Dora Maar und die zwei Gesichter der Liebe - Bettina Storks - E-Book
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Dora Maar und die zwei Gesichter der Liebe E-Book

Bettina Storks

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Beschreibung

Dora und Pablo – eine leidenschaftliche Liebe, so besonders wie ihre Kunst. Paris, 1936: Die erfolgreiche Fotografin Dora ist das Herz des surrealistischen Kreises um André Breton und Man Ray. Dann begegnet die exzentrische junge Frau Pablo Picasso – und zwischen den beiden entfaltet sich eine so leidenschaftliche wie abgründige Liebe. Doras düstere Sinnlichkeit prägt fortan die Malerei Picassos, auch inspiriert sie ihn zu seinen ersten politischen Werken, allen voran „Guernica“. Doch er kann neben sich keinen anderen Künstler gelten lassen, und ihre kreative Entwicklung stockt. Immer größer werden die Konflikte. Bis Picasso der jüngeren Françoise Gilot begegnet – und Dora zur Kunst zurückfinden muss, um ihre Liebe zu vergessen … Eine herzzerreißende Liebe voll dunkler Abgründe zwischen zwei großen Künstlerpersönlichkeiten, von einer renommierten Autorin hervorragend recherchiert.

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Über das Buch

Dora und Pablo – eine leidenschaftliche Liebe, so besonders wie ihre Kunst.

Paris, 1936: Die erfolgreiche Fotografin Dora ist das Herz des surrealistischen Kreises um André Breton und Man Ray. Dann begegnet die exzentrische junge Frau Pablo Picasso – und zwischen den beiden entfaltet sich eine so leidenschaftliche wie abgründige Liebe. Doras düstere Sinnlichkeit prägt fortan die Malerei Picassos, auch inspiriert sie ihn zu seinen ersten politischen Werken, allen voran »Guernica«. Doch er kann neben sich keinen anderen Künstler gelten lassen, und ihre kreative Entwicklung stockt. Immer größer werden die Konflikte. Bis Picasso der jüngeren Françoise Gilot begegnet – und Dora zur Kunst zurückfinden muss, um ihre Liebe zu vergessen …

Eine herzzerreißende Liebe voll dunkler Abgründe zwischen zwei großen Künstlerpersönlichkeiten, von einer renommierten Autorin hervorragend recherchiert.

Über Bettina Storks

Bettina Storks, geboren 1960 bei Stuttgart, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Sie war viele Jahre als Redakteurin tätig, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichte. Sie lebt und arbeitet am Bodensee. In ihren Romanen vereint sie ihre Begeisterung für faszinierende Frauenfiguren, ihren Anspruch an gründliche historische Recherche und ihre Liebe zu Frankreich. Bei einer Reise in den Lubéron besuchte sie in Ménerbes das Haus Dora Maars und fing an, sich mit deren Leben und Werk zu beschäftigen. Was sie entdeckte, war sehr viel mehr als Picassos »weinende Frau« – sondern eine facettenreiche Künstlerin, emanzipiert, vielbegehrt und anerkannt in ihrem künstlerischen Vermächtnis.

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Bettina Storks

Dora Maar und die zwei Gesichter der Liebe

Picasso ist ihr Leben, die Kunst ihre Leidenschaft

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog (Buenos Aires, 1925)

Teil 1: Dora erobert Paris (1928–1936)

Kapitel 1 (Paris, 1928)

Kapitel 2 (Paris, 1929)

Kapitel 3 (Paris, 1932)

Kapitel 4 (Paris, 1933)

Kapitel 5 (Paris, 1935)

Kapitel 6

Kapitel 7 (Paris, 1935)

Kapitel 8

Kapitel 9 (Paris, 1936)

Teil 2: Eine unausweichliche Liebe – Dora und Pablo (1936–1940)

Kapitel 10

Kapitel 11 (Mougins, 1936)

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14 (Paris, 1937)

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17 (Mougins, 1937)

Kapitel 18

Kapitel 19 (Paris, 1938)

Kapitel 20

Kapitel 21 (Antibes an der Côte d’Azur, 1939)

Kapitel 22 (Paris, 1939)

Kapitel 23 (Royan, 1940)

Teil 3: Die Liebe am Abgrund (1940–1944)

Kapitel 24 (Paris, 1940)

Kapitel 25

Kapitel 26 (Paris, 1941)

Kapitel 27 (Paris, 1942)

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Teil 4: Freiheit und Fesseln – Vom Ende einer Liebe (1943–1945)

Kapitel 31 (Paris, 1943 )

Kapitel 32 (Paris, 1944)

Kapitel 33

Kapitel 34 (Ménerbes, 1945)

Kapitel 35 (Ménerbes–Paris, 1945)

Teil 5: Neuanfang in Ménerbes (1952–1956)

Kapitel 36 (Ménerbes, 1952)

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40 (Ménerbes, 1954)

Kapitel 41 (Argilliers, Château de Castille, 1954)

Kapitel 42 (Ménerbes, 1956)

Epilog (Paris, 2019)

Nachwort der Autorin

Liste der im Text erwähnten Kunstwerke

Literaturliste

Quellennachweise

Impressum

»Nicht dich habe ich verloren, sondern die Welt.«

INGEBORG BACHMANN

Prolog Buenos Aires, 1925

Henriette Theodora Markovitch lag in ihrem Mädchenbett und neigte den Kopf in Richtung Fenster. Hinter den Häusern der Stadt ging die Sonne auf.

Ein milchiges Licht schimmerte durch die Lamellen der Jalousien und spiegelte sich auf der gläsernen Schiebetür, die ihr Zimmer vom Rest der Wohnung trennte.

Mit blinzelnden Augen hob sie ihre Hand gegen den Strahl und betrachtete sie eingehend. Streifen aus Licht und Schatten tanzten auf ihrer Haut, und jede Bewegung ließ eine unvergleichlich einzigartige Figur entstehen. Wenn sie still hielt, erkannte sie die zarten Gefäße ihres Handrückens, das rosig schimmernde Nagelbett unter den transparenten Fingernägeln.

Sie war eine Zauberin.

Durch die Verglasung zur Wohnseite erinnerte sie ihr Mädchenzimmer in der Innenstadt von Buenos Aires an einen Käfig, in dem sie sich zuweilen ausgestellt fühlte wie ein exotisches Tier in einem Zoo. Ihre Eltern besaßen die Macht des uneingeschränkten Blicks auf sie. Eines Blicks, dem Theodora ihre geschlossenen Augen entgegensetzen konnte, ihr einzig möglicher Rückzug und das Tor in eine Welt der Phantasie. Manchmal versteckte sie sich im Kleiderschrank, dann war sie unsichtbar.

Tata, wie sie ihren Vater zärtlich auf Kroatisch nannte, hatte ihr schon mit zwölf einen Fotoapparat geschenkt, ein wunderbares Medium, mit dem sie schnell umzugehen wusste. Ihre ersten Objekte waren Hafenarbeiter unten am Meer, ausfahrende Schiffe und Innenhöfe, die zuweilen überraschende Gärten mit hochgewachsenen Bäumen bargen.

Von Theodoras späteren Bildern mit den Frauen, die an staubigen Hauswänden lehnten und lächelten, durfte Maman niemals erfahren.

Ihr Vater nannte ihre Fotos kleine Kunstwerke, ihre Mutter hingegen runzelte nur die Stirn und wandte den Blick von ihnen ab. In ihrer Welt existierten keine Kontraste, wie ihre Tochter sie in ihren Motiven stets suchte. Mit dieser Art von Kunst hatte sie nie etwas anfangen können.

Der Vater indessen ermutigte Theodora stets, weiterzumachen, und erteilte ihr nach der Schule in seinem Architekturbüro regelmäßig Zeichenunterricht. Fortan bildeten Formen und Winkel, das Zusammenspiel von Licht und Schatten Theodoras Leidenschaft, zugleich schufen sie eine unsichtbare Verbindung zum Vater. So lernte sie früh, dass sich Licht zähmen ließ, ja einfangen, je nach der Perspektive, die man wählte.

Plötzlich vernahm Theodora Geräusche im Flur. Ein Murmeln. Schritte. Räuspern. Das Rascheln von Kleidung.

Aus einem Seitenwinkel schlich eine Gestalt in ihr Blickfeld. Sie schloss die Augen, spürte den Blick ihres Vaters auf sich ruhen.

Er stand stumm hinter der Glasscheibe. Sie verharrte und rührte sich nicht.

Bestimmt trug Josip Markovitch bereits seinen Hut, den Stock und die Aktentasche. Tagaus, tagein ging er in einem eleganten Anzug zur Arbeit. Sein dunkles, glänzendes Haar war mit Brillantine zurückgekämmt, der gepflegte Schnurrbart zurechtgestutzt.

Dora. Dorica. Dorita. Dorissima. Ihr Vater hatte viele melodische Namen für sie, alle waren sie voller Zärtlichkeit.

Theodora lauschte.

Als die Tür ins Schloss fiel, ertönte aus dem Nebenzimmer das schmerzverzerrte Stöhnen ihrer Mutter Julie. Wahrscheinlich beklagte Maman die Hitze der Nacht, die Ankunft eines weiteren verhängnisvollen Tages und ihre damit verbundene Migräne.

In Paris hatte Julie anscheinend nie Migräne gehabt.

Wussten denn die Eltern nicht, dass eine Glaswand zwei Seiten hatte? Eine für den Betrachter und eine für den Betrachteten.

Nichts war während der Jahre ihrer Kindheit in dieser Wohnung inmitten von Buenos Aires geheim geblieben. Weder die Streitereien zwischen Maman und Tata, Julies an Josip gerichtete Vorwürfe, ihre Zurückweisungen, ihre Härte. Noch das Quietschen des Betts aus dem elterlichen Schlafzimmer und die damit verbundenen wimmernden Töne der Mutter, die sich von jenen ihrer Migräneattacken kaum unterschieden. Gesprächsfetzen, bei denen es immer um dasselbe ging, gefolgt von Tatas Wutanfällen.

Geld. Buenos Aires. Paris. Gesellschaftlicher Aufstieg.

Offensichtlich war Josip der einzige Architekt in Buenos Aires, der nicht reich werden wollte.

Wenn er gut gelaunt war, nannte er Julie auf Kroatisch šašavica, was so viel wie Kleine Verrückte hieß. In einer anderen Bedeutung versteckte sich dahinter das Wort Kuckuck. Auf jeden Fall zeugte seine verbale Liebkosung von einer lebhaften Zuneigung. Oder war es der Hüte wegen, die Julie so gern trug und die sie sonntags nach der heiligen Messe in ein Jugendstilcafé in der Avenida de Mayo ausführte?

Auf Mamans Lieblingshut thronte ein zerbrechliches Vögelchen aus reinster Seide mit leicht geöffnetem Schnabel, bereit für den Abflug. Doch es war festgenäht. In Wahrheit war Julie Markovitch vom Wesen her so weit von einem Vogel entfernt wie Paris von Buenos Aires. Ihrer unnahbaren Schönheit fehlte alles Leichte, Unbeschwerte.

Zudem barg die Tatsache, in Buenos Aires eine Französin zu sein, einen unüberwindbaren gesellschaftlichen Widerspruch: Französinnen waren hier jene Frauen, die an Hauswänden lehnten und Männer anlachten. Die Französin, genannt Francesa, besaß etwas Anrüchiges.

»Eine Francesa verdient unten am Hafen ihr Geld mit Prostitution«, hatte das Hausmädchen einmal hinter vorgehaltener Hand zu Julie gesagt, während sie das Staubtuch vor dem Fenster ausschüttelte. Entsetzt hatte Julie das Fenster geschlossen und Theodora, die neugierig zugehört hatte, durch die Tür geschoben. Dabei hatte Maman einen Blick aufgesetzt, als habe sie genau das schon immer geahnt.

Nach diesem Ereignis wurde Julie nicht müde, den Staub von Buenos Aires noch mehr zu hassen, die Hitze und den Lärm. Besonders jedoch verdammte sie den Tango, den hier bereits die Kinder erlernten. Für sie war die Stadt, in der sich Josip und Theodora heimisch fühlten, ein Ort der unsittlichen Annäherung, der schamlosen Blicke.

»Lach niemals einen Mann an, Theodora. Hier in Buenos Aires bist du sonst eine Francesa«, bläute Julie fortan ihrer Tochter tagtäglich ein.

Theodora begriff: An einer Francesa klebten die Hitze, der Staub und die Erregung des Tangos wie eine zweite Haut. Das Verbotene musste einen besonderen Reiz besitzen, wenn Maman sich so viel Mühe gab, die Sünde erst gar nicht aufkommen zu lassen. Dass Theodora schon als kleines Mädchen diesen Widerspruch erfasst und in sich aufgesogen hatte, blieb ihr Geheimnis.

Aber in Buenos Aires war der Tango unvermeidbar.

An einem heißen Sommertag wurde Theodoras Schicksal besiegelt, nachdem die inzwischen Achtzehnjährige das erste Mal mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen nach Hause gekommen war und den Tanz der Tänze getanzt hatte.

Der Junge war in ihrem Alter gewesen, und es war nach dem Unterricht auf einem großen Platz nahe ihrer Schule geschehen. Plötzlich spielte ein Geigenduo auf einem Platz in der Nähe Tangomusik, sehnsuchtsvoll, melancholisch und verführerisch. Sofort bildeten sich Paare, die zu tanzen begannen. Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Ein Junge, dessen Namen Dora nicht kannte, hatte sie mit schwarzen Augen angesehen, sie wortlos an die Hand genommen, an die Seite geführt und sich ihr gegenübergestellt.

Bis zu jenem Tag hatte Dora nur den distinguierten Salontango getanzt. Dann aber hatte der Junge sie nach wenigen Takten eng an sich gezogen. Sie hatte seine muskulösen Schenkel an ihren gespürt und sich mit geschlossenen Augen seinen Bewegungen hingegeben. Beim Schlussakkord waren die beiden auseinandergetreten und hatten sich verschämt zugenickt. In diesem Moment begriff Dora, dass der Tango einer Kapitulation gleichkam. Der Tanz hatte einen Rausch ausgelöst, der ihren Körper irgendwie nach Hause trug. Sie schwebte über dem Boden. Was blieb, war die Erinnerung an den gemeinsamen Takt, das Feuer des Augenblicks.

Den Jungen hatte sie nie wiedergesehen.

Doch Julie hatte sie bereits beim Öffnen der Wohnungstür durchschaut: Ihr unschuldiges Mädchen war vom Tangofieber heimgesucht worden, einer hochansteckenden Krankheit, die den Unterleib junger Frauen befiel und jederzeit ausbrechen konnte.

Nur Paris und eine rigorose Entwurzelung, das machte Julie ihrem Ehemann nun hinter der Glasscheibe Nacht um Nacht klar, würden die Tochter heilen.

Theodora weinte sich jedes Mal, wenn sie Julies Klagelied hörte, in den Schlaf. Wie sehr würde sie ihre Freundinnen, die spanische Sprache, den Tanz der Tänze und die Melancholie von Buenos Aires vermissen!

Wenige Wochen später machten sich Mutter und Tochter über den Atlantik mit der La Touraine auf den Weg nach Le Havre und stiegen in den Zug nach Paris, das sie in den frühen Morgenstunden erreichten.

Julie hatte Josip keine Wahl gelassen: Einer von ihnen musste sich für Theodoras Zukunft opfern.

Josip, der zunächst in Argentinien zurückblieb, hatte nachgegeben, weil er auf die explosive Mischung aus dem unbeugsamen Willen und der Anpassungsfähigkeit seiner Tochter vertraute.

Der allererste Eindruck, den Theodora von ihrer Geburtsstadt gewann, war der beißende Geruch nach Rauch und Ruß an der Gare de Lyon, der den Duft der exklusiven Parfüms vorbeieilender Damen überlagerte. Draußen an der großen Treppe, die hinab in die Stadt führte, blitzte die Sonne hinter den Wolken vor. Licht strömte über den Boulevard Diderot, und Paris erwachte in einem Farbenmeer aus Grün, Blau und Rot.

Teil 1 Dora erobert Paris (1928–1936)

Da stehe ich auf der Brücke und bin wieder mitten in Paris,

in unserer aller Heimat.

Da fließt das Wasser, da liegst du,

und ich werfe mein Herz in den Fluss und tauche in dich ein,

und liebe dich.

KURT TUCHOLSKY

Kapitel 1 Paris, 1928

Henriette Theodora Markovitch wartete auf einer harten Holzbank vor dem Büro des Kunstprofessors in den ehrwürdigen Hallen der Académie des Beaux-Arts. Nervös spielte sie mit den Ecken ihres Taschentuchs.

Ihre Bewerbungsmappe mit Skizzen und Bildern hatte sie bereits vor Wochen eingereicht.

Von Weitem hallten unter den großen Säulen die Schritte und Stimmen der Studenten, die um diese Zeit die Räumlichkeiten wechselten.

Sie strich mit den Fingern durch ihr schwarzes Haar, das sie neuerdings als Bubikopf mit einem kurzen Pony trug.

Einer der Studenten warf ihr im Vorbeigehen einen indiskreten Blick zu. Sie sah demonstrativ gelangweilt in seine Augen, bis er verlegen den Kopf senkte. Ihrer Ausstrahlung war sich Theodora bewusst: Die Frisur setzte ihre großen dunklen Augen und die ovale Gesichtsform perfekt in Szene. Selbst in einer Stadt wie Paris würde sie als eine hübsche, junge Frau gelten, wenngleich auch als Exotin.

In ihrem ausdrucksstarken Gesicht spiegelten sich die gleichmäßigen Züge ihres Vaters. Ihr Körperbau war weit von der französischen Grazie ihrer Mutter entfernt. Theodora war kräftig gebaut, mit runden Hüften und stämmigen, doch wohlgeformten Beinen, die mit hohen Absätzen perfekt zur Geltung kamen.

»Du hast den Körper einer Slawin«, pflegte Julie zu sagen, was in ihrer Welt gleichzusetzen war mit all den Eigenschaften, die sie in Josip verkörpert sah, dem in ihren Augen grobschlächtigen Slawen. Als Tochter aus den besten bürgerlichen Kreisen von Tours war Julie vor ihrer Ehe Geigerin gewesen – und hatte damit ein Instrument gewählt, das ihr zartbesaitetes Nervenkostüm in allen Nuancen widerspiegelte. Aber Dora wusste, dass Julie sich täuschte, denn das Wesen ihres Vaters war weitaus feiner und subtiler, als es sein Äußeres vermuten ließ. Auch Josip war sich dessen bewusst, und in stiller Übereinstimmung belächelten Vater und Tochter Julies Herabsetzungen.

Ein Geräusch direkt hinter ihr riss Theodora aus ihren Gedanken.

Schritte. Eine Tür ging auf. Neben ihr stand eine dunkel gekleidete Dame und blickte streng zu Theodora herab.

»Mademoiselle Markovitch?«

»Ja, die bin ich«, sagte Theodora mit ihrer tiefen, heiseren Stimme und stand auf.

»Folgen Sie mir bitte.«

Ohne eine Regung zu zeigen, drehte sich die Sekretärin um und lief zurück an ihren Schreibtisch, auf dem eine überdimensional große Pappmappe lag. Theodora erkannte sie sofort. Es handelte sich um die ihre.

Die Sekretärin deutete auf einen leeren Stuhl gegenüber von einem Pult. »Nehmen Sie Platz, bitte. Monsieur Sage wird gleich mit Ihnen sprechen.«

Theodora warf einen Blick auf den Stuhl, richtete sich auf und blieb stehen.

Die Sekretärin runzelte die Stirn und verließ den Raum.

Nach einer Weile öffnete sich eine zweite Tür, die hinter einem Regal versteckt war. Ein mittelgroßer Mann mit einer Nickelbrille trat ein, nahm Platz und fuhr mit der flachen Hand über ein vor ihm liegendes Blatt Papier. Dann sah er mit strengem Blick zu Theodora und schüttelte den Kopf.

»Ihre Arbeit wurde rein zufällig geprüft, Mademoiselle, bis sich herausstellte, dass es sich um die Bewerbung einer Frau handelte. Ich muss Ihnen leider sagen, dass wir keine weiblichen Studentinnen aufnehmen. Wussten Sie denn nicht, dass eine Bewerbung an der Académie des Beaux-Arts als Frau sinnlos ist?«

Er schob die Mappe zu ihr herüber. Theodora spürte ihren Herzschlag. Eine Mischung aus Enttäuschung, Wut und Trotz stieg langsam in ihr auf, und sie starrte auf ein graues, widerspenstiges Haar, das an seinen Brauen hing. Ob es wohl dort gewachsen war?

»Das ist mir bekannt«, sagte sie schließlich beherrscht. »Aber diese Tatsache muss doch nicht in Stein gemeißelt sein. Frauen leisten hervorragende künstlerische Arbeit. Wir sind eine ernstzunehmende Konkurrenz.«

»Wohl kaum«, schmunzelte er und machte dann ein entrüstetes Gesicht, als sei ihm die Impertinenz, Mann und Frau in der Kunst auf eine Stufe zu stellen, erst jetzt bewusst geworden.

Dora presste die Lippen aufeinander.

»Mademoiselle, wir befinden uns in der Metropole der europäischen Kunst. Paris ist eine Klasse für sich, ganz zu schweigen von unserer Einrichtung hier. Ich glaube nicht, dass ein Matisse, ein Braque oder ein Pablo Picasso Ihre Ansicht auch nur in Erwägung ziehen würde. Eine Frau mag die Muse eines Künstlers sein, aber sie kann ihm doch nicht den Pinsel aus der Hand nehmen. Ich bitte Sie!«

Dora musste angesichts des zweideutigen Bilds, das soeben vor ihren Augen entstand, lachen, beherrschte sich aber. Am liebsten hätte sie das quer gewachsene Haar aus seinen Brauen herausgerissen.

»Ich behaupte, dass wir Frauen die männliche Kunst bereichern, ihr mit unserem Werk unsere weibliche Sicht entgegensetzen. Und noch mehr – wir vermögen, ganz eigene Wege zu gehen«, sagte Theodora selbstbewusst.

Monsieur Sage räusperte sich.

»Es gibt andere Wege, Mademoiselle, da gebe ich Ihnen recht. Weibliche Wege. Hier in Paris existieren Schulen, die Ihresgleichen durchaus ausbilden. Es bleibt dabei: die Académie des Beaux-Arts ist eine Anstalt für angehende männliche Künstler, weltweit anerkannt. Rodin, Degas und Renoir waren unsere Absolventen. Wo kämen wir denn dahin, wenn wir …« Er brach ab. »Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

»Haben Sie schon von Camille Claudel gehört? Sie hat großartige Werke geschaffen«, platzte es aus Dora heraus.

»Ihr Beispiel hinkt, Mademoiselle. Mademoiselle Claudel war einst Rodins Muse, und was ist aus ihr geworden? In einer Irrenanstalt ist sie gelandet.«

»Weil sie seine Muse war – oder weil Rodin sie als Künstlerin nie ernst genommen hat?«, fragte Dora mit zusammengekniffenen Augen zurück. »Da muss man ja verrückt werden. Was blieb dieser armen Frau denn sonst als Ausweg als die Flucht in den Wahn?«

Monsieur Sage wischte mehrmals durch die Luft, als verscheuche er eine lästige Fliege, nahm dann den Bleistift in die Hand und widmete sich konzentriert seinen Unterlagen.

»Ich darf doch sehr bitten, Mademoiselle. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag. Au revoir.«

Theodora riss die Zeichenmappe vom Tisch, atmete tief durch und rauschte grußlos aus dem Raum.

Sie rannte die breiten Treppen des sandsteinfarbenen Gebäudes hinab. Unten angekommen schnappte sie nach Luft.

Rodin. Degas. Renoir.

»Den Pinsel aus der Hand nehmen«, sagte sie laut und fing mitten auf dem Gehweg herzhaft an zu lachen. »Was würde nur ein Matisse dazu sagen? Oder ein Picasso?«, äffte sie den Mann mit dem seltsamen Augenbrauenwuchs nach und hob mahnend ihren Zeigefinger in die Luft. »Was wäre mit den Herren, wenn wir ihnen den Pinsel aus der Hand nähmen?«

Einige Passanten drehten sich kopfschüttelnd nach ihr um. Sie reagierte mit einer übertriebenen höfischen Verneigung. Dann ging sie weiter.

Ihr Vater hatte sie gleich gewarnt.

»Du wirst eine Enttäuschung erleben, wenn du dich in den heiligen Hallen bewirbst, Dorica. Niemals, noch nie im Leben haben sie dort Frauen akzeptiert. Warum sollten sie ausgerechnet mit dir anfangen?«

Dorica. Doralein.

»Weil irgendjemand den Anfang machen muss und weil die Zeit reif ist«, hatte sie stolz erwidert.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Sicher wartete Tata bereits im La Rotonde auf sie. Den Treffpunkt hatte sie vorgeschlagen. Es galt im Moment als das Lokal der Kunstszene.

Im Quartier Latin herrschte der übliche Trubel. Menschen schlängelten sich durch die schmalen Gassen, einige blieben vor Kunstgalerien stehen und bewunderten die ausgestellten Werke. Theodora war nicht nach Kunst zumute. Sie lief, ohne nach links und rechts zu sehen, durch die Rue de Seine, überlegte an der Place de l’Odéon kurz, ob sie die Métro nehmen sollte, steuerte dann aber das Musée de Cluny an und erreichte den Jardin du Luxembourg. Sie lief immer schneller durch die gepflegten Grünanlagen, ließ Rodins Statue mit Stendhals in Bronze gegossenem Profil hinter sich, bis sie endlich auf die Rue Notre-Dame-des-Champs stieß und den Boulevard du Montparnasse erreichte.

Sie entdeckte ihren Vater hinter einer Fensterscheibe des La Rotonde an einem Tisch sitzend.

»Warum nimmst du nicht die Métro, Dorica«, sagte er zur Begrüßung, als sie schwer atmend vor ihm stand. Er erhob sich, zog einen Stuhl unter dem Tisch für sie hervor und küsste sie auf die Wange.

»Weil ich wütend bin, Tata. Ich laufe gern, wenn ich wütend bin.«

Sie streifte ihre Handschuhe ab, setzte sich und zündete, nachdem ihre Atmung sich beruhigt hatte, eine Zigarette mit ihrer Spitze an. Dann nahm sie einen kräftigen Zug und blies den Rauch aus. Konzentriert schloss sie die Augen.

War das wirklich gerade alles geschehen?

Stockend berichtete sie ihrem Vater, was sich soeben in der Académie zugetragen hatte.

»Ich habe dich gewarnt, ma fille«, sagte er und gab dem Kellner ein Zeichen.

Theodora bestellte heiße Schokolade mit einer Tarte aux abricots, der Vater einen weiteren Pernod. Er nahm die Zeichenmappe seiner Tochter, klappte sie auf und blätterte sie durch.

»Ich halte dich für sehr begabt. Was wirst du jetzt tun?«

Theodora seufzte und zuckte die Schultern.

»Du musst einen anderen Weg wählen, mein Kind. Du brauchst eine Ausbildung. Lehrer, die dich weiterbringen.«

Theodora lächelte ihren Vater geheimnisvoll an und nickte zustimmend. Fragend runzelte er die Stirn und bedeutete ihr, zu sprechen.

»Richtig! Es gibt noch andere namhafte Ausbildungsstätten hier in Paris.«

Ihr Vater stellte seinen Pernod zurück auf den Tisch und sah sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Neugierde an.

»Ich habe mich an der Union centrale des Arts décoratifs beworben. Sie lehren Malerei und Fotografie.«

»Fotografie?«, fragte Josip entrüstet. »Warum ausgerechnet Fotografie? Wie wäre es mit einem bürgerlichen Beruf, Dorica? Als Architektin? Ich könnte dich mit namhaften Leuten zusammenbringen.«

Sie zuckte die Achseln und nahm einen großen Schluck ihrer Schokolade. Sofort stieg ihre Laune. Genüsslich leckte sie sich die Lippen.

Josip tippte nervös mit seinen Fingerspitzen auf den Tisch.

»Zu spät«, sagte sie, und der Triumph spiegelte sich in ihren Augen. »Ich wurde bereits angenommen. Ein bürgerlicher Beruf kommt nicht infrage, Tata. Niemals. Das wäre mir zutiefst zuwider.«

»Aber warum denn, um Himmels willen, ausgerechnet Fotografin?«

»Weil ich die anderen studieren und nicht selbst ein Studienobjekt sein möchte. Wer hat mir im Alter von zwölf eine Kamera geschenkt?«

Sie sah ihn herausfordernd an.

Josip rollte die Augen. »Dann werden die Leute sich über deine Fotografien auslassen, so oder so. Wer etwas schafft, über denjenigen können die Kritiker schreiben, was sie wollen.«

Dora kniff die Augen zusammen.

»Ich werde Erfolg haben! Malerei oder Fotografie. Es bleibt dabei«, sagte sie nach einer langen Pause. »Entweder du unterstützt mich in meinem Vorhaben, oder ich kämpfe allein.«

Josip holte tief Luft. Um seine Augen zuckte es. So war es immer, kurz bevor er explodierte. Maman nannte seine Wutausbrüche Anfälle. Anfälle, die sich in der Regel gegen Julie, niemals aber gegen Theodora richteten.

»Versteh doch, Tata. Ich möchte eine richtige Künstlerin werden«, sagte sie in bittendem Ton und legte ihre Hand auf seine.

Die Worte Künstlerin und Tata wie auch die Berührung ihrer Hand schienen Josip Markovitch unmittelbar zu besänftigen, und sogleich entspannten sich seine Gesichtszüge.

»Du bist genauso stur wie ich. Selbstverständlich stehe ich hinter dir, mein Kind. Ich warne dich nur vor den Folgen«, presste er hervor.

»Weißt du, bei wem ich schon bald Malunterricht erhalte?«, fragte sie, nahm genüsslich einen weiteren Zug von ihrer Spitze und lächelte Josip Markovitch herausfordernd an.

»Du wirst es mir sagen.«

»Bei dem Größten, Tata. Bei keinem Geringeren als André Lhote.«

Anerkennend hob Josip die Brauen und tippte sorgfältig seine Asche in den Aschenbecher. »Du erhältst Zeichenunterricht bei Monsieur Lhote?«

Theodora nickte.

»Das ist ja ganz wunderbar, Dorica. Wann?«

Josip atmete erleichtert durch.

»Morgen? Übermorgen? Schon bald. Aber wichtiger ist das Danach. Was ich nach der Grundausbildung tun werde. Danach gehe ich an die Académie Julian, wo …«

»… wo Frauen dieselbe Ausbildung erhalten wie Männer an der Académie des Beaux-Arts«, vollendete Josip ihren Satz und hob theatralisch die Hände. »Selbstverständlich übernehme ich sämtliche Kosten, Dorica. Ich schätze mich glücklich, eine Tochter zu haben, die weiß, was sie will.«

»Und was sie nicht will, Tata. Das ist manchmal noch wichtiger.«

Im Stillen dachte sie, dass sie niemals ein bürgerliches Leben wie Julie und Josip führen wollte. Josip hatte sich durch seine Reisen zwischen Paris und Buenos Aires etwas Freiheit und Abstand von seiner Ehe erkämpft. Abstand von Julie, die hier glücklicher war als damals als Modistin in Buenos Aires, wo sie vergeblich versucht hatte, Damenhüte zu verkaufen.

So lange lag das gar nicht zurück.

Heute, wenn Josip Markovitch seine Familie in Paris besuchte, zog er meist schon nach wenigen Tagen ins Hotel du Palais d’Orsay, weil er Raum und Ruhe brauchte, wie er stets betonte. Die darauf folgenden Eifersuchtsszenen von Julie waren Theodora ein Graus, einfach unerträglich.

Seit einiger Zeit jedoch stürzte sich Julie in das gesellschaftliche Leben von Paris. Mittagstee. Nachmittagskaffee und Modeschauen. Cafébesuche mit gleichgesinnten Damen, bei denen ausgiebig in Modezeitschriften geblättert wurde. Julie gab ein Vermögen für ihre Garderobe aus, was Josip bei seiner monatlichen Buchführung meist zähneknirschend zur Kenntnis nahm.

»Es geht Maman gut, solange sie einkaufen kann, Tata. Lass sie doch«, beschwichtigte Theodora.

Theodora, die ihrerseits ebenso stets ausgefallene Kleidung trug, setzte auf Qualität, nicht auf Quantität. Sie wusste das Exklusive geschickt zu kombinieren. Immer war sie auf der Suche nach dem Besonderen, nach den Dingen, die man nicht kaufen konnte. Sie sehnte sich nach einem Leben ohne Konventionen, voller Überraschungen und Eroberungen. Ein Leben, wie es hier in Paris die Bohème führte. Und auch wenn sie noch nicht genau wusste, was das Leben für sie bereithalten sollte, wusste Theodora doch, dass sie von Inspiration, billigem Rotwein, Zigaretten, von Luft und Liebe, der Poesie, berauschenden Bildern und Skulpturen leben wollte.

Von Breton und Éluard hatte sie bereits gehört – Männer, die einer neuen Strömung der Kunst angehörten, den Surrealisten. Es hieß, sie ließen auch Frauen in ihrem Kreis zu. Sie musste also einfach die richtigen Leute kennenlernen. Es war bekannt, wo sich die Pariser Bohème herumtrieb. Derzeit bildeten Lokale wie das La Rotonde hier in Montparnasse, das Café de Flore und das Les Deux Magots die Heimat der Künstlerszene, galten als deren zweites Wohnzimmer.

Theodora war klug genug, um wertzuschätzen, dass sie sich ein Künstlerleben nur ihrer Privilegien wegen leisten konnte. Diese verdankte sie allein ihrem Tata. Josip war nicht nur ein liebender Vater, sondern auch ihr finanzieller Förderer, genau wie er in seiner Heimat Kroatien einst einen gefunden hatte. Einen gebildeten Mann von gesellschaftlichem Rang, der wie ein Vater über seine geistige Entwicklung gewacht und ihm in Wien ein Architekturstudium ermöglicht hatte.

»Dieser Gönner war sein leiblicher Vater«, hatte Julie in der ihr eigenen indiskreten Art mehr als einmal zu Theodora gesagt. Aber Julies versteckte Häme interessierte Theodora nicht, genauso wenig wie die sogenannten gesellschaftlichen Normen.

Sie ließ ihren Blick durch das Lokal schweifen. Am anderen Ende saß eine Gruppe junger Männer und diskutierte lauthals. Zwei von ihnen glaubte sie von Zeitungsbildern zu erkennen: Der Mann im weißen Anzug musste der Lyriker Paul Éluard sein, der neben ihm der Poet André Breton, ein Mann mit einer Nickelbrille, dichtem, dunklem zurückgekämmtem Haar und sinnlichen Lippen. Beide verschwanden hinter dicken Rauchschwaden. Theodora schnappte ein paar Worte ihres Gesprächs auf.

Revolution. Unbewusstes. Soziale Gerechtigkeit.

»Ich weiß nicht so recht«, hörte sie irgendwann Josips Stimme wie aus der Ferne. Beherrscht wandte sie sich wieder ihrem Vater zu.

Er kreiste unbehaglich die Schultern, nachdem er Geld in den auf dem Tisch bereitstehenden Teller geworfen hatte, und stand auf. Mit einer versteckten Geste, die Theodora sofort zu lesen verstand, deutete er auf das Publikum des La Rotonde.

»Was, Tata?«, fragte sie freundlich und warf einen letzten Blick zu den Männern hinüber.

»Hier fühle ich mich nicht wohl. Keine Ahnung, woran es liegt. Als wäre ich ein Fremder unter all diesen Leuten.«

»Wir sind immer Fremde, Tata. Es ist unsere Natur, Außenseiter zu sein. Du hast mich das gelehrt«, schmunzelte Theodora.

»Quand même!«, gab er lächelnd zurück. »Trotzdem. Dann gestehe mir gerade deshalb die mir vertrauten Lokalitäten der bürgerlichen Art zu.«

Ja, Josip Markovitch setzte alles daran, ein Bürger zu sein, einer von feinem Geist mit künstlerischen Ambitionen, ein Weltenbürger, der Buenos Aires, New York, Zagreb und Wien wie seine Westentasche kannte. Trotzdem haftete an seinen maßgeschneiderten Seidenanzügen nicht nur der Duft seines hölzernen, edlen Rasierwassers, sondern auch ein verräterischer Hauch seiner Herkunft. Als uneheliches Kind einer Wäscherin trennte ihn gerade einmal eine Generation von der Gosse.

Theodora wusste sehr genau, was sie wollte, und sie würde mit einem Geheimnis um ihre Biographie anfangen. Genau wie Josip Markovitch es sie gelehrt hatte.

»Gib niemals zu viel von dir preis«, lautete seine Devise.

Zu schweigen war keine Lüge, und es gab den anderen Raum für Phantasie. Je mehr ihr die anderen andichteten, umso besser.

»Ja, Tata«, sagte Theodora und hakte sich auf dem Nachhauseweg bei ihm ein. »Wir können gern woanders hingehen. Das nächste Mal.«

Sie spürte das weiche Leder seines Handschuhs auf ihrer Hand, als sie die Métro-Station Notre-Dame-des-Champs ansteuerten. Von dort ging es ins 17. Arrondissement auf die Place de la Porte de Champerret, wo die Familie Markovitch eine großzügige Etage in einem Bürgerhaus bewohnte.

»Diesem Monsieur Sage ragte ein schrecklich widerspenstiges Haar aus seiner Braue – und das, während er mir zu verstehen gab, ich solle meine Ambitionen in der Kunst vergessen. Am liebsten hätte ich es ihm herausgerissen.«

»Dora«, mahnte ihr Vater und tätschelte ihre Hand, während sie die Métro-Station erreichten. »Du mit deinem Temperament. Du machst den Leuten Angst.«

»Woran denkst du, Tata?«, fragte Dora. Die Métro fuhr ein und wehte ihr die Haare aus dem Gesicht. Josip hielt seinen Hut fest.

»Wie ich diese Zukunftspläne deiner Mutter beichte. Was wird meine kleine Verrückte dann wohl tun?«

Theodora lächelte und legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Sie wird toben und dich beschimpfen, mein lieber Tata, und am Ende wird sie sich damit abfinden.«

Kapitel 2 Paris, 1929

Tatsächlich hatte sich Julie nach mehreren Ausbrüchen, die Josip routiniert abgefangen hatte, mit Theodoras Wahl abgefunden und sich damit getröstet, dass ihr Kind irgendwann von selbst zu sich finden und einen bürgerlichen Weg einschlagen würde.

Die Zeit verging, ohne dass sich Julies Wunsch erfüllte.

Die höhere Schule für Malerei und Fotografie schloss Theodora erfolgreich ab, genau wie die darauf folgende Ausbildung an der Académie Julian. Beharrlich folgte sie ihrem inneren Drang, sich eines Tages als Künstlerin in Paris zu verwirklichen.

Behilflich dabei waren ihr vor allem Kontakte, die sie durch den Filmemacher Louis Chavance knüpfen konnte. Louis war unsterblich in Dora verliebt, und sie gab seinem Werben nach, obschon sie spürte, dass er nicht der Mann war, den sie brauchte. Seinem Feingeist fehlte jenes Feuer, nach dem sich Dora so sehr sehnte. Trotzdem hatten die beiden einander sogar ihre Eltern vorgestellt. Julie war hingerissen und hoffte auf den ehelichen Hafen für Theodora.

Nur Josip sah seiner Tochter an, was in ihr vorging. Louis war nicht einmal annähernd der Richtige für die Leidenschaft seiner Tochter.

»Du brauchst Kontakte zur Modebranche, Theodora«, erklärte der berühmte ungarische Fotograf Brassaï, den sie durch Louis kennengelernt hatte, während er sie am Arm über die belebten Champs-Élysées zog. »Paris ist die Stadt der Mode. Und sieh dich an! Du, mit deinem stilvollen und extravaganten Äußeren, bist geradezu geschaffen, um mitzumischen. Du hast einen Riecher für Zeitgeist.«

Brassaï blieb stehen und deutete auf ihren Hut aus smaragdfarbenem Taft mit kleinen angebrachten Pailletten. Dora selbst hatte ihn nach ihren Vorstellungen von der Hutmacherin am Boulevard Saint-Germain machen lassen.

»Nichts ist in der Modewelt wichtiger. Hinzu kommt, dass du eine begnadete Fotografin bist.«

Eine begnadete Fotografin zu sein ließ sich Theodora nicht zweimal sagen. Bereits André Lhote, bei dem sie während ihrer Ausbildung Malkurse absolviert hatte, hatte schnell erfasst, welchem Genre ihre wahre Passion gelten sollte. Obwohl sie durchaus Talent zum Malen besaß, zeichnete sich für sie immer klarer ab, dass sie in der Fotografie ihren Weg als Künstlerin finden könnte. Warum also keine Modefotografien?

»Empfehle mich gern, Brassaï«, sagte sie selbstbewusst und hängte sich bei ihm ein. »Wie immer der Auftrag lautet, ich traue ihn mir zu.«

In jener Umgebung, wo Theodora schon sehr bald nichts mehr dem Zufall überließ, reifte ihre Kunst. Sie entfaltete sich wie eine Pflanze in einem Gewächshaus bei tropischer Hitze. Hinzu kam, dass Theodora die Atmosphäre von Paris aufsaugte, ihre Freiheiten genoss und tagtäglich ihren Freundeskreis erweiterte. Sie lernte schnell, was sich in der Modewelt zügig herumsprach. Es folgte Auftrag um Auftrag, und sie war sich für nichts zu schade, denn am Ende würde ihre Arbeit Früchte tragen.

Mit ihrer ehemaligen Kommilitonin Jacqueline Lamba erkundete sie das wilde Nachtleben von Paris. Fast jeden Abend besuchten die unzertrennlichen Freundinnen abwechselnd jene Pariser Lokale, in denen sich ein buntes Volk von Andersdenkenden einfand. Die Stadt der Lichter tanzte zwar keinen Tango, aber aus den verrauchten Bars und Bistros klangen die dumpfen, sündigen Töne des Jazz, denen man sich ebenso hingeben konnte. An keinem anderen Ort, so schien es den Freundinnen, vermochten Frauen so leicht ihre Korsetts zu sprengen und gegen den Strom der Konventionen zu schwimmen. Paris zeigte sich weltoffen, vor allem freizügig – nicht nur im Moulin Rouge an der Place Pigalle.

Binnen kürzester Zeit hatte Jacqueline Lamba herausgefunden, wo man welche Leute in Paris traf, und bei ihrer Wahl sogleich die Spreu vom Weizen getrennt.

Nur wenige Namen waren nach Jacquelines Einschätzung von großer Bedeutung. Namen, denen Theodora bereits Gesichter zuordnen konnte, unter ihnen das des Fotografen und Malers Man Ray und jenes von André Breton, des Dichters und Begründers des Surrealismus. Sogar der große Picasso tauchte hin und wieder mit Éluard und dessen Frau Nusch auf. Nur Theodora war dem berühmtesten Maler von Paris, Picasso, noch nie begegnet, nicht einmal von ferne, was angesichts der wenigen Lokalitäten, in denen die Pariser Bohème verkehrte, einem Wunder gleichkam. Picasso schien einer eigenen Klasse und Kategorie anzugehören. Auf zahlreichen Ausstellungen hatte Theodora bereits seine Kunst bewundert. Ihr gefiel seine Farb- und Formgebung, und sie wusste nicht, warum, aber viele seiner Bilder erreichten ohne Umweg ihr Herz.

Ähnlich erging es ihr mit Paul Éluards Gedichten. Keiner vermochte es wie er, das Lebensgefühl der Künstler in der Metropole in seiner Lyrik wiederzugeben.

»Wir richten Tage und fliegen Zeiten nach dem Maß unserer Träume ein«, waren Zeilen aus Éluards Hand, die niemanden kaltließen, und die Pariser Bohème feierte ihn dafür. Theodora bewunderte ihn aus tiefstem Herzen.

Jacqueline hingegen schwärmte für André Breton, sie setzte alles daran, ihn kennenzulernen, und wartete nur auf die passende Gelegenheit. Doras Stolz verbot ihr, auf irgendeinen jener Männer zuzugehen. Sie genoss es, Freunde zu haben, die ihr das Gefühl gaben, etwas ganz Besonderes zu sein – was sie nicht brauchte, waren Liebhaber, die ihr am Rockzipfel hingen. Aus diesem Grund hatte sie sich schnell von Louis Chavence getrennt, der ihrer Stärke wenig entgegenzusetzen wusste. Sie wollte einen Mann auf Augenhöhe, der sich ihrem wilden Wesen stellte. Ihre Ansprüche diesbezüglich waren sehr hoch, und es gab so viel Unbekanntes, das noch vor ihr lag! Mit einem halben Glück gäbe sie sich niemals zufrieden.

Vor der elterlichen Wohnung an der Place de la Porte de Champerret klemmte Theodora ihre Arbeitstasche auf den Gepäckträger ihres Fahrrads.

Wartet mit dem Abendessen nicht auf mich, hatte sie ihren Eltern auf einem Zettel hinterlassen. Ich arbeite noch.

Für genau zwei Stunden durfte sie die Dunkelkammer eines Kollegen nutzen. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Das Atelier lag in der Rue de l’Université, knappe zehn Fahrradminuten entfernt.

Dort angekommen, lief sie in den Hinterhof, nahm den Schlüssel, der wie verabredet unter einem Stein lag, schloss den Kellereingang auf und ging die wenigen Stufen hinab.

Das Atelier war abgedunkelt, der Vorhang zugezogen. Nach einer kurzen Inspektion fand sie die Dunkelkammer und zog die Tür hinter sich zu. Der winzige Raum maß keine zwei Quadratmeter.

Sie machte alles genau so, wie sie es gelernt hatte, vergewisserte sich bei Licht, ob das Arbeitsmaterial richtig platziert war. Nahezu alle Fotografen stellten die Flaschen für die einzelnen Arbeitsschritte nach demselben Muster auf. Film, Flaschenöffner, Schere, Entwickler, Stoppbad, die Wanne mit dem Fixierer und das abschließende Wasserbad, das Metronom, die kleine Petroleumlampe. Als Linkshänderin hatten sich ihre Hände schnell an eine Reihenfolge von links nach rechts gewöhnt.

Mit geschlossenen Augen ging sie gedanklich jeden einzelnen Schritt noch einmal durch.

Gleich würde sie in kompletter Dunkelheit arbeiten. Jeder Handgriff musste sitzen, selbst der kleinste Fehler war unverzeihlich und zeigte sich anschließend als schwarze oder weiße Fläche auf dem Fotopapier.

Vor ihr standen die Wannen mit den dazugehörigen Flaschen. Die Petroleumlampe spendete schwaches Licht. Sie zog den schweren Vorhang an der Innenseite der Tür so zu, dass nicht einmal ein winziger Streifen Licht von außen durchschimmerte. Das Licht, mit dem Dora tagsüber hinter der Kamera zu spielen wusste, konnte während des Entwicklungsprozesses schnell zum größten Feind werden.

Sie warf einen letzten Blick zur Seite. Das Metronom stand an seinem Platz. In der Dunkelheit diente es als einziger Zeitmesser. Wie ein Herzschlag wachte sein Takt zuverlässig über die Dauer ihrer Handgriffe.

Die Stille war dicht, nah, unmittelbar.

Jetzt musste es schnell gehen.

Sie löschte das Licht, von dem ein roter Punkt zurückblieb, der erlosch, bevor es stockfinster wurde. Sie hatte die Abfolge bereits so viele Male durchgeführt, dennoch stellte sich immer wieder die Erregung des Augenblicks ein, wenn aus dem Nichts Menschen entstanden, Bilder, Momentaufnahmen, Fragmente einer verborgenen Welt.

Ihre rechte Hand griff nach der Flasche, die linke nahm den Öffner. Sie spürte den Deckel, wo sie den Öffner ansetzen musste, an der quer verlaufenden Muskulatur zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit einem quietschenden Geräusch entfernte sie den Deckel, legte ihn zur Seite. Leichter Säuregeruch stieg ihr in die Nase.

Vorsichtig nahm sie den Film heraus, darauf bedacht, keine Fingerabdrücke auf dem Streifen zu hinterlassen. Dann tastete sie nach dem schmalen Ende, das den Anfang markierte, griff nach der Schere und schnitt es ab. Mit dem angedrückten Daumen fühlte sie, wo sie entlangschneiden musste.

Sie atmete einmal tief durch und stellte das Metronom an.

Klick-klack. Klick-klack.

Geübt rollte sie den Streifen auseinander, hielt die beiden äußersten Seiten jeweils mit den Fingerspitzen fest und wartete einen Augenblick. Dann folgte das Tauchritual, und sie schwenkte den Film in der Wanne durch den Entwickler. Jeder Millimeter des Films musste dieselbe Menge an Flüssigkeit abbekommen und dabei stets in Bewegung bleiben.

Nur noch wenige Sekunden. Dora hatte ein gutes Zeitgefühl. Nach nahezu tausend Aufnahmen wusste sie instinktiv, auch ohne Metronom, wann dieser Vorgang abgebrochen werden musste.

Klick-Klack. Dann riss das Geräusch ab. Stille.

Jetzt war es Zeit für das Stoppbad. Sie gab den Streifen hinein und drehte anschließend am Regler der Petroleumlampe. Nun konnte das Licht dem empfindlichen Material nichts mehr anhaben.

Mit blinzelnden Augen tauchte sie den Streifen in die Wanne mit dem Fixierer und anschließend ins Wasserbad.

Jedes Mal, wenn sie zum Abschluss den schweren, lichtundurchlässigen Vorhang zur Seite schob und die Tür öffnete, wenn das Licht wie eine unaufhaltsame Welle in den kleinen Raum hereinströmte, stellte sie überrascht fest, dass draußen Tag war. Wenn sie ihre neuen Bilder zum ersten Mal sah, schwarz auf weiß, das Spiel von Schatten und Licht, die Schlichtheit eines Motivs, kam ihr das Ergebnis wie ein Wunder vor. Manchmal wusste sie nicht, was sie mehr genoss: die Jagd auf neue Motive oder die Arbeit in der Dunkelkammer, wenn all das, was sie durch die Linse eingefangen hatte, im Entwicklungsbad zum Vorschein kam.

Theodora hatte eine Schwäche für die Vogelperspektive. Was an der Leine vor ihr hing, zwang den Blick des Betrachters hinab auf die Seine, an deren Ufern schwarze, kahle Bäume ragten. Ein weiteres Foto zeigte eine Allee mit Kopfsteinpflaster, aufgenommen aus einem Fenster im fünften Stockwerk. An der Seite des Gehwegs warf eine dunkle männliche Gestalt einen überdimensional großen Schatten. Grautöne dominierten. Am besten gefiel ihr das Foto von Paris nach einem Wolkenbruch, eine nahezu schwimmende Straße mit Häusern, die sich in den Pfützen spiegelten.

Sie erinnerte sich daran, wie sie vor zwei Tagen klatschnass nach Hause gekommen, heimlich in ihr Zimmer geschlichen war und sich vor dem Abendessen umziehen musste.

Schon ein einziges gelungenes Bild war diesen Einsatz wert.

Beim letzten Foto, einer Montage von zwei nebeneinandergelegten Negativen ihres Profils, war eine Dopplung in einer surrealen Umgebung entstanden. Sie betrachtete das Ergebnis eingehend. Es handelte sich um eine kleine Auftragsarbeit eines Schönheitsmagazins – immerhin ein Anfang.

»Zwei identische Gesichter«, murmelte sie und dachte über die Symbolik nach.

War dies der richtige Weg? In diesem Moment verstärkte sich der Wunsch, einmal ein eigenes Atelier zu haben. Wie viel würde es ihr bedeuten, wenn sie Tag und Nacht nach Herzenslust ihre eigene Dunkelkammer nutzen konnte! Was für eine ungeahnte Freiheit würde dem entwachsen! Sie sehnte den Tag herbei, und der Wunsch beflügelte ihre Arbeit.

Sie wartete, bis die Bilder getrocknet waren, sammelte sie ein, vergewisserte sich, die Kammer genau so zu verlassen, wie sie diese beim Betreten vorgefunden hatte, und legte Geld auf den Tisch neben der Eingangstür.

Merci bien, vous êtes très gentil, schrieb sie auf einen Zettel, befestigte den Geldschein zusammen mit dem Gruß unter einer kleinen Schale aus Keramik und steckte das Doppelporträt in einen adressierten Umschlag.

Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit.

Draußen schob sie den Atelierschlüssel unter den Stein am verabredeten Ort.

Kapitel 3 Paris, 1932

Theodora stieß die Tür zum Café de Flore auf und rieb ihre kalten Hände aneinander.

Jacqueline wartete bereits an einem Tisch in der Nähe der Bar. Sie rauchte genüsslich eine Zigarette. Ihre blonde Lockenmähne glänzte im Kerzenlicht, vor ihr stand eine Karaffe mit dunklem Rotwein. Die Freundinnen begrüßten sich mit zwei Wangenküssen.

Theodora ließ sich auf einen Stuhl fallen, nahm eine Auswahl älterer Fotos aus der Arbeitstasche und legte sie auf den Tisch.

»Die kennst du noch nicht, oder? Ich habe sie herausgesucht, um sie zu verkaufen.«

»Wie wunderschön und stimmungsvoll, Dorica«, sagte Jacqueline, nachdem sie diese eingehend betrachtet hatte.

Jacqueline war die Einzige, die sie außer ihrem Vater so nennen durfte.

Theodora seufzte und rümpfte die Nase.

»Was ist los?«, fragte Jacqueline. »Zweifelst du etwa an dir?«

»Damals fand ich sie großartig, jetzt, mit etwas Abstand, erscheinen sie mir brav, Jacqueline. Bourgeois.«

Sie schnaubte verächtlich.

»Bourgeois ist was anderes, Theodora. Diese Fotos sind nicht außergewöhnlich, aber gut. Sie haben Atmosphäre. Ich mag diese Vogelperspektive, den Schatten des Mannes.«

Dora schüttelte den Kopf. »Schau dir das nur an.« Sie tippte mit ihrem langen, perfekt lackierten Zeigefinger auf vier unterschiedliche Fotos. »Bäume. Die Seine. Ein Automobil. Ein Mann mit einem Schatten. Das alles reicht nicht. Es muss noch etwas anderes geben.«

»Du stehst am Anfang«, sagte Jacqueline. »Wir stehen am Anfang. Du bist gerade mit der Ausbildung fertig und warst die Beste in unserer Klasse. Louis hat dich mit den wichtigsten Leuten der Branche zusammengebracht. Die Menschen in deiner nächsten Umgebung bewundern dich, ich eingeschlossen! Du hast bereits Fotos verkauft. Was willst du denn noch?«

»Mehr als mittelmäßig sein. Viel mehr. Wenn du Großes erreichen möchtest, musst du etwas riskieren.«

»Etwas Geduld, Mademoiselle Markovitch«, mahnte Jacqueline, zog einen kleinen Spiegel aus der Tasche und malte sich mit dunkelrotem Lippenstift den Mund nach.

»Man kann sich doch Gedanken machen, wie man weiterkommt. Uns Frauen wird nichts geschenkt.«

Jacqueline nickte zustimmend. »Und wie genau willst du das anstellen?«

Doras Blick schweifte über die Menschenmenge, die durch den Zigarettenrauch hinter einer Nebelwand verschwamm.

»Indem ich etwas Außergewöhnliches schaffe, etwas, das aus der Masse heraussticht. Warum hat dieser Picasso solchen Erfolg? Weil er wunderschön malt?«

Picasso. Sein Name schwebte wie ein Phantom über allen Gesprächen, die Künstler hier in Paris führten. Stets behielt man sein außergewöhnliches Talent im Hinterkopf und verneigte sich vor seinem Werk in Ehrfurcht.

»Warum hat er solchen Erfolg? Erklär du es mir«, sagte Jacqueline.

Theodora schwieg und zuckte die Achseln.

»Vielleicht, weil er neue Wege geht?«, fragte Jacqueline schließlich nachdenklich mehr sich selbst, »womöglich sollte man ihn kopieren?«

Theodora schüttelte den Kopf und trank einen kräftigen Schluck Wein.

»Man darf ihn niemals kopieren, weil man es sowieso nicht so kann wie er. Ein wahrer Künstler muss seiner Zeit voraus sein. Das ist der Auftrag der Kunst. Die Fotografie ist jung und vielleicht eine Nische für uns Frauen. Was ist mit Lee Miller? Ilse Bing? Sie haben sich hier in Paris bereits einen Namen gemacht. Hast du schon einmal gehört, dass Picasso fotografiert?«, fragte sie provokativ.

Jacqueline schüttelte den Kopf.

Theodora lächelte, und um ihre Lippen zeigte sich eine Spur von Hochmut. »Dazu wäre er sich nämlich viel zu schade. Die meisten Künstler halten die Fotografie für eine mangelhafte Wiedergabe der Wirklichkeit. Ich wette, Picasso ist einer, der sein Inneres auf die Leinwand werfen muss. Anders kann er nicht leben. Er liebt die Frauen nicht, die er malt. Er liebt sein Bild von ihnen.«

»Kennst du Lee Miller und Ilse Bing persönlich?«, fragte Jacqueline ausweichend, als sei ihr das Thema Picasso unangenehm.

»Wieso weichst du immer aus, wenn von Picasso die Rede ist?«, fragte Theodora befremdet.

»Ich bitte dich, liebe Freundin! Die Vögel pfeifen es von den Pariser Dächern: Es heißt, er behandle Frauen wie Fußabstreifer. Seine Ehefrau Olga erzählt es jedem, der es hören möchte oder nicht. Sie ist verrückt geworden – seinetwegen.«

Theodora klopfte mit der Hand auf den Tisch. »Jacqueline, weißt du, was du da sagst? Erstens muss man nicht alles glauben, was die Leute reden, und zweitens vermag es nicht einmal der große Picasso, seine Frauen verrückt zu machen.«

Jacqueline schnaubte. »Du verteidigst ihn.«

»Nein«, sagte Theodora entrüstet. »Das tue ich nicht. Ich kenne ihn ja nicht einmal. Es geht mir um das Geschwätz der Leute. Du weißt, wie ich das hasse.«

»Wäre dir ein grobschlächtiger Picasso lieber als ein Louis Chavance, der dich auf Händen trägt? Warum hast du ihn verlassen? Diesen Feingeist, der außerdem ein göttlicher Tänzer ist!«

Theodora glaubte, sich verhört zu haben. Nicht einmal ihre engste Freundin durfte so weit gehen und sich in ihre Liebesangelegenheiten einmischen.

»Ich habe ihn nicht verlassen, Jacqueline«, fauchte sie. »Wir sind sehr freundschaftlich auseinandergegangen. Wir beide erwarten von der Liebe etwas völlig anderes. Das geht niemanden etwas an. Nur so viel: Im Zweifel ziehe ich den göttlichen Liebhaber einem göttlichen Tänzer vor.«

Den letzten Satz hatte sie geradezu ausgespuckt. Jacqueline lachte laut heraus. »Und was ist das, bitte schön, Mademoiselle Markovitch, ein göttlicher Liebhaber?«

Sie setzte einen Blick auf, der Theodora an den ihrer Mutter erinnerte. Diesen einschmeichelnden Blick, der sein Gegenüber zu Indiskretionen verleiten wollte. Sie konnte es von Jacquelines Augen ablesen: Du kannst mir alles sagen. Bei mir ist es gut aufgehoben. Jacqueline konnte nicht wissen, welch feine Antennen Theodora besaß, die beim geringsten Versuch von Manipulation Alarm schlugen. Sie schüttelte den Kopf.

»Das werde ich dir vielleicht sagen können, wenn er mir begegnet ist. Es wird ein Mann sein, der mich mit Haut und Haaren haben will. Ich will keinen Himmel voller Geigen, ich möchte Pauken, Posaunen und Trompeten und das Aphrodisiakum nicht enden wollender Gespräche. Was ich brauche, ist ein Mann auf Augenhöhe, einer mit Esprit.«

Jacqueline verstummte.

Theodora zündete sich eine neue Spitze an, während sie sich eingestand, dass Louis sehr wohl ein Mann mit Esprit war. Warum nur war er so brav gewesen und hatte sich niemals mit ihr angelegt? Sie ließ ihren Blick durchs Lokal schweifen. Es entstand eine lange Pause, und nur die Gesprächsfetzen von den Nebentischen schwappten zu ihnen herüber.

»Die Wiedergutmachung nach der Grande Guerre ist ein Witz«, hörte Theodora eine männliche Stimme.

Im Stillen gab ihm Theodora recht.

»Du wolltest wissen, ob ich Lee Miller und Ilse Bing jemals begegnet bin?«, fragte sie Jacqueline schließlich mit einem kühlen Unterton, als habe das Streitgespräch von gerade eben niemals stattgefunden.

»Stimmt. Da waren wir stehen geblieben«, erwiderte Jacqueline kleinlaut und lächelte sie versöhnlich an.

Theodora hatte die beiden Fotografinnen bereits in Pariser Lokalen gesehen, aber noch kein Wort mit ihnen gesprochen. Lee Miller war groß, blond und wunderschön, Fotografin und Mannequin – eine nicht unbedingt naheliegende Kombination. Es hieß, sie habe den schönsten Busen von Paris und sei einst die Geliebte Man Rays gewesen. Neben Lee Miller wirkte Ilse Bing mit ihrem dunklen Teint geheimnisvoll, verschlossen. In Deutschland hatte sie einst Physik und Mathematik studiert.

»Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich weiß, dass sie Erfolg haben. Warum wollen wir nicht die Nächsten sein und es besser machen als die beiden? Dann spricht Paris von der Markovitch und der Lamba!«

Theodora blickte Jacqueline herausfordernd an.

Jacqueline gab dem Kellner ein Zeichen und bestellte eine neue Karaffe Rotwein. Theodora machte einen Kussmund um ihre Spitze und inhalierte den Rauch mit zurückgelehntem Kopf.

»Die Markovitch«, hauchte sie. »Jetzt weiß ich es. Endlich verstehe ich …«

»Was weißt du?«

Mit einem Ruck setzte sich Jacqueline auf, stellte ihren Ellbogen auf den Tisch und stützte ihren Kopf in die geöffnete Hand.

»Was? Sag schon!«, wiederholte Theodora.

»Du brauchst einen neuen Namen, Henriette Theodora Markovitch. Einen Künstlernamen, einen, der deine slawische Herkunft nicht preisgibt. Kurz und bündig. Einen, den man hört und nie mehr vergisst. Kennst du Man Rays richtigen Namen?«

Theodora schüttelte den Kopf.

»Emmanuel Rudnitzky oder Radnitzky, genau weiß ich es nicht. Klingt genauso slawisch wie Markovitch.«

Theodora schloss die Augen. Wie oft hatte Julie abfällig über die slawische Herkunft Josips gesprochen!

»Du bist nicht die Erste, die das meint«, erwiderte Theodora.

Ihr Blick verlor sich hinaus aus dem Fenster über den Boulevard St. Germain, auf dem einige Automobile zu sehen waren, und wieder zurück ins Café de Flore. Rauchschwaden zogen durch den Raum. Die Stimmen der Besucher überschnitten einander. Gelächter. Stühle und Tische wurden gerückt. Die Kellner drängten sich mit vollgestellten Tabletts durch die engen Gänge.

»Ein ehemaliger Kommilitone auf der Académie Julian hat etwas Ähnliches gesagt, und seitdem denke ich immer wieder über einen neuen Namen nach.«

Theodora nahm einen Stift aus ihrer Brusttasche und kritzelte auf das Papiertischtuch Dorica. Kleine Dora. Nachdenklich inhalierte sie einen tiefen Zug, ohne die Augen von dem Schriftzug zu lassen, und schrieb dann in Druckbuchstaben: DORA MARKOVITCH.

»Dora sieht sehr gut aus«, sagte Jacqueline.

Theodora nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Weinglas, stellte es beherzt auf den Tisch, so dass die rote Flüssigkeit herausschwappte. Plötzlich spürte sie ihren Herzschlag und spannte ihren Oberkörper an. Dann zeigte sie der Freundin ein triumphierendes Lächeln.

Jacqueline blickte sie fragend an.

Entschieden strich Theodora die Silben KOVITCH durch und neigte sich ihrer Freundin entgegen. Sie war ihr so nah, dass sie die hellen Härchen in ihrem Gesicht sehen konnte und den Veilchenduft ihrer Haut einatmete.

»Es ist diese Endung, die meinen Namen fremd erscheinen lässt«, flüsterte Theodora. »Slawisch. Unter den osteuropäischen Zuwanderern gibt es viele Juden. Mein Vater wird oft gefragt, ob er jüdischer Herkunft sei.«

»Ist er?«, raunte Jacqueline mit großen Augen.

»Keine Ahnung. Tata weicht bei der Frage immer aus. Er liebt das Geheimnis.«

Sie legte ihren Zeigefinger auf die Lippen.

»Genau wie seine Tochter«, sagte Jacqueline leise.

Erneut setzte Theodora den Stift an und schrieb: Dora Mar.

»Das Meer ist in meinem neuen Namen. Mare – das Meer. In der Muttersprache meines Vaters heißt es More. Kannst du es hören? More, wie dunkel es klingt, wenn man einen einzigen Selbstlaut austauscht? M-o-r-e. M-a-r-e. Wusstest du, dass ich das Meer liebe, welch innige Beziehung ich zum Element Wasser habe? Ich bin ein halber Fisch.«

Sie machte mit beiden Händen eine Wellenbewegung, und Jacqueline starrte auf ihre Finger.

»Du bist …«, sagte sie fast andächtig.

»Psst«, befahl Theodora und schrieb in Großbuchstaben DORAMARE. Dann strich sie das E wieder durch und betrachtete ihre Wortschöpfung ausgiebig. Gedankenverloren zeichnete sie ein A auf die Papierdecke, malte es aus, schrieb ein neues und bildete den Buchstaben immer wieder stumm nur mit ihrem Mund.

»Du scheinst wirklich ein halber Fisch zu sein«, lächelte Jacqueline, die das Schauspiel beobachtete. Vom Nebentisch sahen einige Gäste verständnislos zu ihnen herüber.

»Maar mit langem a«, sagte Theodora plötzlich und griff sich an die Stirn, als habe sie eine Eingebung. Sie schloss die Augen und zeichnete mit ihren schönen langen Fingern zwei entgegengesetzte Schwünge in die Luft, als dirigiere sie ein Orchester.

Die Leute vom Nebentisch sahen verlegen zur Seite und begannen untereinander zu tuscheln. Als Dora die Augen öffnete, hauchte sie dem Tisch eine Kusshand zu. Dann schloss sie erneut ihre Augen, warf den Kopf in den Nacken und sprach mit gerunzelter Stirn.

»Zwei kurze Takte, ein langer. Do-ra. Maar. Wir brauchen ein zweites A. Das O von More klingt dunkel, wie der Atem des Meers aus der Tiefe. Das A aber hell und sinnlich. Kannst du es hören?«

Jemand lief an ihr vorbei, und sie spürte einen Windhauch, die Magie dieses Augenblicks. In ihrem Nacken stellten sich die Härchen auf. Eine Gänsehaut wanderte langsam vom Hals hinab bis zu den Zehen.

»Dora Maar. Ich heiße Dora Maar«, sprach sie und ließ sich ihren neuen Namen auf der Zunge zergehen.

Dora Maar.

»Er klingt sehr geheimnisvoll.«

»Bisher weißt es nur du, bald aber ganz Paris, meine Liebe. Mein Name ist Dora Maar. Und diesen Namen werden sich sogar die Franzosen merken.«

Als ein Gast vom Nebentisch zu ihnen herüberstarrte, wandte sich Dora mit klarer Stimme an ihn, eine Verbeugung andeutend. Dann hob sie voller Stolz das Kinn: »Ich bin Dora Maar. Diesen Namen sollten Sie sich merken, Monsieur.«

Verwirrt sah der Mann weg.

Die Freundinnen stießen mit ihren Weingläsern an und warfen sich verschwörerische Blicke zu.

Kapitel 4 Paris, 1933

Mit Wäscheklammern befestigte Dora ihre neuesten Arbeiten für ein Modemagazin an einer Leine und betrachtete kritisch Bild um Bild. Frauen trugen edle, lange Abendroben und wirkten durch die Perspektive schlank wie Gazellen, nahezu androgyn. Eine Nahaufnahme von liegendem, dichtem und gewelltem Haar spielte mit Licht und Schatten und wirkte wie ein weiter Ozean, auf dem mittig ein Segelschiff von der Größe einer Haarnadel platziert war. Es handelte sich um Werbung für ein Haaröl.

Doras geschultes Kameraauge prüfte, ob das Bild dem Blick des Betrachters und der Wirklichkeit standhalten konnte. Sie ging näher heran, trat zurück. Manchmal war sie selbst von der Magie überrascht, welche Wandlung ein Motiv vom Moment der Aufnahme bis zu diesem Neuanfang in der Dunkelkammer erfahren konnte.

»Das Licht ist unser Werkzeug.«

Die Worte ihres ersten und wichtigsten Lehrers Emmanuel Sougez, des Begründers der Nouvelle Photographie, klangen in ihrem Ohr, als stünde er neben ihr. Er war ihr Mentor gewesen und hatte sie stets ermuntert, Fotografin zu werden. Sie verdankte ihm viel.

Dora schloss die Augen und konzentrierte sich. Dunkelheit umgab sie wie eine wärmende Decke. Das Metronom klackte.

Als es verstummte, legte sie die Fotomontage in die säuerlich riechende Flüssigkeit. Ihr stockte der Atem angesichts dessen, was sich im Entwicklerbad abzeichnete – Doras Hand mit den langen, schmalgliedrigen Fingern lag auf Sand. Man Ray hatte sie vor Tagen fotografiert. Eine weiße Frauenhand, von der ein lackierter Daumennagel zu sehen war. Nur der dunkle Kontrast ließ den roten Nagellack erahnen. Das Motiv hatte Dora verfremdet, indem sie ihre schlanke Hand mittels Fotomontage aus einer Muschel auf Sand geradezu herauswachsen ließ. Je länger sie hinsah, desto mehr erschien es ihr, als sei genau dies deren Bestimmung, als verkörpere jene Muschelhand die schäumende Venus, den Beginn der Sinnlichkeit. Alles wirkte wie aus einem Guss. Ein wolkenverhangener Himmel mit einem tiefdunklen Rand verlieh dem surrealistischen Bild seinen Rahmen.

Dora wusste: Das schönste Motiv war ohne die richtige Technik nutzlos. Zwischen Herausragendem und Unbrauchbarem lag zuweilen ein schmaler Grat. Man musste das Licht bändigen, es zu seinem Komplizen machen. Darin lag das Geheimnis.

»Als stünde die Zeit still«, flüsterte sie, zog ihre Schürze aus und trat hinaus ins Studio.

Sie war allein heute.

Ihr Kompagnon Pierre Kéfer, mit dem sie sich seit einem Jahr das Atelier am Boulevard Richard Wallace in Neuilly-sur-Seine in der Nähe des Bois de Boulogne teilte, war einige Tage weggefahren. Pierres Abwesenheit kam ihr gelegen, denn in letzter Zeit hatte es zwischen ihnen Verstimmungen bezüglich der Ausrichtung ihrer Arbeit gegeben. Zwar galt das Kéfer-Maar-Studio als eine der Adressen für extravagante Mode- und Kosmetikfotos und Porträts, aber insgeheim wusste Dora, dass sie die wahre Ideengeberin war.

Sie nahm sich ein Glas Rotwein aus der Küche, ging zurück ins Studio, setzte sich und holte eine Mappe mit ihren chronologisch geordneten Fotos aus der Schreibtischschublade.

Wie schnell war die Zeit vergangen!

Ihr Blick schweifte über die Aufnahmen und haftete an den Anfängen ihres Erfolgs, wie alles mit ihrem neuen Namen angefangen hatte und wer sie auf ihrem Weg nach oben begleitet hatte. Ein Gefühl der Dankbarkeit erfasste sie, gefolgt von Neugier und Vorfreude. Sie war noch lange nicht dort, wo sie hinwollte.

Ein frühes Privatbild am Mont-Saint-Michel mit Pierre Kéfer in der Normandie katapultierte sie zurück in eine unbeschwerte Zeit. In einem übermütigen Moment hatten sie ein Foto mit Selbstauslöser gemacht. Dabei lagen sie bäuchlings auf einer Anhöhe, hinter ihnen der legendäre Felsen des Mont-Saint-Michel. Dora lachte aus vollem Hals, was nur selten auf Bildern zu sehen war. Dank einer perspektivischen Täuschung wirkte es, als fielen die beiden sogleich mit ihren Fotoapparaten in die Tiefe des Wassers.

Es gab auch eine ernste Dora, wovon ihre Fotos Anfang der Dreißiger zeugten. Anlässlich von Auftragsreisen war sie nach Barcelona und London in die Armenviertel der Städte gefahren und hatte neben ihren Modeaufnahmen soziale Außenseiter fotografiert, die großen Verlierer der Wirtschaftskrise, die sich in Europa immer stärker abzeichnete. Straßenfotografie nannte die Branche derartige Aufnahmen, die vom kritischen Blick des Fotografen auf die Verlierer der Gesellschaft geprägt waren. Für Dora bildeten sie ein klares politisches Bekenntnis, den Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit, die in utopischer Ferne lag.

Sie nahm ihre Spitze, zündete eine Zigarette an und blätterte weiter. Die Standuhr neben ihr schlug zur vollen Stunde.

Nach einigen Seiten stutzte sie. Zwischen ihre eigene Arbeit hatten sich Fotoaufnahmen anderer Fotografen geschlichen. Großaufnahmen ihres jungen Gesichts, die Haare zum Bubikopf geglättet, die Hände vors Gesicht gehalten. Waren sie während ihrer Ausbildungszeit entstanden? Eines der späteren hatte Man Ray signiert.

Wo war sie dem großen Man Ray und all den anderen begegnet? Rückblickend war ihr, als habe sie vor langer Zeit im Handumdrehen Zutritt zur Pariser Bohème gefunden. Dabei waren gerade einmal ein paar Jahre vergangen. Seitdem hatte sie das Paris der Kostümfeste, des Jazz und des Rausches in die Hinterzimmer der Bohème entführt.

Auf diese Weise war Dora ihre Geburtsstadt Paris ein Stück weit wieder zur Heimat geworden. Das verdankte sie in erster Linie Louis Chavance, der sie mit so vielen Künstlerpersönlichkeiten zusammengebracht hatte. Niemals würde sie seine Unterstützung vergessen. Ausnahmekünstler, wie der ungarische Fotograf Brassaï und Man Ray, suchten ihre Nähe, bewunderten sie für ihren Mut und ihr Talent.

Immer noch erschien ihr all das wie ein Wunder. Dora trank Wein, aß mit berühmten Leuten zu Abend oder Mittag, arbeitete Hand in Hand mit den wichtigsten Fotografen der Stadt und war ein Teil der Pariser Kunstwelt geworden. Sie engagierte sich in linken Künstlergruppen, die nach sozialer Gerechtigkeit strebten. Die Pariser Kunstszene zeigte Profil und bekannte sich zur linken Politik, was Dora schätzte.

Die Aufnahme in den erlesenen Kreis der Surrealisten allerdings verdankte Dora einzig ihren außergewöhnlichen Fotografien. Die Gruppe, das hatte sie sehr bald zu spüren bekommen, war im Kern eine eingeschworene Männergesellschaft, deren Mitglieder einander seit den frühen Zwanzigern kannten. In Wahrheit duldeten die Surrealisten nur wenige Frauen: Freundinnen, Ehefrauen und herausragende Künstlerinnen. Offensichtlich gehörte Dora zur letzten Kategorie.

Sie blätterte weiter und stieß auf ein Werbefoto, das sie von Nusch gemacht hatte, der Ehefrau des Dichters und Surrealisten Paul Éluard. Zwischen ihr, Dora und Paul war gleich bei der ersten Begegnung der Grundstein für eine innige Freundschaft gelegt worden. Sie liebte Nusch wie eine Schwester, die sie nie gehabt hatte.

Kleine Nusch, flüsterte sie gedankenverloren und betrachtete das schöne Gesicht ihrer Freundin hinter einem Spinnwebennetz. Darunter stand der Werbeslogan, den Dora für eine französische Kosmetikfirma entworfen hatte: Die Jahre lauern euch auf.

Irgendwann konnte sich das Kéfer-Maar-Studio vor Aufträgen kaum noch retten. Veröffentlichungen in Magazinen wie Madame Figaro, dem Magazine Beauté und dem Erotikmagazin Beauté und Sex Appeal trugen maßgeblich zum nachhaltigen Erfolg des Ateliers bei.

Die originellen Modeaufnahmen aus den Ateliers avancierten zum Markenzeichen für extravagante Fotos, besonders Doras Aktfotos des berühmtesten Pariser Nacktmannequins Assia stachen durch ihre Originalität heraus. Trotzdem ruhte sich Dora auf den Erfolgen nicht aus und war stets auf der Suche nach neuen Wegen in der Kunst.

Sie wollte nicht nur zeigen, was war, sondern auch, was sich hinter der Realität versteckte.

Sie blätterte weiter und entdeckte noch mehr private Aufnahmen – von Männern, verflossenen Liebhabern, Weggefährten.

»Wer immer Dora begegnet, erliegt ihrem geheimnisumwobenen Wesen, ihrer Intelligenz, ihrem Esprit und der magischen Aura, die sie umgibt. Paris liebt dich, ma chère«, pflegte Paul Éluard stets zu ihr zu sagen.

Dora lächelte Komplimente dieser Art weg, obwohl sie die darin zum Ausdruck kommende Ergebenheit genoss.