Das gelbe Zimmer - Mary Roberts Rinehart - E-Book

Das gelbe Zimmer E-Book

Mary Roberts Rinehart

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Beschreibung

Die englische Originalausgabe von ›Das gelbe Zimmer‹ erschien 1945 (›The Yellow Room‹). Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Homepage www.fischerverlage.de

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Mary Roberts Rinehart

Das gelbe Zimmer

Kriminalroman

Aus dem Amerikanischen von Lola Humm-Sernau

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Als Carol Spencer, ein reizendes junges Mädchen, ein Edelprodukt der Oberen Zehntausend New Yorks, an diesem Junimorgen im Zug saß, sah man ihr nicht an, daß ihr ungewöhnliche Ereignisse bevorstanden. Sie war im Begriff, ihre Mutter zu einem einwöchigen Besuch ihrer älteren Schwester in Newport zu bringen, und sollte dann allein nach Maine fahren, um dort das Sommerhaus der Familie für einen längeren Aufenthalt instand zu setzen, ein Haus, das sie am liebsten nie wiedergesehen hätte.

Sie versuchte sich von den anstrengenden Vorbereitungen der Abreise auszuruhen. Ihre Mutter, die ihr gegenüber saß, hatte sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen, als sei sie völlig erschöpft. Da sie aber nichts anderes getan hatte, als in ein Taxi ein- und wieder auszusteigen, war Carol etwas ärgerlich, namentlich, da ihr die Arme noch vom Schleppen der Koffer wehtaten, denn Gepäckträger waren nicht aufzutreiben; besonders ärgerten sie die Golfstöcke ihres Bruders Gregory, auf deren Mitnahme die Mutter bestanden hatte.

Carol betrachtete kritisch ihre Mutter, das schöne Profil, den verdrießlichen Mund, das erstklassige Schneiderkleid und die lederne Schmuckkassette, die sie im Schoß hielt. Seit dem Tod ihres Mannes war sie nörgelnd und kränklich, und Carol, deren Liebeshoffnungen durch den Krieg zerstört worden waren, fand sich mit vierundzwanzig Jahren in der Rolle der unverheirateten Tochter, die allen mütterlichen Launen ausgesetzt ist. Und nun kam zu allem noch dieser idiotische Einfall, das Haus in Bayside zu beziehen …

Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her. Sie wollte nicht nach Bayside gehen, sie wollte in den Frauenhilfsdienst eintreten oder Hilfskrankenschwester werden, sie war jung und kräftig, sie konnte sich nützlich machen. Doch wenn sie solche Absichten nur andeutete, bekam ihre Mutter einen ihrer sogenannten Herzanfälle. So saß sie nun hier im Zug, und in ihrem Schoß lagen die Zeitungen, die voll waren mit Berichten über die Invasion Frankreichs, die vorige Woche begonnen hatte. Gregs Golfstöcke, die ständig gegen ihre Knie stießen, schob sie ärgerlich beiseite.

Natürlich hatte sich Carol gegen diese Reise aufgelehnt und erklärt: «Warum sollen wir nach Maine? Greg würde viel lieber in New York bleiben oder zu Elinor nach Newport gehen. Er will doch in Virginias Nähe sein, schließlich ist er ja mit ihr verlobt.»

Mrs. Spencer aber hatte ihr eigenwilliges Kinn vorgeschoben und erwiderte: «Virginia kann ja nach Maine kommen. Nach der Tropenhitze in der Südsee braucht Greg frische Luft, und du solltest gerne alles für ihn tun, nachdem er diese Hölle durchgemacht hat.»

Ihre Schwester Elinor in Newport sagte ihr am Telephon, diese Übersiedlung sei heller Wahnsinn. «Das Riesenhaus und nur drei Dienstboten! Das darfst du nicht tun, Carol.»

«Du mußt ja nicht mit Mutter leben.»

«Gott sei Dank nicht», erwiderte Elinor und hängte in ihrer brüsken Art, ohne auf Wiedersehen zu sagen, ein.

Während der Zug dahinraste, dachte Carol über all das nach. Selbstverständlich wollte sie für Greg alles tun, was sie konnte, er verdiente es. Nachdem er jahrelang ein eigenes Sportflugzeug geflogen hatte, war er mit vierunddreißig Jahren Hauptmann geworden und galt als einer der besten Kampfflieger auf dem Kriegsschauplatz in der Südsee. Nun hatte er einen einmonatigen Heimatsurlaub bekommen, und der Präsident wollte ihm persönlich die höchste Kriegsauszeichnung überreichen.

Dann überlegte sie das Programm der nächsten Tage. Es war Donnerstag, der 15. Juni. Sie sollte bis Sonntag bei Elinor in Newport bleiben und dann nach Boston fahren, wo sie die Dienstboten auf dem Bahnhof treffen und mit ihnen im Nachtzug nach Maine weiterfahren würde. Mutter wollte sich noch einige Tage länger bei Elinor aufhalten. Natürlich würde in Bayside nichts vorbereitet sein, denn der Plan zur Übersiedlung war überstürzt gefaßt worden. Sie hatte Lucy Norton, die Frau des Verwalters, telegraphisch gebeten, zum Haus zu fahren, es zu lüften und vorzubereiten. Doch das Haus war so groß, daß Lucy allein nur wenig ausrichten konnte, und es war fast ausgeschlossen, in dieser Zeit dort irgendwelche Hilfskräfte zu finden. Und an den vermutlichen Zustand des Gartens wollte Carol gar nicht denken.

All diese Probleme gingen ihr durch den Kopf. George Smith, der alte Hilfsgärtner, hatte sich stets geweigert, den alten Zentralheizungsofen zu besorgen oder auch nur die Kohlen für den riesigen Küchenherd heranzuschaffen. Das würde vielleicht Maggie selbst tun; sie war schon seit zwanzig Jahren Köchin bei Spencers und war kräftig und willig. Die zwei neuen Mädchen aber waren junge Dinger. Sie würde sie ab und zu ins Städtchen ins Kino fahren müssen, damit sie nicht davonliefen. Aber wie sollte sie das bei der Benzinknappheit schaffen?

Sie seufzte. Und an ihren Nachbar, den alten Oberst Richardson, durfte sie auch nicht denken. Während des vorigen Sommers hatte er ständig gesagt «Wenn Don zurückkommt …» und Pläne für dessen Rückkehr gemacht. Ihr brach es fast das Herz, wenn sie den alten Mann im Geiste vor sich sah, wie er im Garten arbeitete und alles für Dons Rückkehr vorbereitete. Dieser Gedanke schmerzte sie noch mehr als Dons Schicksal, mit dessen Tod sie sich bereits abgefunden hatte, obwohl sie noch immer seinen Ring trug. Sie hatten sich verlobt, als sie achtzehn und er zwanzig Jahre alt war, doch da er kein Geld besaß, hatten sie einfach warten müssen. Und jetzt war er tot, daran war nicht zu zweifeln. Er war in der Südsee bei einem Luftkampf abgestürzt, seine Kameraden hatten es gesehen, und er war amtlich als tot erklärt worden.

Dann wanderten ihre Gedanken zu ihrer Schwester Elinor, die Schönheit der Familie. Elinor hatte einen Mann geheiratet, der trotz der riesigen Steuern noch ungeheuer reich war. Ihr Schwager Howard Hilliard, ein großer, aufgeblasen wirkender Mann, war stolz auf sein Geld, auf seine Sommerhäuser in Palm Beach und Newport, auf sein Jagdhaus in South Carolina, seine große Wohnung in New York, auf die Gesellschaften, die er gab, auf seine gesellschaftliche Stellung und natürlich auf seine Frau. Carol hatte oft überlegt, ob er Elinor liebte oder sie nur als ein weiteres Beweisstück seiner Erfolge zur Schau stellte.

In Newport wurden sie am Bahnhof von der Luxuslimousine Hilliards abgeholt, doch Elinor war nicht da und zu Hause war sie auch nicht. Sie wurden nur von dem alten Butler empfangen, der verlegen erklärte: «Mrs. Hilliard läßt sich entschuldigen, sie wurde plötzlich durch ein Ferngespräch abgerufen. Ich glaube, es war Hauptmann Spencer.»

«Das ist kein Grund, mich nicht zu empfangen», erwiderte Mrs. Spencer kühl. «Wir werden einstweilen in unsere Zimmer gehen.»

«Sie wird bestimmt bald kommen, Mutter», sagte Carol begütigend.

Doch es dauerte lange, bis Elinor auftauchte. Sie war sogar bereits eine Stunde im Haus, ehe sie ihre Mutter begrüßte, und offensichtlich war irgend etwas passiert, denn trotz aller Bemühungen gelang es ihr nicht, eine starke Nervosität zu verbergen. «Es tut mir furchtbar leid, Mutter», erklärte sie scheinbar gelassen. «Ein schrecklicher Mann vom Luftschutz war hier und hat mich wegen der Verdunklung belästigt. Habt ihr zu Mittag gegessen?»

«Wir haben uns eine Kleinigkeit aufs Zimmer bringen lassen», antwortete die Mutter, sichtlich gekränkt. «Ich finde ja, Elinor …»

Aber Elinor hörte nicht zu. Sie blickte sich in dem luxuriösen Appartement, einem Boudoir und zwei Schlafzimmern, um, riß sich ihren Hut vom Kopf und fuhr über ihr glänzendes blondes Haar. Carol betrachtete sie und wunderte sich wie stets, daß ihre Schwester trotz ihrer zweiunddreißig Jahre unverändert schön aussah. ,Sie sieht nicht älter aus als ich.‘ Doch heute sah Elinor müde und versorgt aus, ja, fast erschreckt.

«Habt ihr alles, was ihr braucht?» fragte sie. «Leider muß ich morgen nach New York. Ist das nicht scheußlich, in dieser Hitze?»

Mrs. Spencer starrte sie an. «Aber, Elinor …» begann sie.

«Ich weiß, Mutter», schnitt ihr Elinor das Wort ab. «Es ist höchst ärgerlich, aber ich muß fahren. Nächste Woche haben wir eine große Gesellschaft, und ich habe Samstag Anprobe. Ich muß ein neues Kleid haben, denn ich habe praktisch nur noch Lumpen.»

Carol lächelte. Elinor in Lumpen!

«Wo willst du dort wohnen?» fragte sie. «Eure Wohnung ist doch geschlossen. Howard wohnt vermutlich im Klub.»

«Ich werde schon irgendwo unterkommen», erwiderte Elinor von oben herab. «Vielleicht im Kolonialklub. Howard kommt dieses Wochenende nicht her, er spielt Samstag im Piping Rock Golf.» Elinor blickte ihre in empörtes Schweigen versunkene Mutter nicht an. «Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen», fuhr sie fort und griff sich an die Stirn. «Entschuldigt, aber ich muß mich hinlegen. Um acht Uhr wird gegessen, ich sehe euch ja dann.»

«Aber, Elinor …», begann Mrs. Spencer von neuem, doch Elinor war bereits aus dem Zimmer.

Zum Abendessen erschien sie auch nicht; sie ließ sich entschuldigen, ihre Kopfschmerzen seien zu arg.

Am nächsten Tag beim Mittagessen erklärte Elinor, sie werde mit ihrem Wagen nach Providence fahren und dort den Zug nach New York nehmen. «Die Limousine steht euch zur Verfügung. Howard hat genug Benzin gehamstert.»

Mrs. Spencer schwieg beleidigt, aber Elinor kümmerte sich nicht darum. Die ganze Zeit über sprach sie fieberhaft: über Gregs Auszeichnung, über seine bevorstehende Hochzeit mit Virginia Demarest, über das Kleid, das sie in New York anprobieren wollte. Und während des ganzen Essens rauchte sie eine Zigarette nach der andern, was sie sonst nicht zu tun pflegte. Carol war es unbehaglich zumute, und als sich Elinor nach dem Essen zurückzog, folgte sie ihr.

Elinor stand in ihrem Schlafzimmer vor dem offenen Safe und schreckte bei Carols Eintritt zusammen. «Ich brauche Geld für meine Reise», erklärte sie leichthin. «Was ist eigentlich mit dir los, Carol? Du siehst ja schrecklich aus.»

«Ich finde, du siehst schrecklich aus», entgegnete Carol unumwunden.

«Ach, Unsinn. Mir geht’s gut. Warum bleibst du nicht etwas länger hier, Carol? Greg wird nicht nach Maine gehen, er denkt gar nicht daran. Und du wirst dort nur an Dinge erinnert, die du besser vergißt.»

«Darüber komme ich weg», sagte Carol trocken. «Aber ich kann jetzt an der Reise nichts mehr ändern, es ist zu spät.»

«Die drei Mädchen können doch allein hinfahren. Und Lucy Norton ist doch dort, oder nicht?»Elinors Stimme kam Carol drängend vor.

«Ich muß Sonntag fahren», sagte sie, «das ist nicht mehr zu ändern.»

Elinor saß vor ihrem mit goldenen Kämmen, Bürsten und Flakons beladenen Toilettentisch und malte sich ihre Brauen, aber der Strich wurde nicht gerade.

Carol sah, daß Elinors Hand zitterte.

2

Die Fahrt nach Boston war grauenvoll. Der Zug war mit Sonntagspublikum überfüllt, eine drückende Hitze herrschte, und Carol gingen die Ereignisse der vergangenen drei Tage im Kopf herum.

Trotz mehrerer Versuche war es ihnen nicht gelungen, Greg in Washington zu erreichen, und Mrs. Spencer hatte die Tage in würdigem Schweigen in ihrem Schlafzimmer verbracht. Am Sonntag hatte sie beleidigt erklärt, sie würde mitfahren, da Elinor sich ja nicht um sie kümmere. Carol hatte eine halbe Stunde gebraucht, um ihr diese Absicht auszureden: Im Juni sei es in Maine oft noch sehr kalt, und das Haus wäre noch feucht. Auch seien die Mädchen noch mit der Einrichtung beschäftigt, so daß es höchst ungemütlich sein würde. Hier habe sie wenigstens eine gute Unterkunft und gute Verpflegung.

Kaum war diese Krisis überstanden, als Virginia Demarest erschien. Virginia, ein großes, schlankes, rothaariges Mädchen, bildhübsch und sehr jung, fragte empört: «Kannst du mir sagen, wo Greg steckt? Oder weißt du es auch nicht? Seit er Anfang der Woche von San Francisco nach Washington geflogen ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört.»

«Wir wissen auch nur, daß er in Washington sein muß, Virginia. Ich fahre gerade nach Crestview, um dort alles für seinen Aufenthalt vorzubereiten. Das ist nicht meine Idee», fügte Carol hastig hinzu, als sie Virginias Gesicht sah. «Mutter meint, ihm würde die kühle Luft dort gut tun. Er muß jetzt in Washington sein, er soll doch diese Woche seine Auszeichnung kriegen. Da wird er natürlich sehr beschäftigt sein.»

«Es gibt doch Telephone in Washington», erwiderte Virginia wütend. «Auch werden immer noch Briefmarken verkauft. Was sagt eigentlich Elinor dazu?»

«Sie ist in New York, sie hat auch nichts von ihm gehört.»

Virginia sah sie an. «Elinor und Greg hängen wohl sehr aneinander?»

«Wie Pech und Schwefel. Ich bin ja ein Nachkömmling und war sicher eine unangenehme Überraschung.»

Virginia hörte gar nicht zu, sondern betrachtete eine Photographie Gregs in Fliegeruniform, auf der er besonders gut aussah. Ihre Wut war verraucht. Sie drückte ihre Zigarette aus und sah Carol hilflos an. «Irgend etwas stimmt nicht», murmelte sie. «Es muß was passiert sein. Seit seinem letzten Urlaub sind seine Briefe ganz anders als früher. Ich glaube, bei Männern kann die Liebe ebenso schnell vergehen, wie sie kommt.»

«Das ist doch lächerlich», widersprach Carol lebhaft. «Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so verliebt ist wie er in dich. Natürlich sind seine Briefe verändert, die gehen doch durch die Zensur, das weißt du doch.»

Virginia war aber nicht überzeugt.«Da draußen schwirren so viele Mädchen herum: Krankenschwestern, Frauenhilfsdienst und so weiter. Wer weiß, ob er dort nicht eine andere gefunden hat, du kennst ihn ja.»

Jawohl, Carol kannte ihn. Sie hatte ihn immer angebetet, er war ihr Idol gewesen. Er sah so gut aus, er war so ungezwungen, und selbst seinen Leichtsinn fand sie liebenswert. Stets hatte sie ihm aus der Patsche geholfen, wenn er etwas angestellt hatte. Und sie verstand ihn besser als Elinor.

Als der Zug in Boston ankam, riß sie sich zusammen. Es gelang ihr, ein Taxi aufzutreiben, das allerdings jeden Augenblick zusammenzubrechen drohte, und fuhr zum Nordbahnhof. Dort fand sie drei müde, entmutigte Mädchen vor, die noch nichts gegessen hatten und wie verloren bei den Koffern standen, die sie selbst hatten schleppen müssen. Nur Maggie, die Köchin, lächelte ihr matt zu. «Da wären wir, Miß Carol», sagte sie. «Und wenn Sie wüßten, wo wir eine Tasse Kaffee kriegen könnten …»

Mit viel Mühe gelang es Carol, etwas zu essen und zu trinken zu beschaffen, was die Mädchen in sichtlich bessere Laune versetzte; sie selbst würgte ein trockenes Käsebrötchen hinunter.

Nach einer ermüdenden Nachtfahrt standen sie am nächsten Morgen um sechs Uhr auf einem eiskalten Bahnsteig und schauten sich vergeblich nach dem Taxi um, das Lucy hatte schicken sollen. Der verschlafene Bahnhofsvorsteher, der die Sommergäste als ein notwendiges Übel ansah, verschwand, sowie der Zug weiterfuhr. In einem kleinen Restaurant in der Nähe bekamen sie nach langem Warten Kaffee, und schließlich gelang es Carol, ein Taxi für die fünfzehn Kilometer weite Fahrt aufzutreiben.

Es war kalt. Die Mädchen zitterten in ihren Sommermänteln, und auch Carol fühlte sich höchst ungemütlich. Sie bemühte sich, sie etwas aufzuheitern, indem sie auf die grünen Bäume und die schöne Meeresbucht aufmerksam machte.

«Hier ist es ja schrecklich einsam», murmelte Freda, das junge, ziemlich schüchterne Hausmädchen. «Da ist man ja völlig von der Welt abgeschlossen.»

«Und jetzt frierst du, nicht wahr, nachdem du vorher so über die Hitze gejammert hast?» entgegnete Maggie munter. «Die Luft ist doch herrlich!»

Luft gab es allerdings genug, eiskalte! Freda klapperte mit den Zähnen. «Wenn ich doch nur schon im warmen Haus wäre», stieß sie hervor. «Wo sind wir eigentlich? Am Nordpol?»

Nora, das andere Hausmädchen, schwieg. Sie sprach nie viel, aber ihre Lippen waren blau, und Carol war bei dem Anblick nicht wohl zumute. Wenn die Mädchen nicht blieben …

«Mrs. Norton wird das Frühstück bereit haben», sagte sie tröstend. «Das Haus wird schön warm sein. Und der Flieder wird noch blühen, er kommt hier später.»

Alle schwiegen.

«Schaut ihn euch an!» rief Carol in der Erwartung, eine freundliche Antwort zu erhalten. Doch niemand sagte etwas.

Hinter einer Straßenbiegung tauchte nun das Haus auf, groß und massiv. Die Vorderfront ging zum Meer, die Haustür war an der Rückseite. Die beiden jungen Mädchen betrachteten es neugierig.

«Das ist aber groß!» sagte Nora, wenig begeistert.

«Es ist gar nicht so groß, wie es aussieht», entgegnete Carol munter. «In der Mitte vom Haus ist ein großer Hof … Aber wo bleibt Lucy?»

Außer daß die Doppelfenster entfernt waren, machte das Haus einen völlig unbewohnten Eindruck. Die Haustür war geschlossen, niemand kam zum Empfang. Sie stiegen aus, Carol entlohnte den Chauffeur, aber noch immer rührte sich nichts. Auch war zu ihrem größten Erstaunen die Haustür verschlossen, und während die Mädchen unglücklich zwischen den Koffern standen und das Taxi davonfuhr, öffnete sie mit ihrem Schlüssel die Tür. Eiskalte Luft und ein dumpfer, unangenehmer Geruch empfingen sie.

Mürrisch dreinblickend folgten die Mädchen.

«Ich verstehe nicht, was eigentlich los ist», sagte Carol. «Mrs. Norton muß krank sein. Machen Sie doch bitte Feuer in der Küche, Maggie, ich werde Mrs. Norton anläuten.»

Während Maggie in die Küche ging, blieben die zwei Mädchen wie angewurzelt in der Halle stehen; es sah aus, als liefen sie am liebsten sofort davon.

«Wie es hier riecht!» sagte Freda. «Als ob etwas verbrannt wäre.»

«Lassen Sie doch die Tür offen», entgegnete Carol ärgerlich. «Mrs. Norton hat vielleicht etwas verbrannt. Gehen Sie zu Maggie in die Küche!»

Sie ging durch den Korridor längs dem Hof zur Bibliothek. In der Halle im Seitenflügel waren die Bezüge noch über den Sesseln, aber die Läden vor den bis zur Erde reichenden Fenstern waren zurückgeschoben, und zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, daß in der Bibliothek zumindest der Versuch unternommen worden war, sie wohnlich zu machen. Der Teppich lag ausgebreitet da, die Überzüge waren abgenommen, Photographien und Nippes standen an Ort und Stelle, und im Kamin war Holz aufgeschichtet.

Sie zündete das Holz an und fühlte sich etwas wohler, als die Flammen aufloderten. Aber der Geruch! Sie öffnete die große Fenstertür zur Terrasse und blickte hinaus. Die frische Luft war köstlich, und die Aussicht hatte sie stets begeistert. Wie grüne Juwelen lagen die kleinen Inseln in dem blauen Wasser vor ihr, und in einer Entfernung von etwa zwei Kilometer sah sie die Häuser des idyllischen Städtchens Bayside, von Bäumen halb verdeckt. Sie holte tief Atem und ging zum Telephon.

Es war nicht da. Verblüfft starrte sie auf den Schreibtisch, auf dem es zu stehen pflegte. Die silberne Zigarettendose war an ihrem Platz, ebenso die übrigen Gegenstände. Aber noch etwas erstaunte sie: auf dem Aschenbecher lag eine halbgerauchte Zigarette mit Lippenrot am Mundstück.

Lucy Norton rauchte weder noch benutzte sie einen Lippenstift. Carol staunte. Dann lächelte sie. Vielleicht stammte die Zigarette von Marcia Dalton oder von Louise Stimson, die sich hier bei Lucy einen Augenblick von einem Spaziergang ausgeruht hatten. Dennoch überfiel sie von neuem ein unbehagliches Gefühl. Rasch ging sie durch das Wohnzimmer und den Speisesaal in die Küche. Maggie band sich gerade eine Schürze, die sie aus ihrem Koffer genommen hatte, um ihre umfangreiche Taille. Die zwei Mädchen standen unschlüssig herum.

«Das Telephon in der Bibliothek ist fortgenommen», erklärte Carol scheinbar unbefangen. «Ist das im Küchenvorraum noch da, Maggie?»

Maggie öffnete eine Tür. «Das ist auch nicht da», antwortete sie. «Es scheinen alle fortgenommen zu sein.»

«Mein Gott!» stieß Carol hervor. «Was sollen wir nun tun?»

«Die Menschen haben lange ohne Telephon gelebt», erwiderte Maggie philosophisch. «Wir werden ohne Telephon auskommen … Aber was ist das nur für ein Geruch, Miß Carol? Hier ist nichts verbrannt.»

In der Küche war der Geruch weniger stark bemerkbar. Als erste bekam Freda einen hysterischen Anfall. «Ich bleibe nicht hier!» schrie sie. «Ich will nicht am Ende der Welt erfrieren! Und der Geruch macht mich ganz krank! Ich kündige hiermit, Miß Spencer!»

Carol unterdrückte ein Gefühl des Grauens, das sie zu lähmen drohte. «Hören Sie mal, Freda», sagte sie beruhigend, «Sie können jetzt nicht fortgehen, jedenfalls nicht sofort. Ich kriege so schnell kein Taxi, und unsere Wagen in der Garage haben kein Benzin und sind aufgebockt. Und vor heute abend geht kein Zug.»

Nun griff Maggie ein. «Sei nicht blöd, Freda!» schnauzte sie. «Mrs. Norton wird ja alles beim Kolonialwarenhändler bestellt haben. Du ziehst jetzt den Mantel aus, ich mache einen heißen Kaffee, und dann werden wir uns alle besser fühlen.»

Eine hastige Inspektion der Speisekammer ergab jedoch, daß keinerlei Vorräte geschickt worden waren. Die Kaffeebüchse war leer, und nur ein halber Laib Brot lag da; im Frigidaire waren zwei Eier, ein halbleerer Marmeladentopf und auf einem Teller einige Scheiben Speck. Maggie blickte grimmig drein.

«Wir werden diesen faulen George Smith in die Stadt schicken», sagte sie. «Nora, geh in den Garten und ruf ihn. Er ist der Gärtner … wie er behauptet.»

Dann befahl sie Freda, Kohlen aus dem Keller zu holen; das Mädchen ging widerspenstig hinunter. Carol setzte sich auf einen Küchenstuhl, und Maggie blickte sie sorgenvoll an.

Bald kam Freda mit einem halbgefüllten Kohleneimer zurück, und Maggie begann Feuer im Herd zu machen. Als sie Petroleum auf die Kohlen goß und sie in Brand setzte, hatte Carol das Gefühl, daß nun der Geruch auch in der Küche so stark war wie vorher in der Halle. Vielleicht hatte Lucy den Zentralheizungsofen auf diese Weise in Gang gesetzt.

Nora kam nun zähneklappernd aus dem Garten. «Ich habe niemand gefunden», berichtete sie. «An einigen Stellen ist das Gras gemäht, aber kein Mensch ist da.»Dann kauerte sie sich neben den Herd.

«Lucy muß etwas zugestoßen sein», sagte Carol und stand abrupt auf. «Ich gehe jetzt in die Stadt, ich will wissen, was los ist. Ich werde auch Lebensmittel bestellen, Millers Laden wird ja schon offen sein.»

3

In der strahlenden Morgensonne auf dem Weg zum Städtchen, das sie stets sehr gern gehabt hatte, kamen Carol ihre Sorgen albern und leicht lächerlich vor.

Da es noch früh am Tage war, traf sie keine Bekannten. Harry Millers Laden war gerade aufgemacht worden, der Besitzer stand hinter dem Ladentisch und zog sich einen sauberen weißen Kittel an.

Als sie eintrat, blickte er sie merkwürdig an.«Guten Morgen, Miß Carol. Wie geht es Ihnen?» begrüßte er sie. «Ich habe schon gehört, daß Sie kommen würden. Sie sind dieses Jahr früh dran.»

Lächelnd setzte sich Carol auf einen Stuhl. «Ich mußte zu Fuß gehen», erklärte sie, «es gibt keinen Wagen, kein Telephon, keine Lebensmittel.»

«Das ist ein bißchen viel auf einmal.»

«Nicht wahr? Wissen Sie, was mit Lucy Norton los ist, Harry? Sie ist nicht im Haus, und auch George Smith ist nicht da. Ich begreife es überhaupt nicht.»

Zögernd erwiderte Harry: «Sie haben Pech, Miß Carol. George ist im Krankenhaus, man hat ihm Donnerstag den Blinddarm ’rausgenommen. Es geht ihm aber gut.»

«Das tut mir leid. Er taugt zwar nicht viel, er ist aber immerhin besser als niemand. Sowie ich Zeit habe, werde ich ihn besuchen. Aber was ist mit Lucy los?»

Immer noch zögernd sagte Harry ausweichend: «Was das Telephon anbelangt, so hat Ihre Mutter wahrscheinlich die Bekanntmachung übersehen. Man mußte es auch im Winter bezahlen, wenn man es behalten wollte.»

«Wir hatten ja nicht die Absicht herzukommen. Aber was ist mit Lucy? Ist sie etwa auch krank?»

«Ich muß es Ihnen wohl sagen», meinte er unbehaglich. «Lucy hat einen Unfall gehabt. Sie ist in Ihrem Haus die große Treppe ’runtergefallen und hat sich ein Bein gebrochen. Mitten in der Nacht. Sie würde jetzt noch daliegen, wenn nicht William gekommen wäre, um die Doppelfenster abzunehmen. Anscheinend wollte er in der Küche etwas Kaffee holen, fand aber die Hintertür verschlossen. Dann ging er ums Haus ’rum, und die Haustür war auf. Dort hat er Lucy gefunden. Sie ist jetzt auch im Krankenhaus. Wie ich höre, geht es ihr gut.»

Carol war entsetzt. «Aber um Gottes willen, was hat denn Lucy mitten in der Nacht auf der großen Treppe zu tun gehabt? Sie schläft doch immer im Dienstbotenflügel.»

Harry grinste. «Ja, da ist etwas Komisches, Miß Carol. Sie sagt, jemand hätte sie verfolgt.»

Carol starrte ihn an. «Jemand hätte sie verfolgt? Das sieht Lucy gar nicht ähnlich, daß sie solche Hirngespinste hat.»

«Nicht wahr, es hört sich verrückt an? Sie ist doch wirklich eine vernünftige Frau. Aber sie behauptet es steif und fest. Ich weiß nur, was die Leute erzählen. Es heißt, ihr wäre in der Nacht kalt geworden, und da wollte sie aus der Wäschekammer noch eine Decke holen. Da das elektrische Licht noch nicht funktionierte, nahm sie eine Kerze. Als sie die Tür der Wäschekammer aufmachte, so sagt sie, habe ihr jemand die Kerze aus der Hand geschlagen, habe sie dann umgeworfen und sei über sie hinweggerannt.»

«Das klingt ja phantastisch.»

«Nicht wahr? Alle Leute reden jetzt auch von Lucys Gespenst. Jedenfalls war sie so entsetzt, daß sie sich aufraffte und zur Treppe stürzte. Es war stockfinster, verstehen Sie, und so ist sie die Treppe ’runtergefallen. Es ist noch ein Glück, daß sie überhaupt gefunden wurde. Der alte William sah am Morgen die Haustür weit offen stehen und ging hinein, und da lag Lucy am Fuß der Treppe, völlig hilflos und halb wahnsinnig. Er hat dann Dr. Harrison gerufen, und sie wurde ins Krankenhaus gebracht … Sie liegt jetzt in Gips», fügte er, fast befriedigt, hinzu.

Carol starrte ihn an. «Das war kein Gespenst, wenn es die Haustür geöffnet hat», sagte sie. «Aber wenn es die ganze Stadt schon weiß, werden es meine Mädchen bald erfahren.» Sie dachte dabei vor allem an Freda. «Natürlich war es ein Landstreicher. Wer sollte es sonst gewesen sein? Oder sie hat die ganze Sache geträumt.»

«Jedenfalls hat sie ’s Bein gebrochen.»

«Es tut mir schrecklich leid», sagte sie, «wir haben sie alle so gern. Ich werde sie sobald als möglich besuchen. Aber ein Landstreicher …?»

«Fehlt irgend etwas im Haus?» erkundigte er sich.

«Ich habe noch nicht nachgeschaut, aber ich glaube nicht, wir lassen ja nie viel hier.»

Er räusperte sich nun. «Ich muß Ihnen noch etwas sagen. An dem Abend war im Eckzimmer in Ihrem oberen Stockwerk Licht, in dem Zimmer, das nach hier geht. Als ich nach Haus fuhr, habe ich’s selbst gesehen. Es sah aus wie von einer Kerze, aber Lucy sagt, sie wäre nicht drin gewesen.»

«Im Gelben Zimmer? Sind Sie sicher?»

«So sicher, wie ich hier stehe. Es war so gegen halb zwölf.»

Schließlich gab Carol ihre Bestellungen auf und ging fort; alles drehte sich ihr im Kopf. Aber sie hatte weder Zeit Lucy noch George zu besuchen. Auf dem Büro der Telephongesellschaft erklärte man, es sei unmöglich, ihr ein Telephon zu stellen. Wie üblich wurde ihr bedeutet, daß man im Krieg sei und daß sie als Patriotin sich damit abfinden müsse. Bei der Elektrizitätsgesellschaft erwirkte sie immerhin, daß ihr Licht eingeschaltet wurde, und in der Garage versprach man, ihren kleinen Wagen fahrbereit zu machen.

Alle Welt schien sie mit ungewöhnlichem Interesse zu betrachten. Offensichtlich hatte Lucys Geschichte die Runde gemacht und war noch ausgeschmückt worden. Diese Vermutung bestätigte sich, als sie an einer Straßenecke den Polizeichef Floyd traf. Der große Mann mit vorstehendem Bauch und schlauen kleinen Augen grinste sie freundlich an, als er ihr die Hand schüttelte. «Es freut mich, daß Sie endlich hier sind. Es hieß, Sie würden überhaupt nicht kommen.»

«Mutter glaubt, daß es Greg hier gefallen wird.»

«Es wird ein bißchen ruhig für ihn sein, aber vielleicht verschafft ihm Lucy Nortons Gespenst etwas Abwechslung.»

Er lachte, daß sein dicker Bauch wackelte. Sie kannte ihn von Kindheit an, und sein Lachen beruhigte sie.

«Wenn überhaupt jemand im Haus war, kann es doch nur ein Landstreicher gewesen sein», erwiderte sie lächelnd. «Miller erzählte mir, daß William die Haustür offen vorgefunden hat.»

Wieder lachte er. «Hier in der Gegend gibt’s keine Landstreicher, Miß Carol. Fünfzehn Kilometer von der Eisenbahn entfernt! Was sollten die denn hier tun? Die würden doch verhungern.»

Carol verabschiedete sich und ging weiter. Sie bestellte Kohlen, kaufte Süßigkeiten zur Beruhigung der zwei widerspenstigen Mädchen und ließ sich schließlich von einem Taxi nach Hause fahren, wo das geschah, was sie die ganze Zeit befürchtet hatte: Oberst Richardson erwartete sie. Er stand in der Nähe des Hauses auf der Straße, groß, aufrecht, der Wind spielte in seinem weißen Haar. Der alte Mann war allgemein beliebt, und daher nahm man es hin, daß er ständig von seiner fixen Idee, daß sein Sohn noch lebe, sprach. Angesichts seines gutmütigen Lächelns schwanden ihre Befürchtungen.

«Guten Morgen!»rief er ihr freundlich zu.«Sag einem alten Mann guten Tag. Ich habe dich gar nicht so bald erwartet.»

Sie stieg aus, küßte ihn, und er klopfte ihr auf die Schulter. «Du siehst aus, als ob du unsere frische Luft hier nötig hättest», sagte er, sie kritisch musternd. «Ich habe erst gestern die Geschichte von Lucy Norton gehört. Es ist zu schlimm, sie ist eine großartige Person. Wie schaffst du es denn ohne sie?»

«Oh, wir werden’s schon schaffen. Wir haben natürlich kein Telephon und noch keinen Wagen und auch noch kein Licht, aber sonst geht es gut. Und wie geht es Ihnen?»

«Sehr gut. Das Warten ist allerdings schwer, aber es geht ja vielen so. Kann ich etwas für dich tun?»

Sie dankte ihm, und er verabschiedete sich; sie blickte ihm nach, wie er aufrecht den Weg hinunterging und den Stock, von dem er sich nie trennte, schwang. Er tat ihr leid, und sie tat sich leid, weil sie seinen Glauben und seine Hoffnung nicht teilen konnte. Für ihn war Don noch immer ein lebendes Wesen, für sie nur noch eine Erinnerung. Sie war sehr bedrückt, als sie ins Haus trat.

Maggie stand, rußverschmiert, am Herd, auf dem ein Kessel mit Wasser kochte. «Ich hab’ die Zentralheizung in Gang gebracht», verkündete sie vergnügt, «sonst hätte ich diese blöden Dinger nicht vom Herd fortgekriegt. Freda habe ich in Ihr Zimmer geschickt, und sowie sie Ihr Bett gemacht hat …»

Carol legte ihre Einkäufe auf den Tisch. «Lucy liegt im Krankenhaus, Maggie, sie hat sich das Bein gebrochen.»

Entsetzt wandte sich Maggie um. «Die Arme! Wo ist denn das passiert?»

«Hier im Haus.» Carol setzte sich hin. «Sie ist die große Treppe ’runtergefallen. Eine dumme Geschichte ist im Umlauf, sie sei auf dem Flur im ersten Stock von einem fremden Menschen umgerannt worden.»

«Wann ist denn das passiert?» fragte Maggie und öffnete, praktisch wie sie war, das Kaffeepaket.

«In der Nacht von Freitag auf Samstag. Das elektrische Licht funktionierte ja nicht. George liegt auch im Krankenhaus, ihm hat man den Blinddarm ’rausgenommen.»

«Um Himmels willen!»rief Maggie; ihre übliche Ruhe war etwas erschüttert. «Hat den auch jemand erschreckt?»

Ehe Carol antworten konnte, ertönte vom obern Stockwerk her ein entsetzter Schrei, und Freda kam halb rennend, halb stürzend die Hintertreppe herunter und fiel auf dem Küchenboden in Ohnmacht.

Diese Ohnmacht eröffnete für Carol den Reigen entsetzlicher Geschehnisse. Sie beugte sich über das Mädchen, dessen Gesicht aschgrau war und dessen eine Hand merkwürdige Rußflecken aufwies.

«Sie hat sich also auch erschreckt», sagte Maggie düster.

«Vielleicht hat sie eine Maus gesehen», murmelte Nora, «sie hat vor Mäusen Todesangst.»

«Am besten lassen wir sie flach auf dem Boden liegen», sagte Carol. «Nora, holen Sie doch bitte von oben aus der Wäschekammer eine Decke, der Boden ist kalt.»

Sie fühlte den Puls des Mädchens, er ging rasch, war aber kräftig, und das Gesicht nahm bereits wieder etwas Farbe an. Jetzt wurde es auch Carol etwas schummrig, aber sie nahm sich zusammen und blickte Maggie an. «Was hat sie denn an der Hand?» fragte sie.

Maggie beugte sich hinunter. «Es scheint Ruß zu sein», erklärte sie. «Vielleicht hat sie bei Ihnen Feuer im Kamin machen wollen. Ich will mal gleich nachsehen, sonst brennt noch das ganze Haus ab, während wir hier ’rumstehen.»

Sie ging aber nicht fort, da Freda sich jetzt regte und, noch völlig benommen, ihre blaßblauen Augen öffnete.

«Was ist denn los?» fragte sie. «Bin ich in Ohnmacht gefallen?» Sie war noch gar nicht ganz bei sich, aber mit zunehmendem Bewußtsein kam die Erinnerung zurück, und sie brach unvermittelt in lautes, hysterisches Weinen aus. «Ich will nach Hause!» schluchzte sie. «Ich wollte nie hierherkommen.»

«Halt ’s Maul!» schnauzte Maggie. «Heulen hilft nichts. Was hat dich denn erschreckt?»

Freda antwortete nicht, da in dem Augenblick Nora die Hintertreppe herunterpolterte und sich dann an den Türpfosten lehnte, als brauche sie einen Halt. Sie war leichenblaß, sprach aber mit fester Stimme.

«In der Wäschekammer liegt ein Toter», verkündete sie und begann zu zittern. «Auch hat es dort gebrannt.»

4

Mehr sagte sie nicht, sondern ging in den Nebenraum, und man hörte, wie sie sich erbrach. Carol wollte zur Treppe gehen, aber Maggie war schneller als sie. «Beide sind hysterisch», erklärte sie. «Wahrscheinlich haben die eine Decke auf der Erde liegen sehen. Ich will lieber ’raufgehen, Miß Carol, Sie sehen auch nicht allzu gut aus. Bleiben Sie bei Freda.»

Freda, die noch immer vor sich hinweinte, richtete sich nun auf und suchte nach einem Taschentuch. Carol gab ihr eines.

«Sie wären auch in Ohnmacht gefallen, wenn Sie das gesehen hätten», erklärte Freda schaudernd. «Ich habe die Tür von der Wäschekammer aufgemacht, und …»

Maggie kam herein, ein Blick auf ihr Gesicht genügte. «Man muß die Polizei rufen», sagte sie. «Es ist jemand oben. Gehen Sie nicht ’rauf! Ich habe die Fenster im Flur aufgemacht, habe aber nichts angerührt.»

Sie wusch sich die Hände, dann setzte sie sich hin und fingerte nervös an ihrer Schürze. «Mir ist auch übel», erklärte sie. «Die beiden haben recht gehabt mit dem Feuer. Die ganze Wäsche ist verbrannt.»

Carols Entsetzen wuchs immer mehr: erst war Lucy nicht da, dann Millers Geschichte, und jetzt das! Sie fühlte sich so hilflos, das Haus kam ihr grauenvoll vor. Sie spürte, wie sie zitterte.

«Haben Sie gesehen, wer es war?» fragte sie.

Maggie schüttelte den Kopf. «Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß es dort gebrannt hat.» Schwerfällig stand sie auf und trat zum Herd: «Ich mache Kaffee», sagte sie tonlos, «Kaffee hilft immer. Trinken Sie eine Tasse, bevor Sie in die Stadt gehen. Vielleicht fährt Sie Oberst Richardson.»

«Ich will erst ’raufgehen und nachsehen.»

«Sie bleiben hier!» sagte Maggie energisch. «Freda, du gehst in dein Zimmer und legst dich hin. Dir wird nichts mehr passieren, es ist alles vorbei, und dein Zimmer liegt ja am anderen Ende des Hauses.»

Inzwischen war auch Nora wiedergekommen, und beide Mädchen weigerten sich, hinaufzugehen.

«Es tut mir leid», sagte Carol zu ihnen. «Aber was auch passiert ist, es hat nichts mit uns zu tun. Mrs. Norton hat sich ein Bein gebrochen und liegt im Krankenhaus. Wahrscheinlich ist ein Landstreicher ins Haus gekommen, als es leer stand.»

Nora gewann als erste die Stimme wieder. «Und hat sich selbst verbrannt!»rief sie schrill.

«Das wird die Polizei feststellen.»

«Ich warte nicht auf die Polizei!»