Das Geheimnis hinter den Geschichten - Ebi Naumann - E-Book

Das Geheimnis hinter den Geschichten E-Book

Ebi Naumann

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Beschreibung

Jeder kennt Momo, den Räuber Hotzenplotz, die Mumins und Pippi Langstrumpf. Aber wer hat die beliebten Kinderbuchfiguren eigentlich erfunden? Und verraten die Abenteuer der Figuren vielleicht auch etwas über das Leben ihrer Erfinder*innen? Dieses besondere Sachbuch versammelt zwanzig Autor*innen klassischer Kinderliteratur und erzählt, wie sie auf ihre Buchideen gekommen sind. Oft begann alles, als die Autor*innen noch klein waren und das Lesen, Schreiben oder Malen für sich entdeckten. Darum lüften vor allem die Kindheitserinnerungen der Autor*innen das Geheimnis hinter den Geschichten. Mit Erich Kästner, Astrid Lindgren, A.A. Milne, Maurice Sendak, Tove Jansson, Antoine de Saint-Exupéry, Judith Kerr, Mark Twain, Christine Nöstlinger, James Krüss, Roald Dahl, Paul Maar, Andreas Steinhöfel, Michael Ende, Otfried Preußler, Kirsten Boie, J.R.R. Tolkien, Frida Nilsson, Finn-Ole Heinrich und Eric Carle

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Seitenzahl: 171

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Ebi Neumann

Das Geheimnis hinter den Geschichten

20 Porträts beliebter Kinderbuchautorinnen und -autoren

Mit Illustrationen von Katrin Engelking

© Atrium Verlag, Imprint WooW Books, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

© Text: Ebi Naumann

© Covergestaltung und Illustrationen: Katrin Engelking

Herausgegeben von Neele Bösche

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-96177-575-0

 

www.WooW-Books.de

www.instagram.com/woowbooks_verlag

Statt eines Vorworts: Nelios Fragen

»Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!«

Erich Kästner

Was soll ich groß drum herumreden. Eigentlich hatte ich mich nur an meinen Schreibtisch gesetzt, um darüber nachzudenken, was für ein Buch ich als nächstes schreiben sollte. Doch als ich so in mich hineinhorchte, fiel mein Blick zufällig durchs Fenster, gerade noch rechtzeitig, um mitzukriegen, wie ein Schatten durch meinen Vorgarten huschte. Und weil meine Klingel sich, seitdem ich sie repariert habe, immer so anhört, als wollte jemand ihr die Luft abdrehen, sprang ich auf, um die Haustür zu öffnen, bevor der Schatten genügend Zeit hatte, auf den Klingelknopf zu drücken.

Vor mir stand ein etwa zehnjähriger Junge. Er sah mir freundlich in die Augen und sagte: »Guten Tag. Ich heiße Nelio und hab mal eine Frage.« Und als ich ihn verwundert anschaute, fügte er noch hinzu: »Es geht um Bücher.«

Da es in unserer Gegend kein Geheimnis ist, dass ich etwas mit Büchern zu tun habe, nickte ich nur kurz mit dem Kopf, bat den Jungen herein und führte ihn in mein Arbeitszimmer.

Im Büro von Steuerberatern stapeln sich die Akten ihrer Kunden, in einer Tischlerwerkstatt Holzleisten, Bretter und Platten und im Kontrollturm eines Flughafens die neuesten Computer, Funk- und Radargeräte. Das ist in meinem Arbeitszimmer nicht anders, bloß dass es nicht Akten sind, die sich dort häufen, nicht Bretter oder Radargeräte, sondern Bücher. Kinderbücher.

Die Kinder, die bei mir vorbeikommen, fragen meistens, ob sie sich eins davon ausleihen dürfen. Oder zwei. Und manchmal auch einen ganzen Stapel. Darum führte ich Nelio vor eines der vollgestopften Regale, sagte: »Da, bitte. Bedien dich«, und setzte mich wieder an meinen Schreibtisch.

Eine Weile war nur das leicht schabende Geräusch zu vernehmen, das entsteht, wenn jemand einzelne Bücher aus einem etwas zu prall gefüllten Regal zieht. Doch dann hörte ich Nelio sagen: »Kann ich jetzt vielleicht meine Frage stellen?«

Erstaunt löste ich meinen Blick von der Decke, setzte meine Brille auf und guckte mir den Jungen etwas genauer an. Eigentlich sah er nicht anders aus als die meisten Zehnjährigen, die ich kenne. Er trug weder eine Harry-Potter-Brille noch eine knallrote Krawatte, keinen schlecht sitzenden Anzug oder sonst etwas, das darauf schließen ließ, dass mir kein ganz normaler Junge gegenüberstand, sondern ein angehender Literaturprofessor. Also nickte ich Nelio aufmunternd zu. »Na, dann mal los!«

»Sind Geschichten eigentlich nur dann wirklich wahr, wenn die Autorinnen und Autoren sie auch selbst erlebt haben?«

»Nun ja«, antwortete ich und schaute auf den kleinen Bücherturm, den er aus dem Regal gezogen und vor sich auf dem Boden abgestellt hatte. »Wirklich wahr, das ist so eine Sache. Und selbst erlebt auch. Aber jemand sollte die Dinge, über die er schreibt, zumindest kennen und gesehen haben. Das meinte wenigstens der Oberkellner Nietenführ, als Erich Kästner, der nicht gern zu Hause arbeitete oder im Büro, wieder mal bei ihm im Berliner Café Josty saß. Erich Kästner wollte einen Roman über die Südsee schreiben und kam nicht weiter, weil er nicht wusste, ob ein Walfisch Beine hat, und wenn ja, wie viele.

Wenn er nicht wüsste, worüber er schreibt, erklärte Herr Nietenführ, könnte es dem Herrn Kästner so gehen wie der Magd, die auf dem Markt eine Gans kauft und diese in den Ofen schiebt, ohne zu wissen, dass man sie vorher aufschneiden und ausnehmen muss. Und das ergäbe dann keinen prachtvollen Sonntagsbraten, sondern einen noch prachtvolleren Gestank.

Nun war Erich Kästner zwar davon überzeugt, einen Roman könnte man nicht so ohne Weiteres mit einem Gänsebraten vergleichen – an Herrn Nietenführs Ratschlag gehalten hat er sich trotzdem. Hat sich mir nichts, dir nichts von der Südsee verabschiedet und stattdessen dieses Buch geschrieben.«

Dabei zeigte ich mit dem Finger auf Emil und die Detektive, das Buch, das ganz oben auf Nelios Stapel lag.

»Dort kannst du alles, was ich dir gerade erzählt habe, nachlesen. Das heißt allerdings nicht, dass der echte Erich Kästner, derjenige also, der diesen Roman geschrieben hat, die Geschichte von Emil, Gustav und Co. in seiner Kindheit auch tatsächlich genau so erlebt hat.«

»Und wie krieg ich raus, was er als Kind wirklich erlebt hat?«

»Bei Erich Kästner ist das gar nicht so schwierig, der hat in einem seiner späteren Bücher einiges aus seiner Kindheit erzählt«, sagte ich, während ich mich auf die Zehenspitzen stellte und Als ich ein kleiner Junge war aus dem Regal beförderte. »Das hat er zwar erst geschrieben, als er schon fast sechzig war, aber immerhin. ›Andere Leute legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut‹, hat er mal gesagt, ›oder sie vergessen sie, wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.‹ Und bloß die wenigsten Autorinnen und Autoren haben die Erlebnisse ihrer Kindheit in so einem Buch beschrieben.« Und damit drückte ich es Nelio in die Hand.

Der legte seine Stirn in Falten, deutete auf das Regal und fragte: »Gibt es denn kein Buch, das das Geheimnis hinter den Geschichten lüftet? In dem man über alle, die diese Bücher geschrieben haben, etwas mehr erfahren kann? Wie sie auf die Ideen zu ihren Geschichten gekommen sind, zum Beispiel. Und ob sie sich dabei vielleicht an ihre eigene Kindheit erinnert haben? Was sie damals erlebt, gedacht und gelesen haben? Und warum sie eigentlich angefangen haben zu schreiben?«

»Für eine Frage waren das jetzt aber eine ganze Menge«, sagte ich, während ich meinen Blick über die vielen Buchrücken gleiten ließ, die sich in meinem Regal aneinanderpressen. »Die Antwort fällt leider sehr viel kürzer aus: Nein.«

»Und warum nicht?«

»Na ja«, sagte ich und suchte nach einer Antwort. »Das liegt wohl einfach daran … Ich meine … Das heißt … Es hat sich anscheinend noch niemand die Mühe gemacht, ein solches Buch zu schreiben.«

»Und warum schreibst du es dann nicht?«

Jetzt war ich es, der seine Stirn in Falten legte. Doch sosehr ich auch nachdachte, es fiel mir kein vernünftiger Grund ein. Also hob ich die Bücher, die Nelio sich zurechtgelegt hatte, vom Boden auf und reichte sie ihm rüber.

»Komm in einer Woche zur gleichen Zeit wieder, dann lese ich dir das erste Kapitel vor, das über Erich Kästner.«

Daraufhin schob ich ihn sanft in Richtung Tür, setzte mich an meinen Schreibtisch, freute mich, dass ich endlich wusste, welches Buch ich als nächstes schreiben würde, und fing an.

Und tatsächlich – als Nelio eine Woche später wieder vor der Tür stand, pünktlich auf die Minute, konnte ich ihm das versprochene Kapitel vorlesen. Und so haben wir beide dann weitergemacht: schreiben, vorlesen, schreiben, vorlesen, schreiben … So lange, bis alle zwanzig Autorinnen und Autoren, die Nelio und ich ausgesucht hatten, beisammen waren.

Dabei geholfen hat mir übrigens ein bekannter Sinnspruch von Erich Kästner. Aus diesem Grund habe ich ihn auch gleich dem folgenden, ihm gewidmeten Kapitel als Überschrift vorangestellt …

»Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es.«

ERICHKÄSTNER

In seinem Buch Als ich ein kleiner Junge war erzählt Erich Kästner einiges aus seiner Kindheit, aber nicht alles. »Sonst würde es«, so schreibt er im Vorwort, »eines der dicken Bücher, die ich nicht mag, schwer wie ein Ziegelstein, und mein Schreibtisch ist ja schließlich keine Ziegelei.«

Auch dieses Buch soll kein Ziegelstein werden, obwohl neben den Geheimnissen von Erich Kästner noch die von neunzehn anderen Autorinnen und Autoren in ihm Platz finden müssen. Deshalb bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als das herauszupicken, was ich am interessantesten finde. Anders als beim Kuchen sind das aber nicht nur die Rosinen. Schließlich besteht das Leben nicht bloß aus Sonnentagen, und nicht alles läuft und gelingt einem immer so, wie man es sich wünscht. Das ist bei den Autorinnen und Autoren, die hier versammelt sind, nicht anders als bei euch – da können ihre Bücher so berühmt und toll sein, wie sie wollen.

Erich Kästner wurde am 23. Februar 1899 in Dresden geboren. Das ist jetzt weit über hundert Jahre her. Immerhin gab es auch damals schon Straßenbahnen, die auf Schienen liefen. Nur wurden die Wagen noch von Pferden gezogen. In den Stuben verbreiteten Kerzen und blakende Petroleumlampen ihr mattes Licht, und Polizisten trugen Helme mit einer Spitze obendrauf, sogenannte Pickelhauben. Doch wie es im Inneren von Kindern aussieht – mal ernst, mal heiter, mal traurig, mal froh –, was ihr empfindet, wenn jemand euch ungerecht behandelt, was für Ängste ihr habt und wie viel Freude es macht, gemeinsam echte Abenteuer zu bestehen, das hat der kleine Erich nicht anders erlebt als ihr. Und weil sich das alles in den Romanen wiederfindet, die er später geschrieben hat, sind die auch heute noch so spannend. Pünktchen und Anton zum Beispiel, Das doppelte Lottchen oder Emil und die Detektive. Und wenn man ganz genau hinschaut, haben darin sogar ein paar echte Geschehnisse aus Erich Kästners Kindheit ihren Abdruck hinterlassen.

Zugegeben – die Wege, die echte Geschehnisse nehmen, bevor sie in Romanen landen, sind manchmal sehr verzwickt. In Emil und die Detektive stiehlt der fiese Herr Grundeis Emil während der Bahnfahrt hundertvierzig Mark aus der Jackentasche. Zum Glück entdeckt Emil ihn aber auf dem überfüllten Bahnsteig des Berliner Bahnhofs Zoologischer Garten, verfolgt ihn durch die halbe Stadt und bekommt am Ende sein Geld zurück. In Kästners wirklichem Leben hat sich etwas Ähnliches ereignet. Ein älteres Fräulein (so nannte man damals unverheiratete Frauen) hatte Erich Kästners Mutter zwar kein Geld aus der Tasche geklaut, aber sie hatte sie angeschwindelt und so um ihren Verdienst gebracht. Und als der kleine Erich daraufhin versuchte, das Fräulein zu finden, erfuhr er, was es heißt, Detektiv zu spielen und sich jemandem, der einem Unrecht zugefügt hat, an die Fersen zu heften.

Dem »An-die-Fersen-Heften« war er allerdings schon vorher begegnet. Da war ihm nämlich seine Mutter klammheimlich hinterhergeschlichen. Aber nicht, weil er etwas geklaut oder sie etwa angeschwindelt hatte. So etwas hätte er nie getan. Sie wollte nur sichergehen, dass ihrem Erich, als er zum ersten Mal allein zur Schule lief, auf dem Weg auch nichts passierte.

Überhaupt – Erich und seine Mutter! Er war ihr absolutes Ein und Alles. Für ihn war sie bereit, auf alles zu verzichten. Darum bemühte Erich sich seine ganze Kindheit und Jugend hindurch, immer der beste Schüler und der bravste Sohn zu sein, um die Erwartungen seiner Mutter nicht zu enttäuschen. Auch das findet sich in seinen Büchern wieder. Denn so unterschiedlich die Hauptfiguren in Erich Kästners Romanen sind – für ihre Mütter legen sie sich alle ins Zeug: Martin im Fliegenden Klassenzimmer, Anton in Pünktchen und Anton und Emil sowieso.

Apropos Emil und die Detektive – diesen Roman für Kinder hätte Erich Kästner wohl nie geschrieben, hätte seine Verlegerin ihn nicht dazu überredet. Er arbeitete damals sehr erfolgreich als Journalist und war noch gar kein Autor. Aber die Verlegerin fand die damaligen Kinderbücher furchtbar und war davon überzeugt, dass er das auf jeden Fall besser machen würde.

Übrigens 1: Zu Erich Kästner und auch zu den anderen Autorinnen und Autoren ist mir beim Schreiben immer mal wieder etwas eingefallen, das nicht ganz in den von Nelio und mir gesetzten Rahmen passt: eine Anmerkung, irgendeine Anekdote oder einfach ein Gedanke, den ich mit euch teilen wollte.

Als ich noch darüber nachdachte, ob das ein Problem sein könnte, und wenn ja, wie ich es lösen sollte, kam mir zum Glück Erich Kästner selbst zu Hilfe. Im Vorwort zu seinem Roman Pünktchen und Anton beschreibt er nämlich, wie er mit solchen Sachen – er nennt sie dort »Nachdenkereien« – umgehen würde: Er wollte sie einfach schräg drucken lassen. Dann könnten nämlich all jene, die Angst haben, »ihr kleines, niedliches Gehirn könnte Falten kriegen«, es überspringen, so als hätte er es nie geschrieben. Und weil man nicht alles neu erfinden muss, will ich es in diesem Buch genauso machen. Bloß, dass das schräg Gedruckte durch Übrigens 1, 2 und 3 gekennzeichnet wird. So wie hier. Außerdem verspreche ich hoch und heilig, dass auf den folgenden Seiten niemand von euch Angst um seine Gehirnwindungen haben muss. Auch dann nicht, wenn ihr das schräg Gedruckte lest.

Übrigens 2: Natürlich könnt ihr die Bücher von Erich Kästner nicht alle kennen. Ebenso wenig wie die Bücher all der anderen Autorinnen und Autoren, die hier versammelt sind. Mir jedoch bleibt auf der Suche nach dem Geheimnis hinter den Geschichten nichts anderes übrig, als sie immer mal wieder zu erwähnen.

Da ich ihren Inhalt nun aber nicht jedes Mal erzählen kann (die Sache mit dem Ziegelstein!), ist das einzige Problem, das auf euch zukommen könnte, euch diese Bücher so schnell wie möglich in der nächsten Bücherei auszuleihen. Oder sie euch zum Geburtstag zu wünschen. Oder zu Weihnachten. Und das ist ja eigentlich kein Problem, sondern eher etwas, auf das ihr euch freuen könnt!

Übrigens 3: Erich Kästner hat in seinem Leben nicht bloß Romane für Kinder geschrieben, sondern auch welche für Erwachsene. Und Gedichte. Lange und kurze. Und ganz kurze. Dieses hier zum Beispiel:

»Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel:

Im Tunnel bleibt es immer dunkel.«

Ganz unabhängig von dem, was Erich Kästner selbst erlebt hat – in seinen Büchern stand immer die Wahrheit. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass man zum Beispiel ein Städtchen namens Pichelstein samt seinen kleinen Bewohnern vergeblich auf der Landkarte suchen wird. Pichelstein ist ein Ort in Erich Kästners letzten beiden Kinderromanen Der kleine Mann und Der kleine Mann und die kleine Miss. Keiner ist dort größer als 51 Zentimeter, und Mäxchen, der Kleine Mann, ist sogar so klein, dass er nachts in einer halb geöffneten Streichholzschachtel schläft. Doch auch wenn wir leider nicht in echt nach Pichelstein reisen können, so hat dieser erstaunliche Ort schon längst in einem anderen Teil unserer Wirklichkeit seinen festen Platz eingenommen: in der Welt der Literatur. Dass die beiden Kinderbücher über den Kleinen Mann überhaupt existieren, haben wir Erich Kästners Sohn Thomas zu verdanken. Für ihn hat sich Erich Kästner die Geschichten nämlich ausgedacht. Als Gutenachtgeschichten.

Erich Kästner schrieb aber nicht nur sehr fantasievoll, er beherrschte auch die Kunst, Fantasie und scharfsinnige Kritik an der damaligen Gesellschaft miteinander zu verweben. Und zwar so meisterhaft, dass er den Nationalsozialisten, die am 30. Januar 1933 in Deutschland an die Macht gekommen waren, schon bald ein Dorn im Auge war. Schließlich fanden sie seine Bücher so gefährlich, dass sie sie öffentlich verbrennen ließen.

Erich Kästner hat sich das sogar mit eigenen Augen angesehen. Trotzdem entschloss er sich dazu, nicht aus dem Land zu fliehen, sondern dazubleiben. Nun erst recht, sozusagen. Zum einen wollte er seine Mutter nicht allein zurücklassen. Zum anderen ging es ihm darum, das Elend, das die Politiker damals anrichteten, ganz genau zu beobachten und zu beschreiben, damit die nachfolgenden Generationen nie wieder auf solche Verbrecher reinfallen sollten.

Und die »nachfolgenden Generationen«, das seid ihr! Heute stehen Erich Kästners Bücher – auch die für Erwachsene – zum Glück in jeder Bibliothek. Dort können sie es kaum erwarten, von euch gelesen zu werden.

»Am liebsten wäre ich ein kleines, einsames Tier im Wald.«

ASTRIDLINDGREN

Am Anfang ihrer Karriere hat Astrid Lindgren einmal gesagt: »Ich bin ein ganz, ganz klein wenig ziemlich ›berühmt‹. Aber darüber mag ich nicht schreiben.« Umso mehr haben das später andere für sie übernommen. Über Astrid Lindgren und ihr Leben wurden mehr Bücher veröffentlicht als über fast alle anderen Autoren und Autorinnen, von denen ich euch hier erzähle.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass sie nicht bloß Pippi Langstrumpf geschrieben hat, einen der berühmtesten Kinderromane aller Zeiten, sondern auch noch über hundert weitere Geschichten. Und dass diese Geschichten von unendlich vielen Kindern auf der ganzen Welt verschlungen werden. Außerdem hat Astrid Lindgren fast alle Preise gewonnen, die man mit Kinderbüchern überhaupt gewinnen kann. Einer der wichtigsten ist nach ihrem Tod im Jahr 2002 sogar nach ihr benannt worden – der Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis.

Geboren wurde Astrid fünfundneunzig Jahre zuvor, am 14. November 1907. Aber nicht in Bullerbü, wie manche von euch vielleicht glauben, sondern auf Näs, einem Hof nicht weit entfernt von der schwedischen Kleinstadt Vimmerby. Dort hat sie ihre Kindheit verbracht, im Kreis ihrer großen Familie. Zusammen mit den Mägden und Knechten, die auf dem Hof arbeiteten, und deren Kindern.

Das Leben auf Näs verlief fast so wie das Leben in Bullerbü. Für alle, die die Bullerbü-Bücher gelesen haben, ist es deshalb sicher keine Überraschung, dass die kleine Astrid schon ganz früh gelernt hat, auf Bäume zu klettern. Am liebsten auf den Eulenbaum von Näs. Der wurde so genannt, weil sich in seiner Krone tatsächlich ein Eulenpaar sein Nest gebaut hatte. Falls Astrid dort oben wirklich einmal ein Hühnerei gefunden haben sollte, so wie die Kinder aus Bullerbü, dann nur, weil Astrids Bruder es gegen eins der Euleneier ausgetauscht hatte. Astrid ist noch bis ins hohe Alter auf Bäume geklettert. Und wenn sich jemand daran störte, meinte sie: »Es steht nicht in Moses’ Gesetzen, dass alte Frauen nicht auf Bäume klettern dürfen.«

Aber das Leben auf Näs, all das, was die Kinder dort erlebten, findet sich nicht bloß in den Bullerbü-Büchern wieder. Auch Pippi Langstrumpfs Spiel Nicht den Fußboden berühren hat seinen Ursprung auf diesem Hof. Denn wenn Astrid und ihre Geschwister nicht draußen spielen konnten, tobten sie ganz genau so über die Möbel des großen Schlafzimmers wie Pippi in dem ihr gewidmeten Buch. Im Wohnzimmer war das Spielen nämlich verboten, nur im Schlafzimmer störte es die Eltern nicht.

Überhaupt ließen die Eltern Astrid und ihren Geschwistern Gunnar, Stina und Ingegeerd sehr viel Raum. Und doch – immer dann, wenn die Kinder sie brauchten, waren die Eltern für sie da. Diese Freiheit und die große Liebe der Eltern – sowohl gegenüber den Kindern als auch zueinander – findet sich nicht nur in Astrid Lindgrens Büchern wieder. Sie prägte ihr gesamtes Leben.

Ebenso wie Edit, die Tochter eines Kuhknechts, der auf Näs arbeitete. Denn in der kleinen Küche ihrer Eltern las Edith der etwas jüngeren Astrid die ersten Märchen vor. Das versetzte Astrids Seele »in Schwingungen«. Und die haben sicher mit dazu beigetragen, dass sie später neben ihren zum Teil märchenhaften Geschichten sogar ein paar richtige Märchen geschrieben hat.

Dazu kam, dass in Näs fast jeden Tag Landstreicher anklopften, die kein eigenes Zuhause hatten. Sie durften im Stall übernachten und erzählten den Kindern vor dem Einschlafen spannende Geschichten. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass es der erwachsenen Astrid nicht schwergefallen ist, später Bücher wie Rasmus und der Landstreicher zu schreiben. Sogar in Pippi Langstrumpf tauchen schon zwei Landstreicher auf. Die beiden haben es auf Pippis Goldkoffer abgesehen, aber das Mädchen bringt es fertig, dass der eine von ihnen stattdessen auf dem Kamm bläst und der andere so lange mit ihr tanzt, bis ihm die Beine wehtun.

Astrid Lindgren war als Kind ähnlich quirlig wie ihre Pippi Langstrumpf. Und als sie in die Schule kam, erregte sie die Bewunderung ihrer Mitschülerinnen weniger durch ihre guten Aufsätze, für die sie immer die besten Noten bekam. Stattdessen beeindruckte sie diese vor allem durch die Waghalsigkeit, mit der sie an den Heizungs- und Wasserrohren der Turnhalle hinaufkletterte. Das lange Stillsitzen auf der Schulbank dagegen bereitete ihr ziemliche Schwierigkeiten. Das änderte sich erst, als plötzlich das Lesen zu ihrer Lieblingsbeschäftigung wurde. Später erzählte Astrid Lindgren: »Das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabenteuer. Für mich begann es, als ich zum ersten Mal ein eigenes Buch bekam und mich da hineinschnupperte. (…) Ein besseres Geschenk hat das Leben mir nicht beschert.«

So brav, wie die kleine Astrid auf diesem Bild aussieht, war sie in Wirklichkeit nur sehr selten.

Auch Trost hat Astrid Lindgren in Büchern immer gesucht und gefunden. Vor allem, als ihre Kindheit sich langsam verabschiedete und den ersten Problemen und Kümmernissen des Erwachsenwerdens Platz machte. So war sie zum Beispiel eine Zeit lang fest davon überzeugt, sie sei dermaßen hässlich, dass niemand sich jemals in sie verlieben könnte. Da las sie alles, was sie in die Finger bekam, um ihren Kummer zu vergessen. Und das hat sie in ihrem ganzen Leben beibehalten.

Unabhängigkeit und Freiheit waren Astrid Lindgren ebenfalls ihr Leben lang wichtig. Damit verband sie, dass man nicht unbedingt alles so machen muss wie andere Menschen. Dementsprechend hielt sie sich bei der Auswahl ihrer Bücher schon in den ersten Schuljahren nicht an die damals üblichen Empfehlungen für junge Mädchen. Stattdessen las sie sich quer durch die gesamte Bibliothek. Von Tom Sawyer und Huckleberry Finn über Die Schatzinsel, Das Dschungelbuch und die klassischen Sagen bis zu den Abenteuerbüchern von Jules Verne.