6,99 €
Als Édiths Vater Simon Mercier 2016 in Paris stirbt, erfährt die 53-Jährige völlig überraschend von ihren deutsch-polnischen Wurzeln. Anscheinend war Simon ein angenommenes Kind, dessen jüdischer Vater Opfer der großen Razzia im Juli 1942 wurde. Doch wie ist Simon in die Familie Mercier gekommen und was geschah mit Simons Mutter Helene? Als Édith ihre Cousine Tatjana in der Nähe von Stuttgart ausfindig macht, suchen die Frauen gemeinsam nach Antworten und beginnen, ein jahrzehntelanges Schweigen zu durchbrechen. Wie hat Helenes Schwester, Tatjanas Großmutter Lilo, damals im von Deutschen besetzten Polen gelebt? In Krakau stoßen sie auf eine Apotheke, die nicht nur für Lilo eine zentrale Rolle gespielt hat, sondern auch für den jüdischen Widerstand.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 648
Als Édiths Vater Simon Mercier 2016 in Paris stirbt, erfährt die 53-Jährige völlig überraschend von ihren deutsch-polnischen Wurzeln. Anscheinend war Simon ein angenommenes Kind, dessen jüdischer Vater Opfer der großen Razzia im Juli 1942 wurde. Doch wie ist Simon in die Familie Mercier gekommen und was geschah mit Simons Mutter Helene? Als Édith ihre Cousine Tatjana in der Nähe von Stuttgart ausfindig macht, suchen die Frauen gemeinsam nach Antworten und beginnen, ein jahrzehntelanges Schweigen zu durchbrechen. Wie hat Helenes Schwester, Tatjanas Großmutter Lilo, damals im von Deutschen besetzten Polen gelebt? In Krakau stoßen sie auf eine Apotheke, die nicht nur für Lilo eine zentrale Rolle gespielt hat, sondern auch für den jüdischen Widerstand.
Bettina Storks, geboren bei Stuttgart, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Sie war viele Jahre als Redakteurin tätig, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichte. Die Leidenschaft für Familiengeheimnisse und die Faszination für die deutsch-französische Geschichte hat Bettina Storks immer wieder in ihren Romanen vereint. Mit »Die Schwestern von Krakau« widmet sie sich zum ersten Mal der deutsch-polnischen Vergangenheit, die in ihrer Biografie eine große Rolle spielt. Die Autorin lebt und arbeitet am Bodensee.
BETTINA STORKS
Ein historischer Roman nach wahren Begebenheiten
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Das Motto stammt aus Mascha Kaléko, »Die frühen Jahre«. In: Mascha Kaléko und Gisela Zoch-Westphal (Hrsg.), Die paar leuchtenden Jahre, dtv Verlagsgesellschaft, 2003, München.
© 2025 by Bettina Storks
© 2025 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
www.heyne.de
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH
Redaktion: Hanna Bauer
Coverdesign: t.mutzenbach design, München unter Verwendung von: © akg-images/Tony Vaccaro; © Shutterstock.com/Trutta; © ullstein bild – Heritage Images/Heritage Art
Herstellung: Magdalena Gerblinger
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-28113-7V001
Familie WAGNER, KRAKAU
Dr. Rigobert Wagner (1880 – 1944): Allgemeinmediziner mit eigener Praxis in Krakau, Familienoberhaupt
Käthe Wagner (1885 – 1943): Ehefrau von Rigobert
Lilo Wagner (1914 – 1993): Apothekerin, erstgeborene Tochter von Rigobert und Käthe
Helene Wagner (1915 – 1942): Schneiderin, Tochter von Rigobert und Käthe, wandert 1936 nach Paris aus
Simon Altmann (1939 – 2016): Musiker, Sohn von Helene und Samuel. Kommt 1942 in die Familie Mercier
Samuel Altmann (1913 – 1942): Inhaber eines Lederwarengeschäfts in Krakau, später Paris, Vater von Simon
Familie WAGNER-KÖNIG, FELLBACH bei Stuttgart
Dora Wagner, verheiratete König (* 1944): Apothekerin, Tochter von Lilo Wagner und Dr. Walter Kranz
Tatjana König (* 1964): Psychologin, Tochter von Dora und Bernhard König
Familie MERCIER, PARIS
Antoine Mercier (1900 – 1946): Bauunternehmer
Gisèle Mercier (1902 – 1960): Ehefrau von Antoine
Adi Mercier (* 1933): Tochter von Antoine und Gisèle
Simon Mercier: ab 1942 in der Familie Mercier, Bruder von Adi
Édith Mercier (* 1965): Architektin, Tochter von Simon und Joséphine
Für meine geliebten Fellbacher Großeltern Luise und Karl Stuber. Für meine Kinderfreundin Tatiana Jaroszyńska, die mir ihr Krakau gezeigt hat.
AusgesetztIn einer Barke von NachtTrieb ichUnd trieb an ein Ufer.An Wolken lehnte ich gegen den Regen.An Sandhügel gegen den wütenden Wind.Auf nichts war Verlaß.Nur auf Wunder.Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht,Trank von dem Wasser das dürsten macht.Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen,Fror ich mich durch die finsteren Jahre.Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.
Mascha Kaléko »Die frühen Jahre«
Die untergehende Sonne taucht die Stadt an der Weichsel in ein diffuses Licht. Aus ihrer Gefängniszelle kann Gusta Dawidson Draenger nur auf den Zehenspitzen stehend durch einen kleinen vergitterten Schacht nach draußen sehen. Sie erkennt Ausschnitte von einem Gebäude, die Stiefel der Wachtposten. In der Ferne Stacheldraht, ein Wachhaus. Irgendwann hat die meistgesuchte Widerstandskämpferin Krakaus jegliches Zeitgefühl verloren. Sie orientiert sich an Geräuschen, am Lichteinfall.
Wie lange schon sitzt sie hier ein, in diesem drei Quadratmeter großen Raum mit nichts als einem Eimer für ihre Notdurft und einer Pritsche? Wochen, Monate? Manchmal schieben sich vorbeiziehende Wolken am Himmel vor die Sonne und werfen Schatten in die feuchte Zelle mit der Nummer 15. Sie stellt sich vor, wie sie hoch über den Dächern ihrer Heimatstadt, jener, in der sie vor sechsundzwanzig Jahren geboren wurde, weiterziehen.
Tagtäglich hört sie das Geschrei der Wächter im Gefängnis. Sie brüllen, obgleich alle Insassen umgehend ihre Befehle befolgen. Genauso haben die Deutschen auf den Plätzen des Ghettos gebrüllt, auf den Straßen, vor den Geschäften, bei Festnahmen, bei Appellen, bei Aussiedlungen, wie sie ihre Deportationen zynisch genannt haben.
Noch furchterregender sind jedoch diejenigen Deutschen, die schweigen, das hat Gusta in den zwei Jahren im Ghetto gelernt. Aus dem Nichts konnten sie eine Waffe ziehen, wahllos auf Menschen schießen und anschließend ihre Hunde streicheln.
Der jüdische Widerstand Akiba hat sich von alldem nicht einschüchtern lassen, nicht von Schlägen, nicht von Schreien oder Drohungen, nicht von den grausamen Verhörmethoden der Deutschen. Gusta hat aufgehört, die Folterungen zu zählen, bei denen sie irgendwann ohnmächtig wurde, weil ihr schmaler Körper die Schmerzen nicht mehr aushielt.
»Wie heißen deine Komplizen? Namen, wir brauchen Namen, du jüdische Schlampe! Wer hat das Attentat geplant?«
Gusta hat Wunden davongetragen, seelische und körperliche, aber ihr innerer Widerstand ist daran nur gewachsen. Wut kann ungeahnte Kräfte bündeln. Besonders schlimm ist der Schlafentzug, das permanente An- und Ausgehen des Lichts in der Sonderzelle. Dort bleibt ihr nur das Gebet.
»Wir müssen die Kühnheit unserer Angreifer besitzen, um gegen unsere Peiniger zu bestehen«, hat Marek seine Mitstreiter immer wieder angetrieben. Stets hat er mit kühlem Kopf, ganzem Einsatz, voller Leidenschaft gekämpft.
Sein richtiger Name lautet Shimshon Draenger, Tarnname Marek – ein großer Mann mit dunklem Teint, verschlossenem Blick, der sich nie zu emotionalen Ausbrüchen hinreißen lässt. Ein liebender Ehemann, ein Kämpfer, dem einige Gleichgesinnte aus diesem Grund eine gewisse Gefühlskälte zuschreiben. Gusta aber weiß es besser. Sie kennt seine Sensibilität, seine Sanftmut, seine Zärtlichkeit.
Gusta wendet sich vom Fenster ab und lässt ihren Blick durch die armselige Zelle wandern, über die Pritsche, den Eimer, den stillgelegten alten Ofen, in dem sie kurz nach ihrer Inhaftierung eine verrostete Blechdose gefunden hat.
Um den Verstand nicht zu verlieren, hat sie angefangen zu schreiben. Auf Klopapier, das einzige Papier, das es hier drinnen gibt. Über das Leben und Sterben im Ghetto, über die Heldentaten von Akiba, über ihre effiziente Logistik.
Noch einmal durchlebt sie die Tage und Jahre im Widerstand, die Idee von Gemeinschaft, spürt das Band unzähliger Freundschaften, das Wunder der Haltung, die keine Mauern zum Einsturz bringen konnten, die aber ihre Tapferkeit schulte, ihren unbändigen Überlebenswillen. Für das Überleben zählt jede Stunde, jede Sekunde, jedes gesprochene Gebet.
Sie haben gekämpft – bis zu jenem schicksalhaften Dezemberabend im Jahr 1942, einer Nacht, in der eine neue Zeit angebrochen ist.
Erschöpft rutscht Gusta mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und zieht die Knie an die Brust, den Kopf in ihre Hände gelegt. Ihr Gesicht brennt.
Sie greift nach dem Papier und dem einzigen Stift, den sie besitzt, und beginnt zu schreiben.
Aus dieser Gefängniszelle, die wir nie mehr lebend verlassen werden, grüßen wir jungen, todgeweihten Kämpfer Euch.
Mit glühender Stirn vollendet sie ihr einsames Ritual. Tagebuch einer Partisanin nennt sie ihren Zeugenbericht. Sie schreibt an gegen ihren Husten, das Fieber, das am Abend steigt und sie an den Rand ihres Verstands bringt. Sie hat die Tarnnamen ihrer Mitkämpfer notiert, sich selbst voller Stolz Justyna, die Gerechte, genannt. Die vielen Pseudonyme schwirren durch ihren Kopf, dahinter stehen Menschen, Schicksale, die Taten stiller Helden – Täter, Verräter auf der anderen Seite, auch welche aus ihren eigenen Reihen. Für diejenigen, die diesen schrecklichen Krieg überleben werden, mag das, was sie geleistet haben, ein Wimpernschlag im kollektiven Gedächtnis der Weltgeschichte sein, für den jüdischen Widerstand ist das Wort Wehrhaftigkeit kein leeres. Solange sie gekämpft haben, fühlten sie sich lebendig. Solange sie einander hatten, waren sie nicht allein. Sie kämpfen für ihr Volk, für dessen Ehre.
’s brennt! Brüder, hört, es brennt
nehmt die Eimer, löscht das Feuer!
Das Lied des Krakauer Ghettos legt sich auf Gustas entzündete Stimmbänder, brennt in ihrem Herzen, genau wie in jeder einzelnen Zeile ihres Berichts.
In Gedanken geht sie dorthin, wo alles begann. Das Tor zum Ghetto öffnet sich, und sie tritt ein. Über dem Portal prangt der Davidstern. Ab jetzt muss sie nur der Blutspur folgen.
Heute ist das Ghetto menschenleer.
Was ist geschehen?
In ihrem Tagtraum macht Gusta vor einem schwarz verfärbten Sandsteingebäude mit einem verblassten Schriftzug an der Hauswand halt. Es befindet sich auf dem Zgody, dem Platz der Einheit, jenem Ort, wo die Deportationen stattfanden. Einst hieß er Friedensplatz.
Gusta schreckt auf. Ihr Stift ist heruntergefallen. Sie hebt ihn auf und schreibt mit zittriger Schrift weiter.
Wenn sie schon sterben müssen, dann aufrecht in ihren Stiefeln.
Vor Erschöpfung fallen ihr wieder die Augen zu, ihr Kopf kippt zur Seite. Langsam geht sie in ihren Erinnerungen die Stufen hinauf in das Ladengeschäft des schwarz verfärbten Gebäudes. Fast glaubt sie das helle Klingeln des Glöckchens zu hören, zärtlich und leise wie eine Spieluhr. Gusta schlägt der scharfe Geruch von Desinfektionsmittel entgegen. Ein hochgewachsener Mann mit strahlend weißem Hemd und einer schwarzen Fliege steht hinter dem Tresen, wiegt ein Pulver auf einer Apothekerwaage ab.
Dicht an dicht stehen Menschen in zerrissener Kleidung an und warten auf ein Wunder. Niemand drängt sich vor. Ein Bollerofen verströmt Wärme.
Hinter einer Durchreiche zum Labor sieht sie eine Frau, die sie aus Kindertagen kennt. Deren Schwester Helene ist eine herausragende Geigenspielerin und war einmal Gustas einzige arische Freundin.
Aber Helene ist fortgegangen.
»Gusta«, hört sie plötzlich wie aus der Ferne eine Stimme, reißt sie aus ihren Träumen heraus. Die vertraute Stimme einer Mitstreiterin. Ihr Name ist Genia Meltzer. Gusta stutzt, lauscht, runzelt die Stirn und blickt zum Fenster. Dies ist die Gegenwart, das Jetzt, alles, was noch zählt.
Verwirrt geht sie zum Fensterschacht, umklammert das Gitter und zieht sich auf den Zehenspitzen stehend nach oben. Spielt ihr ihre Fantasie einen Streich?
»Hörst du mich, Gusta?«
Die Stimme kommt aus einer Zelle über ihr.
»Ja«, flüstert sie und neigt den Kopf.
»Im Warschauer Ghetto hat der Aufstand begonnen. Sie kämpfen mit Waffen, haben sich in den Häusern verbarrikadiert.«
Wie unheimlich die Stimme klingt. Wie ein Trauerschleier legt sich die Dunkelheit über die Welt da draußen.
Gusta schlägt das Herz bis zum Hals.
»Halte dich bereit, Gusta«, sagt Genia. »Die Deutschen wollen uns nach Plaszów bringen, bald schon. Wir fliehen, sobald wir durch das Tor gegangen sind, in alle Himmelsrichtungen. Du läufst nach Osten!«
Plaszów – das bedeutet das Arbeitslager auf einem Hügel von Krakau, eines, in dem sich der Sadist Amon Göth hemmungslos an den Schwächsten der Schwachen austobt.
»Sie werden uns töten, ein Exempel statuieren«, flüstert Gusta in die kühle Nacht. »Sie wollen den Aufstand von Warschauan uns hier in Krakau rächen. Sie werden nicht lange herumfackeln.«
Genia unterbricht sie schroff. »Stell dich nicht in die Mitte des Pulks, sondern am Rand auf. Spitz die Ohren. Warte auf das Kommando: s’ brennt. Unser Schtetl brennt! Sobald du unser Lied vernimmst, läufst du los! Treffpunkt ist Bachun, unser Bunker im Wald.«
»Marek«, fragt Gusta, fast ohnmächtig vor Angst um ihn. »Was ist mit Marek? Weißt du, wo er …? Lebt er?«
Einen Moment zögert Genia. »Der Barmherzige beschütze uns alle«, presst sie schließlich hervor, ehe sie verstummt.
Gusta lässt sich wieder auf den Boden sinken, zurück zu ihrem Schreibzeug. Ein letztes Mal nimmt sie es zur Hand und wartet auf die Morgendämmerung.
Irgendwo zwitschern Vögel. Sie möchte nicht im Frühling sterben.
Marek! Was ist mit Marek geschehen? Für einen Moment ist sie nur eine liebende Frau. Ihre Welt dreht sich einmal um die eigene Achse, der Tag wird zur Nacht, die Nacht zum Tag. Eine Stunde rieselt in Zeitlupe durch das Stundenglas ihres jungen Lebens, das sich bis zur Ewigkeit ausdehnt. Marek muss leben, sie hätte es gespürt, wäre er tot. Wenn nicht, wird sie ihm schon bald folgen. Ihr Drang nach Freiheit sprengt die Fesseln, die ihr Herz umklammern. Sie ist hellwach, ihr Körper wie elektrisiert.
Dies ist mein letzter Wille und Testament: Wer immer nach dem Krieg diese versteckten Zettel findet, sende sie an eine der folgenden Adressen: Kibbuz Akiba, Hadera, Palästina oder Beit Yoshua, Palästina-Hasharon. Gusta Dawidson Draenger
»Gebe der Barmherzige, dass dieses Zeugnis eines Tages in die richtigen Hände kommt«, sagt sie zu sich selbst, steckt die losen Blätter durch einen Spalt zwischen zwei maroden Holzbrettern unter ihren Füßen und drückt den gelockerten Boden mit ihrem Körpergewicht fest.
Mit geradem Rücken setzt sie sich auf die Pritsche.
Stille. Die Vögel sind verstummt. Dann aber vernimmt sie harte Schritte, die sich ihrer Zelle nähern, das Rasseln eines Schlüsselbunds.
1
»Es ist vorbei«, sagte Édith liebevoll, während sie ihre Tante Adeline umarmte. »Alles wird gut. Dir ist nichts passiert, das ist das Wichtigste. Es ist nur ein Wintergarten, Adi.«
»Dem Himmel sei Dank, dass du endlich da bist«, gab Adeline Mercier zurück und begrüßte ihre Nichte mit zwei obligatorischen bises – Küsschen rechts, Küsschen links.
Immer noch war Adi in heller Aufregung, wovon ihr nachlässiges Make-up zeugte. In ihrem ausdrucksvollen Gesicht zeigten sich nervöse rote Flecken. Sie trug eine helle Leinenhose, dazu eine Seidenbluse in Indigoviolett.
Sie kämpfte mit den Tränen, schluckte und wischte sich über die Augen. Das Ereignis, das ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, lag jetzt zwei Wochen zurück. Eines der heftigsten Unwetter der letzten Jahre hatte Adis Paradies unwiderruflich zerstört. Édith war so schnell wie möglich aus Deutschland angereist. Früher hatte sie es einfach nicht geschafft.
Adi fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Der schönste Wintergarten von Paris. Alles verwüstet, zerstört. Das ganze Interieur war unter Wasser gestanden, alles. Du hast keine Vorstellung davon, wie es hier vor den Aufräumarbeiten aussah. Zerborstene Glasscheiben, ertränkte Pflanzen. Zerbrochenes Geschirr. Die ganze Keramik ist hin. Ach, Édith, ich fasse es immer noch nicht.«
Adi würde in diesem Jahr vierundachtzig Jahre alt werden. Einbrüche in ihren routinierten Alltag vertrug die alte, vornehme Dame zunehmend schlechter. Hinzu kam, dass Adi nichts so sehr ängstigte wie Wasser, einer der Gründe, weshalb sie, solange Édith denken konnte, Spaziergänge direkt am Seineufer mied, Brückenübergänge so schnell wie möglich hinter sich brachte und niemals schwimmen gelernt hatte. Um keinen Preis der Welt ließ sie sich auf ein Ausflugsschiff der Seine bringen.
»Wasser ist ein unheimliches Element«, hatte sie bereits in jüngeren Jahren behauptet und war nie mit ans Meer gefahren, wenn die Familie dort Urlaub machte.
Tief verbunden hingegen war Adi mit Paris. Ihr würfelförmiges Haus mit seinen hohen Sprossenfenstern stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert und war ein Erbe der wohlhabenden Merciers, ihrer alteingesessenen Pariser Familie. Dem Haus war glücklicherweise nichts passiert.
Édith hängte ihren Trenchcoat und Rucksack an die Garderobe und folgte ihrer Tante in den Salon, von wo aus sie das ganze von Adi beschriebene Elend zum ersten Mal mit eigenen Augen sah. Nach der Entrümpelung war nur noch eine erdige hässliche Narbe zu sehen, wo sonst Adis einzigartiger Glaspalast gestanden hatte. Die tropischen Pflanzen, das gläserne Kuppeldach, dem Stil der Jahrhundertwende nachempfunden, die gemütlichen Sitzmöbel waren verschwunden. Adi hatte wirklich nicht übertrieben.
»Wir werden ihn wiederaufbauen«, versuchte Édith ihre Tante zu trösten. »Das verspreche ich dir.«
Édith warf einen Blick aus dem Fenster: Die Vögel zwitscherten, der gegenüberliegende Jardin des Plantes verströmte einen herrlichen Duft. Die Märzsonne beschien die sandsteinfarbenen Häuserfassaden. Ein typischer Pariser Frühlingstag. Als gebürtige Pariserin kannte Édith die französische Metropole wie ihre Westentasche. Dass sie seit Jahrzehnten in Baden-Baden lebte, hatte die Verbundenheit mit ihrer Heimatstadt nur verstärkt. Außerdem war sie mehrere Male pro Jahr hier bei Adi – ein Katzensprung mit dem TGV, der von Straßburg aus gerade einmal zweieinhalb Stunden brauchte.
Adi seufzte tief.
»Ach, Édith, es ist so schrecklich«, nuschelte sie in ihr Taschentuch. »Dass das jetzt auch noch passieren musste, kurz nachdem dein Vater …« Lautstark putzte sie sich die Nase.
Die beiden Frauen sahen einander traurig an. Erst vor drei Monaten war Édiths siebenundsiebzigjähriger Vater Simon aus dem Leben gerissen worden. Plötzlicher Herztod stand im Totenschein. Ein stiller und, wie die Ärzte versichert hatten, schmerzloser Abgang. Ein Stockwerk über Adis Wohnung war Simon Mercier in seinem Lieblingssessel einfach eingeschlafen. Die Putzfrau hatte ihn gefunden.
Nichts hatte darauf hingewiesen, im Gegenteil. Édiths Vater war stets mit Vitalität und Gesundheit gesegnet gewesen. Bis zuletzt übte er, der früher die zweite Geige im Orchester der Pariser Oper gespielt hatte, auf seiner Violine, als gelte es, am nächsten Tag ein großes Konzert zu geben.
Kurze Zeit vor seinem Tod hatte Simon Édith am Telefon ungewöhnlich bestimmend für den Folgetag nach Paris zur Kathedrale Notre-Dame auf der Île de la Cité beordert.
»Ich muss etwas mit dir auf neutralem Boden besprechen. Sag es niemandem«, hatte er befohlen und aufgelegt.
Auf neutralem Boden. Mit Befremden hatte Édith seine Worte vernommen, und bis heute niemandem davon erzählt, schon gar nicht ihrer Tante. Adi litt noch immer unter dem Verlust ihres geliebten Bruders. Außerdem war die Familie nach einem schweren Herzinfarkt Adis vor zwei Jahren übereingekommen, ihr keinerlei Aufregung zuzumuten, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Adi musste geschont werden, komme, was da wolle. Jetzt hatte eine Naturkatastrophe ihre Welt nach Simons Tod ein zweites Mal erschüttert.
Zu dem Vater-Tochter-Treffen vor Notre-Dame war es nicht mehr gekommen, weil Édith zu jener Zeit beruflich so eingespannt war, dass sie Simon hatte vertrösten müssen. Dann war es zu spät gewesen. Bis heute quälte Édith die Frage, ob sein Herztod mit der Aufregung und der verpassten Chance, sich seiner Tochter anzuvertrauen, zusammenhing. Das schlechte Gewissen nagte an ihr. Was war ihrem Vater auf dem Herzen gelegen?
»Nimm dir doch ein Stück Kuchen«, durchbrach Adi nun Édiths Gedanken. Trotz ihrer Erschütterung hatte Adi die Kaffeetafel zur Ankunft ihrer Nichte liebevoll im Salon mit einer tarte aux abricots vom besten Patissier von Paris gedeckt. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte den Raum.
Édith nahm einen großen Schluck aus ihrer Tasse und eine Gabel von ihrer Tarte. Sie schmeckte süß-säuerlich, genau die richtige Mischung. »Nichts hilft besser gegen Schmerzen aller Art als eine tarte aux abricots«, behauptete Adi schon immer, und so war die süße Versuchung für Édith schon als Kind zum Trost bei aufgeschlagenen Knien wie auch nach einem Streit mit der besten Freundin geworden.
Mit einer entschlossenen Geste griff Adi nach den Unterlagen, die sie sich zurechtgelegt hatte, und schob sie Édith zu. Es handelte sich um die Baupläne ihres ruinierten Wintergartens.
Mit der Serviette putzte sich Édith die Finger. Als Architektin zählte ihre Expertise.
»Diese Zeichnungen sind eine einzige Katastrophe«, murmelte sie, nachdem sie die Pläne eingehend studiert hatte. »Sie stammen aus dem Jahr 1943. Damals seid ihr doch von Neuilly-sur-Seine nach Paris gezogen, nicht wahr?«
Fragend sah sie Adi an.
Adi nickte. »Mein Vater hat das gezeichnet«, erwiderte sie stolz, während sie sich ein zweites Stück Tarte nahm. »Hat er selbst entworfen.«
Édiths fachkundiges Auge hatte die Arbeit eines Amateurs auf den ersten Blick erkannt. Ihr Großvater war Handwerker mit einem eigenen Unternehmen für Baustoffe gewesen, der Wintergarten sein Traum, den er mitten im Krieg realisiert hatte. Wahrscheinlich hatte der Bau damals niemanden interessiert.
Seit zwei Jahrzehnten betrieb Édith gemeinsam mit ihrem Mann Felix ein Architekturbüro im Herzen Baden-Badens, in gewisser Weise war sie der Branche treu geblieben. In der Mitte der Achtzigerjahre hatte sie nach ihrem Studienabschluss in Architektur an der Universität Karlsruhe an Veränderungen einer lieblosen Städteplanung geglaubt, auch daran, ihre kreative Seite einbringen zu können und innovative Gebäude zu schaffen. Im Laufe der Zeit hatte sie sich aber als eine herausragende Gutachterin entpuppt und bewertete heute jene Bauten, gegen die sie einst rebelliert hatte.
Adeline seufzte und tätschelte beschwichtigend die Hand ihrer Nichte.
»Es war ein Schwarzbau, Adi. Heute würde ein solches Objekt niemals von den Behörden abgesegnet. Nicht auf diesem Fundament. Unsere Vorfahren können von Glück reden, dass diese Katastrophe nicht früher eingetreten ist. Wir werden uns das neue Objekt bewilligen lassen.«
Adeline entzog Édith ihre Hand und wischte durch die Luft. »Objekt«, sagte sie verächtlich. »Das klingt ja schrecklich! Das Bauunternehmen wurde bereits von mir beauftragt. Setz dich bitte mit denen in Verbindung.« Sie kramte in den Unterlagen, zog eine Visitenkarte heraus und legte sie obenauf. »Ich wünsche, dass der Wintergarten genauso wiederhergestellt wird, wie er war.«
Adi, aufopferungsvoll und liebenswürdig in Familienangelegenheiten, konnte sehr ungemütlich werden, wenn es um ihr Refugium ging. All die Jahre hatte sie diesen Pavillon geliebt, gehegt und gepflegt und Stunden darin verbracht. Er war ihr Rückzugsort gewesen.
Adi klopfte mit der Faust auf den Tisch.
»Und zwar auf einem soliden Fundament und mit Bewilligung der zuständigen Behörden«, gab Édith mit einem Lächeln zurück. »Ich kläre das und werde mich mit einem Landschaftsgärtner in Verbindung setzen«, sagte sie dann, während sie einen Blick auf die Karte warf. »Ich schicke dir von zu Hause aus umgehend meinen Vorschlag. Der neue Wintergarten wird noch schöner als der alte.«
Adeline schüttelte vehement den Kopf und verengte die Augen. »Nein! Nein! Nein! Das soll er gar nicht. Er soll genauso werden wie der alte. Nicht mehr, nicht weniger.« Dann zündete sie sich eine Zigarette an und blies den Rauch aus, so, als ginge sie wieder zur Tagesordnung über.
»Wie geht es dir, chérie?«, fragte sie abrupt das Thema wechselnd in liebevollem Ton. »Ist alles in Ordnung?«
»Bestens, Adi. Felix, Malou und ich sind gesund und munter«, sagte Édith.
»Apropos Malou«, erwiderte Adi. »Die Sache mit dem Wintergarten zeigt ja, wie schnell es zu spät sein kann. Deshalb ist es mir wichtig, dass du …« Sie presste die Lippen zusammen und sah zum Fenster hinaus.
Fragend suchte Édith ihren Blick. »Was gibt es, Adi?«
»Die Geige deines Vaters. Du musst sie für Malou mitnehmen.«
Automatisch warfen beide Frauen einen Blick nach oben zu Simons Domizil.
Édith schluckte. »Warst du inzwischen einmal oben … seit er …?«
Stumm schüttelte Adeline den Kopf. »Nur die Putzfrau. Aber natürlich durfte sie nicht in sein Musikzimmer.«
»Ist das dein Ernst?«, fragte Édith verwirrt. »Ich soll sein Heiligtum betreten?«
Ein ganzes Leben lang war das Musikzimmer von Édiths Vater für alle Merciers strikt verboten gewesen. Nur seine Enkelin Malou durfte dorthin, um gemeinsam mit ihrem Großvater zu musizieren. Die Familie hatte seinen Rückzugsort stets respektiert. Édith konnte die Gelegenheiten, zu denen sie Zugang erhalten hatte, an einer Hand abzählen.
»Er wollte, dass Malou die Geige bekommt«, durchbrach Adeline Édiths Überlegungen. »Sie ist die Einzige in unserer Familie, die das Instrument spielt. Nimm sie ihr bitte mit.«
»Gut«, sagte Édith nach einer langen Pause, trank ihren Kaffee aus und stand auf.
Wortlos begann Adi das Geschirr zusammenzustellen.
»Wir schaffen das mit deinem Wintergarten, Adi«, sagte Édith leise und begab sich in Richtung Treppenhaus. »Ein Schritt nach dem anderen.«
2
Die alten Holzstufen knarrten, während Édith hinauf in die Wohnung ihres Vaters ging. Eine Erinnerung, wie sie hier als Kind gespielt hatte, streifte sie, die Klänge eines Geigensolos von Bach.
In Simons Wohnung war auf den ersten Blick alles wie vor seinem Tod. Adeline hatte darauf bestanden, nichts zu verändern. Vermieten würde sie niemals, nicht in ihrem hohen Alter. »Eines Tages, wenn ich so weit bin, gehe ich hinauf«, hatte ihre Tante nach Simons Tod ein einziges Mal gesagt.
Ein abgestandener Geruch schlug Édith entgegen. In der ganzen Wohnung waren die Holzläden zugeklappt. Wahrscheinlich war es schon länger her, dass Adis Putzfrau hier oben gewesen war.
Die Flügeltüren zum Salon standen offen.
Der Lieblingssitzplatz ihres Vaters stach ihr ins Auge: ein samtbezogener Ohrensessel, dessen einstiger Glanz verblichen war. Sie schritt zum Fenster, das in den Garten zeigte, und öffnete es. Dann nahm sie den Schlüssel des Musikzimmers vom Beistelltisch, steckte ihn ins Schloss und drückte die Klinke zum verbotenen Raum ihrer Kindheit hinunter.
Die Tür quietschte. Durch die Lamellen der Holzläden schimmerte sanftes Licht und warf die Schatten der im Wind tanzenden Blätter aus dem gegenüberliegenden Jardin des Plantes in den Raum. Heute erschien Édith das Zimmer klein, maximal sechzehn Quadratmeter, minimalistisch eingerichtet: Ein Notenständer. Regale. Ein Schreibtisch mit Stuhl. In einem Regal befanden sich Berge von Noten, penibel auf Kante gelegt. Simon hatte Ordnung geliebt. Solang er lebte, hatte sie seine sensible Künstlerseele in Balance gehalten.
Der Geigenkasten lag bereit als wartete sein Innenleben auf den nächsten Einsatz. Édith ging dorthin, wischte den Staub weg und öffnete ihn. Vorsichtig schob sie das Schutztuch zur Seite und strich über den dunkelbraunen Pigmentlack.
Die Merciers waren Macher gewesen, fleißige Leute, die eine Nase für das Praktische hatten. Nichtsdestotrotz unterstützten sie von Kindesbeinen an Simons musikalische Karriere. Nie war die Rede davon gewesen, dass er als einziger Sohn die Firma Mercier übernehmen sollte. Das hatte Édiths Vater seinen Eltern ein Leben lang hoch angerechnet.
Ein Windzug strömte vom offenen Fenster im Salon durch den Raum, und mit einem lauten Knall ging die Tür zu. Erschrocken drehte sich Édith um. Ihr Blick fiel auf die Wand, welche die geöffnete Tür verborgen hatte. Eine Wand, die die harmonische Ordnung des Raums empfindlich störte. Dicht an dicht hing sie voll mit Dokumenten, Blättern und Fotos. Einige davon kannte Édith aus ihrer Kindheit. Wie eine visuelle Reizüberflutung stürzte in diesem Moment die Sammlung über sie herein.
Was weiß Adi? – stand in großen Lettern in Simons unnachahmlicher Handschrift quer auf einem mit einer Nadel befestigten weißen Blatt. Daneben Ziffern.
Fassungslos starrte Édith auf die vielen Dokumente und strich sich übers Gesicht. Sie wollte begreifen. Die Auszüge aus Stadtplänen, die vielen Fragezeichen, Ausrufezeichen. Wie lang hatte Simon gebraucht, um all das zusammenzutragen? Plötzlich kam sie sich wie eine Ermittlerin in einem Kriminalfall vor, verloren ohne die Erklärungen ihres Vaters, der selbst Fragen gehabt haben musste. Was weiß Adi?
Ihre Tante – eine Zeugin, wovon? Von welchem Sachverhalt?
Sie las die Zahlenfolge auf dem Blatt Papier mit Simons Handschrift – kein Zweifel, hierbei handelte es sich um eine Telefonnummer, und zwar aus Deutschland. 0049 711 lautete, das wusste Édith aus zahlreichen Gutachten für die Landeshauptstadt, die Vorwahl von Stuttgart – danach folgte eine sechsstellige Zahl und in gekritzelter Schnellschrift Apotheke Wagner, Fellbach. Fellbach lag neben Stuttgart, knappe hundert Kilometer von Édiths Wahlheimat entfernt.
Sie trat etwas zurück, dann wieder näher heran und entfernte das Papier. Darunter verbarg sich ein Zeitungsartikel.
Spaziergänge durch das Marais vor der deutschen Besatzung – als das Marais noch jüdisch war.
Sie nahm den Artikel, ging damit ans Fenster, öffnete es, anschließend die Läden. Licht strömte in den Raum. Der Artikel stammte aus einem Pariser Stadtmagazin vom letzten Jahr – die Ausgabe musste wenige Wochen vor Simons Tod erschienen sein.
Vor einem Ledergeschäft posierte auf einem historischen Foto eine junge Familie. Unter der gewölbten Markise stand in geschwungenen Lettern: Articles de maroquinerie – Atelier de retouches Samuel Altmann – Lederwaren und Änderungsschneiderei Samuel Altmann, Rue des Rosiers, Paris.
Édith überflog die Worte, ohne den Inhalt zu erfassen, denn ihr Blick kehrte immer wieder zu dem Foto zurück, das sie nahezu elektrisierte. Eine Frau, ein Mann, ein Kind. Sie starrte auf das markante Gesicht der jungen Frau. Verwirrt suchte Édith nach einem Zusammenhang, einer Chronologie, denn ihr war, als blicke sie in ihr eigenes, nur einige Jahre jüngeres Gesicht.
Sie spürte ihren Herzschlag.
»Wer bist du?«, fragte sie leise, und ihre Stimme wirkte fremd, so fremd wie die Unterlagen an der Wand. Unten auf der Straße näherte sich mit einem Höllenlärm eine Kehrmaschine. Édith schloss das Fenster.
Von Krakau nach Paris – Im Glauben an eine bessere Zukunft waren der polnische Jude Samuel Altmann und Helene Wagner einst nach Paris gekommen. Dort kam 1939 Söhnchen Simon zur Welt. Gemeinsam betrieb das Paar ein Geschäft im Pariser Marais. Das Foto zeigt die junge Familie im Herbst 1939 – bevor die Deutschen kamen.
1939 – das Geburtsjahr ihres Vaters. Die Namen Altmann oder Wagner waren im Hause Mercier niemals gefallen. Erneut las sie Simons Notiz: Apotheke Wagner, Fellbach. Die Telefonnummer.
Gleich neben dem Artikel hing die Kopie einer Liste. Mühsam entzifferte Édith die verblichene Überschrift: listes des israëlites étrangers, listes des déportations – die Deportationslisten ausländischer Juden, Paris 1942. Samuel Altmann. Geburtsort: Krakau. Nationalität: Polnisch.
Die historischen Daten der deutschen Besatzung hatten sich ihr als Französin ins Gedächtnis eingebrannt: Am 16. und 17. Juli 1942 hatte die Gendarmerie auf Geheiß der Deutschen ausländische und staatenlose Juden in Paris grundlos festgenommen und sie in der Radsporthalle von Paris eingesperrt. Von dort aus waren über dreizehntausend Juden nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. Mehr als dreitausend Juden waren vorher untergetaucht, da sie rechtzeitig gewarnt worden waren.
Der Jude Samuel Altmann war im Juli 1942 deportiert worden. Wer war Samuel Altmann?
Was hat dich vor deinem Tod bewegt, Papa, formte Édith tonlos mit ihren Lippen. Wolltest du mich deshalb so dringend unter vier Augen sprechen? Mit den Fingerspitzen fuhr sie über das Zeitungspapier. Die Frau auf dem Foto erschien ihr so vertraut.
Wer bist du, Helene Wagner? Und das Kind, das den Namen Simon trägt. Ein Name unter Tausenden anderer Kinder, die in jene Zeit hineingeboren waren. Das muss gar nichts heißen. Und doch: Könnte das Kind auf deinem Arm Simon, mein Vater, sein?
Édith fröstelte bei dem Gedanken an die Zusammenhänge. Es schmerzte sie, dass ihr Vater mit seinen Fragen ins Grab gegangen war, sich niemandem mehr hatte anvertrauen können.
Langsam ließ sie sich auf den Schreibtischstuhl sinken.
Sag es niemandem! Simons Worte. Verbarg diese chaotische Sammlung die Gründe für seinen ungewöhnlichen Befehl? Auch er musste unmittelbar die verblüffende Ähnlichkeit zwischen jener Frau namens Helene und Édith erkannt haben. Wen hätte er befragen sollen? Adi schien er nicht ins Vertrauen gezogen zu haben, hätte er sonst notiert: Was weiß Adi?
Verdrängte Gespräche mit ihrem Vater fluteten plötzlich ihre Erinnerungen, seltsame Äußerungen von Simon.
»Ich passe gar nicht zu den Merciers«, hatte er Édith gegenüber einmal geäußert. Vater und Tochter hatten damals allein bei einer Flasche Rotwein im Wintergarten gesessen. »Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, nicht dazuzugehören. Als wäre ich nicht das richtige Kind.«
»Nicht das richtige Kind? Wie meinst du das, Papa?«, hatte Édith verwirrt nachgehakt. »Meinst du wegen deines musikalischen Talents?«
Simon hatte sie mit großen Augen angesehen und die Achseln gezuckt. »Ja, das auch. Zwischen meinen Eltern und mir stand stets eine gewisse Fremdheit. Ich kam mir als Kind oft deplatziert vor. Nur bei Adi fühlte ich mich immer zu Hause.«
Ja, Adi war als Familienoberhaupt über die Jahre in ihrer Rolle aufgegangen und hatte alles zusammengehalten.
»So geht es mir ja auch bis heute. Für mich ist und bleibt sie, nachdem ich meine Maman nie kennengelernt habe, meine Mutter«, hatte Édith nachdenklich erwidert. Édiths Mutter war aufgrund von Komplikationen bei ihrer Geburt gestorben. Sie kannte sie nur von Fotos und Erzählungen ihres Vaters.
Ein einziges Mal hatte Édith nach dem seltsamen Gespräch mit Adi über die Zweifel ihres Vaters sprechen wollen. »Taratata«, war die Antwort ihrer Tante gewesen, papperlapapp. »Das sind Hirngespinste einer Künstlerseele.«
Irgendwann war Gras über Simons Hirngespinste gewachsen. Nie wieder hatte er das Thema aufgegriffen. Heute gab es nur noch Adi, die etwas wissen könnte. Die Familie Mercier, die Alten, waren tot.
Édith fuhr mit der flachen Hand über den Artikel, strich ihn glatt. Die Gesichtszüge der Frau ließen sie nicht los, gaben ihr keinen Raum für Ausflüchte. Ihr war, als blicke sie in ihr eigenes Gesicht. Ja, Édith war diese Frau in einem dunklen Kleid mit Spitzenkragen. Sie war diese Frau mit dem gelockten Haar. Selbst das Lächeln war verblüffend ähnlich. Édith sah sich selbst, als werfe sie einen Blick in ein Leben, von dem sie nichts gewusst hatte.
Sie wünschte, sie würde das alles nur träumen, aufwachen und weitermachen wie bisher. Küsschen rechts, Küsschen links, mit frischen Croissants in den Zug steigen, mit Felix zu Abend essen und ihren Alltag zwischen Baden-Baden und Paris einfach fortsetzen.
Das Foto, das wurde ihr schmerzhaft bewusst, ging sie etwas an, es bedeutete etwas Grundlegendes. Erst recht nach dem Tod ihres Vaters. Sie war es ihm schuldig, nicht darüber hinwegzugehen.
Helene Wagner. Samuel Altmann, offenkundig ihr Partner, war bei der großen Razzia im Juli 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. Simon hatte bereits gründlich recherchiert. Übrig geblieben mussten Helene und ihr Sohn Simon sein. Waren sie gerettet worden? Die Familie stammte ursprünglich aus Krakau. Mit Polen hatte Édith bisher nichts verbunden, gar nichts.
Sie überflog die Notizen. Wagner – ein weit verbreiteter Familienname im deutschsprachigen Raum, ähnlich wie Müller oder Maier. Hatte ihr Vater tatsächlich den einen Zweig, den einen Wagner unter Hunderttausenden, gefunden?
»Wo bleibst du denn, Édith?«, hallte Adis Stimme vom Treppenhaus zu ihr hinauf. »Es kann doch nicht so schwer sein, diese verdammte Geige zu finden.«
»Ich habe sie gefunden«, gab sie benommen zurück, schüttelte sich, atmete tief durch und verstaute Artikel und Notiz im Geigenkasten. Nach einem kurzen Zögern nahm sie ihr Handy aus der Hosentasche und fotografierte drei horizontale Abschnitte der behängten Wand. Sie schloss die Fenster im Salon. Wie einen Fremdkörper trug sie den Geigenkasten hinunter. »Armer Papa«, murmelte sie. »Armer Papa.«
Ihre Fragen drehten sich im Kreis, während sie sich Stufe für Stufe Adelines Domizil näherte. War es möglich, dass Simon in Wahrheit nicht das leibliche Kind der Merciers war? Hatte ihr Vater jüdische Wurzeln besessen? War Helene Wagner, jene Frau, die ihr selbst wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelte, seine biologische Mutter? Und wenn ja, worin lag der Grund für ein jahrzehntelanges Schweigen der Familie Mercier?
In Adelines Wohnung angekommen, nahm sie ihren Trenchcoat und den Rucksack von der Garderobe.
»Hat Papa kurz vor seinem Tod noch irgendetwas Wichtiges mit dir besprochen?«, fragte sie, als sie den Salon betrat. Sie bemühte sich um einen harmlos klingenden Ton.
»Nein«, erwiderte Adi irritiert. »Nein, das hätte ich dir doch längst erzählt.«
Édith drehte sich um, und ihre Tante folgte ihr.
»Keine Fragen …? Nichts?«, stotterte sie und küsste Adi dann auf die Wangen. »Ist dir aufgefallen, dass er irgendwie anders war als sonst?«
Adi schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich muss noch dringend vor meiner Abreise etwas erledigen, Adi. Sei mir nicht böse. Es ist wichtig. Fiel mir gerade ein. Bei der Baubehörde, in Sachen Wintergarten, ich komme wieder, so bald wie möglich!«
»Ich dachte, du hättest noch Zeit«, protestierte Adeline mit verwirrtem Blick. »Was ist denn los mit dir? Du bist ja völlig aufgelöst. Was soll er denn mit mir besprochen haben?«
»Es war nur so eine Idee. Verzeih mir, Adi, ich muss wirklich los«, gab Édith zerstreut zurück. Ihr Nacken schmerzte. »Ich liebe dich.«
»Ich dich auch«, erwiderte Adi kopfschüttelnd.
Draußen querten Passanten die Straße, einige steuerten das Eingangsportal des Jardin des Plantes an. Édith bog um die Ecke, wo sie vom Haus der Merciers aus nicht mehr zu sehen war, lehnte sich an eine Wand, massierte sich den Nacken und bewegte den Kopf dabei von rechts nach links, nach hinten. Über ihr ein stahlblauer Himmel. Der Duft von warmer Butter strömte aus der Boulangerie, in der sie normalerweise vor ihrer Rückreise Croissants kaufte, über die sich Felix und Malou immer freuten.
Jetzt wurde ihr von dem Geruch übel.
3
»Ich muss mich entscheiden«, sagte Tatjana in den Lautsprecher ihres Handys, während sie durch die Parkanlage des Cannstatter Kursaals ging. Heute lag Frühling in der Luft: Die ersten Knospen der Sträucher und Bäume hatten sich in den letzten Tagen geöffnet.
Tatjana steuerte die zwei Häuserblocks entfernte Straßenbahnhaltestelle Cannstatter Platz an.
»Erzähl! Wie waren die Verhandlungen?«, fragte ihre beste Freundin Claudia. Sie arbeitete genau wie Tatjana als Psychologin, allerdings im Gesundheitsamt der Stadt Stuttgart.
»Es gab gar keine. Das Angebot des Kollegen ist fair. Jetzt liegt es an mir. In einem halben Jahr hätte ich meine eigene Praxis.«
Bei dem Kollegen handelte es sich um Hans Fischer, den Eigentümer einer psychologischen Praxis, der aus Altersgründen aufhören wollte. Miethöhe und Übernahmemodalitäten schienen ihr ein angemessener Preis für ihre Unabhängigkeit zu sein. Ihren Job im Krankenhaus hatte sie gekündigt. Seit vier Wochen war sie frei, niemand sollte mehr über sie verfügen. Nicht selten war von ihrem Vorgesetzten und leitenden Stationsarzt ein großer Teil bürokratischer Arbeit auf sie abgewälzt worden. Dabei war ihre eigentliche Arbeit am Patienten oft zu kurz gekommen. Das Maß ihrer Fähigkeit, wachsende Missstände im Krankenhausbetrieb hinzunehmen, war irgendwann einfach voll gewesen. Sie hatte genug gespart, um sich ein halbes Jahr über Wasser zu halten.
In einer eigenen Praxis würde sie selbstbestimmt arbeiten. Keine Vorgesetzten mehr, stattdessen Eigenverantwortung. Sie würde sich Zeit nehmen können, sich an die Schicksale ihrer Patienten herantasten, deren eigenes Tempo respektieren, Impulse geben, tiefer gehen, als es die psychologische Betreuung im Krankenhaus erlaubte. Das war der Plan.
»Und wie sieht die Praxis aus?«, drängte Claudi. »Erzähl schon!«
»Dezente Einrichtung, Altbau, hohe Wände. Direkter Blick auf den Kurpark und den Neckar. Aus dem Fenster sieht man in die Baumwipfel. Eigentlich alles perfekt.«
Es gab durchaus hässliche Gegenden in Bad Cannstatt. Der Kursaal mit seinen natürlichen Quellen und Parkanlagen war bei Weitem eine der schönsten.
»Was du sagst, klingt nach guter Energie, Tatjana! Mach es! Nach all den schwierigen Jahren im Krankenhaus …«
In der Tat war Tatjana bisher nichts im Leben geschenkt worden. Ihre Qualifikationen hatte sie sich hart erarbeitet. Nicht immer war sie den direkten Weg gegangen, sondern auf Umwegen zum Ziel gekommen. Die verlässlichen Konstanten in ihrer Biografie bildeten ihre engste Familie, ihre Freundschaft mit Claudi, ihr Wohnort und ihr Beruf, genau genommen war es der zweite. Von Kindesbeinen an war das hinter Bad Cannstatt liegende Fellbach Tatjanas Heimat.
»Es ist eine große Chance für dich«, sagte Claudi eindringlich. »Du hast so sehr für deine berufliche Selbstverwirklichung gekämpft, nachdem du dich für die Psychologie entschieden hast.«
»Genau, ich habe schon mal alles hingeschmissen«, erwiderte Tatjana ernst.
»Andere würden sagen, du warst damals mutig, verdammt mutig.«
Damals. Das lag so lange zurück, ein Einschnitt in Tatjanas beruflicher Laufbahn. Ihre Großmutter Lilo und Mutter Dora hatten Tatjanas Pharmaziestudium im Dienst der familiären Kontinuität für nahezu selbstverständlich gehalten. Lilo war mit ganzer Seele Apothekerin in einer eigenen Apotheke gewesen. Dora betrieb das Geschäft bis zum heutigen Tag.
Tatsächlich hatte Tatjana das Studium der Pharmazie so gut wie vollendet – bis sie an einem kalten Wintertag mit dem Fahrrad mitten auf der Neckarbrücke in Tübingen angehalten und den auf dem Wasser schaukelnden Enten hinterhergesehen hatte. Es war der Tag ihres Examens in Pharmazie gewesen.
Am Ufer des Neckars tauchten die Trauerweiden ihre Blätter ins Wasser, dahinter ragte der Hölderlinturm inmitten der berühmten bunten Häuserkulisse der alten Universitätsstadt auf. Tausend Dinge waren ihr durch den Kopf gegangen, die sie schließlich auf eine einzige Frage herunterbrach: Wollte sie wirklich die Apothekertradition der Familie fortsetzen? Die Forschung hatte sie allein der Tierversuche wegen von Anfang an völlig ausgeschlossen. Mit einem Mal begriff sie, was sie wirklich wollte, schließlich ging es um sie, um ihr Leben, nicht um familiäre Kontinuität. Damals war sie Mitte zwanzig gewesen, es war noch nicht zu spät! War es das überhaupt jemals, solange man atmete?
Ihre Mutter hatte gelassen reagiert. »Ich glaube halt, was man in der Tasche hat, das hat man, aber so denke ich, das muss nicht auf dich zutreffen. Außerdem kannst du die Prüfung jederzeit nachholen. Das Wichtigste ist, du wirst glücklich. Ich weiß, was es heißt, seinen Beruf mit Herzblut zu machen, und das wünsche ich meiner einzigen Tochter auch«, hatte sie nach Tatjanas Beichte gesagt, eine Reaktion, für die ihr Tatjana unendlich dankbar gewesen war.
Ihre Großmutter Lilo hingegen hatte stumm mit dem Kopf geschüttelt und gemurmelt: »Selbstverwirklichung«, als sei das ein Fremdwort ohne Inhalt, ohne Sinn. In Lilos Leben tat man seine Pflicht, an dem vom Schicksal bestimmten Ort.
»Nicht jedem wird sein Beruf in die Wiege gelegt«, hatte Tatjana freundlich gekontert. »Und ein medizinischer Beruf ist die Psychologie ja auch. Insofern bleibe ich der Familientradition treu.«
Damit war die Sache vom Tisch, und Tatjana war ihr Vorhaben mit aller Ernsthaftigkeit angegangen. Das gesamte Zweitstudium hatte sie selbst finanziert.
Das alles kam ihr jetzt, an diesem sonnigen Frühlingstag inmitten eines grünen Paradieses, wieder in den Sinn. In der Ferne näherte sich eine Gruppe Kindergartenkinder, mit kleinen Rucksäcken auf den Rücken. Einige trugen Schwimmflossen und Schwimmreifen mit sich. Die berühmten Mineralbäder Bad Cannstatts lagen um die Ecke.
Nach dem Psychologiestudium hatte Tatjana weder Arbeit noch Mühen gescheut, sich durch eine höllisch anstrengende psychoanalytische Zusatzausbildung gebissen und mit Ende dreißig ihre erste Stelle im Krankenhaus angetreten. Aus ursprünglich fünf geplanten Jahren waren über zehn geworden. Mit Mitte vierzig war sie endlich approbierte Psychologin. Heute war sie dreiundfünfzig. Sie war eben eine Spätzünderin, auch wenn es um Abschied, um das Nein-Sagen ging. Nicht einen Tag hatte sie es bereut, Psychologin geworden zu sein.
Ja, sie hatte um ihre berufliche Identität gekämpft. Eine eigene Praxis schien ihr nach ihrer Kündigung im Krankenhaus so folgerichtig, und doch haderte sie.
»Wie lange hast du Bedenkzeit?«, durchbrach Claudi ihre Gedanken, die sich nur noch im Kreis drehten.
Tatjana schüttelte sich.
»Bis Ende übernächsten Monats. Ich komme mir vor wie damals auf der Neckarbrücke«, sagte sie und beschleunigte ihre Schritte. Von Weitem hörte sie das laute Quietschen der Straßenbahnräder auf den Schienen.
»Damals bist du den einzig richtigen Weg gegangen, Tatjana. Du hast dich auf deinen Instinkt verlassen.«
Tatjana presste die Lippen zusammen. »Ja, weil mir alles so klar erschien. Heute nicht. Mein Instinkt schweigt.«
Sie lachte und fuhr sich durch ihr kurzes Haar.
»Das tut er nie, er artikuliert sich auf seine Weise, manchmal auch nur mit einem komischen Bauchgefühl«, erwiderte Claudi. »Du hast es dir noch nie leicht gemacht. Du hast noch Zeit bis zur Entscheidung, nimm sie dir! Davor liegt übrigens noch unsere Fortbildung. Vielleicht bringt sie dir Klarheit.«
Claudia hatte recht: Sie konnte sich Zeit lassen. Bis zu dieser Fortbildung, auf die sie sich schon so lange freute, würde sie eine Entscheidung treffen. Die Aussicht auf Zeitgewinn erleichterte sie ungemein.
»Merke dir, Tatjana: Nichts muss, alles kann.«
»Nichts muss, alles kann«, wiederholte Tatjana lächelnd und drückte, nachdem sich die Freundinnen verabschiedet hatten, das Gespräch weg.
Als sie die Haltestelle erreichte, fuhr ihr die Strampe vor der Nase weg. Strampen – so nannten die Stuttgarter ihre Straßenbahnen. Ihre Nummer hatte sich nie geändert, schon Lilo war mit der Eins von Fellbach nach Stuttgart gekommen. Bad Cannstatt lag exakt zwischen Fellbach und dem Stuttgarter Zentrum. Tatjana nahm die nächste, setzte sich an einen Fensterplatz und sinnierte über das Thema der Fortbildung.
Wie Traumata in Familien weitergegeben werden – so lautete der Schwerpunkt des dreitägigen Seminars, eine komplexe Thematik, die Tatjana von jeher beschäftigte, beruflich, aber nicht zuletzt wegen ihrer eigenen Familie. Sie hatte alles, was es an Fachliteratur gab, verschlungen, war auf dem neuesten Stand. Deshalb war sie mehr als gespannt auf das Seminar.
Tatjana war in zwei Welten aufgewachsen. Trug sie deshalb einen gewissen Anteil an Zerrissenheit mit sich herum? Ihre Großmutter Lilo stammte ursprünglich aus Krakau, der väterliche Zweig hatte den Großraum Fellbach nie verlassen.
Im ersten Semester Psychologie hatte Tatjana einen Familienstammbaum anfertigen müssen, was sich als schwierig herausgestellt hatte. Ihre Krakauer Urgroßeltern kannte Tatjana nur vom Hörensagen, von Fotos, die Lilo aus Polen nach Deutschland mitgebracht hatte. Rigobert und Käthe Wagner hatten den Krieg nicht überlebt, ebenso wenig wie Lilos Schwester Helene. Deren Wunsch nach einer Karriere als Modemacherin hatte die jüngere Schwester Lilos mit einem exzellenten Gesellenbrief als Schneiderin im Alter von knapp einundzwanzig nach Paris verschlagen, genau genommen, war sie durchgebrannt und hatte sich aus diesem Grund mit ihren Eltern überworfen.
»Helene war einfach ein Enfant terrible«, hatte Lilo immer wieder betont. »Mitten im Krieg kam die traurige Nachricht, dass ihr unehelich geborener Sohn und sie in einem Armenviertel von Paris gestorben sind.«
Lilo hatte Dora von der tragischen Nachricht, die die Familie in einem Telegramm erreicht hatte, erzählt.
In gewisser Weise war Tatjana, was ihre ausbildungstechnischen Eskapaden betraf, auch ein Enfant terrible gewesen, eine Rolle, die ihr nichts ausmachte.
Tatjana hatte es immer befremdet, dass Lilo Helenes sozialen Absturz hervorgehoben hatte, wo doch Lilo ihre Tochter Dora ledig hier in Fellbach zur Welt gebracht hatte und 1944 mit Nichts angefangen hatte. Doras Vater, Dr. Walter Kranz, ein Lazarettarzt aus Krakau, war im Krieg gefallen, bevor Lilo und er heiraten konnten.
Auf der mütterlichen Seite erschien Tatjana der Stammbaum noch heute wie ein Flickenteppich, einer mit Lücken und Fragezeichen, zerrissen im Sinne des Wortes. Dagegen war die väterliche sehr transparent. Dem Fellbacher Zweig verdankte sie das Bodenständige, ihr Talent, Träume mit Disziplin und Ausdauer in die Realität zu überführen. So, wie sie es mit ihrer zweiten Berufswahl gemacht hatte.
Nichts muss, alles kann.
Eine Viertelstunde später stieg Tatjana in Fellbach an der Haltestelle Esslinger Straße aus und bog in die Mozartstraße ein, eine kleinere Straße mit quadratischen dreistöckigen Häusern aus den Zwanzigerjahren. Die meisten Schicksale des nahen Umfelds im Quartier waren, oberflächlich betrachtet, bekannt. Todesfälle, Hochzeiten, Geburten – der ewige Kreislauf des Lebens. Was jedoch wirklich zählte, das wusste Tatjana nur allzu gut aus ihrer Arbeit mit Menschen, war das, was stumm unter der Oberfläche brodelte.
Als ein Kind des Krieges hatte Lilo stets Stillschweigen bewahrt. Vielleicht war Tatjana aus diesem Grund eine Seelenforscherin geworden. Berufliche Schwerpunkte: Persönlichkeitsstörungen, Traumata. Sie glaubte an die Kraft von Sprache, Artikulation. Manche Patienten wollten reden, andere befreiten sich mithilfe ihrer Kreativität.
»Eine Familie bringt die Berufe hervor, die sie braucht«, behauptete Claudia schon immer.
Tatjana hatte oft darüber nachgedacht, was das in ihrer Kernfamilie bedeutete: auf der väterlichen Seite Handwerksbetriebe, Selbstständigkeit – der klassische Mittelstand. Auf der mütterlichen Ärzte, Apotheker, eine Psychologin – die Welt der Medizin. In gewisser Weise bildete ihre Seelenarbeit das Pendant zur pharmazeutischen Medizin. Letzteres behandelte die Krankheitssymptome, die Psychotherapie die Ursachen.
Sie wusste um die Kraft der verschwiegenen Erinnerungen des familiären Gedächtnisses, welches Unheil unbewusste Botschaften, verschüttete Glaubenssätze und Verbote ausrichten konnten. Am nachhaltigsten wirkten die unausgesprochenen.
4
Den Geigenkasten umklammernd eilte Édith durch den Jardin des Plantes.
Wie in Trance ließ sie das verglaste, monumentale Gewächshaus aus dem siebzehnten Jahrhundert links liegen, genau wie das Labyrinth mit den tiefgelegten engen Pfaden und das Kakteenhaus, das Simon so bewundert hatte. Über eine prächtige Allee mit altem Baumbestand erreichte sie den gegenüberliegenden Ausgang des Gartens, eilte den Quai de la Tournelle entlang in Richtung der Pont de l’Archeveché der direkt auf die Île de la Cité mit der Notre-Dame führte.
Auf der anderen Seite lag zu Édiths Rechten ihr Ziel: das Mémorial des Martyrs de la Déportation, das Mahnmal für die zwischen 1941 und 1944 aus Frankreich Deportierten.
Sie war an diesem Ort des Gedenkens mit seinen in Stein gemeißelten Gedichtzeilen von Éluard, Desnos, Saint-Exupéry und Sartre so oft vorbeigegangen. Zum Bahnhof Gare de l’Est führte Édiths Fußweg immer hier vorbei, aber sie hatte das Gebäude nie besucht.
Als zöge sie ein Magnet dorthin, lief sie an der Mauer mit den unzähligen eingravierten Namen entlang, stieg über steile, unebene und enge Stufen den Steinbunker hinab. Von einem dreieckigen Innenhof entfaltete sich unterirdisch eine Krypta mit engen, minimal beleuchteten Passagen. Daneben vergitterte Fensteröffnungen.
Édith folgte dem Wegweiser, und ihr war, als befände sie sich in einer fremden Welt, einer beklemmenden Realität. Platzangst erfasste sie, aber sie ging weiter. Hinter einem durch eine Absperrung geschützten Flur ragte die Konstruktion Tausender Glasstäbe, die an die Zahl der Opfer der von den Nazis Deportierten aus Frankreich erinnerte. Sie hatte davon gelesen, auch von der bedrückenden Architektur. Warum war sie nie hier gewesen? In runden Ausstülpungen befanden sich Urnen mit Erde aus verschiedenen NS-Lagern.
Hier hatten die Architekten etwas Besonderes geschaffen. Über zweihunderttausend Opfer der aus Frankreich deportierten Juden von 1941 – 1944 waren namentlich festgehalten, Orte der in Stein gemeißelten Nazi-Lager mahnten stumm, als seien sie in Gefangenschaft hilflos eingeritzt wie in einem dunklen Gefängnis mit feuchten Wänden.
Plötzlich bekam all das eine neue Bedeutung für Édith.
Sie ging die alphabetische Reihenfolge der Namen durch und fand sehr schnell unter A den Namen von Altmann. Alles um sie herum verschwand – ihr war, als lösten sich die Buchstaben auf. Hier, an diesem Ort des Gedenkens stand, was sie an der Wand ihres Vaters auf einer Liste gesehen hatte: Samuel Altmann. Wie betäubt suchte sie nach den Vornamen Helene und Simon Altmann, dann unter W – nichts. Ihr Kopf schmerzte. Nichts. Keine Helene Wagner, kein Simon Wagner tauchten unter den Deportierten auf.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, die Luft hier unten sei zu dünn, stickig und reiche nicht für die vielen Besucher aus. Die Menschen, die mit ihren Rucksäcken und Handykameras die einzelnen Räume abgingen, sahen ihr fragend hinterher, als sie wie eine Gejagte an ihnen vorbeistürmte.
Schwer atmend erreichte sie nach wenigen Minuten Notre-Dame, auf deren Vorplatz sich unzählige Touristen tummelten. Kameras klickten. Die Kirchenglocken erklangen. Teenager lächelten für ein perfektes Selfie mit der Sehenswürdigkeit im Hintergrund in ihre Handys. In der Ferne war der schrille Ton eines Polizeiwagens zu hören, der sich langsam näherte.
Erschöpft setzte sich Édith auf eine freie Bank, stellte ihren Rucksack neben sich und legte den Geigenkasten auf ihren Schoß. Sie schloss die Augen und malte sich aus, was gewesen wäre, hätte sie ihren Vater rechtzeitig gesprochen.
Als ihr Handy vibrierte, holte sie es geistesabwesend aus der Innentasche ihres Mantels. Sieben entgangene Anrufe von Adi, zwei Textmitteilungen. Sie klickte die Nachrichten an, eine kam von Adi, die zweite von Felix.
Was ist los mit dir? Ich mache mir Sorgen. Melde dich bitte, deine Adi.
Hast du Lust auf ein Abendessen bei Giovanni heute Abend? Ich könnte dich vom Bahnhof abholen. Kuss, Felix.
Sie antwortete ihrem Mann mit einem Daumen hoch und schrieb: Ja, gern. Mit ihm würde sie über alles reden können, ihre Gefühle sortieren.
Dann atmete sie tief durch.
Sie öffnete den Geigenkasten, nahm den Zeitungsartikel heraus und steckte ihn vorsichtig in ihren Rucksack. Von der Notiz ihres Vaters speicherte sie in ihrem Handy die Fellbacher Telefonnummer der Apotheke Wagner ab. Dahinter setzte sie ein Fragezeichen. Ganz bestimmt hatte ihr Vater sie deshalb so dringend sprechen wollen. Immerhin war Édith neben Malou die einzige der Merciers, die perfekt Deutsch sprach.
Tief in ihrem Inneren fasste sie einen Entschluss und gab sich selbst ein Versprechen: Sie würde Simons Wurzeln im besetzten Paris zurückverfolgen, herausfinden, was aus Helene geworden war. Wie im Labyrinth im Jardin des Plantes und zwischen den engen Steinwänden des historischen Mahnmals würde sie sich durch die Hinweise, die Simon hinterlassen hatte, schlängeln, Detail für Detail aneinanderreihen, und wenn sie nicht weiterkam, zum Ausgangspunkt zurückkehren. So lange, bis sie wusste, was damals geschehen war, wer ihr Vater wirklich gewesen war.
Mechanisch tippte sie auf die einzelnen Fotos ihrer Bildergalerie, die sie von dem Konvolut an Simons Wand gemacht hatte, und zog sie mit Daumen und Zeigefinger auseinander.
Zum ersten Mal an diesem sonderbaren Frühlingstag erlaubte sie sich zwei Fragen, die ihrem armen Vater am Ende seines Lebens das Herz gebrochen haben mussten: Wenn er das Kind auf dem Foto war, was war dann mit seiner Mutter Helene passiert? Wie war Simon in die Familie Mercier gekommen?
Die einzige noch lebende Zeugin für jene Zeit war Adi und vielleicht eine Unbekannte in Fellbach, genau genommen eine Apotheke. Irgendwann würde Édith Adi das alles erklären müssen. Allein der Gedanke daran war ihr unerträglich, obgleich sie zu gern erfahren hätte, was Adi über die Geschehnisse wusste. Adi eines Tages mit alledem zu konfrontieren, konnte bedeuten, ihre fragile Gesundheit aufs Spiel zu setzen, es hieß, Adi irgendwann jene Frage zu stellen, die Simon auf einem Blatt festgehalten hatte: Was weiß Adi?
Hast du das gewusst, Adi? Hast du es gewusst?
Dabei liebte sie diese Frau doch ihr Leben lang wie ihre eigene Mutter.
Alles in Ordnung, liebe Adi, mach dir keine Sorgen. Wir reden in Ruhe. Papas Musikzimmer war wohl zu viel für mich. Ich werde dir alles erklären, tippte sie in ihr Handy, verschickte die Nachricht und verstaute das Mobiltelefon in ihrer Manteltasche.
Eines der letzten Telefonate mit ihrem Vater kam ihr in den Sinn. Es musste das vorletzte gewesen sein.
»Kennst du die Fünfte Sinfonie von Mahler?«, hatte er sie unvermittelt am Ende des Gesprächs an einem klirrend kalten Wintertag im November gefragt. »Sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf.«
Nach seinem Tod hatte sich Édith das Adagietto immer wieder angehört. Es handelte sich um das musikalische Motiv der Verfilmung von Thomas Manns Tod in Venedig. Dieses Gespräch hatte im Nachhinein für Édith ungemein an Bedeutung gewonnen, und fortan hatte sich Mahlers Fünfte wie ein Trauerschleier über die Ereignisse gelegt, wie eine Vorausdeutung auf Simons Tod.
Auf dem langen Fußweg zur Gare de l’Est kamen ihr Passanten entgegen, so viele, dass sie plötzlich das Gefühl hatte, sie befände sich wie eine Geistergängerin auf der falschen Spur.
5
Tatjana stieg aus der Strampe aus und lief die Mozartstraße entlang, vorbei an Blumenkästen vor zugezogenen Gardinen.
Hier in Fellbach, zwischen Kappelberg und Hartwald, war ihre Großmutter Lilo Wagner, nachdem sie ihre Heimat Polen Hals über Kopf verlassen hatte, einst heimisch geworden und dank harter Arbeit zu einem gewissen Wohlstand gekommen. Ledig und hochschwanger war sie kurz vor Kriegsende bei Verwandten im Stuttgarter Raum gelandet. In einem Ärztehaushalt in Fellbach hatte sie als Hausmädchen ihr Geld verdient, ihre Tochter Dora zur Welt gebracht und schließlich für den Rest ihres Lebens als Apothekerin gearbeitet.
Lilos Tod vor fünfundzwanzig Jahren hatte eine große Lücke hinterlassen.
Tatjana hatte ihre Großmutter über alles geliebt.
Die beiden verband etwas Besonderes, eine bedingungslose Zuneigung. Von jeher hatte Tatjana es vermocht, hinter die Fassade von Lilos Härte, Verbitterung und Traurigkeit zu sehen und dabei respektiert, dass sich ihre Großmutter über ihre Apotheke definierte. Sie gab ihr Halt. Gefühle waren ihr zu heikel. Stets dosierte sie diese sparsam. Ihre Apotheke an der Lutherkirche im Herzen Fellbachs war ihr zum Lebensanker geworden und mit Lilos Person verschmolzen. Obwohl Dora noch heute dort als Chefin wirkte, handelte es sich immer noch um Lilos Lebenswerk. Tatjanas Großmutter hatte nie geheiratet.
»Hallo, Tatjana. Hast du heute frei?«
Ihre Nachbarin aus der Mozartstraße riss Tatjana aus ihren Gedanken. Sie war gerade dabei, Fenster zu putzen.
Tatjana schmunzelte. Ja, man hatte sie in den letzten Jahren an Wochentagen nicht oft hier gesehen, es sei denn sie hatte Urlaub. Meistens verließ sie frühmorgens das Haus und kehrte erst spät zurück. Überstunden hatten Tatjanas Alltag beherrscht, doch damit war nun endgültig Schluss.
»Ein neuer Job, Frau Mutschler. Ich übernehme vielleicht eine Praxis in Cannstatt.«
»Cannstatt! Das ist ja gar nicht weit weg von hier. Wie schön! Du warst schon immer ein solch fleißiges Mädchen.«
Tatjana lächelte die missglückte schwäbische Charmeoffensive weg. Das Mädchen, von dem Frau Mutschler sprach, war bereits dreiundfünfzig Jahre alt. Fleißige Mädchen sind langweilig, dachte sie. Glücklicherweise war sie weit davon entfernt, perfekt zu sein. In ihrem Privatleben hatte sie schon so manche Fehlentscheidung getroffen, am Ende aber nichts bereut. In früheren Generationen hatten Lebenswege wie der ihre als einer von alten Jungfern gegolten, Frauen, die keinen abgekriegt hatten, obgleich Tatjana immerhin zwei Heiratsanträge abgelehnt hatte: Im Fachjargon war sie ein Single mit hoher Bindungsunsicherheit mit einem Hang zu Männern mit notorischer Untreue, wobei das eine das andere bedingte.
Beim Öffnen ihrer Wohnungstür kam ihr nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass sie ihre Fellbacher Welt in der Mozartstraße gerade als Gegenpol zu ihrer Arbeit so sehr liebte und deshalb an ihr festhielt. Sie war klein, überschaubar, ein bisschen spießig und vor allem berechenbar, eine zuverlässige Konstante in ihrem Leben. In ihrer Straße hatte sich seit ihrer Kindheit fast nichts verändert, sogar die Nachbarn waren dieselben geblieben – nur, dass die Enkel der Gründergeneration die Häuser übernommen hatten. Sie waren regelmäßig renoviert und gestrichen worden. Niemand prahlte hier mit modernen Neubauten, in den Garagen standen keine SUVs. Getreu der schwäbisch-pietistischen Haltung protzte man niemals mit Wohlstand. Angeben, das war etwas für die Neureichen.
Vor über fünfzig Jahren hatte Lilo ihre erste eigene Wohnung über der Bäckerei in der Mozartstraße verlassen und das Nebenhaus gekauft. Als dann Ende der Neunziger Lilos einstige Mietwohnung in der Nummer 1 wieder frei wurde, hatte Tatjana umgehend die Dreizimmerwohnung im zweiten Stock gemietet. Den Hausbesitzer und Bäckermeister in mittlerweile vierter Generation kannte Tatjana von Kindesbeinen an – Andreas war fünf Jahre jünger als sie. Sein Großvater hatte ihr einst als Kind die Backstube gezeigt. An den frischen Brotgeruch, der ab drei Uhr morgens durchs Haus strömte, war sie gewöhnt, er bedeutete ihr ein Stück Heimat.
Tatjana liebte ihren Rückzugsort mit einem winzigen begrünten Balkon, die knarzenden alten Holzböden. Ihre Mutter Dora nebenan zu wissen empfand sie als angenehm, und es würde eines Tages, wenn Dora Hilfe brauchte, die Wege vereinfachen. Noch aber war die Zweiundsiebzigjährige äußerst rüstig, ging Tag für Tag in ihre Apotheke, um nach dem Rechten zu sehen, und stand immer noch hinter dem Tresen.
Tatjana betrat ihr kleines Reich. Ein langer, schmaler Flur führte direkt ins Esszimmer mit der Küche.
Dort angekommen betätigte sie den Kaffeeautomaten. Während das Mahlwerk die Kaffeebohnen mit einem schrillen Geräusch zermalmte, sah sie auf das Familienfoto auf der Fensterbank, das vor beinahe vier Jahrzehnten aufgenommen worden war. Es zeigte Lilo, ihre Mutter und ihren Vater Bernhard mit den Fellbacher Großeltern auf einer Geburtstagsfeier. Tatjanas Vater war mit siebzig viel zu früh an Krebs verstorben. Das lag jetzt fünf Jahre zurück, und bis heute hatte sie nicht damit aufgehört, ihn zu vermissen. Auch die Krakauer Familie gab es nicht mehr.
Tatjana hatte schon als Teenager bleistiftkurzes Haar getragen, was ihr markantes Gesicht mit den hohen Wangenknochen betonte. Die Ähnlichkeit zu Lilo war deutlich vorhanden. Auch sie hatte diesen unerschrockenen Blick, die gebogenen Brauen, die dunklen, melancholischen Augen. Von der Fellbacher Familie hatte Tatjana vor allem deren Werte, das wusste sie nur allzu gut, von Kind an wie ein Schwamm in sich aufgesogen.
»Sei freundlich und ehrlich zu jedermann. Betrüge nicht und spare für harte Zeiten«, pflegte ihr Fellbacher Großvater Karl, der Inhaber einer Wäscherei gewesen war, immer zu sagen. Tatjana schmunzelte. Sie hatte ihren Opa in liebevoller Erinnerung, vor allem, weil er zu seinen Lebzeiten moralisch immer unterstützt hatte, ihren ganz persönlichen Weg zu gehen.
Insgesamt wirkte auf der Fellbacher Familienseite für Tatjana schon immer alles ganz klar und geordnet: Gründung der Wäscherei. Fleiß, Entbehrungen, Disziplin. Vier Kinder. Tatjanas Vater Bernhard, der Mittlere, eines der Sandwich-Kinder. Krieg. Kriegsgefangenschaft. Soldatenbriefe. Späte Rückkehr. Ein Nachzügler. Wiederaufbau. Kleinbürgerlicher Wohlstand. Ein großes Grundstück mit Apfelbäumen und Johannisbeersträuchern am Fuße des Kappelbergs, das sogenannte Gärtle. Man war stolz auf das, was man mit eigenen Händen geschaffen hatte, machte aber niemals eine große Sache daraus.
Tatjana trat auf ihren Balkon hinaus, setzte sich an den Tisch und stellte ihre Füße auf der gegenüberstehenden Holzbank ab. Am Balkongeländer rankten sich Kapuzinerkresse und Clematis, in Terrakottatöpfen befanden sich Kräuter. Schräg gegenüber sah sie direkt auf Doras Haus, einen Stock über ihr befand sich deren Küche, in der meist Licht brannte, wenn sie zu Hause war. Sicher war Dora noch in ihrer Apotheke zugange.
Erneut schweiften Tatjanas Gedanken zu Lilo. So viele Fragen waren offengeblieben.
Warum war der Gedanke an sie plötzlich so präsent, fragte sie sich und nippte an ihrem Kaffee. Wahrscheinlich, weil ein neuer beruflicher Abschnitt in Tatjanas Leben bevorstand. Was würde ihre Großmutter wohl zu ihren jüngsten Plänen sagen? Wie würde sie sich entscheiden?
»Zu unserer Zeit verwirklichte man sich nicht, man arrangierte sich mit der Wirklichkeit.« – So etwas Ähnliches würde Lilo von sich geben. Tatjana musste schmunzeln.
Der Gedanke, es versäumt zu haben, Lilos Krakauer Geschichte zu erfragen, streifte sie. Nein, versäumt war das falsche Wort. Sie hatte gefragt, aber nicht hartnäckig genug.
»Ach, Tatjana, lassen wir das. Była wojna – damals war Krieg. Ich bin froh, dass das alles vorbei ist. Es tut doch nur weh zurückzublicken«, hatte Lilo oft abgewehrt, und Tatjana hatte es dabei belassen, um ihre Großmutter zu schonen.
Über den Krieg, den deutschen Überfall, die deutsche Besatzung in Krakau hatte ihre Großmutter nie gesprochen. Warum? Was hatte Lilo verschwiegen, was vor sich selbst verborgen? Dass die Wagners als Deutschstämmige während der deutschen Besatzung zumindest passive Handlanger eines Systems gewesen sein mussten, das war Tatjana bewusst.