

Ritter zwinkerte Victor zu.

Fräulein Schneider schloss die Tür hinter ihnen und reichte ihm die Hand.

Ihr rotblondes Haar trug sie im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Dabei war sie höchstens fünfundzwanzig. Zwei Strähnen hatten sich gelöst und hingen an den Schläfen wie drapierte Geschenkschleifen herab.

»Ich bin Charlotte Schneider.«

»Angenehm. Mein Name ist Victor Blanc. Freut mich sehr, Mademoiselle.«

Mit großen Schritten und aufrechtem Gang lief sie voran und führte ihn durch die meterhohen Räume des Gebäudes. Die meisten von ihnen glichen Sälen. Der ganze Palast war bestückt mit Gemälden alter Meister, an den Decken vergoldeter Stuck. Vor den bodentiefen Fenstern hingen schwere Samtvorhänge und Spitzenstores.

»Hier finden die Pressekonferenzen oder repräsentativen Empfänge statt«, sagte Charlotte Schneider und öffnete mit Schwung eine Flügeltür.

Er erblickte einen Prunksaal. Der ganze Raum bot Platz für etwa hundert vergoldete Stühle mit dunkelroten Samtbezügen, die in Reih und Glied aufgestellt waren. Vor einem offenen Kamin befand sich ein massiver Schreibtisch aus edlen Nusswurzelhölzern mit wertvollen Intarsien und Lederfassungen aus dem 18. Jahrhundert. Links und rechts von einer Renaissance-Kommode standen zwei mehrarmige Kerzenleuchter. In der Mitte des Saals hing ein meterhoher Kronleuchter mit glitzernden tropfenförmigen Kristallen von der Decke herab. Etwas abseits stand ein Flügel. An einer Wand entdeckte Victor verschiedene niederländische Klassiker aus dem Louvre. Mehrere vergoldete Spiegel gaben dem Raum eine ungeahnte Tiefe und Weite.

Staunend folgte Victor Charlotte Schneider durch die weiteren Räume. Diesen Prunk kannte er bisher nur aus Versailles oder eben aus dem Louvre.

»Und hier arbeiten Sie? In einem Schloss?«, fragte er ein einziges Mal.

»Sie werden sich daran gewöhnen«, sagte sie charmant.

Sie begleitete ihn bis zum Sekretariat des Botschafters, blieb vor dessen Tür stehen und sah ihn an.

Um ihren sinnlichen Mund spielte ein Lächeln.

»Hier endet mein Rundgang mit Ihnen für heute, Monsieur. Sie müssen registriert werden und bekommen einen Ausweis, der Sie autorisiert, das Gebäude zu betreten.«

»Alles muss seine Ordnung haben«, sagte er schmunzelnd.

Sie senkte die Augen, klopfte an die Tür und öffnete sie einen Spalt. »Hier kommt ein neuer Mitarbeiter.«

»Vielen Dank, Fräulein Schneider.«

Mit einem Ruck schloss sich die Tür hinter Victor.

Er räusperte sich und fand sich im Vorzimmer des Botschafters wieder. Hinter einem Schreibtisch erhob sich eine Sekretärin und bat ihn höflich, auf einem Stuhl an einer holzgetäfelten Wand neben der Eingangstür Platz zu nehmen. Mit einer Akte unterm Arm verließ sie den Raum.

Victor starrte auf eine mit dunkelgrünem Leder und goldenen Nieten bestückte Tür, einige Meter von ihm entfernt. Sie war nur angelehnt.

Er hörte Gemurmel.

»Exzellenz«, sagte ein Mann. »Ich bitte Sie, das zu bedenken. Ein solches Vorhaben könnte unabsehbare Folgen haben. Wichtige Männer im Reich haben in dieser Sache durchaus unterschiedliche Interessen.«

Harte Schritte auf dem Parkettboden.

»Muss ich Sie daran erinnern, dass auch ich zur Kategorie der wichtigen Männer zähle? Und wer ist vor Ort und räumt den Weg frei? Göring oder ich?«

»Verzeihen Sie, Eure Exzellenz.«

»Meine Herren! Sie müssen viel größer denken als bisher, viel größer. Wenn wir kein Wagnis eingehen, werden uns andere zuvorkommen und den Ruhm einheimsen.«

Durch den Türspalt drang der Duft von Zigarren. Hölzern und schwer. Die Stimmen wurden leiser. Flüstern.

Mit geschlossenen Augen bemühte sich Victor zu verstehen, was gesprochen wurde.

Transportwege. Reichsmarschall. Herr Außenminister. Deutsche Luftwaffe.

Die Worte verschwammen zu einem Durcheinander aus leisen Tönen, die sich überschnitten. Dann harte Schritte auf dem Parkett, die näher kamen.

Mit einem Ruck wurde die angelehnte Tür von innen geschlossen.

Der Duft verflüchtigte sich. Ein anderer scharfer Geruch stieg in Victors Nase.

Nach Desinfektionsmitteln.

Etwas riss ihn zurück in die Gegenwart. Flüstern. Stühlerücken.

In seiner Nase kitzelten die Schläuche mit dem monotonen Geräusch der Sauerstoffzufuhr.

Wo war er? In welcher Zeit?

»Wir wissen nicht, was Komapatienten von ihrer Umgebung mitbekommen«, hörte er eine Frauenstimme. »Letztendlich bleibt uns ihre Erlebniswelt ein Rätsel. Lassen Sie ihm die Chance, sanft zu Ihnen zurückzukehren oder aber …«

Sie brach ab. Dann ein Räuspern. Victor vernahm Flüstern direkt an seinem Ohr.

»Papi.« Sein Enkel nannte ihn beim Kosenamen.

Berührte Nicolas seine Hand? Eine Welle der Zuneigung durchströmte seinen Körper, und eine wohltuende Ruhe legte sich auf sein Gemüt.

Nicolas – sein Fleisch und Blut.

»Wir sind alle da, Großpapa. Papa. Maman. Ich, Nicolas. Du bist gestürzt und hattest einen Schlaganfall. Jetzt bist du in Sicherheit. In den allerbesten Händen. Ruhe dich einfach nur aus. Wir sind bei dir.«

Victor verstand jedes Wort, aber er konnte nichts erwidern. Sanfte Fesseln hielten sein Bewusstsein gefangen, entführten ihn in eine andere Zeit.

Er schritt durch die Säle seines Lebens, flog über das Botschaftsgelände, den Louvre, den Eiffelturm, die Rue de Lille, die Rue Oberkampf.

Seine Erinnerung haftete an einem kalten Winterabend.

Der Mond hing wie eine Sichel über der Stadt. Das Lachen der Kinder in den Parkanlagen von Paris.

Die Kinder von Paris.

Der Duft von Schnee.

Als wäre die Welt im Lot.

Überall flanierten Männer. Unter ihren warmen Mänteln – grüne Uniformen.

»Was für eine Nacht«, sagte Charlotte, nahm seine Hand und legte ihren Kopf an seine Schulter.

Seine Haut erinnerte sich an jede einzelne Berührung von ihr.

»In wenigen Minuten haben wir 1942.«

Ein Hauch von Wehmut klang in ihrer Stimme. Ihr offenes Haar wehte im Wind. Es reflektierte das Mondlicht wie in einem Gemälde von Chagall.

1942. Das aufwühlende Jahr 1942.

Das Jahr, in dem Paris eine andere Stadt wurde.

MARIE

5

Paris

Oktober 2016