Das Geheimnis der Sennerin - Hans Ernst - E-Book

Das Geheimnis der Sennerin E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Die Sennerin Michaela vom Brandlhof hat ein Geheimnis, das das Leben des jungen Jägers Anton beeinflusst. Gegen den Willen seines Vaters tritt er in die Dienste des Grafen Bruggstein ein. In dessen Revier treibt eine ausgekochte Wildererbande ihr Unwesen, doch Anton kommt ihr auf die Schliche. Hans Ernst schildert in diesem spannenden Roman auch die Geschichte einer großen Liebe.

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LESEPROBE ZU

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2001

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: Michael Wolf, München

Bearbeitung, Lektorat und Satz: Impressum GmbH, München

eISBN 978-3-475-54729-4 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Das Geheimnis der Sennerin

Die Sennerin Michaela vom Brandlhof hat ein Geheimnis, das das Leben des jungen Jägers Anton beeinflusst. Gegen den Willen seines Vaters tritt er in die Dienste des Grafen Bruggstein ein. In dessen Revier treibt eine ausgekochte Wildererbande ihr Unwesen, doch Anton kommt ihr auf die Schliche. Hans Ernst schildert in diesem spannenden Roman auch die Geschichte einer großen Liebe.

Junge Liebe

Über das Geröllfeld kommen zwei Jäger herab. Unten am Latschengebüsch verschnaufen sie kurz.

»Das war ganz schön heiß und anstrengend heute«, stöhnt Förster Hellweger und wischt sich mit dem Handrücken über das schweißüberströmte, bärtige Gesicht.

»Man spürt halt die Sechzig langsam«, erwidert der andere lachend und rückt an seinem verwitterten Filzhut über dem schlohweißen Haar. Es ist Graf Bruggstein, der Pächter dieser großen Hochjagd, die sich über ein Gebiet von gut sieben mal sieben Kilometer erstreckt. Graf Bruggstein ist von altem Adel und sehr vermögend: Er besitzt zahlreiche Immobilien und mehrere landwirtschaftliche Betriebe sowie eine bekannte Brauerei.

Vor vielen Jahren hat sich Graf Bruggstein aus dem Tagesgeschäft seiner Betriebe weitgehend zurückgezogen und das Sommerschloss Wandeck erworben. Die Jagd hat er von der Gemeinde Sintsbach gepachtet. Die Leute weit und breit nennen ihn den Bauerngrafen. Er kommt jedes Jahr, wenn es Frühling wird, mit seiner Tochter hierher und bleibt bis weit in den Herbst, wenn der erste Schnee fällt. Den Winter verbringen sie dann in der Stadt. Die Sintsbacher zählen den Grafen durchweg zu den Einheimischen. Sie haben ihm die Ehrenbürgerurkunde verliehen und ihn in ihrem Trachten- und Theaterverein ›Zünftige Sintsbacher‹ sowie beim Spiel- und Sportclub des Ortes zum Ehrenvorstand ernannt; an dem Alleebaum, an dem der jüngste Sohn des Grafen tödlich verunglückt ist, haben sie ein kunstvoll geschmiedetes kleines Kreuz aufgestellt, das – je nach Jahreszeit – stets mit Blumen oder Immergrün geschmückt ist. Manche allerdings stehlen dem Grafen gelegentlich das Wild aus dem Wald.

Die beiden Männer setzen ihren Gang durch die drückende Sommerhitze fort. Es flimmert über den Bergen, der Himmel erscheint hoch und schwer, nur einzelne, ganz kleine weiße Wolken schwimmen im tiefen Blau.

Um sie herum ist es ganz still. Nur von ferne das Rauschen eines Bergbachs, der heisere Schrei eines Habichts. Dazwischen ab und zu ein klirrender Ton, wenn die Spitze des Bergstocks auf einen Stein trifft.

Bald haben sie den schattigen Wald erreicht. Je näher sie den Viehweiden kommen, desto lauter und belebter wird es um sie her. Kuhglocken und Schafsbimmeln klingen vereinzelt herauf, ein heller Ruf schlägt an ihr Ohr, der von irgendwoher erwidert wird. Zuerst nur in einzelnen Klangfetzen und dann ganz deutlich hören sie fröhliche Musik junger Leute, dazwischen unbeschwertes Lachen und das Stampfen schwerer Bergschuhe.

Das kommt von der Steindl-Alm, deren Hüttendach bereits durch die Lücken der Bäume schimmert.

»Machen wir dort eine kleine Pause?«, fragt der Förster, der sich von der guten Stimmung angezogen fühlt.

Graf Bruggstein nickt und schiebt den Hut aus der Stirn. »Eine kurze Rast und ein kühler Schluck könnten nicht schaden bei dieser Hitze«, meint er und steuert auf die Hütte zu.

Als sie eintreten, verstummt mit einem Mal die Musik, und alle blicken sich betroffen an.

»Nur weitermachen!«, sagt der Graf aufmunternd und lehnt Bergstock und Gewehr in einen Winkel. »Ihr werdet doch den Hellweger und mich nicht etwa fürchten? Außerdem sehe ich es gern, wenn junge Leute lustig sind.«

Unter ihnen ist auch Jutta, die Tochter des Grafen. Sie hat gerade mit Anton Zaggler ausgelassen getanzt und gelacht, und nun stehen die beiden verlegen da, mit roten Wangen und ein wenig außer Atem. Die anderen kichern verstohlen.

»Na, jetzt aber! So macht doch weiter, Anton, Jutta!«, lacht der Graf. »Ihr werdet euch doch nicht vor mir genieren.«

Nein, der Anton ist wirklich nicht so schüchtern. Er nimmt die feine Grafentochter beherzt um die Taille, dreht sich mit ihr ein paar Mal im Kreis, und schon kommen wieder fröhliche Klänge aus dem Lautsprecher. Jetzt tanzen und toben auch die anderen wieder mit, dass Boden und Fenster zittern. Die Sennerin bringt unterdessen den beiden Jägern das Bestellte: kalte Milch, Butterbrote und ein Stück Käse.

Nun ist der Remmidemmi zu Ende, und Jutta kommt an den Tisch, noch stark vom Tanz erhitzt. Sie ist eine junge Frau von erfrischender Natürlichkeit. Das Gesicht, von der Sonne gebräunt, zeigt ein klar und schön geschnittenes Profil. Ihre dunklen Locken hat sie mit zwei hellblauen Seidenschleifen ebenso schlicht wie kunstvoll gebändigt. Ihr blaukariertes Kleid unterscheidet sich nur im Material ein wenig von den Kleidern der anderen. Kein Mensch hätte in diesem liebenswürdigen, ungezwungenen Mädchen die Tochter des schwerreichen Grafen Bruggstein vermutet.

Nicht ohne stilles Wohlgefallen mustert der Graf seine Tochter, während er umständlich eine kurze Pfeife in Brand steckt und dazu brummelt: »Also hier verbringst du deine Sonntagnachmittage?«

»Ja, Vater.« Sie wischt sich mit ihrem Taschentuch über die glühende Stirn. »Der Anton kann einem ordentlich warm machen.«

Hinten auf der Ofenbank sitzt er, Anton Zaggler, und seine Augen funkeln vor Übermut und Lebensfreude. Er strotzt mit seinen neunzehn Jahren von Kraft und Jugend. Seine nackten Knie sind zerrissen von Narben, die verraten, dass Anton beim Klettern, beim Fußball und all seinem anderen Sport um seine Haut nicht sehr besorgt ist.

Neben ihm steht Simon Lechner wie der Schatten neben dem Licht. Ein Zug von finsterer Verschlossenheit liegt um seinen blassen Mund, und aus dem Dunkel, das die schwarzen, in dicken Büscheln vorfallenden Haare über die Stirn werfen, brennt ein Paar tief liegender Augen mit düsterem Feuer.

Simon Lechner redet angestrengt auf ein auffallend hübsches, blondes Mädchen ein. Es ist die Monika vom Brandl-Hof, eine reiche Bauerntochter. Sie gibt ihm nur kurze, knappe Antworten, lässt ihn dann plötzlich stehen und setzt sich zu Anton auf die Bank.

Anton nimmt keck das Schürzenband ihres schlichten Dirndlkleides, wickelt es zunächst um seinen Finger und bindet es schließlich an seinem Gürtel fest. »So«, sagt er lachend. »Jetzt kannst du schauen, wie du wegkommst von mir! Was ich einmal habe, lasse ich nicht mehr so leicht aus.«

Simon steht daneben, und seine Augen werden ganz klein.

Seine Schwester, die Erika, tritt neben ihn und sagt: »Was machst du denn schon wieder für ein Gesicht? Du verdirbst einem ja die ganze Freude!«

»Freilich! Von dir werde ich mir vorschreiben lassen, welches Gesicht ich zu machen habe!«

Die Stimmung ist plötzlich gereizt und kann sich im nächsten Augenblick entladen. Schnell greift einer der Holzarbeiter nach der Gitarre. Er spielt richtig gut, sein Rhythmus ist viel mitreißender als der von den Musikkassetten, die schon ein wenig ausgeleiert sind. Sogleich tanzt Anton mit Monika, Simon holt sich Jutta, und Erika dreht sich mit Urs, einem jungen Schweizer, der zurzeit im Nachbardorf arbeitet.

Graf Bruggstein und der Förster schauen noch eine Weile amüsiert zu, dann winkt Bruggstein der Sennerin und sagt: »Haben Sie Bier im Keller? Dann geben Sie den jungen Leuten doch ein paar Flaschen – auf meine Rechnung natürlich.«

Er legt das Geld für einige Tragl auf den Tisch, greift nach Bergstock und Gewehr und fordert den Förster mit einer Kopfbewegung auf, sich zu erheben.

»Komm nicht zu spät heim«, sagt er zu seiner Tochter, während sie rotbackig an ihm vorbeitanzt.

»Du brauchst keine Angst um mich zu haben, Vater. Anton ist ja bei mir!«

Lachend gehen der Förster und der Graf hinaus. Wortlos wandern sie eine Weile durch die Gluthitze des Sommertages, bis der kühlende Wald sie aufnimmt. Hinter ihnen tönt das Lachen der tanzlustigen Jugend.

»Das Mädchen hat ein Leben!«, schmunzelt Graf Bruggstein. »Die schlägt mir nach! Wenn es einmal Zeit ist, findet sie sicherlich den richtigen Mann, der auch meinen Vorstellungen entspricht. Die zwei sollen mir Leben und Kinder ins Haus bringen. Es wird sonst allmählich einsam um mich.«

»Wenn ich auch so reden könnte!«, antwortet der Förster ein wenig gedrückt.

»Wieso ...? Ach ja! Sie haben keine Kinder. Schade! Aber sehen Sie, Herr Hellweger, manchmal ist es auch gut, wenn man keine Kinder hat. Meine Jutta macht mir zwar viel Freude. Und mein Peter, ja, das wäre auch einer geworden, auf den ich bei Gott stolz hätte sein können. Aber den hat das Glatteis aus dem Leben gerissen, weil er so schnell wie möglich in die Brauerei und vorher noch zu seiner kranken Mutter wollte. Mein anderer Sohn aber, der taugt nichts. Was ich mit dem schon Kummer erlebt habe, mein lieber Hellweger, das geht auf keine Kuhhaut.«

»Mit Graf Herbert?«, fragt der Förster verwundert.

»Graf? Ja, leben tut er wie ein Graf! Auf meine Kosten natürlich. Das gräfliche Wappen trägt er sozusagen wie ein Banner vor sich her – in jedem Taschentuch, auf jeder Zigarettendose. Aber wert ist er es schon lang nicht mehr. Mich, seinen Vater, kennt er nur, wenn er bis zum Hals in der Tinte steckt. Da muss selbstverständlich der Vater herhalten und die Schulden zahlen. Ja, mein Lieber, Sie haben gar keine Ahnung, was so ein leichtsinniges Bürscherl verprasst. Der verliert am Spieltisch oft in einer Nacht mehr, als ich und Sie das ganze Jahr brauchen. Und ich muss dann alles möglichst lautlos regeln, um den Ruf der Familie zu schützen. Ein Glück ist es nur, dass seine Mutter das nicht mehr erlebt hat!«

Der Förster ist nun schon über fünf Jahre beim Grafen angestellt. Sie haben zwar von Anfang an vertrauensvoll zusammengearbeitet, aber noch nie hat sein Arbeitgeber so frei und offen mit ihm gesprochen.

»Ihre Frau ist früh verstorben?«, fragt der Förster nach einer Weile.

»Freilich, viel zu früh. Und denken Sie sich, welch eigenartige Fügung! Oder kennen Sie die Geschichte schon? Nicht? – Also: Am selben Tag, fast zur selben Stunde, als meine Frau starb, hat mein Peter bei dem Verkehrsunfall sein Leben gelassen. Der Zaggler senior, der Alfons, kam dazu und versorgte ihn, so gut es ging, er stand ihm in seinen letzten Minuten bei.«

»Ausgerechnet der Zaggler?«

»Ja. Verstehen Sie nun, warum ich beim Zaggler immer ein Auge zudrücke? Weil er meinem Buben beigestanden hat. Das vergesse ich ihm nicht so leicht ... So, und nun wollen wir ein anderes Thema anschneiden. Haben Sie schon Nachricht wegen der Dobermannkreuzung? Ja? Und? Was schreiben die?«

Förster Hellweger, nun ganz in seinem Element, hält dem Grafen einen ausführlichen Vortrag über die Kreuzung der verschiedenen Jagdhundrassen. Und schneller, als sie eigentlich wollen, stehen sie vor dem Försterhaus, das etwa zweihundert Meter außerhalb des Dorfes in einem gepflegten Obstgarten steht.

»Wenn ich Sie bitten darf, Graf Bruggstein, vielleicht trinken Sie mit uns eine Tasse Kaffee?«

»Aber gern!« Der Graf stößt mit dem Fuß das Gartentürchen auf. »Ah, da ist sie ja schon, die liebe Frau Hellweger. Grüß Gott, Frau Försterin! Ihr Kaffee duftet ja durchs ganze Tal!«

»Aber, aber! Wir würden uns freuen, Graf Bruggstein, wenn Sie mit uns ...«

»Freilich will ich gern mithalten. Aber bitte keine Umstände, und nicht groß auftragen! Gleich da im Gartenhäuschen wär’s doch nett.«

Es wird eine gemütliche Stunde in der kleinen Geißblattlaube. Und als der Graf sich dankend verabschiedet, steht die Sonne schon am Grat der Berge.

Mit seinen schweren Bergschuhen schreitet der Graf über das Pflaster, jeder Schritt ist zu hören, zuweilen hallt es von den Mauern zurück. Im Dorf sitzen die Bäuerinnen auf den Hausbänken, und da und dort wechselt der Graf ein paar freundliche Worte über den Zaun. Es gibt nichts, was ihn nicht interessierte. Und als eine Bäuerin ihre kleine Tochter zu ihm führt und immerzu sagt: »So gib halt dem Herrn Grafen dein Patschhändchen«, da nimmt der Graf die Kleine kurzerhand auf den Arm und scherzt mit ihr.

Der Graf hat das Dorf durchquert und geht ein Stück auf der stillen Landstraße. Zögernd bleibt er vor einem schmiedeeisernen Kreuz stehen und liest: »Peter Graf Bruggstein hat hier sein junges Leben verloren. Sintsbach bewahrt ihm ein treues Angedenken.«

Der Graf nickt ein paar Mal und wendet sich langsam ab. »Mein armer Peter«, murmelt er vor sich hin.

Er sieht ihn im Geiste wieder vor sich, wie er tatkräftig und besonnen seinen Geschäften nachging, mit Fleiß, Können und Zuversicht, und wie er sich für die Seinen einsetzte.

Peter, ja, das wäre auch hier in den Bergen einer gewesen! Dem haben selbst die Gämsen bewundernd zugeschaut, wenn er verwegen über die Felsen kletterte. Er hat – wenn es seine knappe Zeit zuließ – sich um Wald und Wild gekümmert, wo er konnte. Und was es mit dem Gewehr zu treffen galt, traf er zielsicher. Mit dem hat man auf die Jagd gehen und seine Freude haben können. Der andere aber? Ein Elend ist es mit dem. Der stiehlt dem Herrgott bloß den Tag und seinem Vater das Geld. Zuerst hat er ein bisschen Jura studiert, dann ein paar Semester Medizin im Ausland, um sich dann mal diesem, mal jenem und zurzeit offensichtlich dem Maschinenbau zuzuwenden. Seine Hauptbetätigung besteht allerdings im Glücksspiel.

Unwillig schüttelt Graf Bruggstein den Kopf. Unterdessen gelangt er zu seinem Anwesen, bedächtig geht er durch den Park auf das weiße, stille Gebäude zu. Die Parkbäume rauschen leise im Abendwind, und aus dem Brunnenbecken am Schlossportal steigt gemütlich plätschernd eine kleine silberne Wassersäule empor.

Die Sonne versinkt hinter den Bergen, wo ein gewaltiges Feuer zu lodern scheint, in das die Abendwolken stürzen, wie besiegte Ungeheuer. Im Wald ist es schon dunkel. Eine einsame Drossel schlägt – ein süßer Ruf im Frieden des Abends. Dann klingt helles Mädchenlachen auf, erst fern, dann immer näher; dunkles Männerlachen gesellt sich dazu. Wie von einem Spielmannszug springen die Töne durch den Wald.

Die jungen Menschen von der Steindl-Alm sind es, die heimwärts wandern und jetzt aus dem Wald herauskommen. Auf einmal stehen sie still.

»Wie wunderschön das Dorf heute Abend ist«, sagt Jutta leise und hebt aufatmend den Blick zu den hohen Wipfeln, an denen der Tag zu verglühen scheint.

Das Dorf mit seinen breiten, wuchtigen Bauernhöfen liegt schon im Schatten der Nacht. Nur um den Kirchturm und, etwas außerhalb, um den First von Schloss Wandeck schimmert noch das Abendrot. Die oberen Fenster funkeln, als ob sie im Feuer stünden.

»Schau, Anton, unser Haus brennt«, sagt die junge Komtess Bruggstein.

»Dann würde ich aber nicht da herumstehen und Löcher in die Luft schauen«, antwortet Anton. »Was meinst du, Jutta, wie ich rennen würde ...«

Anton steht zwischen Jutta und Monika. Erika ist hinter ihm und Simon Lechner etwas abseits mit missvergnügtem Gesicht.

Er hat es den ganzen Nachmittag schon bemerkt, dass sich die drei Mädchen nur für den Anton interessieren. Und dabei ist doch dieser Anton nur der Sohn eines kleinen Holzarbeiters und Nebenerwerbsbauern, während er einen der reichsten Bauern im Tal zum Vater hat! Also ist es besonders von Monika, der Tochter des großen Brandl-Bauern, nicht zu verstehen, wie sie dem notigen Häuslerbuben so schöntun kann.

Jetzt streicht sie ihm sogar noch über den Arm und sagt: »Wahnsinn, was du für Muskeln hast, Anton!«

Anton lacht und zeigt seine blendend weißen Zähne. »Das kommt vom Arbeiten und vom Sport, weißt du. Mit elf Jahren habe ich dem Vater schon Bäume umschneiden und die Stämme aufladen geholfen. Dazu kam dann noch der Fußball, das Klettern, das Training im Sportclub. Und steile Wiesen mit der Sense zu mähen macht einen auch nicht gerade schmächtiger.«

Simon stößt ein kurzes, höhnisches Lachen aus. »Als wenn’s da recht viel zu mähen gäbe! Die paar grünen Handtücher, die ihr habt!«

Anton wendet langsam das Gesicht. Eine kleine Falte steht zwischen seinen Brauen. »Alle können keine Großbauern sein, und sie wollen es vielleicht auch gar nicht sein«, sagt er trotzig.

»Da hat er Recht, der Anton«, wispert Erika, Simons Schwester.

»Freilich: ›Da hat er Recht, der Anton‹«, äfft Simon nach. »Er hat immer Recht, der Anton, euer ›Tonele‹. Und den ganzen Tag hört man nichts wie ›Tonele‹ hin und ›Tonele‹ her! Er ist der Liebe, der Brave, der Gute. Und unsereins ist der Garniemand.«

»Simon!«, ruft Komtess Jutta streng. »Ich glaube nicht, dass dir jemand von uns zu solchen Worten Anlass gegeben hat. Du bist es immer selber, der Streit sucht und die Stimmung vergiftet.«

»Du gibst nicht nach, bis ich dir wieder die Hucke voll schlage«, fügt Anton hinzu und reckt sich ein wenig, als wollte er gleich an die Arbeit gehen.

Da schiebt Monika ihren Arm unter den seinen, Jutta hängt sich auf der anderen Seite ein, und so ziehen sie den Anton fort. Erika will sich auch anschließen, aber Simon hält sie mit rauem Griff zurück.

»Du bleibst da. Du bist meine Schwester und hast zu mir zu halten, verstanden!«

Er zieht sie an der Hand mit sich und schlägt einen anderen Weg ein als die drei.

Als Anton und die zwei Mädchen über den Wiesenpfad durch ein paar Viehweiden zur Bachbrücke kommen, sagt Monika: »Jetzt muss ich euch leider allein lassen.« Der Hof ihrer Eltern liegt nämlich gegenüber Schloss Wandeck am entgegengesetzten Ende des Dorfes.

Auf der hölzernen Brücke bleiben sie stehen und vereinbaren ein nächstes Treffen. Mit silbernen Wellen sprudelt der Bach unter ihnen und singt seine Wassermusik in die Stille der frühen Sommernacht.

»Kommt gut heim«, sagt Monika und biegt rechts ab in einen Feldweg, der direkt in den Brandl-Hof mündet.

»Du auch«, ruft Anton ihr nach und wendet sich mit Jutta links ab. Aber in gewissen Zeitabständen schaut er sich regelmäßig um, und es ist wie eine geheime Abmachung, dass Monika es im selben Augenblick auch tut. Dann verschwindet sie plötzlich im Dunkel.

»Sag mal, Anton«, beginnt Jutta unvermittelt, »aber du musst es nicht als Indiskretion auffassen ...«

»Als was soll ich’s nicht auffassen?«, fragt Anton, der das Wort als fremd und geschraubt empfindet.

»Ich meine: Du darfst nicht glauben, dass ich neugierig bin und dir zu nahe treten will. Aber sag mir bitte ganz ehrlich: Hast du schon einmal mit einem Mädchen ... – ich meine, so richtig ein Verhältnis gehabt?«

»Nein, das habe ich noch nicht.«

»Dann ist es gut.« Ruhig und sachlich sagt Jutta das.

»Warum soll das gut sein?«

»Ach, nur so. Ich wollte es nur wissen. Ich zum Beispiel – ich möchte einmal mit keinem Mann zusammenleben, der vor mir schon mit einer anderen so gut wie verheiratet war.«

»Natürlich«, nickt Anton bestätigend, obwohl er das nicht ganz begreifen kann.

Eine Abendglocke beginnt mit vollem, warmem Klang zu läuten. Geradezu andächtig bleiben Anton und Jutta stehen und lauschen.

Als die Glocke verklingt, sagt Jutta ganz leise: »Du – Anton ...«; und nochmals: »Anton – Tonele ...« Das Letzte kommt ein Weilchen später und schwingt sanft im Abendwind.

Ein seltsames Gefühl übermannt ihn bei diesem sanften Klang seines Namens. Im Augenblick kann er gar nichts sagen.

Ihre Hand schmiegt sich in die seine. »Was willst du einmal werden, Anton?«

»Förster und Jäger möchte ich werden. Weißt du, so in den Bergen herumklettern, ganz früh schon, wenn die Sonne aufgeht, das wäre mein Leben.«

»Und wenn du einmal Förster und Jäger bist, was tust du dann?«

»Na ja, dann pflege ich den Bergwald, steige ich den Gämsen nach, mache die Wildwechsel ausfindig ..., und was es halt da alles gibt.«

»Nein, ich meine außer dem Jagen und Waldhüten – ich meine, wenn du nicht mehr allein bleiben willst?«

»Ach so? Ja, dann heirate ich die Monika.«

Diese Worte treffen sie unvermutet mitten ins Herz. Ein leiser, unterdrückter Laut. Dann die zögernde Frage: »Die Monika – vom Brandl?«

»Ja, die habe ich gern.«

Ihre Hand löst sich aus der seinen. »Das ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen.«

Ihre Stimme hat plötzlich einen fremden Klang. Anton bemerkt das aber nicht und erzählt ganz unbekümmert von seiner Liebe zu Monika.

Jutta fragt nichts nach, gibt auf nichts eine Antwort. Erst eine Weile später will sie wissen: »Und die Monika? Will sie dich auch heiraten?«

»Das weiß ich nicht. Bis jetzt haben wir das noch gar nicht besprochen. Aber gemerkt habe ich natürlich schon, dass sie mich nicht nur gern sieht.«

Jutta will ihm sagen, dass dies noch lange kein untrügliches Merkmal der großen Liebe sei. Aber sie verschweigt es und sagt nur: »Ich will mit meinem Vater einmal darüber reden, dass du Forstwirtschaft und Jagd lernen kannst.«

Da bleibt er stehen und fasst mit einem unterdrückten Jubelschrei nach ihren Händen. »Jutta! Wenn du das fertig bringst, mein Leben lang bin ich dir dankbar dafür!«

Ganz nah steht sie vor ihm und blickt ihm lange und tief, sehr tief in die Augen. Ein trauriges Lächeln zuckt um ihren Mund – ein Lächeln, das er an ihr nicht kennt. Dann hebt sie sanft ihren Arm und streicht ihm mit zitternden Fingern über die Wangen. »Guter Tonele«, sagt sie leise dabei.

Da räuspert sich jemand laut. Die beiden fahren erschrocken herum, aufgescheucht wie aus einem schönen Traum. Im Schatten der Schlossbäume steht Wilhelm, der Hausmeister und dienstbare Geist des Grafen.

Jutta drückt Anton noch rasch die Hand und geht von ihm weg.

Wilhelm sagt mit gedämpfter Stimme: »Man war bereits in Sorge um Sie, junge Frau.«

»Wer war in Sorge? Mein Vater wusste, wo ich war.«

»Ja, aber die Martina, ich, alle waren wir besorgt. Es ist schon nach neun, und ich wollte schon auf die Suche nach Ihnen gehen.«

»Ich danke Ihnen, Wilhelm, aber Ihre Sorge war unnötig.«

Wilhelm deutet eine Verneigung an, schließt das hohe Gittertor und geht stumm mit Jutta zum Schloss. Mit unzähligen, flimmernden Himmelslichtern liegt die Nacht über ihnen.

Aus Juttas Zimmer wirft eine Lampe rötliche Lichtbänder in den dunklen Park hinaus. In einem Lehnstuhl sitzt sie am offenen Fenster, lauscht auf das unermüdliche Plätschern des Brunnens und blickt dann wieder sinnend über die schwarzen Wipfel hinauf zu den Felswänden, die scharf und kantig emporstoßen in das tiefe Nachtblau des Himmels.

Jutta Komtess Bruggstein versucht in dieser Nacht, ihre erste, ganz heimliche Liebe zu begraben! Wie ein Traum war alles gewesen. Ein Traum, von dem sie zu niemandem sprechen kann. Im Frühling war es, als sie nach einem langen, strengen Winter den Anton wieder sah. Da wusste sie mit einem Mal, wonach sie sich den ganzen Winter über gesehnt hatte. Sie probierte, wie lange sie es schaffte, ihn nicht zu sehen. Kaum zwei Tage hielt sie es aus, dann suchte sie ihn. Sie fand ihn auf dem Acker, ging neben ihm her, als er gründlich und bedächtig die Saat ausbrachte, Korn neben Korn, ging am Abend mit ihm heim, saß mit ihm hinter dem Haus und zählte mit ihm die Sterne, die aufgeflammt waren am tiefblauen Himmel, einer nach dem anderen. Anton sagte dann so nebenbei: »Morgen muss ich in den Holzschlag und dem Vater helfen.«

Wie selbstverständlich war es, dass sie ihn auch da oben besuchte. Kein Weg war ihr zu beschwerlich. Und einmal, als er nur mit knapper Not vor einem stürzenden Baum zur Seite springen konnte, schrie sie gellend auf. In diesem Augenblick kam es ihr zu Bewusstsein, wie lieb sie ihn hatte. Sie ging heim damals, ins Abendrot, wie in einen neuen Morgen hinein. In einem Traumland war sie gewandelt, in einem Land voll stiller Freude und Schönheit – bis heute. Und nun heißt es Abschied nehmen von dieser jungen, unausgesprochenen Liebe.

Jutta steht auf, tritt ans Fenster und blickt hinaus in die milde, sternfunkelnde Sommernacht. Ihre Lippen sprechen ganz leise einen Namen: »Anton ...« Und noch mal ganz leise wie ein Hauch: »Tonele ...«

Was hatte die gute Jutta nur, dass sie auf einmal so traurig wurde beim Abschied?, wundert sich Anton Zaggler. Er schlendert heim, vor sich hin pfeifend, wie das seine Gewohnheit ist. Bald hat er das kleine, gepflegte Haus am Fuß des Berges erreicht. In der Stube brennt schon das Licht, und als er hereinkommt, steht die Mutter mit einem freundlichen »Grüß dich, Bub!« auf, geht zum Ofen, wo sie das warm gehaltene Essen herausnimmt, und stellt es auf den Tisch. Der Vater sitzt im Lehnstuhl, studiert ausdauernd die Lokalnachrichten in der Zeitung und pafft aus einer kurzen Pfeife graugelbe Tabakschwaden, die wie träge Nebel unter der hölzernen Stubendecke hängen.

»Rauch doch nicht gar so viel!«, mahnt die Zaggler-Mutter und hustet ein paar Mal.

Alfons Zaggler blickt von seiner Zeitung auf, fährt sich mit gespreizten Fingern über das ergraute Haar und meint: »Vergönn mir’s doch, Frau! Man gönnt sich ja sonst nichts auf der Welt.« Dann blickt er auf den Sohn, der soeben einen Knödel auseinander schneidet, und sagt: »Den Artikel musst du lesen, Bub! Da kriegst du einen Begriff, wie es zugeht in unserer sauberen Welt.« Es ist ein Artikel über organisierte Wilderer, Schmuggler und Schieber und ihre »anscheinend sehr guten Beziehungen«, wie der Vater viel sagend andeutet.

»Ich habe jetzt keine Lust, zu lesen«, lehnt Anton ab und isst mit gutem Appetit weiter.

»Was hast du? Keine Lust hast du? Du liest den Artikel, das erwarte ich von dir!«

»Aber geh, Vater, wenn er halt müde ist und keine Lust hat, der Bub«, mischt sich die Mutter ein. »Du tust ja so, als ob vom Lesen dieses Artikels die ewige Seligkeit abhinge. Er ist ja auch noch zu jung und zu unternehmungslustig, um wie du jeden Abend die Zeitung endlos rauf und runter zu studieren. Er muss doch nicht alles wissen!«

»Der weiß doch sonst auch alles so gut! Er soll einfach den Artikel lesen, weil ich immerhin selber den Kopf hingehalten habe, damals, als wir diese Rauschgiftschieber und Menschenschmuggler oben im Grenzwald stellten, die sie dann so erstaunlich schnell abgeschoben haben. Das ist damals gewesen, als ich einen kranken Jagdgehilfen vertreten habe und beim Schusswechsel mit diesem kriminellen Pack eine Kugel in den Arm bekam. Der Bub soll nur wissen, was sein Vater mitgemacht hat für Recht und Ordnung.«

Anton nickt beiläufig. Er kennt diese Räuber- und Gendarm-Geschichte längst auswendig, der Vater hat sie ihm oft genug erzählt. Der junge Mann hat plötzlich einen ganz anderen Gedanken, der ihn angestrengt beschäftigt. Diese Frage hat ihn mit einem Mal angesprungen, lässt ihn nicht mehr los, und es scheint ihm ungeheuer wichtig, darüber Klarheit zu erhalten.

Anton ist mit dem Essen fertig, schiebt den Teller weit von sich und fragt, noch immer kauend: »Sag einmal, Vater, wie ist einem denn da zumute, wenn man auf einen Menschen schießt?«

»Da denkst du dir in dieser Lage nichts dabei. Du hast es mit einer gemeingefährlichen, brutalen Bande zu tun – du schießt in Notwehr, sonst beißt du selber ins Moos.«

»Ja, es ist eben Notwehr«, nickt Anton. »Aber angenommen, ich wäre Revierförster und würde einen kleinen, sagen wir einmal ›ganz normalen‹ Wilderer auf frischer Tat ertappen. Es wäre schon ein ungutes Gefühl, auf einen Menschen schießen zu müssen.«

Der Zaggler-Vater stößt eine Rauchwolke gegen die Decke und antwortet mit etwas veränderter Stimme: »Auf den brauchst du ja nicht zu schießen. So einen armen Teufel, der sich mal einen Sonntagsbraten holt und dir nichts will, lässt du eben laufen.«

»Wenn er wirklich ein armer Teufel ist, kann man ja ein Auge zudrücken. Aber es gehen auch andere hinaus, Söhne von Großbauern und reichen Wirtsleuten zum Beispiel, die es nicht nötig hätten und bloß zum Wildern gehen, weil sie sich in ihrer komischen Männlichkeit bestätigen wollen und Freude dran haben, wenn sie Schaden zufügen können. Denen würde ich aber das Handwerk legen! Und wenn sie sich dann wehren ...?«

»Du wirst aber kein Förster, sondern Holzarbeiter und Kleinbauer, wie ich einer bin und wie es mein Vater und Großvater auch schon gewesen sind.«

»Nein«, sagt Anton in aller Seelenruhe, »ich werde Förster und Jäger.«

»Dass ich nicht lache!«

»Da gibt’s nichts zu lachen, Vater. Die Jutta legt beim Grafen ein gutes Wort für mich ein.«

Der Vater faltet wütend die Zeitung zusammen, schlägt ein paar Mal mit der flachen Hand drauf und wirft sie von sich. »Habe ich es nicht schon immer gesagt? Es kommt nichts Gescheites heraus bei der Geschichte! Wie oft habe ich dir schon gesagt, Frau, wir sollten den Buben nicht immer aufs Schloss rennen lassen!«

»Aber, Alfons, wenn der Bub tatsächlich Förster werden kann!«

»Pfeifendeckel wird er! Ich will nichts mehr hören von diesen Flausen! Der Bub wird Holzarbeiter und Nebenerwerbsbauer wie ich auch.«

»Darüber haben wir das letzte Wort noch nicht geredet.«

»Es gibt nicht mehr viel zu reden in der Angelegenheit! Und jetzt möchte ich meine Ruhe haben.« Der Vater steht auf, klopft seine Pfeife aus und fragt: »Hast du meine Sachen schon hergerichtet? Dieses Mal komme ich die ganze Woche nicht heim, weil wir am Spieglerberg arbeiten; dorthin ist es ein weiter, beschwerlicher Weg.«

»Ich habe dir alles hergerichtet wie immer. Schau halt selber nach, ob noch was fehlt!«

Alfons Zaggler stopft noch eine Dose Tabak und ein Paar in Papier eingeschlagene geräucherte Würste in den Rucksack und verschnürt ihn. Dann wendet er sich an seinen Sohn: »Anton, du mähst morgen früh auf der Brunnleite und übermorgen am Heiglanger. Wenn das Wetter durchhält, bringt ihr bis zum Donnerstag alles Heu herein. Wenn du bei uns fertig bist, kannst du beim Brucklechner helfen. Verlang zwölf Mark fünfzig in der Stunde und das Essen und Trinken – ich hab’s mit dem alten Brucklechner schon beredet. So, das wäre alles. Und jetzt gute Nacht!«

Man hört den Vater über die Stiege stampfen, eine Türe zuschlagen, dann ist es still.

»Mutter«, fragt Anton, »warum will denn der Vater nicht, dass ich Förster und Jäger werde?«

»Ach, das ist nicht so schlimm. Wenn es darauf ankommt, gibt er schon nach. Ich kenne ihn ja. Aber sag einmal, ist es wirklich wahr, dass die Jutta bei ihrem Vater für dich ein Wort einlegen will?«

»Ganz gewiss ist das wahr, Mutter!«

»Mein Gott! Bub, hast du ein Glück! Die muss dich gut leiden können. Schau, wenn du einmal der ›Herr Förster‹ bist, dann bist du ein gemachter Mann.«

»Bis dahin ist zwar noch ein weiter Weg. Aber die Hauptsache ist, dass ich Aussicht habe. Und jetzt lege ich mich schlafen, Mutter. Morgen heißt es früh raus. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Anton. Vergiss nicht, dem lieben Gott für dein Glück zu danken!«

Anton nickt wie ein braver Schulbub, geht in seine Kammer und beugt sich zum Fenster hinaus.

Da schau, die Jutta hat auch noch Licht!, denkt er. Ach ja, die Jutta! Was war denn das eigentlich, heute Abend? Dieses Beieinanderstehen war so seltsam, so ganz anders als sonst. Er weiß sich das alles nicht recht zu erklären. Nur dass irgendetwas über ihn herfiel, als sie sein Gesicht streichelte, das weiß er. Aber da hat sich jemand am Parktor geräuspert, und weg war sie ...

Anton wendet seinen Blick fort von dem blinkenden Lichtpunkt, der aus der Ferne durch die Parkbäume sticht, und sucht aus dem Gewirr von nachtdunklen Dächern da drunten im Dorf den Brandl-Hof heraus. Dort bleiben seine Gedanken hängen.

»Monika Brandl«, sagt er vor sich hin. Ganz deutlich sieht er sie vor sich; ihre schlanke Gestalt, das feine Gesicht, in dem zwei Augen sind wie tiefe, klare Seen, in denen sich ihre Seele spiegelt. Er weiß und fühlt es innig in dieser Nacht, Monika füllt sein Leben aus, und es ist schön, ihretwegen auf der Welt zu sein. Anton ist jung und zuversichtlich, er denkt nicht an die verschlungenen Wege des Lebens. Einer wie er meint halt, so wie er es sich wünscht, so wird es irgendwie auch kommen.

Er sieht sich bereits als Jäger, träumt von einem kleinen Försterhaus unter hohen Bäumen. Blumen, viele Blumen sind an den Fenstern, und Monika steht unter der Tür und schickt ihm ein fröhliches Willkommen entgegen, wenn er im sinkenden Abend auf schmalem Weg von den Bergen niedersteigt. Und sie werden sich in den Armen liegen und Geschichten erzählen, er und Monika, Geschichten von ihrer Liebe, von ihren Erlebnissen und Plänen und vom grünen Wald ...

Zwölf Schläge hallen vom Kirchturm herauf. Sie brechen sich an den finsteren Felsen. Anton tritt vom Fenster zurück und legt sich schlafen. Gegen zwei Uhr erwacht er, als der Vater mit seinen schweren Schuhen die knarrende Stiege hinuntersteigt. Dann schläft er weiter.

Aber nicht mehr lange, denn die Mutter zieht ihm die Decke weg und sagt: »Bub, aufstehen, es ist Zeit!«

Im grünen Rock

Anton duscht mit eiskaltem Wasser. Der Bursche ist abgehärtet. Er schüttelt sich, dass die Tropfen sprühen, trocknet sich ab und schlüpft frisch wie der junge Tag ins Arbeitsgewand.

Auf abschüssigen, buckligen, steinigen Wiesen nützt die schönste Mähmaschine nichts. Also nimmt Anton im Schuppen eine Sense vom Nagel und beginnt zu dengeln. Auch vom Dorf herauf hört man da und dort das flinke, schrille Hämmern. Manchmal kläfft ein Hund dazwischen, oder es holpert ein Traktor über die schlechte Straße.

Die Berge sind von feinen Frühnebeln verhüllt; in tiefer Schwärze zieht sich der schweigende Wald empor. Ab und zu geht ein sanftes Hauchen durch ihn hin. Es hört sich an wie ein wohliger Atemzug im tiefen Schlaf. Und jedes Mal, wenn es kommt, dieses kurze Atemholen, bringt es von den Almen den Wohlgeruch der Brunellen herunter und wohl auch einen verschwommenen Glockenton.

In tiefen Zügen atmet Anton die frische Bergluft ein, als er zur Brunnleite hinaufgeht. Dann wetzt er die Sense – ein heller, aggressiver Klang im jungen Morgen. Schwer rauscht der Stahl durch das hohe Gras.

Die Sonne kommt. Alle Bergspitzen enthüllen sich und schimmern wie getriebenes Metall. Im weiten Umkreis sieht man jetzt die Mäher auf den Hangwiesen. Auf den ebenen Wiesen ziehen die Mähmaschinen ihre Bahnen. Überall mähen sie zu dritt oder gar zu viert. Nur Anton ist allein. Das verdirbt ihm aber die Laune nicht. Er hat sich noch nie gewünscht, dass mehr Grund beim Zaggler-Anwesen sein soll. Nein, so wie es jetzt ist, mit den neun Tagwerk, reicht es gerade. Das kann man noch leicht ohne Angestellte bewirtschaften – wenn man fleißig ist, sogar neben dem Jägerberuf.

Gegen neun Uhr kommen zwei Reiter aus dem Schlosshof: Graf Bruggstein und seine Tochter Jutta. Hell blitzt das Sattelzeug im Glanz der Morgensonne; langsam traben die beiden die Straße hinunter, Jutta ein gutes Stück vor ihrem Vater. Auf einmal ruft Jutta ihrem Vater etwas zu, worauf sie die Pferde wenden und den Hang hinaufreiten zu Anton.

Anton stützt das Kinn auf den Sensenstiel und blickt den beiden erwartungsvoll entgegen. Jutta ist zuerst bei ihm. Es fällt Anton sofort auf, dass sie etwas blass ist. Sie springt vom Pferd und reicht ihm die Hand.

»Guten Morgen, Anton! Ich habe mit meinem Vater schon geredet wegen deines Wunsches!«

»So? Dank schön! Und – was sagt er?«

»Das wirst du gleich von ihm selber hören.«

Jutta blickt dabei in seine leuchtenden Augen. Aber nur einen kurzen Moment, dann senkt sie den Blick auf die Spitzen ihrer Reiterstiefel, wendet sich plötzlich dem Pferd zu und drückt ihr Gesicht in die Mähne.

Mittlerweile ist der Graf herangekommen. Er trägt einen sommerlichen Jagdanzug ohne Hut, so dass der Wind mit seinem weißen Haar spielt.

»Reiten kann das Mädchen wie ein Dragoner«, sagt er, während er vor Anton sein Pferd zum Stehen bringt. »Also Anton, meine Tochter hat mir erzählt, dass Sie gern Förster und Jäger werden möchten ...«

»Ja, Graf Bruggstein, gern, das heißt ...«

»Nicht so aufgeregt – jetzt hören Sie mir doch erst einmal zu! Sie wollen also Förster und Jäger werden. Und wenn Sie es sich nicht anders überlegen, ist die Sache schon geregelt. Ich werde jetzt gleich beim Förster Hellweger vorbeireiten und mit ihm reden. Der kann Sie in die praktische Ausbildung nehmen und alles Weitere in die Wege leiten. Ich hoffe, dass Sie Ihrer Fürsprecherin keine Schande machen. Behüt Sie Gott, Anton! Komm, Tochter!«

Mit scharfem Ruck wendet der Graf das Pferd und trabt den Hang hinunter.

»Jutta ...«, stammelt Anton fassungslos. »Wann soll ich denn da schon anfangen?«

»Wenn du willst, heute schon, oder morgen.«

»Nein, erst muss das Heu noch heim, dann melde ich mich gleich beim Förster.«

Noch ehe Anton dazu kommt, ihr den Steigbügel zu halten, sitzt Jutta schon im Sattel und gibt dem Pferd die Zügel frei.

Anton schickt ihr einen Dankes- und Freudenschrei nach, dann greift er wieder nach der Sense. Gegen Mittag ist die Wiese abgemäht. Frohen Mutes wandert Anton heim. Im Überschwang seiner Freude nimmt er die Mutter um die Taille und wirbelt sie im Kreis herum.

»Mutter, jetzt geht ein anderes Leben an! Jetzt werde ich Förster und Jäger. Herrgott, wie ich mich freue!«

Während des Essens schmieden die beiden Zukunftspläne. Selbst an die zukünftige ›Frau Försterin‹ denkt die Mutter schon. Die Stiegler Margarete wäre genau die Richtige, meint sie, weil die in die Hauswirtschaftsschule geht, und das sei immer ein Vorteil in einer Familie, besonders wenn einmal Kinder da sind.

Nun, vorerst ist Anton noch nicht so weit, und bis er einmal Förster wird, vergeht noch viel Zeit. Dann aber wird er nicht Margarete Stiegler heiraten, sondern Monika Brandl. Das verschweigt er aber der Mutter noch.

Um die Mittagszeit rüstet sich Graf Bruggstein zu einem Jagdgang.

»Willst du dich heute schon wieder im Wald herumärgern?«, fragt Jutta.

»Es muss sein. Ich will einmal alle Jagdbezirke aufsuchen und meinen Leuten ins Gewissen reden. Die Wilderer werden immer frecher und schießen mir das Wild vor der Nase weg. Da zahlt man jährlich Abertausende von Mark Pacht und hat nichts davon. Das wird mir allmählich zu bunt. Du kannst ja mitkommen, wenn du Lust hast.«

Damit verschwindet der Graf in sein Zimmer. Als er dann eine Weile später bei Tisch erscheint, fragt er: »Also, Jutta? Kommst du mit? Keine Lust? – Na ja, du wirst dich schon nicht langweilen. Ich denke, dass ich vor dem Dunkelwerden zurückkomme.«

Es klopft, und Wilhelm bringt ein Telefax.

Als Graf Bruggstein es gelesen hat, sagt er mit grimmigem Lachen: »Da hast du ja gleich Unterhaltung heute! Dein Herr Bruder kündigt seinen Besuch an.«

»Herbert kommt?«

»Ja, geschrieben hat er es wenigstens. Er muss schön in der Suppe sitzen, wenn er sich höchstselbst herausbemüht. Aber dieses Mal hat er sich verrechnet! Keinen Pfennig rücke ich raus!«

»Du darfst Herbert nicht unrecht tun, Papa. Er zeigt doch in letzter Zeit wirklich allen Willen, sich zu bessern.«

»Es ist auch allerhöchste Zeit. Bisher hat er sowieso nur von meinem Geld gelebt. Gedacht hat er an mich nur, wenn er Spielschulden hatte. Dann habe ich blechen dürfen wie ein Schmied. Übrigens habe ich ihm schon bei seinem letzten Hiersein ausdrücklich erklärt, dass er um Geld über seinen monatlichen Scheck hinaus nicht mehr zu kommen braucht.«

»Vielleicht braucht Herbert kein Geld. Du tust ihm manchmal wirklich unrecht, Papa.«

»Du meinst, dass er nur kommt, weil er vielleicht das Bedürfnis hat, dich und mich wieder einmal zu sehen? Nein, Spatz! Da kenne ich meinen Herbert zu gut. Allerdings, in dem Augenblick, wo ich erkenne, dass ich ihm unrecht tue, ändere ich gerne meine Ansicht. Aber nun muss ich los. Pass auf dich auf, meine Kleine, und halt dich munter bis zum Abend!«

Im Flur nimmt der Graf das Gewehr aus dem Schrank und drückt seinen verwitterten Filzhut ins weiße Haar.

Jutta sieht ihm nach, wie er kraftvoll durch den Park geht und dann um die Mauer verschwindet. Ein unsagbares Gefühl der Leere überfällt sie mit einem Mal. Wie gut haben es doch die Töchter der Bauern. Die haben Arbeit und füllen ihre Tage damit aus. Aber sie hat außer dem bisschen Geschäftskorrespondenz und den paar Telefonaten für den Papa nichts zu tun. Für jeden sonstigen Handgriff des täglichen Lebens ist ja eine bezahlte Kraft da. Bisher hat sie das alles nicht so gespürt, weil der Gedanke an Anton diese Leere ausgefüllt hat. Aber nun ist auch das vorbei. Ein Wort ist gefallen, gestern Abend, aus seinem Mund. Ein Wort, das wie ein Schwert zwischen ihnen niederfuhr: Er liebt eine andere.

Wenn doch der Winter schon da wäre!, denkt sie verzweifelt. Im nächsten Moment graut ihr aber schon davor. Was ist im Winter? Da geht man in Gesellschaft, besucht Bälle, dazwischen ein bisschen Geschäftskorrespondenz und ein paar Telefonate, und dann werden die weithin verstreuten Betriebe des Vaters besucht. Und es ist dasselbe wie hier. Der Vater ist den ganzen Tag irgendwo, und sie ist allein. Immer allein. Wenn doch die Mutter noch lebte!

Ganz still sitzt sie, hat die Hände im Schoß verschlungen und blickt zum Fenster hinaus.

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