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Für alle Liebhaber von packenden Spionageromanen und fesselnden Krimis ist 'Das Geheimnis der gelben Narzissen' von Edgar Wallace ein absolutes Muss. Mit seiner meisterhaften Erzählweise und seinem Sinn für Spannung wird der Leser von der ersten Seite an in den Bann gezogen und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen. Wallace hat mit diesem Buch ein Werk geschaffen, das auch nach Jahren nichts von seiner Faszination und Aktualität verloren hat. Ein literarisches Meisterstück, das nicht nur Unterhaltung bietet, sondern auch zum Nachdenken anregt und den Leser in seinen Bann zieht.
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Seitenzahl: 313
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Books
Inhaltsverzeichnis
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht recht, Mr. Lyne«, sagte Odette Rider und sah den jungen Mann düster an, der an dem Schreibtisch lehnte. Ihre zarte Haut war mit Rot übergossen, und in den Tiefen ihrer versonnenen grauen Augen blitzte ein Blick auf, der jeden anderen gewarnt hätte. Aber Mr. Lyne war so von sich selbst, von dem Eindruck seiner Persönlichkeit und von seiner Begabung überzeugt, daß er glaubte, alle Menschen müßten sich seinen Wünschen fügen.
Er schaute nicht in ihr Gesicht. Seine Blicke glitten über ihre herrliche Gestalt und bewunderten ihre tadellose aufrechte Haltung, den schöngeformten Kopf und die zarten feinen Hände.
Er strich sich das lange schwarze Haar aus der Stirn und lächelte. Er gefiel sich darin, zu glauben, daß seine Züge seine geistigen Fähigkeiten verrieten und daß man seine etwas bleiche Gesichtsfarbe vielem Nachdenken zuschreiben müßte.
Er hatte sein Büro in das Halbgeschoß einbauen lassen, und die großen Fenster waren so eingesetzt worden, daß er jederzeit die wichtigste Abteilung seines Geschäftes mit einem Blick kontrollieren konnte.
Ab und zu wandte sich sein Kopf zu seinem Zimmer, und er wußte, daß sich die Aufmerksamkeit all dieser Mädchen auf die kleine Szene konzentrierte, die man vom Erdgeschoß aus gut beobachten konnte.
Auch Odette war sich dieser Tatsache wohl bewußt, und je länger sie bleiben mußte, desto unglücklicher und unbehaglicher fühlte sie sich. Sie machte eine kleine Wendung, als ob sie gehen wollte, aber er hielt sie zurück.
»Sie scheinen mich wirklich nicht richtig verstanden zu haben, Odette«, sagte er mit seiner weichen und melodischen Stimme.
»Haben Sie mein kleines Buch gelesen?« fragte er plötzlich.
»Ja, ich habe - Verschiedenes darin gelesen«, erwiderte sie, und ihre Wangen färbten sich noch röter.
Er lachte.
»Sie finden es sicher sehr interessant, daß ein Mann in meiner Stellung sich damit abgibt, Gedichte zu schreiben. Aber Sie können sich ja denken, daß das meiste geschrieben wurde, bevor ich die Leitung dieses Geschäftes übernahm - bevor ich Kaufmann wurde!«
Sie antwortete nicht, und er sah sie erwartungsvoll an.
»Was halten Sie denn von den Gedichten?« fragte er nach einer kurzen Pause.
Ihre Lippen zitterten, aber wieder verstand er dieses Zeichen falsch.
»Ich halte sie für entsetzlich«, sagte sie leise, »ich finde kein anderes Wort dafür!«
Er runzelte die Stirn.
»Was Sie doch für ein mittelmäßiges und schlechtes Urteil haben, Miss Rider«, entgegnete er ärgerlich. »Diese Verse werden von den besten Kritikern des Landes mit den schönsten Gedichten der alten Hellenen verglichen.«
Sie wollte sprechen, aber sie beherrschte sich und preßte die Lippen zusammen.
Thornton Lyne zuckte die Schultern und ging in dem mit größtem Luxus ausgestatteten Büro auf und ab.
»Natürlich, die große Masse beurteilt Poesie wie Gemüse«, sagte er nach einer Weile. »Sie müssen sich noch etwas Bildung aneignen, besonders in Literatur. Es wird noch eine Zeit kommen, in der Sie mir dankbar sind, daß ich Ihnen eine Gelegenheit gab, schöne Gedanken in
schöner Sprache kennenzulernen.«
Sie schaute ihn an.
»Kann ich jetzt gehen, Mr. Lyne?«
»Noch nicht«, erwiderte er kühl. »Sie sagten vorhin, daß Sie mich nicht verstehen könnten. Ich möchte es Ihnen noch einmal etwas deutlicher sagen. Sie sind, wie Sie auch wohl selbst wissen, ein sehr schönes Mädchen. Später werden Sie, wie das in Ihrem Stande so üblich ist, einen Mann mit Durchschnittsverstand und ohne große Bildung heiraten, und Sie werden an seiner Seite ein Leben führen, das in vieler Beziehung dem einer Sklavin ähnelt. Das ist das Schicksal aller Frauen des Mittelstandes, wie Ihnen bekannt sein wird. Wollen Sie auch dieses Los teilen, nur weil irgendein Mann mit schwarzem Rock und weißem Kragen gewisse Worte zu Ihnen spricht, Worte, die weder Bedeutung noch Schicksalsbestimmung für intelligente Menschen haben? Ich würde Ihnen niemals zumuten, eine solche närrische Zeremonie durchzumachen, aber ich würde alles daransetzen, Sie glücklich zu machen.«
Er ging auf sie zu und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zurück, und er lachte.
»Was sagen Sie nun dazu?«
Sie wandte sich plötzlich um, ihre Augen blitzten, aber sie hatte ihre Stimme in der Gewalt.
»Ich bin zufällig eines jener törichten jungen Mädchen aus der Vorstadt, die den Worten bei der Trauung, von denen Sie eben so verächtlich sprachen, großen Wert beilegen. Allerdings bin ich auch großzügig genug, um zu wissen, daß die bloße Trauungszeremonie die Menschen weder glücklicher noch unglücklicher macht. Aber ob es sich nun um Ehe oder irgendeine andere Form von Beziehungen handelt, unter allen Umständen soll der Mann,
dem meine Liebe gehört, ein ganzer Mann sein.«
Er sah sie gereizt an.
»Was wollen Sie damit sagen?« Seine Stimme war nicht mehr so weich und einschmeichelnd wie vorher.
Odette kämpfte mit den Tränen, aber sie beherrschte sich noch einmal.
»Mir ist ein so haltloser Mensch zuwider, der entsetzliche Gedanken und Gefühle in nichtssagende Verse bringt. Ich wiederhole Ihnen noch einmal, daß ich nur einen Mann lieben kann.«
Sein Gesicht zuckte.
»Wissen Sie auch, zu wem Sie sprechen?« fragte er mit erhobener Stimme.
Ihr Atem ging schnell.
»Ich sprach zu Thornton Lyne, dem Eigentümer der Firma Lyne, dem Chef Odette Riders, die jede Woche drei Pfund Gehalt von ihm erhält.«
Er war wütend und konnte vor Aufregung kaum sprechen.
»Hüten Sie sich«, rief er.
»Ich spreche zu einem Menschen, dessen ganzes Leben einen Vorwurf für einen wirklichen Mann bedeuten würde!« Sie sprach jetzt schnell und hemmungslos. »Sie sind ein Mensch, der unaufrichtig ist und ein luxuriöses Leben führt, weil sein Vater ein großer Geschäftsmann war, der das Geld mit vollen Händen ausgibt, das bessere Männer durch harte Arbeit für ihn erworben haben. Ich lasse mich nicht von Ihnen einschüchtern«, rief sie zornig, als er auf sie zutrat. »Ich werde meine Stellung aufgeben, und zwar noch heute.«
Thornton Lyne war durch ihre Verachtung aufs tiefste verletzt und gedemütigt. Plötzlich kam ihr das auch zum Bewußtsein, sie bedauerte ihre heftigen Worte und wollte sie bis zu einem gewissen Grade wiedergutmachen.
»Es tut mir leid, daß ich so hart war«, sagte sie freundlich, »aber Sie haben mich herausgefordert, Mr. Lyne.«
Er konnte nicht sprechen und wies nur schweigend mit dem Kopf zur Tür.
Odette Rider verließ das Zimmer, und Mr. Lyne trat an eins der großen Fenster. Er sah ihr nach, wie sie mit gesenktem Blick langsam durch die Reihe des Personals schritt und an der anderen Seite die drei Stufen hinaufstieg, die zu dem Büro der Hauptkasse führten.
»Dafür sollst du noch büßen!« zischte er zwischen den Zähnen hervor.
Er war über alle Maßen beleidigt und gekränkt. Er war der Sohn eines reichen Mannes, der stets behütet und beschützt wurde und nichts von dem harten Kampf ums Dasein erfuhr. Er war nicht in einer öffentlichen Schule unterrichtet worden, wobei er ja mehr mit der Umwelt und anderen Menschen zusammengekommen wäre, sondern er hatte Privatschulen besucht, in denen nur die Söhne der Reichsten aufgenommen wurden. Stets hatte er nur Schmeichler und Leute um sich gehabt, die von seinem Reichtum profitieren wollten. Niemals waren er und seine Handlungen der scharfen Kritik gerechter Lehrer und Erzieher ausgesetzt worden. Nur eine minderwertige Presse hatte seine literarischen Erzeugnisse über alle Maßen gelobt und dementsprechend Nutzen daraus gezogen.
Er biß sich auf die Lippen, ging zu seinem Schreibtisch und klingelte. Gleich darauf trat seine Sekretärin ein, die er vorher fortgeschickt hatte.
»Ist Mr. Tarling gekommen?«
»Ja, Mr. Lyne, er wartet schon seit einer Viertelstunde im Sitzungszimmer.«
Er nickte.
»Danke schön.«
»Soll ich ihn rufen?«
»Nein, ich werde selbst zu ihm gehen«, entgegnete Lyne.
Er nahm eine Zigarette aus seinem goldenen Etui und steckte sie an. Seine Nerven waren durch die letzte Unterredung etwas angegriffen, und seine Hand zitterte, aber der Sturm in seinem Innern legte sich allmählich, denn es kam ihm ein Gedanke. Tarling? Welch eine glänzende Möglichkeit, dieser Mann, dem ein Ruf von Genialität und unheimlicher Klugheit vorausging! Dieses plötzliche Zusammentreffen war einfach großartig.
Mit schnellen Schritten eilte er den Gang entlang, der sein Privatbüro mit dem Sitzungszimmer verband, und trat mit ausgestreckten Händen in den großen Raum.
Der Mann, den er so liebenswürdig begrüßte, konnte ebensogut siebenundzwanzig als auch siebenunddreißig sein. Er war groß, schlank und eher geschmeidig als stark. Sein Gesicht hatte eine dunkelbraune Farbe, und seine blauen Augen, mit denen er Lyne ansah, waren fest und undurchdringlich. Das war der erste Eindruck, den Lyne von ihm hatte.
Tarling drückte Lyne die Hand und war unangenehm berührt, denn sie war so weich wie eine Frauenhand. Nach der Begrüßung entdeckte Lyne noch einen dritten in dem Raum. Er war unter Mittelgröße und saß im Schatten eines Wandpfeilers. Auch er erhob sich und verneigte sich kurz.
»Haben Sie einen Chinesen mitgebracht?« fragte Lyne und betrachtete den Mann neugierig. »Ach, beinahe hätte ich ja vergessen, daß Sie gerade aus China kommen. Aber bitte, nehmen Sie Platz.«
Auch Lyne zog sich einen Stuhl heran und hielt Tarling sein Zigarettenetui hin.
»Den Auftrag, den ich Ihnen geben möchte, will ich später mit Ihnen besprechen«, sagte Lyne. »Ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich durch die Zeitungsartikel, die ich über Sie las, sehr von Ihnen eingenommen bin. Sie haben doch neulich die Juwelen der Herzogin von Henley wieder aufgefunden? Auch habe ich schon früher viel von Ihnen gehört, als ich in China war. Soviel ich weiß, sind Sie nicht bei Scotland Yard angestellt?«
»Nein, ich war wohl einer der höheren Polizeibeamten in Schanghai und hatte auch bei meiner Rückkehr nach England die Absicht, bei der hiesigen Polizeidirektion einzutreten. Aber es ereignete sich allerhand, was mich veranlaßte, meine eigene Detektivagentur aufzumachen. Ich hätte in Scotland Yard nicht so viel freie Hand gehabt, wie ich es brauche!«
»In ganz China erzählte man sich damals von den Heldentaten Jack Oliver Tarlings. Die Chinesen nannten Sie ›Lieh Jen‹ den Menschenjäger.«
Lyne beurteilte alle Leute von seinem eigenen Standpunkt aus und sah in dem Mann, der ihm gegenübersaß, schon ein brauchbares Werkzeug und aller Wahrscheinlichkeit nach einen wertvollen Bundesgenossen.
Die Geheimpolizei in Schanghai hatte nach allem, was man von ihr hörte, ihre eigenen Methoden und machte sich keine großen Gewissensbisse darüber, ob ihre Handlungsweise auch genau mit dem Buchstaben des Gesetzes übereinstimmte. Ja, man wollte sogar wissen, daß der Menschenjäger seine Gefangenen gefoltert hatte, wenn er hierdurch Geständnisse erzwingen konnte, um größeren und schwereren Verbrechen auf die Spur zu kommen. Lyne kannte nicht alle Legenden über den Menschenjäger, auch konnte er bei den Geschichten, die über den berühmten Detektiv erzählt wurden, nicht das Wahre vom Falschen unterscheiden.
»Ich weiß wohl, warum Sie nach mir geschickt haben«, meinte Tarling. Er sprach langsam und überlegt. »Sie haben mir in Ihrem Brief die Aufgabe ja schon in großen Umrissen angedeutet. Sie verdächtigen einen Ihrer Leute, der seit Jahren die Firma durch große Unterschlagungen geschädigt hat. Es handelt sich um einen gewissen Mr. Milburgh, Ihren Hauptgeschäftsführer.«
»Ich möchte, daß Sie diese ganze Geschichte erst einmal vergessen, Mr. Tarling«, sagte Lyne leise. »Ich werde Ihnen Milburgh jetzt vorstellen, er kann uns wahrscheinlich bei meinem Plan sehr gut helfen. Ich will nicht behaupten, daß er ein ehrlicher Mensch ist, auch nicht, daß mein Verdacht gegen ihn unbegründet ist, aber im Augenblick beschäftigt mich viel Wichtigeres, und ich wäre Ihnen zu Dank verbunden, wenn Sie die ganze Sache mit Milburgh vorläufig hintenanstellen. Ich werde ihn jetzt holen lassen.«
Er ging zu einem langen Tisch, nahm den Telefonhörer ab und sprach zu der Vermittlung:
»Bestellen Sie Mr. Milburgh, daß er zu mir in das Sitzungszimmer kommen soll.«
Dann ging er zu seinem Besucher zurück.
»Die Sache mit Milburgh kann warten. Ich weiß noch nicht genau, ob ich noch einmal darauf zurückkommen werde. Haben Sie überhaupt schon mit Ihren Nachforschungen begonnen? Wenn das der Fall sein sollte, so sagen Sie mir bitte das Hauptsächlichste, bevor Milburgh kommt.«
Tarling nahm eine kleine weiße Karte aus seiner Tasche und warf einen Blick darauf.
»Welches Gehalt bekommt Milburgh bei Ihnen?«
»Neunhundert Pfund im Jahr«, erwiderte Lyne.
»Er gibt aber etwa fünftausend aus«, entgegnete Tarling. »Wenn ich meine Nachforschungen fortsetze, wird sich diese Summe vielleicht noch vergrößern. Er hat ein Haus oberhalb des Stroms, gibt große Gesellschaften -«
Lyne winkte ungeduldig mit der Hand ab.
»Wir wollen das doch lieber bis später lassen. Ich habe im Augenblick, wie ich schon sagte, eine viel größere Aufgabe für Sie. Milburgh mag ein Dieb sein -«
»Haben Sie nach mir verlangt, Mr. Lyne?«
Lyne wandte sich schnell um. Die Tür hatte sich geräuschlos geöffnet. Auf der Schwelle stand ein Mann, der heuchlerisch lächelte und sich dauernd die Hände rieb, als ob er sie mit unsichtbarer Seife wüsche.
Inhaltsverzeichnis
»Gestatten Sie - Mr. Milburgh«, stellte Lyne etwas verlegen vor. Wenn Milburgh die letzten Worte seines Chefs gehört hatte, verriet er doch in keiner seiner Bewegungen etwas davon. Er lächelte nicht nur oberflächlich, sondern man sah vollkommene Zufriedenheit in seinen wenig ausdrucksvollen Zügen. Tarling schaute ihn schnell an und zog seine eigenen Schlüsse. Der Mann war ein geborener Lakai, hatte ein plumpes Gesicht, einen kahlen Kopf und nach vorn gebeugte Schultern, als ob er in jedem Augenblick bereit sei, eine Verbeugung zu machen und demütig Rede und Antwort zu stehen.
»Schließen Sie die Tür, Milburgh, und nehmen Sie Platz. Dies ist Mr. Tarling - ein Detektiv.«
»Sehr interessant, Mr. Lyne.«
Milburgh verneigte sich ehrerbietig vor Tarling. Der Detektiv beobachtete ihn genau, aber Mr. Milburgh errötete weder, noch wurde er blaß, auch seine Gesichtsmuskeln zuckten nicht. Tarling nahm keins der Anzeichen wahr, durch die sich ihm gegenüber Verbrecher schon so oft verraten hatten. »Ein gefährlicher Mensch«, dachte er.
Er warf einen Blick zu Ling Chu hinüber, um zu erkennen, welchen Eindruck Milburgh auf ihn gemacht hatte. Jeder andere Beobachter hätte nichts Besonderes an dem Gesichtsausdruck und der Haltung des Chinesen entdecken können. Aber Tarling sah, daß seine Lippen fast unmerklich zuckten und seine Nasenflügel sich ein wenig hoben. Das waren untrügliche Anzeichen dafür, daß Ling Chu ein Verbrechen witterte.
»Mr. Tarling ist Detektiv«, wiederholte Lyne. »Ich hörte sehr viel von ihm, als ich in China war. -Sie wissen doch, daß ich mich auf meiner Weltreise drei Monate in diesem Land aufhielt?« fragte er Tarling, der nur kurz nickte.
»Ja, ich weiß es, Sie wohnten im Bund-Hotel und verkehrten damals viel in dem Eingeborenenviertel. Sie machten auch eine unangenehme Erfahrung, als Sie einmal Opium rauchten.« Lyne wurde rot, dann lachte er. »Sie wissen ja viel mehr von mir als ich von Ihnen, Tarling!«
Man konnte an seinem Ton hören, daß ihm die letzte Bemerkung unangenehm gewesen war. Er wandte sich wieder an seinen Angestellten.
»Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß in meinem Geschäft Gelder entwendet werden, und zwar von einem Angestellten in der Hauptkasse.«
»Das ist ganz unmöglich!« rief Mr. Milburgh entsetzt. »Ganz unmöglich! Wer sollte das getan haben? Aber ich bewundere Ihren Scharfsinn, Mr. Lyne, daß Sie das herausgefunden haben. Ich habe ja schon immer gesagt, daß Sie alles genau beobachten, selbst das, was wir alten Geschäftsleute übersehen, selbst wenn es sich vor unseren Augen abspielt!«
Mr. Lyne lächelte geschmeichelt.
»Es wird Sie interessieren, Mr. Tarling, daß ich hierin selbst einige Kenntnisse, ja ich möchte sogar sagen, daß ich Beziehungen zur Verbrecherwelt habe. Sie wissen vielleicht, daß ich so einen unglücklichen Menschen in gewisser Weise betreue. Ich habe in den letzten vier Jahren alles mögliche versucht, um ihn zu bessern. In einigen Tagen kommt er wieder einmal aus dem Gefängnis. Ich habe diese ganze Mühe auf mich genommen«, sagte er bescheiden, »weil ich fühle, daß es die Pflicht gerade der Leute ist, die sich in glücklicher Vermögenslage befinden, anderen zu helfen, die nicht dieselben günstigen Bedingungen in dem harten Kampf ums Dasein haben.«
Auf Tarling machten diese Worte keinen Eindruck.
»Wissen Sie, wer Sie dauernd bestohlen hat?« fragte er kurz.
»Ich habe allen Grund anzunehmen, daß es ein junges Mädchen ist. Ich war gezwungen, sie heute ohne Kündigung zu entlassen, und ich möchte Sie bitten, sie zu überwachen.«
Der Detektiv nickte.
»Das ist eine verhältnismäßig einfache Sache.« Ein schwaches Lächeln huschte über seine Züge. »Haben Sie denn in Ihrem großen Geschäft nicht einen Privatdetektiv angestellt, der sich dieser Sache widmen könnte? Ich kümmere mich wirklich nicht um so kleine Diebstähle. Als ich hierherkam, dachte ich, daß es sich um eine größere Aufgabe handelte.« Er sprach nicht weiter, da es unmöglich war, in Gegenwart Milburghs mehr zu sagen.
»Ihnen mag die Sache klein erscheinen, aber mir ist sie sehr wichtig«, entgegnete Mr. Lyne ernst. »Hier ist ein Mädchen, das in hohem Ansehen bei allen Mitangestellten steht und infolgedessen einen großen Einfluß auf deren moralische Ansichten hat. Sie hat wahrscheinlich dauernd die Bücher gefälscht und die Firma um Geld betrogen und hat dabei immer Wohlwollen und Achtung von allen Seiten genossen. Offenbar ist sie noch viel gefährlicher als irgendein anderer armer Verbrecher, der einer augenblicklichen Versuchung erliegt. Meiner Meinung nach wäre es nötig, mit ihr einmal ein Exempel zu statuieren, aber ich muß Ihnen offen gestehen, Mr. Tarling, daß ich nicht genügend Beweise in der Hand habe, um sie zu überführen. Sonst hätte ich mich nicht an Sie gewandt.«
»Ach, ich soll erst das Material zusammenstellen?« fragte Mr. Tarling neugierig.
»Wer ist denn die Dame, um die es sich handelt?« fragte Milburgh.
»Miss Rider«, antwortete Mr. Lyne düster.
»Miss Rider!« Milburgh machte ein äußerst erstauntes Gesicht.
»Miss Rider -ach nein, das ist doch ganz unmöglich!«
»Warum soll das unmöglich sein?« fragte Lyne scharf.
»Na ja, verzeihen Sie -ich meinte nur«, stammelte der Geschäftsführer. »Das sieht ihr doch gar nicht ähnlich. Sie ist solch ein nettes Mädchen.«
Thornton Lyne sah ihn argwöhnisch von der Seite an.
»Haben Sie irgendeinen besonderen Grund, Miss Rider in Schutz zu nehmen?« fragte er kühl.
»Nein, Mr. Lyne, ganz und gar nicht. Ich bitte Sie, nichts dergleichen anzunehmen«, sagte Mr. Milburgh etwas aufgeregt, »es kommt mir nur so -ungewöhnlich vor.«
»Alles ist ungewöhnlich, was sich nicht mit dem gewohnten Lauf der Dinge vereinigen läßt«, fuhr ihn Lyne an. »Es wäre zum Beispiel nicht sehr merkwürdig, wenn Sie des Diebstahls angeklagt würden, Milburgh. Wäre es nicht sonderbar, wenn wir entdeckten, daß Sie im Jahr fünftausend Pfund ausgeben, während Ihr Gehalt nur neunhundert Pfund beträgt?«
Nur eine Sekunde lang verlor Milburgh seine Selbstbeherrschung. Die Hand, mit der er sich über die Stirn fuhr, zitterte. Tarling, der ununterbrochen sein Gesicht beobachtete, sah, welche große Anstrengungen er machte, um seine Haltung nicht zu verlieren.
»Ja, Mr. Lyne, das wäre allerdings sehr merkwürdig«, sagte Milburgh jetzt mit fester Stimme.
Lyne redete sich immer mehr in Wut, und wenn seine scharfen Worte auch an Milburgh gerichtet waren, meinte er in Gedanken doch das stolze, hochfahrende Mädchen mit den zornigen Augen, das ihn in seinem eigenen Büro so verächtlich behandelt hatte.
»Es wäre doch merkwürdig, wenn Sie zu Gefängnis verurteilt würden, weil ich entdeckt hätte, daß Sie die Firma seit Jahren betrügen«, fuhr er erregt fort. »Ich bin überzeugt, daß alle Angestellten dasselbe sagen würden wie Sie -›sehr merkwürdig‹!«
»Das möchte ich auch sagen«, erklärte Milburgh mit seinem alten gewohnten Lächeln. »Das würde merkwürdig klingen und merkwürdig sein, und niemand wäre mehr überrascht als das unglückliche Opfer.« Dann lachte er aus vollem Halse.
»Vielleicht auch nicht«, sagte Lyne kühl. »Ich möchte hier nur kurz in Ihrer Gegenwart ein paar Worte wiederholen, bitte, passen Sie genau auf. Sie haben sich schon seit einem Monat bei mir darüber beklagt« - Lyne betonte jedes Wort -, »daß kleine Beträge in der Kasse fehlten.«
Es war äußerst kühn, das zu behaupten, es war in gewisser Weise waghalsig. Der Erfolg seines schnell entworfenen Planes hing nicht nur von Milburghs Schuld, sondern ebenso von Milburghs Neigung ab, seine Schuld auch einzugestehen. Wenn sein Geschäftsführer nichts gegen die falsche Behauptung sagte, gab er damit seine eigenen Verfehlungen zu. Tarling, dem die Unterhaltung zuerst unverständlich war, begann jetzt dunkel zu ahnen, worauf Lyne hinauswollte.
»Ich hab' mich bei Ihnen beklagt, daß im letzten Monat Geldbeträge gefehlt haben?« fragte Milburgh erstaunt.
Er lächelte nicht mehr, und sein Gesicht sah plötzlich verstört aus -er war in die Enge getrieben.
»Ja, das sagte ich eben«, entgegnete Lyne und beobachtete ihn.
»Entspricht das nicht den Tatsachen?«
Nach einer langen Pause nickte Milburgh.
»Ja, das stimmt«, erwiderte er schwach.
»Und Sie haben mir doch auch mitgeteilt, daß Sie Miss Rider in Verdacht haben, diese Unterschlagungen zu begehen?«
Wieder trat eine Pause ein, und wieder nickte Milburgh.
»Hören Sie es?« fragte Lyne triumphierend.
»Ja«, entgegnete Tarling gelassen. »Was soll ich denn aber bei dieser Sache tun? Das geht doch nur die Polizei an?«
Lyne zog die Augenbrauen zusammen.
»Wir müssen die Anzeige erst vorbereiten. Ich werde Ihnen alle Einzelheiten in die Hand geben: die Adresse der jungen Dame und alle Daten über ihre Person. Dann wird es Ihre Sache sein, uns solche Informationen zu verschaffen, daß wir den Fall Scotland Yard übergeben können.«
»Ich verstehe«, sagte Tarling und lächelte.
Aber dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann mich mit dieser Sache nicht befassen, Mr. Lyne.«
»Warum nicht?« fragte Lyne erstaunt.
»Weil ich mich mit derartigen Aufgaben nicht abgebe. Als Sie mir schrieben, hatte ich das Gefühl, daß ich durch Sie einen der größten Fälle erhielte, der jemals in meine Hände kam. Man sieht, wie der erste Eindruck manchmal täuschen kann.« Er griff zu seinem Hut.
»Was wollen Sie damit sagen? Sie geben damit einen wertvollen Kunden auf!«
»Ich weiß nicht, wie wertvoll Sie sind, aber augenblicklich sieht die Sache nicht sehr ermutigend aus. Ich möchte mich nicht mit diesem Fall beschäftigen, Mr. Lyne.«
»Sie glauben, die Sache ist nicht bedeutend genug für Sie?« fragte Lyne unangenehm berührt. »Ich bin bereit, Ihnen fünfhundert Pfund für Ihre Bemühungen zu zahlen -«
»Selbst wenn Sie mir fünftausend -ja fünfzigtausend zahlen, würde ich es doch ablehnen, mit dieser Sache etwas zu tun zu haben«, entgegnete Tarling. Seine Worte klangen entschieden und nachdrücklich.
»Dann darf ich vielleicht fragen, warum Sie sich nicht damit befassen wollen? Sind Sie mit dem Mädchen bekannt?« fragte er unnötig laut.
»Ich habe die junge Dame niemals gesehen und werde sie auch wahrscheinlich niemals sehen. Ich möchte nur feststellen, daß ich nicht mit solchen künstlich aufgebauten Anklagen belästigt sein will.«
»Künstlich aufgebaute Anklagen?«
»Ich glaube, Sie wissen ganz gut, was ich meine, aber ich will es Ihnen noch deutlicher und verständlicher sagen. Aus irgendeinem Grund haben Sie gegen eine Ihrer Angestellten einen Widerwillen. Ich kann Ihren Charakter aus Ihrem Gesicht erkennen, Mr. Lyne. Die Weichheit Ihres runden Kinns und Ihr Mund zeigen mir, daß Sie sich gerade kein Gewissen daraus machen, wie Sie die Damen behandeln, die bei Ihnen tätig sind. Ich weiß es nicht -aber ich vermute, daß Sie von einem anständigen Mädchen einen gehörigen Korb bekommen haben, worüber Sie sich furchtbar geärgert haben, und in Ihrer Rachsucht greifen Sie eine vollständig haltlose Anklage gegen dieses Mädchen aus der Luft. Mr. Milburgh« - er wandte sich an den Geschäftsführer, aus dessen Gesicht das Lächeln wieder verschwand - »hat seine eigenen Gründe, Ihren gemeinen Wünschen entgegenzukommen. Er ist Ihr Angestellter, und außerdem tut die versteckte Drohung ihre Wirkung, daß Sie ihn ins Gefängnis bringen wollen, wenn er sich weigert, mit Ihnen zu gehen.«
Thornton Lynes Gesicht war von Wut entstellt. »Ich werde dafür Sorge tragen, daß Ihr niederträchtiges Verhalten allgemein bekannt wird! Sie haben mich hier in der schimpflichsten Weise beschuldigt, und ich werde Sie wegen Verleumdung verklagen. Die Sache liegt doch so, daß Sie sich der Aufgabe, die ich Ihnen gegeben habe, nicht gewachsen fühlen und nun einen Grund suchen, sie abzulehnen!«
Tarling biß das Ende eine Zigarre ab, die er aus seiner Tasche nahm.
»Mein Ruf ist zu gut, als daß ich mich mit so schmutzigen Dingen befassen könnte. Ich möchte nicht gern beleidigend werden, und ich gebe nicht gern gute Verdienstmöglichkeiten aus der Hand, aber ich will mein Geld nicht durch Gemeinheiten verdienen, Mr. Lyne. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, dann lassen Sie diesen unsinnigen Racheplan fallen, den nur Ihre verletzte Eitelkeit wachgerufen hat. Nebenbei bemerkt ist das die ungeschickteste Art, eine Anklage zu erheben. Gehen Sie hin und bitten Sie die junge Dame um Entschuldigung, die Sie auf das gröbste beleidigt haben, wie ich vermute.«
Er winkte seinem chinesischen Begleiter und verließ langsam den Raum. Lyne beobachtete ihn zitternd vor Zorn. Er war sich seiner Ohnmacht bewußt, aber als die Tür schon halb geschlossen war, sprang er mit einem unterdrückten Schrei auf, riß sie wieder auf und stürzte auf den Detektiv zu.
Tarling griff ihn mit beiden Händen, hob ihn hoch, trug ihn in den Raum zurück und setzte ihn auf seinen Stuhl. Dann sah er ihn gutmütig von oben herab an.
»Mr. Lyne«, sagte er ein wenig sarkastisch. »Sie geben selbst den Verbrechern ein übles Beispiel. Es ist gut, daß Ihr verbrecherischer Freund noch im Gefängnis sitzt!« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer.
Inhaltsverzeichnis
Zwei Tage später saß Thornton Lyne in seinem großen Auto, das an der Seite des Fußgängersteiges in der Nähe von Wandsworth-Common hielt, und schaute nach dem Tor des Gefängnisses.
Er war Dichter und Schauspieler, eine merkwürdige Mischung für einen Geschäftsmann seines Charakters.
Thornton Lyne war Junggeselle. Er hatte ein Examen auf der Universität gemacht und einen großen wissenschaftlichen Preis erhalten. Er war auch Autor und Herausgeber eines dünnen Gedichtbandes. Die Güte seiner Verse war gerade nicht bedeutend, aber das Buch war zweifellos mit wunderbar schönen Initialen gedruckt und in altertümlicher Art gebunden. Er war Kaufmann, und das war ihm in mancher Beziehung nicht unangenehm. Denn sein Beruf erlaubte ihm, ein luxuriöses Leben zu führen. Er besaß mehrere Autos, einen Landsitz und ein Haus in der Stadt. Die Möblierung und Ausstattung der beiden Wohnungen hatten Summen verschlungen, mit denen er eine große Anzahl kleiner Geschäfte hätte kaufen können.
Joseph Emanuel Lyne hatte die Firma gegründet und das Geschäft in die Höhe gebracht. Er hatte ein Verkaufssystem ausgearbeitet, nach dem jeder Kunde sofort bedient wurde, wenn er den Laden betrat. Diese Methode beruhte auf dem alten Grundsatz, stets genügende Reserven in Bereitschaft zu halten.
Thornton Lyne erhielt die Führung des Geschäftes in dem Augenblick, in dem das Erscheinen seines schmalen Bandes ihn in die Reihe der berühmten Unverstandenen erhob. Bei seinen Gedichten verwendete er eine ungewöhnliche Interpunktion, umgekehrte Kommata, Ausrufungszeichen und Fragezeichen, um seinen Zorn und seine Verachtung gegenüber der Menschheit auszudrücken. Wenngleich der Band auch nur dünn war, gekauft wurde er doch nicht, aber er verschaffte ihm genügend Ansehen bei den Männern und Frauen, die wie er Gedichte und Bücher schrieben, die nicht gelesen wurden.
Nichts in der Welt war diesem berühmten unverstandenen Menschen sicherer, als daß sich höchste Vornehmheit in Verachtung äußerte. Unter anderen Umständen hätte sich Thornton Lyne noch zu weiteren Stufen des Unverstandenseins hinaufarbeiten können - auf eine solche Höhe, wo man erhaben ist über Ehe, Seife, reine Hemden und frische Luft. Nur die Tatsache, daß sein Vater plötzlich starb, war daran schuld, daß er diesen Grad der Vollkommenheit nicht erreichte.
Zuerst hätte er beinahe die ganze Firma verkauft, um sich in eine einsame Villa nach Florenz oder Capri zurückzuziehen. Aber dann lockte ihn das Widerspruchsvolle, ja man möchte sagen, der Humor seiner Lage. Ein gelehrter Mann, ein vornehmer Herr, ein mißverstandener Dichter sollte sich in ein Kaufmannsbüro setzen. Und zum Erstaunen aller Leute nahm er die Arbeit seines Vaters auf, das heißt, er unterschrieb Schecks und profitierte von den Einnahmen. Die eigentliche Leitung der Firma überließ er den Männern, denen der alte Lyne schon vertraut hatte.
Thornton verfaßte einen Aufruf an seine dreitausend Angestellten, den er auf antikem Büttenpapier mit wunderschönen Initialen und breiten Rändern drucken ließ. Er zitierte Seneca, Aristoteles, Marc Aurel und fügte auch einige Verse aus der Ilias ein. Dieser Aufruf wurde durch längere und bessere Kritiken von den Zeitungen begutachtet als sein Buch.
Er hatte nun ein neues Interesse am Leben gewonnen er kam sich selbst sehr interessant vor, denn seine vielen begeisterten Freunde schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und fragten erstaunt und verwundert: »Wie können Sie - ein Mann von solcher Begabung, von solchem Charakter . . .!« Das Leben wäre auch weiter für ihn so interessant und schön geblieben, wenn alle Leute, die ihm begegneten, ihn in seiner Gottähnlichkeit gelassen hätten. Aber es gab zum mindesten zwei Menschen, auf die Lynes schöner Charakter und seine Millionen nicht den geringsten Eindruck machten.
In seiner Limousine war es schön warm, denn sie war elektrisch geheizt. Es war ein rauher Aprilmorgen, und draußen war es empfindlich kalt. Die kleine Schar zitternder Frauen, die in einer respektvollen Entfernung vor der Gefängnistür standen, zogen ihre Tücher und Schals dichter um sich, weil einzelne Schneeflocken niederfielen. Bald war die ganze Gegend von einer leichten weißen Decke überzogen, und die ersten Frühlingsblumen schauten in ihrer weißen Umrahmung recht kläglich aus.
Die Gefängnisuhr schlug acht. Eine kleine Tür öffnete sich, und ein Mann trat heraus. Er hatte Jacke und Kragen zugeknöpft und die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Lyne ließ die Zeitung sinken, in der er bis jetzt gelesen hatte, öffnete die Wagentür, sprang hinaus und eilte direkt auf den entlassenen Gefangenen zu.
»Nun, Sam«, sagte er liebenswürdig. »Sie haben mich diesmal wohl nicht erwartet?«
Der Mann stand plötzlich still, als ob er vom Blitz getroffen sei, und starrte auf die Gestalt in dem kostbaren Pelz.
»Ach, Mr. Lyne«, erwiderte er mit gebrochener Stimme. »Sie sind es!« Er konnte nicht weitersprechen, die Tränen liefen ihm über die Backen, und er ergriff die ausgestreckte Hand mit seinen beiden Händen.
»Sie haben doch nicht etwa gedacht, daß ich Sie im Stich lasse, Sam!« Lyne war ganz begeistert von seiner eigenen vornehmen Gesinnung.
»Ich dachte, Sie hätten mich jetzt aufgegeben, Mr. Lyne«, entgegnete Sam Stay heiser. »Sie sind wirklich ein edler Herr und haben einen anständigen Charakter. Ich muß mich vor mir selber schämen!«
»Unsinn, Sam, nicht doch! Kommen Sie schnell in meinen Wagen, mein Junge, setzen Sie sich hierher. Jetzt denken die Leute, Sie sind ein Millionär.«
Der Mann schluckte, grinste verständnislos und stieg ein. Mit einem Seufzer sank er in die weichen Polster, die mit kostbarem, braunem Saffianleder bezogen waren.
»Mein Gott, wenn man denkt, daß es Leute wie Sie in der Welt gibt, dann kann man wirklich noch an Engel und Wunder glauben!«
»Reden Sie doch nicht so dummes Zeug, Sam. Sie kommen jetzt zu mir in meine Wohnung, essen sich einmal tüchtig satt, und dann werde ich Ihnen helfen, wieder etwas Neues anzufangen.«
»Ich will jetzt auch wirklich ein ordentliches Leben führen«, sagte Sam mit einem unterdrückten Schluchzen.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß gesagt werden, daß sich Mr. Lyne im Grunde sehr wenig darum kümmerte, ob Sam einen ordentlichen Lebenswandel führte oder nicht. Vielleicht wäre er sogar entsetzt gewesen, wenn Sam ein ordentlicher Mensch geworden wäre. Er hielt sich Sam ungefähr so, wie andere Leute sich seltenes Geflügel oder schöne Hunde halten, und war auf ihn nicht weniger stolz als andere Menschen auf ihre Briefmarken oder ihr chinesisches Porzellan. Sam gehörte zu dem Luxus, den er sich gestatten und mit dem er renommieren konnte. In seinem Klub erzählte er gern von seiner Bekanntschaft mit diesem Verbrecher -Sam war ein bekannter und berüchtigter Geldschrankknacker. Seine Anhänglichkeit war ein ungewöhnlicher Nervenkitzel für Lyne.
Die Verehrung, die dieser Verbrecher Lyne entgegen brachte, war wirklich ungewöhnlich. Sam hätte ohne zu zögern sein Leben für diesen Mann mit dem blassen Gesicht und dem leichtfertigen Mund gegeben. Er hätte sich für seinen Wohltäter in Stücke reißen lassen, wenn er ihm dadurch irgendwie hätte nützen können, denn für ihn war Lyne ein vom Himmel herabgestiegener Gott. Zweimal war Sam zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt worden, und einmal hatte er auch länger gesessen, und jedesmal hatte Thornton ihn mit nach Hause genommen, großartig bewirtet und ihm eine Menge sehr überflüssige Ratschläge gegeben; dann hatte er ihn mit einem Anfangsgehalt von zehn Pfund wieder auf die Mitwelt losgelassen. Diese Summe genügte Sam gerade, um einen neuen Satz von Einbrecherwerkzeugen zu kaufen.
Aber nie zuvor hatte Sam solche Dankbarkeit gezeigt, und nie vorher hatte Thornton Lyne sich so um ihn bemüht. Zunächst war ein heißes Bad vorgesehen, dann folgte ein warmes, luxuriöses Frühstück. Sam erhielt einen neuen Anzug, und in seiner Brusttasche steckten diesmal nicht nur zwei, sondern vier Fünfpfundnoten.
Nach dem Frühstück hielt Lyne seine übliche Ansprache.
»Ach, Mr. Lyne, das ist alles ganz schön und gut, aber für mich paßt es nicht!« sagte Sam offen und schüttelte den Kopf. »Ich habe alles versucht, um ein ehrliches Leben zu führen, aber es kommt mir immer etwas dazwischen. Als ich das letztemal herauskam, wurde ich doch Chauffeur und fuhr drei Monate lang ein Mietauto. Dann bekam so ein verdammter Detektiv von Scotland Yard heraus, daß ich keinen Führerschein hatte, und da war es mit dem ordentlichen Leben wieder aus. Es hat keinen Zweck, mir eine Stelle in Ihrem Geschäft zu geben, das würde doch nicht lange dauern. Ich bin nun einmal ein Leben in der frischen Luft gewöhnt und muß mein eigener Herr sein. Ich gehöre nun schon einmal zu den.«
»Zu den Abenteurern«, sagte Lyne und lachte leise. »Ja, da haben Sie recht, Sam. Und ich kann Ihnen diesmal eine etwas abenteuerlichere Aufgabe geben, die so recht nach Ihrem Herzen sein wird.«
Dann erzählte er ihm die Geschichte von der gemeinen Undankbarkeit des Mädchens, dem er geholfen, die er direkt vom Hungertod gerettet und die ihn in der niederträchtigsten Art und Weise betrogen hatte. Thornton Lyne war ein Dichter, aber er war ebenso auch ein Lügner. Er konnte genauso leicht die Unwahrheit wie die Wahrheit sagen. Als er nun von der Bosheit Odette Riders sprach, hörte Sam aufgeregt zu und kniff die Augenlider zusammen. Für eine solche Kreatur war keine Strafe zu schwer, sie verdiente nicht das geringste Mitgefühl.
Thornton Lyne hielt einen Augenblick in seiner Erzählung inne, um zu sehen, welchen Eindruck seine Worte auf Sam gemacht hatten.
»Sagen Sie mir doch nur«, flüsterte Sam mit zitternder Stimme, »wie man mit dieser Kanaille abrechnen kann und ich gehe durch die Hölle, um Sie an dieser Person zu rächen!«
»Das höre ich gerne«, erwiderte Lyne und goß aus einer hohen Flasche einen kräftigen Schluck ein. Es war Sams Lieblingsschnaps. »Nun kann ich Ihnen ja auch sagen, wie ich mir die Sache gedacht habe.«
Sie saßen noch ein paar Stunden zusammen und planten furchtbare Rache an Odette Rider, die Thornton Lynes Eitelkeit so schwer gekränkt und deren aufrechte Haltung den Haß dieses lasterhaften Mannes entflammt hatte.
Inhaltsverzeichnis
Am Abend desselben Tages, an dem Sam Stay aus dem Gefängnis entlassen wurde, lag Jack Tarling auf seinem harten Bett ausgestreckt. Er hatte eine Zigarette zwischen den Lippen, las ein Buch über chinesische Philosophie und war mit sich und der Welt zufrieden.
Er hatte einen aufregenden Tag hinter sich, denn er hatte den Auftrag erhalten, eine große Unterschlagung bei einer Bank aufzuklären. Diese Sache hätte eigentlich seine ganze Zeit in Anspruch genommen, wenn er nicht noch eine kleine private Nebenbeschäftigung gehabt hätte. Sie brachte ihm zwar nicht das mindeste ein, aber seine Neugierde und sein Interesse waren nun einmal geweckt.
Er legte das Buch flach auf seine Brust, als er hörte, wie sein Assistent leise die Tür öffnete. Ling Chu trat lautlos ein und setzte ein Tablett auf den niederen Tisch neben dem Bett. Tarling sah, daß der Chinese ein blau-seidenes Gewand trug.
»Du willst also heute abend nicht mehr ausgehen, Ling Chu?«
»Nein, Lieh Jen.«
Sie sprachen in der weichen, melodiösen Mundart von Schantung miteinander.
»Warst du bei dem Mann mit dem schlauen Gesicht?« Als Antwort nahm der Chinese einen Briefumschlag aus seiner inneren Tasche und reichte ihn Tarling, der die Adresse las.
»Dort lebt die junge Dame? Miss Odette Rider. 27, Carrymore Mansions, Edgware Road.«
»Es ist ein Haus, in dem viele Leute wohnen«, sagte Ling Chu. »Ich bin selbst in deinem Auftrag dorthin gegangen und sah, wie die Leute ein und aus gingen, ohne Unterlaß, und niemals habe ich dieselben Menschen zweimal gesehen.«
»Was hat denn aber der Mann mit dem schlauen Gesicht zu meinem Brief gesagt?«
»Herr, er schwieg. Er las ihn immer wieder und machte dann ein Gesicht wie dieses.« Ling Chu ahmte Mr. Milburghs Lächeln nach. »Und dann schrieb er das auf, was du hier siehst.«
Tarling starrte einen Augenblick ins Leere, stützte sich dann auf seinen Ellenbogen und nahm die Teetasse, die Ling Chu gebracht hatte.
»Hast du etwas Neues über den Mann mit dem weichen weißen Gesicht erfahren, Ling? Hast du auch ihn aufgesucht?«
»Jawohl, Herr, ich sah ihn«, antwortete der Chinese ernst. »Er ist ein Mann ohne Himmel.«
Tarling nickte. Denn die Chinesen brauchten das Wort »Himmel« für »Gott«, und er wußte, daß Ling Chu scharf beobachtet hatte und damit sagen wollte, daß Thornton Lyne keine geistigen Fähigkeiten besaß. Er trank den Tee und erhob sich.
»Ling, diese Stadt und dieses Land sind sehr öde und traurig, und ich glaube nicht, daß ich lange hier wohnen werde.«
»Will der Herr wieder nach Schanghai zurückgehen?« fragte der Chinese, ohne auch nur im mindesten über diese Mitteilung erstaunt zu sein.
»Ja, ich denke. Jedenfalls ist dieses Pflaster zu langweilig. Diese paar elenden Fälle von kleinen Gelddiebstählen und Eheaffären - ich mag nichts mehr davon hören.«